2. Staatlicher Machtmißbrauch durch Genozid, Folter und sonstige Mißhandlungen
Schrifttum: Amelung, Die strafrechtliche Bewältigung des DDR-Unrechts durch die deutsche Justiz — ein Zwischenbericht. GA 143 (1996), 51-71; Bank, Die internationale Bekämpfung von Folter und unmenschlicher Behandlung auf den Ebenen der Vereinten Nationen und des Europarates. Eine vergleichende Analyse von Implementation und Effektivität der neueren Kontrollmechanismen. Jur. Diss. Freiburg i.Br. 1996; Bornewasser/Eckert, Belastungen und Gefährdungen von Polizeibeamtinnen und -bearnten im alltäglichen Umgang mit Fremden. Abschlußbericht zum Projekt „Polizei und Fremde“. Münster u.a. 1995; Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg (Hısg.), Bericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses „Hamburger Polizei“. Drucks. 15/6200. Hamburg 1996; Epp (ed.), Crime by Government. Toulouse 1995; Lampe (Hrsg.), Die Verfolgung von Regierungskriminalität der DDR nach der Wiedervereinigung. Deutsche Wiedervereinigung. Die Rechtseinheit — Arbeitskreis Strafrecht. Bd. II. Köln 1993; ders., Systemunrecht und Unrechtssysteme. ZStW 106 (1994), 683- 745; Limbach, Regierungskriminalität und Machtmißbrauch. In: Kriminologische Opferforschung, hrsg.v. Kaiser/Jehle, 1994, 127-136; Schreiber, Die strafrechtliche Aufarbeitung von staatlich gesteuertem Unrecht. ZStW 107 (1995), 157-182; Spirakos, Folter als Problem des Strafrechts. Kriminologische, kriminalsoziologische und (straf-Jrechtsdogmatische Aspekte unter besonderer Berücksichtigung der Folter in Griechenland. Frankfurt/M. 1990; Triffterer, Kriminologische Erscheinungsformen des Machtmißbrauchs und Möglichkeiten ihrer Bekämpfung. ZfRVergl 1991, 184-210.
Die Möglichkeit, im Rahmen einer funktionierenden Hierarchie über Personen „verfügen“ zu können, birgt ein bedeutendes Machtpotential in sich. Als Machtmißbrauch gilt jede positivrechtlich bzw. sozialethisch unvertretbare Ausübung oder zweckgerichtete Nichtausübung einer herausragenden sozialen Machtposition. Nicht selten bedienen sich Politiker zur Begehung ihrer Straftaten des staatlichen Machtapparates, welcher an sich der Bekämpfung der Kriminalität dienen soll. Dabei ist zu beachten, daß nicht nur diejenigen, die an der Spitze einer Hierarchie stehen, über herausragende Mittel verfügen, sondern auch jene, welche innerhalb bestehender Organisationen die Möglichkeit haben, nach ihrem Ermessen die ihnen unterstehenden Personen einzusetzen. Als markantes Beispiel dafür läßt sich der Genozid an der jüdischen Minderheit während der nationalsozialistischen Herrschaft anführen. Dabei bedienten sich die Täter der Partei und der ihr angeschlossenen Organisationen. Sie hatten damit die wichtigsten Funktionen des Staates in ihrer Hand. Auchin anderen politischen Systemen werden nicht selten die militärischen Subsysteme den Parteiapparaten zu- und untergeordnet, um dann gegenüber politischen Gegnern oder unerwünschten Volksgruppen eingesetzt zu werden.
Vor allem liefert die sogenannte Regierungskriminalität anschauliche Beispiele für derartige Straftaten (vgl. Epp 1995, 93 ff.; Lampe 1993, 3 ff.; Schreiber 1995, 157ff.). Obwohl solche Fälle aus Staaten ganz verschiedener politischer Systeme bekanntgeworden sind, haben derartige Erscheinungsformen in der ehemaligen DDR aktuelle Bedeutung gewonnen. So erfolgte hier die gezielte Ausnutzung der hierarchischen Machtstrukturen nicht nur über die Partei und ihr zugeordnete Organisationen, sondern auch durch den Mitarbeiter- und Informantenstab des Ministeriums für Staatssicherheit zur Aushorchung und Bespitzelung der DDR-Bürger. Ferner verdeutlichte die Verfügungsmöglichkeit über die DDR-Grenzsoldaten zur Sicherung der sogenannten Friedensgrenze das Machtpotential der Führungsgruppe. Etwaige rechtsstaatliche Hindernisse der Strafverfolgung, etwa gegenüber Honecker oder den „Mauerschützen“, stehen der Beurteilung keineswegs entgegen. Sie beeinträchtigen die mögliche Zuordnung derartiger Taten unter den Begriff der „Kriminalität der Mächtigen“ nicht. Denn es zählt ja bereits zu den Kennzeichen derartiger Verbrechensformen, daß eine weitgehende Bestrafungsimmunität besteht, sei es aus faktischen oder sei es auch rechtlichen Gründen. Denn die Machthaber und Funktionäre eines Machtsystems Können sich während dessen Dauer in der Regel vor Bestrafung sicher fühlen, jedenfalls soweit sie staatliche Befugnisse systematisch mißbrauchen, um sich an der Macht zu halten. Erst mit dem Wechsel des politischen Systems endet die ihm eigene Ohnmacht der Strafrechtspflege und auch der Opfer (vgl. Amelung 1996, 51 ff.). Doch wird der nunmehr möglichen justitiellen Ahndung des Regimeunrechts mit dem Argument begegnet, daß ein souveräner Staat nicht über die Machthaber und Funktionäre eines anderen zu Gericht sitzen könne, solle es keine sogenannte Siegerjustiz sein. Für die Opfer ist das eine schwer erträgliche Heuchelei. Daher muß nach einem übergeordneten Maßstab, etwa nach den Regeln des Völkerrechts, gemessen und beurteilt werden, ob die fraglichen Handlungen als Mißbrauch der Machtstellung erscheinen, wenn sie elementare Werte des menschlichen Gemeinschaftslebens verletzen (vgl. Triffterer 1991, 204; Limbach 1994, 129ff.).
Davon ist allerdings die Fallgruppe zu unterscheiden, bei der die entsprechende Handlung zwar mit einer Strafandrohung verknüpft ist, die Tat jedoch noch nicht aufgedeckt ist oder nicht strafrechtlich verfolgt wird Obgleich sich bezüglich der Grenzsoldaten die Meinung vertreten läßt, diese hätten eine herausragende Machtposition innegehabt, da sie ehemalige DDR-Bürger an einem Grenzübertritt sogar mit Schußwaffengebrauch hindern konnten, fehlt es hier an einer Ausnutzung bestehender Organisationen durch die DDR-Grenzsoldaten selbst sowie an der Zielsetzung der Täter. Denn diese handelten nicht, um ihre eigene Macht zu erhalten oder auszubauen, sondern um Anordnungen der Befehlsgeber Folge zu leisten und um möglicherweise den nach ihrer subjektiven Überzeugung durch unerlaubte Grenzübertritte bedrohten Staat zu schützen. Es handelt sich daher bei den sogenannten Mauerschützen um Werkzeuge der politisch Mächtigen. Die nationale Volksarmee war eine Einrichtung, der sich die politisch Mächtigen zur Erreichung ihrer Ziele bedienen konnten. Deshalb sind die Taten der DDR-Grenzsoldaten nicht unter dem Begriff der Kriminalität der Mächtigen einzuordnen. Denn lediglich solche Personen, welche mit dem Ziel des Machterhalts ihre besondere Machtposition benützen, haben für die Kriminalität der Mächtigen Bedeutung.
Schwierigkeiten bestehen ferner in der Entdeckung und Verfolgung der fraglichen Taten. Denn die Parteibeschlüsse hatten für den Staats- und Verwaltungsapparat bindende Wirkung. Entsprechendes galt für Festlegungen der Parteizentrale gegenüber der Justiz und der Partei gegenüber dem Staat. Diese Umstände und politische Opportunität, deretwegen in der ehemaligen DDR seinerzeit die Strafverfolgung und die Anwendung der bestehenden Sanktionsnormen unterblieben, verdeutlichen in gleicher Weise die Ursachen wie die Charakteristik, welche zur Sanktionsimmunität der Täter geführt haben.
In neuerer Zeit häufen sich auch in der Bundesrepublik die Berichte über Übergriffe und Mißhandlungen einzelner Personen durch Polizeioder Strafvollzugsbeamte. Vor allem scheinen Angehörige von Minderheiten (etwa Vietnamesen) in Deutschland nicht selten durch Polizeibeamte körperlich mißhandelt zu werden (Bornewasser/Eckert 1995, 146 f.). Freilich mag es fragwürdig erscheinen, Polizisten wie auch andere Amtsträger als „Mächtige“ zu betrachten. Sicherlich kann man den „kleinen Polizeibeamten“, der seine Befugnisse überschreitet, nicht mit dem sein Amt mißbräuchlich nutzenden Minister auf die gleiche Ebene stellen. Doch läßt sich nicht verkennen, daß auch der Polizist im Rahmen eines Übergriffes als Träger staatlicher Herrschaftsgewalt handelt, die ihm gestattet, dem einzelnen Bürger mit einer herausragenden Machtbefugnis gegenüberzutreten, und nicht nur als Werkzeug seiner Vorgesetzten und Befehlsgeber. Es geht also hier um eine Art Exzeß in der Funktionsausübung. Denn auch der kleine Beamte nutzt seine Machtposition, welche über die alltäglichen zwischenmenschlichen Beziehungen hinausgeht, um seine Herrschaftsmöglichkeiten auszuleben und darzustellen. Da er nicht als Werkzeug übergeordneter Befehlsgeber handelt, unterscheidet er sich von den meisten ehemaligen Grenzsoldaten, die bei ihrem Tun in eine bestimmte Hierarchie eingegliedert waren. Wenngleich also der „einfache“ Polizist nicht an der Spitze.einer Hierarchie steht, so ist er doch als Mächtiger im hier verstandenen Sinne zu begreifen.
Deshalb verwundert nicht, daß viele westliche Staaten in neuerer Zeit sogenannte police complaint boards eingerichtet haben, um gegen etwaige Mißbräuche gleichsam selbstreinigend vorzugehen. Allerdings tut man sich hierzulande schwer, eine derartige Einrichtung zu schaffen (siehe jedoch Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg 19%, 986 ff., 1032, 1081 ff. zur Einführung eines unabhängigen Polizeibeauftragten), weil man meint, daß das etablierte Disziplinar- und Strafverfahren zur Verfolgung und Vorbeugung ausreicht und im übrigen neuzuschaffende Einrichtungen, die Mißhandlungen von Polizeibeamten untersuchen und rügen, von staatskritischen Kräften mißbraucht, Polizisten verunsichern und gegen die polizeiliche Effizienz ins Feld geführt werden könnten. Die ausländischen Erfahrungen stützen jedoch eine solche Befürchtung nicht und sind eher geeignet, das Vertrauen in die Polizei zu stärken als die polizeiliche Effizienz zu schwächen. Dies gilt besonders dann, wenn man die beeinträchtigte Opferseite, etwa durch Strafvereitelung (§§ 258 f. StGB) und Nichteinschreiten (z.B. bei „Chaos- Tagen“ oder extremistischen Übergriffen) oder „Abwimmeln“ des Opfers miteinbezieht. Dann könnte man auch eher dem polizeilichen Verlangen nach Erweiterung der Kompetenz, etwa nach dem Opportunitätsprinzip, nachgeben. Man hätte dann eine dem Klageerzwingungsverfahren (gem. § 172 StPO) vorgeordnete Kontrolle. Wenn ferner Staatsanwälte gar gegen den Widerstand der Polizei, etwa im Fall der sogenannten Göttinger Linie, ermitteln müssen, reichen Disziplinar- und Strafverfahren nicht mehr aus, um Rechtsordnung und Opferinteressen zu schützen.
Aufgrund dieser Sachlage und der Zurückhaltung gegenüber der Untersuchung polizeilicher Mißbräuche erstaunt es auch nicht, daß sich in Deutschland kaum Arbeiten und Studien zu diesem Thema finden lassen. Nach der Strafverfolgungsstatistik wurden 1994 insgesamt 91 Personen wegen Körperverletzung im Amt abgeurteilt, davon 20 auch verurteilt, hingegen 37 Angeklagte freigesprochen (StVSta 1994, 56 £.). Doch sagen die erwähnten Zahlen allein wenig aus; denn sowohl Umfang als auch Struktur polizeilichen Fehlverhaltens nach der Strafverfolgungsstatistik vermitteln ein völlig anderes Bild von der Polizei als z.B. eine Untersuchung, die polizeiliches Fehlverhalten nach Erfahrungen von Strafverteidigern, Opfern oder Bürgerinitiativen bemißt. Freilich sind auch hierbei Mißbräuche und Verzerrungen keinesfalls ausgeschlossen. Doch das nahezu völlige Fehlen von Forschungen auf dem Gebietpolizeilicher Mißbräuche erschwert die Orientierung und Vergewisserung über das Thema. Immerhin läßt sich aufgrund internationalen Vergleichs nicht begründen, daß in Deutschland polizeiliche Mißhandlungen weniger häufig verfolgt und durch Sanktionen geahndet würden als beispielsweise in England und Wales.
Die Beschäftigung mit polizeilichen Übergriffen gegenüber tatverdächtigen Personen führt unmittelbar in einen wichtigen Bereich der Kriminalität der Mächtigen, nämlich zur Aussageerpressung und körperlichen Mißhandlung, insbesondere zur Anwendung der Folter. Zum Schutz der Menschenwürde des Tatverdächtigen statuiert § 136 a StPO ein Verbot. Gerade die Folter verkörpert kennzeichnend den Machtmißbrauch gegenüber dem Unterlegenen, um eigene Ziele zu erreichen.
Die Folter läßt sich nach drei Merkmalen beschreiben. Zum einen muß sie große körperliche Schmerzen oder Leiden verursachen. Zum weiteren muß sie einem bestimmten Zweck dienen und drittens von einem Staatsorgan oder mit dessen Billigung angewendet werden (vgl. Art. 1, Abs. 1 der UN-Antifolterkonvention). Gerade die Folter als Mittel zur Sicherung und zum Ausbau bestehender Machtstrukturen nimmt einen herausragenden Platz innerhalb der Kriminalität der Mächtigen ein. Dadurch werden die typischen Merkmale dieses Begriffs auf besonders deutliche und grausame Weise offenkundig. Vor allem ist es der autoritäre oder totalitäre Staat, der sich der Anwendung der Folter bedient oder deren Anwendung toleriert, um auf diese Weise die Herrschaft zu stabilisieren. Die Folter manifestiert „die gewaltsame Dimension der Macht, die in Krisensituationen über die gesetzlichen Grenzen hinausläuft, und stellt zugleich ein Mittel dar, mit dem der autoritäre Staat auf drastische Weise signalisiert, daß er gegenüber den Personen keine Dialogbereitschaft hat und daß sie als Feinde der Gesellschaft anzusehen sind“ (vgl. Spirakos 1990, 36).
Die Renaissance von Folter und menschenunwürdiger Behandlung gegenüber Straffälligen und Gefangenen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, insbesondere während des Zweiten Weltkrieges, erschütterte die gesamte Völkergemeinschaft und verstärkte weltweit das Bestreben um Anerkennung und Schutz der Menschenrechte. Seither kann das Folterverbot wohl als zwingendes Völkergewohnheitsrecht gelten. Bereits die Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 bekannte sich in Art. 55 zur Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte, und die UN-Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 nahm den Kampf gegen die Folter auf. Gleichwohl sind Verletzungen von Menschenrechten inhaftierter Personen noch immer nicht ungewöhnlich, in manchen Teilen der Welt sogar alltäglich. Gefoltert wird unter Einsatz moderner Technologie („High-Tech-Folter“) und selbst unter ärztlicher Beobachtung, ganz abgesehen von der umstrittenen „Isolationsfolter‘“. Dadurch wird es schwieriger, Folterungen nachzuweisen, da sie oftmals keine äußerlich sichtbaren körperlichen Spuren hinterlassen. Deshalb besteht unverändert das Bedürfnis, den Menschenrechten besonders dort Aufmerksamkeit zu widmen, wo der Staat mit voller Machtentfaltung dem Bürger gegenübertritt und die Sicherung der Menschenrechte am gefährdetsten erscheint, nämlich bei der staatlichen Freiheitsentziehung. Diese Gefahrenlage hat auch dazu geführt, daß Folter und Mißhandlungen durch Staatsorgane zunehmend unter dem kriminologischen Konzept der „Kriminalität der Mächtigen“ erörtert werden (Spirakos 1990, 137 ff.).
Um Mißbräuchen entgegenzuwirken, gewährleisten sowohl der Internationale Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte vom 19. Dezember 1966 in Art. 7 als auch die Europäische Menschenrechtskonvention, die in Deutschland und der Schweiz jeweils als Bundesrecht gelten, in Österreich gar Verfassungsrang hat, in Art. 3 ausdrücklich den Schutz Inhaftierter vor Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe. Da ferner Menschenrechtskommissionen und Ausschüsse der Vereinten Nationen der Folter entgegenwirken wollen (dazu Bank 1996), kann und wird man sich fragen, welche Aufgaben ein europäisches Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe noch erfüllen soll. Doch das Ziel der Europäischen Antifolterkonvention gilt vor allem der Verhütung von Folter oder unmenschlicher und entwürdigender Behandlung von inhaftierten Personen. Es soll durch ein nichtgerichtliches Verfahren erreicht werden, indem ein international besetzter Ausschuß oder einzelne Ausschußmitglieder als Delegation in den Vertragsstaaten Besuche an Orten durchführen, an denen Personen die Freiheit entzogen ist. Damit zielt die Konvention nicht darauf, die einzelnen Staaten für schuldig zu erklären. Auch werden die Besuche durch den Ausschuß oder einzelne seiner Mitglieder primär nicht als von außen gegenüber dem jeweiligen Staat gerichtete „Kontrolle“ verstanden. Vielmehr soll im Wege der gegenseitigen Zusammenarbeit eine Verhütung von etwaigen Mißständen erreicht werden. Denn die Erfahrung zeigt, daß unverändert ein Bedürfnis für breitere und wirksamere internationale Kontrollmaßnahmen besteht, um vor allem den Schutz von Personen zu verstärken, denen die Freiheit entzogen ist. Die bislang vorliegenden etwa dreißig länderbezogenen Besuchsberichte und die bisher erstatteten sechs Jahresberichte des sogenannten Antifolteräusschusses zeigen denn auch, wie berechtigt die Annahme war und wie begründet das Bedürfnis für externe Kontrolle durch ein spezielles Besuchssystem ist. Dies ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der nur partiellen Umsetzung internationaler Mindestgrundsätze im Strafvollzug, der langen Verfahrensdauer vor der Europäischen Menschenrechtskommission und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sowie der geringen Erfolgsaussichten der Beschwerden zu sehen. Zusätzliche Bestrebungen zur Reform dieser Organe sollen daher deren Wirksamkeit verbessern Indem jedoch noch immer bestehende Institutionen zur Erreichung der persönlichen Ziele wie Machterhalt und -ausbau kriminell mißbraucht werden, wird zugleich die Kriminalität der Mächtigen verdeutlicht. Wird die Folter vom Staat gezielt eingesetzt oder geduldet, so sind eine Sanktionierung der Taten bzw. eine Verurteilung der Täter äußerst selten.
3. Makrokriminalität und kollektive Gewalt
Schrifttum: Benz (Hrsg.), Dimension des Völkermords. München 1991; Grabitz/ Bästlein/Tuchel (Hrsg.), Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Berlin 1994; Harff/Gurr, Victims ofthe State: Genocides, Politicides and Group Repression from 1945 to 1995. In: Pioom-Newsletter and Progress Report, Vol. 7 (1995), 1, 24-41; Jäger, Versuch über Makrokriminalität. StV 8 (1988), 172-179; ders., Makrokriminalität. Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt. Frankfurt/M. 1989; Kierman, The Pol Pot Regime. Race, Power and Genocide in Cambodia under the Khmer Rouge, 1975-1979. New Haven 1996; v. Stietencron/Assmann (Hrsg.), Töten im Krieg. Freiburg 1995; Walter, Zur Reichweite des Konzepts Kriminalität – Einige Überlegungen zur,‚Makrokriminalität“ Herbert Jägers. KrimJ 26 (1993), 117-133.
Im Gegensatz zu Einzelfällen der Mißhandlung im Rahmen von Alltagsoder „Mikrokriminalität‘ kann man so unterschiedliche Phänomene wie Genozid, Kriegsverbrechen, Staatsterrorismus und nukleare Massenvernichtung unter dem Begriff „Makrokriminalität‘“ zusammenfassen. Es handelt sich dabei um Planung, Vorbereitung, Einleitung und Führung eines Angriffskrieges, um die Mißhandlung oder Verschleppung der zivilen Bevölkerung, um die gezielte Zerstörung von Städten und Wohngebieten, ferner um die Ausrottung, Versklavung, Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, kurz um die meisten Tatbestände des sogenannten Völkerstrafrechts (vgl. Jäger 1988, 172ff., Benz 1991, und Grabitz u.a. 1994, sowie Stietencron u.a. 1995; zur Entwicklung 1945-1995 siehe Harff u.a. 1995, 26 ff.). Obwohl derartige Formen kollektiver Gewalt seit langem bekannt sind, hat uns die „Nahraum-Moral“ offenbar bislang daran gehindert, derartige Ereignisse uneingeschränkt als Kriminalität wahrzunehmen. Ob dieses herkömmliche normative Vakuum auch eine der Bedingungen dafür ist, daß es überhaupt zu solchen Verbrechen kommt, erscheint jedoch fraglich. Richtig ist hingegen die Beobachtung, daß der „staatsinternen Pazifizierung“ die „kontrastierende Bewertung von Gewalt und Krieg“ gegenübersteht. Bei alledem handelt es sich um Erscheinungsformen der Kriminalität, für die charakteristisch ist, daß sie von Regierungen angeordnet, ausgelöst, gefördert oder systematisch verschleiert werden. Daher verwundert nicht, wenn Staats- und Völkerrechtsverbrechen herkömmlich aus der Kriminologie weitgehend ausgeblendet werden. Es handelt sich hier wohl um die Einschränkung der Kriminalitätswahrnehmung, also um einen Fall der Konstituierung von Kriminalität überhaupt (kritisch Walter 1993, 117 ff.). Die Wahrnehmung wird nicht zuletzt deshalb erschwert, weil die weitaus überwiegende Zahl der Tötungs- und Gewaltakte nicht unter den Bedingungen sogenannter Devianz, sondern unter denen der rollenkonformen Übereinstimmung mit den faktischen Erwartungen und Verhaltensnormen des Kollektivs geschieht, dem der Handelnde angehört. Dem entspricht, daß die individuelle Zurechenbarkeit derartiger Akte fragwürdig erscheint. Dies nicht nur deshalb, weil sie weitgehend systemgebunden sind, sondern auch häufig im Ausnahmezustand des Krieges geschehen und deshalb mit anderen Maßstäben gemessen werden als Straftaten, die man im Min bzw. in Zeiten relativer Normalität begeht.
Eine besonders wichtige Bedingung der Makrokriminalität scheint in der kollektiven Veränderung moralischer Wertorientierungen und in Neutralisationsmechanismen zu bestehen, die zur Schwächung oder sogar zur völligen Suspendierung sonst wirksamer Normvorstellungen, Kulturverboten, Hemmungen und Gewissensreaktionen führen. Auch mag man leicht der Suggestion erliegen, kollektive Verbrechen als das verselbständigte Handeln von „Systemen“, „Apparaturen“ und organisierten Großgruppen, also als Systemunrecht, zu interpretieren, das für persönlich motivierte Verhaltensweisen keinen Raum mehr läßt. Doch wie die Analyse der sogenannten NS-Gewaltverbrechen aufgrund der Nachkriegsprozesse ergeben hat, handelt es sich dabei um eine vereinfachende Vorstellung. Denn auch „Systeme“ bestehen aus dem Handeln einzelner, insbesondere einzelner Funktionsträger. Deshalb muß das Erkenntnisinteresse gerade auf das Individualverhalten und die konkreten Bedingungen individueller Verantwortlichkeit gerichtet sein. Auch Systemunrecht kann als persönliches Vollzugsunrecht der Funktionäre effektiv verfolgt werden. Dennoch ist wohl richtig gesehen, wenn angenommen wird, daß der Bereich der Makrokriminalität von den verinnerlichten Normen und Wertvorstellungen unserer Nahraum-Moral nicht erreicht wird. Techniken der Neutralisierung, also Rationalisierungen und Rechtfertigungsstrategien, durch welche die aus internalisierten Normen und Umwelturteilen stammende Mißbilligung des Eigenverhaltens im voraus abgewehrt wird, also alles, was zur Abschwächung, Relativierung und Ausscheidung des Gewalt- und Tötungstabus und damit zusammenhängender Handlungshemmungen beiträgt, zählen zu dem Bedingungsgefüge. Sie liefern überdies generell den Schlüssel dafür, daß Täter mit normaler Sozialisation sich überhaupt zu Deliktsformen hinreißen lassen, die man – sei es als Gewalt oder als Korruption — der Kriminalität der Mächtigen zuordnen kann
4. Politischer und wirtschaftlicher Machtmißbrauch durch Korruption
Schrifttum: Bellers (Hrsg.), Politische Korruption. Vergleichende Untersuchungen. Münster 1989; Bernasconi, Internationale Anti-Korruptionskonvention — Entwurf und Kommentar. In: Aspekte des Wirtschaftsrechts. Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 1994, hrsg. v. Walder u.a. Zürich 1994, 423-440; Claussen, Korruption im öffentlichen Dienst — Gefahren und ihre Abwehr. Ein Überblick aus verwaltungsrechtlicher Sicht. Köln 1995; Dölling, Empfehlen sich Änderungen des Straf- und Strafprozeßrechts, um der Gefahr von Korruption in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft wirksam zu begegnen? Gutachten zum 61. DIT, Karlsruhe 1996. München 1996; Kerner/Rixen, Ist Korruption ein Strafrechtsproblem? Zur Tauglichkeit strafgesetzlicher Vorschriften gegen die Korruption. GA 143 (1995), 355-396; Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Strafrechtliche Korruptionsbekämpfung — insbesondere Bestechungsdelikte. Rechtsvergleichendes Gutachten im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz. Unveröff. Auszug aus dem Gesamtgutachten. Freiburg 1996; Schaupensteiner, Bekämpfung von Korruptionsdelinquenz — Vom Unwesen des Bestechens und Bestochenwerdens. Kriminalistik 48 (1994), 514-524; ders., Das Korruptionsbekämpfungsgesetz. Kriminalistik 50 (1996 a), 237-243, 306-313; ders., Gesamtkonzept zur Eindämmung der Korruption. NStZ 1996 b, 409-416; Scholz, Korruption in Deutschland. Die schmutzigen Finger der öffentlichen Hand. Reinbek bei Hamburg 1995; Vahlenkamp/Knauß, Korruption — Hinnehmen oder Handeln. Wiesbaden 1995; Wewer, Prolegomena zur Untersuchung der Korruption in der Verwaltung. In: Zwischen Kooperation und Korruption, hrsg.v. Benz/Seibel. Baden-Baden 1992, 295-324; White, The Fight against International Corruption: towards a European Strategy? In: Agon Bull no. 13, October 1996, 3-6.
In dem bislang erörterten thematischen Zusammenhang wird vornehmlich an Taten von politisch Mächtigen nicht demokratischer Systeme gedacht. Gleichwohl ist auch innerhalb demokratisch-rechtsstaatlicher Systeme Kriminalität der politisch Mächtigen nicht un gewöhnlich. Zwar wird hier meist von Skandalen oder Affären gesprochen und dadurch bereits sprachlich von einer strafrechtlichen Bewertung oder einer Einordnung als kriminelle Handlung Abstand genommen. Man rückt deshalb derartige Verhaltensformen gern in den gedanklichen Zusammenhang der politischen Kultur. Dies will besagen, daß die Ausübung von Herrschaft heute unter einem höheren Legitimationsdruck steht als jemals zuvor. Verhaltensformen, die man früher kaum problematisiert hat, erweisen sich daher in der Gegenwart zunehmend als skandalfähig, wie sich z.B. an Parteispendenaffären im In- und Ausland zeigt. Das Vertrauen des Bürgers in die Integrität des Staates, seiner Institutionen und Funktionsträger erscheint gefährdet. Folglich mußte in Deutschland aufgrund des öffentlichen Protestes Anfang der achtziger Jahre das Vorhaben der sogenannten Steueramnestie für steuerhinterziehende Parteispender abgebrochen werden. Entsprechend hat man in Frankreich Mitte 1995 eine Generalamnestie wegen Bestechungsdelikten, die von mehr als 70 ehemaligen Ministern, Bürgermeistern, Abgeordneten, Wirtschaftsführern, Bankiers und Bauunternehmern, die wegen Korruption verdächtigt oder angeklagt waren, nach der Wahl erwartet wurde, abgelehnt. Korruption — überwiegend Synonym für Bestechung, Bestechlichkeit sowie Vorteilsannahme und -gewährung (§§ 331 ff., 108 e StGB, 12 UWG) verallgemeinernd auch für Sittenverfall — hat offenbar Signalwirkung. Hinter ihr steht bereits die Republik. Deshalb bietet die Korruption der Sozial- und Herrschaftskritik ein so ergiebiges Feld im Gegensatz zu prosaischen Individualverfehlungen der Untreue oder der Steuerhinterziehung, so schadensträchtig diese auch sein mögen. Bei der Steuerhinterziehung, selbst bei Verrat von Betriebsgeheimnissen, Spionage und Landesverrat, um faktisch benachbarte Tatbestände einzubeziehen, sehen wir uns noch dem Schicksal und der Pathologie des einzelnen gegenüber. Ihre publizistische Attraktivität hält sich demgemäß in Grenzen. Bei der Korruption hingegen stehen Gesellschaft und Staat, ja die politische Kultur schlechthin auf dem Prüfstand. Erst hier wird es möglich, dem moralischen Impetus Geltung zu verschaffen. Dem kommen die Vagheit und Konturenlosigkeit der Korruption entgegen. Offenbar bietet dieser Begriff für unterschiedlich motiviertes Unbehagen Raum. Er strukturiert und sättigt vagabundierende Bedürfnisse nach Herrschaftskritik, ja liefert gar ein neues „Feindbild“. Dies erscheint um so wichtiger, als die Sexualmoral bzw. abweichendes Sexualverhalten mit Ausnahme von Kinderschändung und Sexualtourismus kaum noch resonanzträchtige Möglichkeiten zur moralischen Entrüstung eröffnen. Ebenso aufschlußreich wie treffend wird die Korruption in die „Grauzone zwischen Recht und Politik“ gerückt (Bellers 1989, 82). Dieser Ort der Korruption mit seiner spezifischen Affinität’zur politischen Kultur zeigt an, daß offenbar nur bestimmte Fälle oder Fallgruppen geeignet sind, Staat und Gesellschaft nachhaltig zu erschüttern. Zwar sind fast überall, nicht zuletzt durch den internationalen Harmonisierungsdruck, Bestechung und Vorteilsannahme im Bereich des öffentlichen Dienstes kriminalisiert. Dennoch bestehen zwischen einem Backschisch, gegeben bei der Einreise in ein Entwicklungsland, um eine schnellere Paßkontrolle zu erreichen, und der Parteispendenaffäre oder der Bestechung staatlicher Machtträger gravierende Unterschiede in Dimension und Tragweite. Deshalb wird man bei Korruptionserscheinungen sinnvoll dadurch differenzieren, daß man Fälle sogenannter Kleinkorruption von schweren Korruptionsfällen abhebt und ferner zwischen Korruption im öffentlichen Bereich (politische Korruption) und solcher in der Privatsphäre, einschließlich sogenannter Wirtschaftskorruption, unterscheidet. Voraussetzung für die politische Korruption ist ein Verstoß gegen auf das Allgemeinwohl bezogene Interessen im Rahmen einer Öffentlich zu verantwortenden Tätigkeit, also einem Amt, zugunsten von Privatbelangen. Hier liegt ganz überwiegend das Hauptgebiet der gegenwärtigen Korruptionsproblematik. Sie umfaßt auch die seit 1994 kriminalisierte Abgeordnetenbestechung (vgl. § 108 e StGB).
Bei alledem handelt es sich um freiwillige Austauschbeziehungen, nicht hingegen um solche, die gewaltsam erzwungen wurden. Immerhin gibt es Übergänge zu Erpressung und zu Gewalthandlungen durch organisiertes Verbrechen.
Allerdings erfolgt Amtsmißbrauch durch Korruption nicht nur auf höchster politischer Ebene, sondern auch im Rahmen nachgeordneter öffentlicher Verwaltung. Mehrere skandalfähige Fälle aus Frankfurt, München und Stuttgart sind in der Gegenwart bekanntgeworden. Die Polizeiliche Kriminalstatistik, welche die Bestechungsdelikte erstmals für das Jahr 1994 aufgeschlüsselt ausweist, hat 1995 insgesamt 2875 Fälle mit 2078 Tatverdächtigen erfaßt, wobei im Falle aktiver Bestechung etwa zwei Drittel auf Nichtdeutsche entfallen (PKS 1995, Tab. 1, Bl. 14 f.; ferner Claussen 1995, zum Ganzen Vahlenkamp u.a. 1995, 61 ff., 115 ff; weitere N. bei Scholz 1995, 204 ff.). Häufig sind Amtsträger in.der Bauverwaltung überrepräsentiert, die mit der Vergabe von Aufträgen befaßt sind und bestochen werden. Offenbar besteht dort ein erhöhtes Risiko zu Korruption, wo die gewöhnlichen Kontrollmechanismen innerhalb der Verwaltung stark eingeschränkt sind oder versagen (vgl. Wewer 1992, 319). In diesem Kontext sind besonders die Geheimdienste zu nennen, weil es hier nur ein recht vereinfachtes, letztlich kaum kontrollierbares Belegwesen gibt. Weiterhin ist festzustellen, daß Korruption außerdem dort wahrscheinlich ist, wo viel Geld auf dem Spiel steht und wo externe Abhängigkeiten bestehen. Das ist z.B. dann der Fall, wenn der Staat Alleinabnehmer für bestimmte Produkte ist oder Aufträge in Millionenhöhe vergibt. Besonders in solch einer Situation verfügt der Amtsträger über eine herausragende Machtstellung und kann diese für eigene Zielenutzen. Vor dem Hintergrund, daß Korruptionsfälle nicht stets bekannt werden oder nicht zur Anzeige, geschweige Aburteilung, gelangen, geben amtliche Statistiken keine genauen Aufschlüsse über das wirkliche Ausmaß der Korruption. Vielmehr ist von einem beachtlichen Dunkelfeld auszugehen, da Korruptionsdelikte in der Regel keine natürlichen Personen als Opfer kennen und sowohl Geber als auch Nehmer von illegalen Zuwendungen als Täter an einer Verschleierung des Delikts interessiert sind (Dölling 1996, 16).
Wirtschaftskorruption hängt eng mit der Kriminalität der wirtschaftlich Mächtigen zusammen. Der sozialschädliche Charakter wird dadurch unterstrichen, daß derartige Delikte häufig mit Betrug, Untreue und Steuerdelinquenz (§ 392 AO) zusammentreffen. Hier geht es um private Gewinnmaximierung und Stärkung der eigenen Position im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf als die wichtigsten Antriebskräfte für die Wirtschaftskriminalität. Angesichts der Kommerzialisierung sportlicher Aktivitäten verwundert es nicht, wenn auch der Sport zunehmend in den Sog der Korruption geraten ist, wie neuere Beobachtungen des europäischen Fußballgeschehens erkennen lassen. Im übrigen liefern als Fälle von Wirtschaftskorruption besonders Subventionsbetrug, Wettbewerbsdelikte und Industriespionage weitere Beispiele.
Nicht selten steht die Kriminalität der wirtschaftlich Mächtigen mit jener der politisch Mächtigen in enger Verknüpfung, wie bereits die obigen Beispiele veranschaulichen. Zwar haben die beiden Gesetze zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität die Strafverfolgungsmöglichkeiten in Deutschland verbessert, jedoch darauf verzichtet, wettbewerbsbeschränkende Absprachen und den Mißbrauch wirtschaftlicher Machtpositionen unter Strafe zu stellen. Erst neuerdings will der Gesetzgeber dem ernsthaft entgegenwirken.
Weiterhin ist zu beachten, daß häufig internationale Verflechtungen komplexer Tatstrukturen vorliegen, welche die Beweislage erheblich erschweren und damit eine Strafverfolgung verhindern. Jedoch ist es vor allem die Größe und die damit einhergehende Wirtschaftsmacht und nicht so sehr der multi- oder transnationale Charakter der Unternehmen, welche zum Mißbrauch reizen. Im übrigen versuchen die Steuerverwaltungen durch Einigung mit dem betroffenen Unternehmen, die entgangenen Steuern ganz oder teilweise nachzuerheben, so daß das Interesse an der Verhängung von Kriminalstrafen aus fiskalischer Sicht zurücktritt.
Obwohl nach Ablösung der sogenannten „gift-giving-Tradition“ Bezeichnung und Erscheinungen der Korruption sich allmählich herausgebildet haben, vermittelt erst der moderne Verwaltungsstaat mit seinen Ansprüchen, demokratisch, rechts- und sozialstaatlich, d.h. zweckrational, objektiv und unpersönlich zu handeln, dem Begriff Schubkraft und Bedeutung. Denn die Korruption absorbiert nicht nur existentiell notwendige Ressourcen, sondern rüttelt geradezu an Selbstverständnis, Glaubwürdigkeit und Legitimation des Gemeinwesens, insbesondere wenn Führungseliten in sie verwickelt sind. Insofern verbindet sich mit dem Hinweis auf Korruption eine sozialkritisch-denunziatorische Funktion.
Wegen der Bedeutung widmen sich internationale und zwischenstaatliche Übereinkommen zunehmend der Korruptionsbekämpfung (vgl. Bernasconi 1994, 423-440 m.N.). So enthält auch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft in den Art. 85 ff. ihres Gründungsvertrages Wettbewerbsregeln für Unternehmen und damit Vorschriften gegen den wirtschaftlichen Machtmißbrauch. Vereinbarungen, die dagegen verstoßen, sind nichtig. Auch kann die Beachtung der Regeln durch Geldbußen und Zwangsgelder durchgesetzt werden. Außerdem haben sich die Mitgliedstaaten der EU im Ersten Protokoll zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften von September 1996 verpflichtet, ihre strafrechtlichen Regelungen auf die gemeinschaftsschädlichen Bestechungen der Amtsträger der Europäischen Gemeinschaften und der anderen EU-Mitgliedstaaten zu erstrecken (Recht 1996, 6, 97). Ferner dürften die Harmonisierung der Rechtsordnungen sowie die Einrichtung von grenzüberschreitenden Kommissionen als Verfolgungsorganen und ein intensiver Rechtshilfeverkehr zwischen den Staaten der Korruption besser entgegenwirken. Auch wenn man die notwendige Stärkung des Rechtsbewußtseins der Öffentlichkeit und die Verbesserung der zivil-, verwaltungs- und steuerrechtlichen Vorschriften sowie schließlich die Einrichtung interner Kontrollen und eines sogenannten Korruptionsregisters (zu den Widerständen det Wirtschaft vgl. FAZ Nr, 294 v. 17.12.1996) in ihrer Bedeutung nicht verkennt, bleibt doch der Schwerpunkt der Bekämpfung der juristisch faßbaren FRE AEG unverändert beim Strafrecht (vgl. Dölling 1996, 110).
Demgemäß sehen auch die Vorschläge für eine effektivere Bekämpfung der Korruption die Kriminalisierung des Ausschreibungsbetruges, die Erhöhung des Strafrahmens der Bestechung und der Bestechlichkeit sowie für die Fälle der Wirtschaftskorruption gem. § 12 UWG, ferner die Einführung der Telefonüberwachung und der Kronzeugenregelung vor (so der im November 1995 vorgelegte SPD-Entwurf eines Korruptionsbekämpfungsgesetzes; dazu eingehend Schaupensteiner 1996 a, 237 ff., 306 ff.). Ein von der Regierungskoalitation im Juni 1996 vorgelegter Gesetzentwurf hat diese Vorschläge teilweise aufgegriffen, verzichtet aber auf die Telefonüberwachung und die Kronzeugenregelung (vgl. Schaupensteiner 1996 b, 409 £.). Auch der 61. Deutsche Juristentag, der sich im September 1996 mit der Korruptionsthematik befaßt hat, äußerte sich in seiner Beschlußfassung ebenso wie die dazu erarbeiteten Gutachten eher zurückhaltend. Wohl wurde erkannt, daß im Hinblick auf die bekanntgewordenen Handlungsweisen dringender Handlungsbedarf bestehe. Bekämpfungsmaßnahmen müßten aber auf verschiedenen Ebenen erfolgen, wobei der Prävention der Vorrang zukomme. Demgemäß schenkte der Deutsche Juristentag Ansätzen außerhalb des Strafrechts besondere Aufmerksamkeit, während er der Verschärfung des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts eher eine nachrangige Aufgabe zuwies (vgl. die Beschlußfassung in NIJW 1996, 1295 ff.). Die gelegentlich geäußerte Furcht vor einer „Verpolizeilichung“ des Strafprozeßrechts (so etwa Kerner/Rixen 1996, 395) erscheint daher unbegründet. Eine rechtsvergleichende Studie des Max- Planck-Instituts zu den Antikorruptionsbestimmungen in 19 Ländern gelangte im übrigen zu dem Ergebnis, daß sich konkrete Änderungsvorschläge für das deutsche Recht auf der Grundlage des ausländischen Rechts nicht aufdrängen (Max- Planck-Institut 1996, 676).
Es ist jedoch Aufgabe von Polizei und Justiz, die strafrechtlichen Normen durchzusetzen. Das Gelingen dieser Aufgabe aber wird nicht nur zum Prüfstand des Strafrechts und der Kriminalpolitik, sondern für Gleichheit und Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft schlechthin.
5. Zusammenfassung
Schrifttum: Bock, Kriminalität der Mächtigen. Kritische Anfragen an ein in die Jahre gekommenes Konzept und Seitenblicke auf jüngere Verwandte. In: Kriminologische Opferforschung, hrsg.v. Kaiser/Jehle. Teilband 1. Heidelberg u.a. 1994, 171-186; Lampe, Systemunrecht und Unrechtssysteme. ZStW 106 (1994), 683-745.
Kriminalität der Mächtigen ist ein herrschaftskritischer Topos. Er meint Straftaten, die zur Stärkung oder Verteidigung überlegener Macht begangen werden. Regelmäßig erfolgen sie im Rahmen von Unrechtssystemen. Man begreift sie deshalb zunehmend als Systemunrecht. Kriminelle Zwecksetzung, Verantwortungsminderung der Untergebenen, Risikopotential und konkrete Gefährlichkeit sind dafür kennzeichnend (Lampe 1994, 695, 713 ff.). Als sogenannte Mächtige sind vornehmlich statushohe Personen oder Eliten in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft betroffen. Aufgrund ihrer leitenden Funktion obliegt ihnen gesteigerte Systemverantwortung. Der Mißbrauch der herausragenden Machtstellung, die Neutralisierungsmechanismen und die weitgehende Sanktionsimmunität lassen sich als übergreifende Merkmale hervorheben, ganz abgesehen von dem hohen Gefahren- und Schadenspotential.
Obwohl Machtausübende häufig durch Organisationen und Unrechtssysteme wirken, deckt sich die Kriminalität der Mächtigen nicht mit dem organisierten Verbrechen. Denn hier kann von Amts- oder Machtmißbrauch mit Ausnahme der Anstiftung hierzu nur selten die Rede sein, weil es zumindest an der Legalität der Funktionsausübung mangelt.
Zwar ist für die Kriminalität der Mächtigen die Formenvielfalt charakteristisch. So heterogene Handlungen wie kollektive Gewalt durch Völkermord, Kriegsverbrechen oder „ethnische Säuberungen“ werden ebenso einbezogen wie „Gehirnwäsche“, Rechtsbeugung, Folter und Korruption. Auch ist der Kritik zuzugeben, daß weniger neue Konzepte als vielmehr bessere Möglichkeiten des Zugangs zu den relevanten Tatsachen sowie eine grundsätzliche Bereitschaft gefordert sind, sich ohne moralische Entrüstung für Person und Umfeld der einschlägigen Tätergruppen zu interessieren. Ferner läßt sich nicht verkennen, daß das Konzept der Kriminalität der Mächtigen wohl verschiedenartige, aber doch zusammengehörige Erscheinungen zu bündeln und darauf als heuristisches Prinzip die Aufmerksamkeit zu lenken vermag. Dies trifft auch dann zu, wenn man die Frage, worin sich denn die kriminellen von den nichtkriminellen Mächtigen jenseits der Verbrechensbegehung unterscheiden, weder gestellt noch beantwortet hat. Die spezifische Blickschärfung für und vertiefte Analyse von Erscheinungen kriminell anfälliger oder pervertierter Systeme rechtfertigen es jedoch, die mißbräuchliche Machtäußerung konzeptuell zu verselbständigen und ihr dadurch ein besonderes Forschungsinteresse zu widmen. Die Risiken für ebenso intensive wie breite Viktimisierung unterstreichen die Bedeutung. Dabei geht es primär keinesfalls um die Wiederherstellung der sozialen Symmetrie in dem Sinne, daß die verbreitete Unterschichtkriminalität durch die Kriminalität höherer Schichten ergänzt wird. Auch besteht nicht zwangsläufig die Gefahr, in einen „kriminologischen Moralismus“ zu verfallen, wie Bock (1994, 178 £.) befürchtet. Vielmehr handelt es sich vor allem darum, den kriminologischen Blick für Gefahrenpotentiale zu schärfen, die sich herkömmlich weitgehend dem wissenschaftlichen Zu griff entzogen haben; eigentlich ohne legitimen Grund, wie wir heute wissen.
§ 24 Theorien des Verbrechens und der Kriminalität
1. Konzepte zur Erklärung der Kriminalität als Sozialerscheinung
Wie bereits die allgemeinen Analysen und der Überblick zur Theoriebildung erkennen lassen, sind die gängigen Konzepte entweder täterorientiert oder auf die Verbrechenskontrolle bezogen. Demgegenüber finden sich kriminalitätsspezifische Erklärungen seltener. Eine solche Beurteilung gilt sowohl für die Deutung der Kriminalität in einem bestimmten Zeitpunkt (Querschnittsanalyse) als auch für jene der Kriminalitätsentwicklung (Längsschnittsanalyse). Dies schließt freilich nicht aus, daß Theoriebruchstücke oder formelhaft verkürzte Erklärungsansätze an die Stelle von sonst genauer ausgearbeiteten Theorien treten. Vor allem trifft dies für die Anomietheorie zu, die trotz aller Schwächen neben der Kulturkonflikttheorie noch immer reiches Erklärungspotential enthält und Chiffren zur Entschlüsselung der zeitgenössischen Kriminalität liefert. Beide Konzepte haben durch die aktuellen Modernisierungstheorien neue Schubkraft erhalten. Die partielle Deckungsfähigkeit und Stimmigkeit mit der Kontrolltheorie (siehe unten § 28, 4) ist unverkennbar. Man denke nur an so gängige Beschreibungen wie Bindungs- und Orientierungslosigkeit, Entfremdung, soziale Isolierung und Normlosigkeit. Der Anomietheorie sind auch die Chancenstrukturtheorie und ferner eine Version der Subkulturtheorie zugeordnet, obschon diese zugleich täterorientiert begriffen wird. Nach ihrem Aussagegehalt sind jedoch Kulturkonflikt- und Subkulturtheorie enger gefaßt, so daß sie dort, wo sie ihre spezifische Erklärungskraft am ehesten entfalten können, nämlich bei der Ausländer- und der Gruppenkriminalität, speziell erörtert werden (vgl. unten §§ 31, 3.2 und 38).
2. Anomietheorie der Zielerreichung mit unzulässigen Mitteln
Schrifttum: Adler/Laufer (eds.), The Legacy of Anomie Theory. New Brunswick/ N.J. 1995; Amelang, Sozial abweichendes Verhalten. Berlin u.a. 1986; Bohle, Soziale Abweichung und Erfolgschancen. Die Anomietheorie in der Diskussion. Neuwied u.a. 1975, Cloward/Ohlin, Delinguency and Opportunity. A Theory of Delinquent Gangs (1960). London 1961; Diekmann/Opp, Anomie und Prozesse der Kriminalitätsentwicklung im sozialen Kontext. ZfSoz 8 (1979), 330-343; Frey/Opp, Anomie, Nutzen und Kosten. Soziale Welt 30 (1979), 275- 294, Lamnek, Wider den Schulenzwang. München 1985; Merton, Social Structure and Anomie. ASR 3 (1938), 672-682; ders., Sozialstruktur und Anomie (1957). In: Kriminaisoziologie, hrsg. v. Sack/König. Frankfurt/M. 1968, 283-313; Orrü, Anomie. History and Meanings. Boston u.a. 1982; Sack, Kriminalitätstheorien, soziologische. In: KKW 1993”, 271-280.
Die Anomie zählt zu den bedeutendsten Grundbegriffen der modernen Kriminalsoziologie. Nach ihrem ursprünglichen Wortsinn bedeutet sie Norm- oder Gesetzlosigkeit. Die Bezeichnung entstammt dem Griechischen und wurde bereits von Luther (1527) und Hobbes (1698) gebraucht (vgl. Orrü 1987, 8, 12 ff., 68 ff. m.N.). Der französische Sozialwissenschaftler Durkheim führte sie zur Charakterisierung eines besonderen Typus des Suizids (1897) sowie zur Beschreibung von Gesellschaften mit einer entwickelten arbeitsteiligen Wirtschaft (1893) und schnellem sozialen Wandel ein. Vor allem in Zeiten sozialer Umwälzung erschlafft das Gemeinschaftsgewissen; die bisherigen Normen und Kontrollen werden unwirksam. In solchem Zustand verliert der Mensch die Beschränkungen, die ihm die Gesellschaft auferlegt hat; er neigt zu unerfüllbaren Ansprüchen. Orientierungslosigkeit und Bedürfnisfrustration äußern sich in gesteigerter Kriminalität.
Der Begriff der Anomie ist von der nordamerikanischen Sozialwissenschaft in den dreißiger Jahren aufgegriffen, fortentwickelt und theoretisch verfeinert worden. Jetzt beschränkt sich das Anomiekonzept nicht mehr darauf, Phänomene der Normlosigkeit zu beschreiben oder festzustellen. Vielmehr befaßt es sich mit den Bedingungen der Entstehung von Normlosigkeit, und genauer mit den Prozessen strukturell bedingter Wandlungen und Steuerungseinbußen von normativen Regelungen. Nach der neueren Fassung der Anomietheorie, die im wesentlichen auf den amerikanischen Soziologen Merton (1938, 672 ff.) zurückgeht, sieht man die anomischen Bedingungen nicht mehr in der Kluft zwischen Bedürfnislage und Befriedigungsmöglichkeiten, sondern zwischen kulturell bestimmten Zielen und den sozialstrukturellen Mitteln zu ihrer Verwirklichung.
Die Anomietheorie beruht also auf der Annahme, daß diejenigen, denen die Gesellschaft nicht auf legalem Wege z.B. die Chance auf Wohlstand vermittelt, eher als andere dahin gedrängt werden, ihn auf illegalem Wege – z.B. durch Eigentumsdelikte — anzustreben. Der Unterschichtsangehörige ist im Hinblick auf die gesamtgesellschaftlich geltenden Ziele, denen er folgt, im Hinblick auf die allgemein geltende Wertorientierung, die er teilt, mit unzureichenden Mitteln ausgestattet. Diese Spannung und ihr Bewußtwerden „drängen“ ihn zur Wahl illegitimer Mittel oder zur Ausbildung von delinquenten Verhaltensweisen mit den in gleicher Lage befindlichen Partnern. So gesehen nimmt die Anomietheorie die soziale Drucksituation zum Ausgangspunkt. Sie ist ein Versuch, vor allem die überproportionale Beteiligung der unteren Sozialschichten an der Diebstahlskriminalität, die sich in der modernen Industriegesellschaft durchweg beobachten läßt, zu erklären. Darüber hinaus ist die Anomietheorie bestrebt, die sozialstrukturell benachteiligende Lage im Sinne der erwünschten soziokulturellen Ziele zu verändern (Cloward/Ohlin 1960, 211). Damit sucht sie allerdings, die Kriminalität zu überwinden und dadurch gegenstandslos zu machen.
Die Anomietheorie hat fast vierzig Jahre lang “ als Glanzstück einer soziologischen Theorie abweichenden Verhaltens“ gegolten (Bohle 1975, 1, 199). Der Begriff „Anomie“, psychologisch durch Gefühle der Einsamkeit, Isoliertheit, Fremdheit, Macht- und Hilflosigkeit gekennzeichnet, bedeutet ursprünglich nichts anderes als Norm-, Bindungs- und Orientierungslosigkeit als die subjektive Seite sozialer Desintegration. Es handelt sich um einen Sachverhalt, der anders gewendet als Bindungsverlust auch für die Erklärung des Verbrechens als Individualerscheinung im Rahmen der Kontrolltheorie relevant wird. Insofern ist er unverändert hilfreich, aussagekräftig und anregend, etwa zur Deutung der Drogenkriminalität und Demonstrationsgewalt sowie zum Kriminalitätsanstieg aufgrund politischer Umwälzungen wie in Osteuropa zu Beginn der neunziger Jahre. Im übrigen jedoch bleibt hinter dem hohen heuristischen Wert des Anomiekonzepts dessen empirische Bewährung weit zurück (Amelang 1986, 163). Die “ empirische Evidenz der Anomietheorie“ ist daher „unbefriedigend“ (Bohle 1975, 204). Da im Hinblick auf die reduzierten legitimen und gehäuft illegitimen Mittel nur in der Unterschicht anomische Zustände erwartet werden, ist strenggenommen auch nur Unterschichtkriminalität damit erklärbar (Amelang 1986, 159). Überdies werden kulturelle Ziele und soziale Schichten nur vage und unzureichend umschrieben. Sie werden ferner mit einem einheitlich gedachten Wert- und Normensystem in der Gesellschaft verknüpft, obwohl die Vielheit unterschiedlicher Normensysteme einer solchen Annahme widerspricht. Auch finden soziale Reaktionen und Kontrollprozesse in diesem Konzept keinen Platz.
Den Erklärungsmangel der Anomietheorie kann auch die einschlägige Mertonsche Verhaltenstypologie nach Auflehnung, Neuerung, Konformität, Ritualismus und Rückzug nicht ausräumen. Denn sie vermag nicht zu begründen, unter welchen Bedingungen die einzelnen Anpassungsarten vorliegen und wann nicht. Sie verfehlt damit “ eine zentrale Pointe: Sie benennt nicht die strukturellen Bedingungen, unter denen welche Formen der individuellen Anpassungsmodi gewählt werden“ (Sack 1993, 276). Dazu bedarf es anderer Erklärungsansätze, die Einsichten des Anomiekonzeptes aufgreifen und weiter verarbeiten. Daher erweist sich auch die Anomietheorie der Zielerreichung mit unzulässigen Mitteln allein als kein aussagekräftiges Konzept. Die Erklärungen für die Hochkriminalität wie für die Massendelikte in der heutigen Gesellschaft müssen in anderer Richtung gesucht werden.
3. Theorien der Kriminalitätsentwicklung
Schrifttum: Adler, Nations not Obsessed with Crime. Littleton/Col. 1983; Albrecht, H.-J., Jugendarbeitslosigkeit und Jugendkriminalität – Empirische Befunde zu den Beziehungen zwischen zwei sozialen Problemen. In: Jugendarbeitslosigkeit und Jugendkriminalität, hrsg. v. Münder u.a. Neuwied u.a. 1987, 41-91; Boers, Sozialer Umbruch und Kriminalität in Deutschland. MschrKrim 79 (1996), 314-337, Council of Europe (ed.), Economic Crises and Crime. Strasbourg 1985; Dölling, Kriminalitätsentwicklung als Indikator gesellschaftlicher Zustände. Krim 42 (1988), 350-361; Haferkamp u.a., Herrschaftsverfall und Machtrückgewinn. Zur Erklärung von Paradoxien des Wohlfahrtsstaates. In: Wohlfahrtsstaat und soziale Probleme, hrsg. v. Haferkamp. Opladen 1984, 60- 103; ders., Effekte des Wertewandels auf Kriminalität und Strafsanktionen. ZfSoz 16 (1987), 419-433; Hagan, The Social Embeddedness of Crime and Unemployment. Criminology 31 (1993), 465-491; Heiland, Wohlstand und Diebstahl. Bremen 1983; Heinz, Was kann die Kriminologie zur Kriminalitätsprognose beitragen? In: Zweites Symposium: Wissenschaftliche Kriminalistik, hrsg. v. BKA. Wiesbaden 1985, 31-118; Hellmer, Wirken „ideologische Aufschwünge“ kriminalitätshemmend? MschrKrim 50 (1967), 34 ff., Jäger, Makrokriminalität. Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt. Frankfurt/M. 1989; Kaiser, Kriminalität in der Wohlstandsgesellschaft. Kriminalistik 20 (1966), 281-287, 339-343; Klages, Wohlstandskriminalität und Anomie. In: Haferkamp u.a. 1984, a.a.O., 6-30; Kube/Koch, Die Kriminalitätslandschaft in Ost und West im Zeichen des politischen Umbruchs in Europa. WGO-Monatshefte für osteuropäisches Recht 32 (1990), 133-142; Leder, “ Normale“ Kriminalität im totalitären Staat. Frankfurt/ M. 1987; von Mayr, Moralstatistik mit Einschluß der Kriminalstatistik (Sozialstatistik erster Teil). HB des öffentlichen Rechts. Einleitungsband. 7. Abt. Moralstatistik mit Einschluß der Kriminalstatistik (Sozialstatistik I. Teil). Tübingen 1917; Noelle-Neumann u.a., Die verletzte Nation. Stuttgart 1987; Sack, Die West-Ost-Wanderung der Kriminalität. In: Grundlagen der Kriminalistik. Bd. 4: Kriminalistische Akzente, hrsg. v. Schäfer. Hamburg 1968, 245-293; Sarnecki, Some Mechanisms of the Growth of Crime in Sweden. Archiwum Kryminologii 12 (1985), 199-210; Spieß, Arbeitslosigkeit und Kriminalität. In: KKW 1993, 33-38; Wilson/Herrnstein, Crime and Human Nature. New York 1985.
3.1 Bewegung der Kriminalität und ihre Erklärung
Die bisherige Kriminalitätsanalyse findet ihren Schwerpunkt in der Querschnittsbetrachtung, sei es regional, national oder im internationalen Vergleich. Ihr steht die Untersuchung der Kriminalität im Längsschnitt, also der Kriminalitätsentwicklung, gegenüber.
Daß Verbrechen geschehen, ist an sich weder problematisch noch erstaunlich. Die geschichtliche Erfahrung spricht dafür, daß dies schon immer so war. Die funktionalistische Erklärung macht darüber hinaus einleuchtend, daß dies offenbar auch so sein muß. Problematisch und zum Teil beunruhigend ist vielmehr die Kriminalitätsbewegung. Dieser Befund wird auch nicht dadurch entkräftet, sondern nur gemildert, daß ein wachsender Teil der angezeigten Kriminalfälle Delikte mit Bagatellcharakter zum Inhalt hat. Der internationale Vergleich der Kriminalität weist überdies strukturelle und tendenzielle Gleichförmigkeiten hochindustrialisierter Gesellschaften des Westens aus, im Gegensatz zu den Kriminalitätsbildern in Japan, der ehemals sozialistischen Gesellschaft sowie jener der unterentwickelten Staaten.
Wie aber kann man das Aufund Ab der Kriminalitätsraten und damit die Bewegung der Kriminalität erklären? Hilfreich kann sich hierbei eine epochenspezifische Betrachtung erweisen, insbesondere der Kriminalitätsentwicklung in der Nachkriegszeit. Zum Teil deckt sie sich mit der krisengeschichtlichen Perspektive. Ist die Erklärung für die vergangene Kriminalitätsbewegung aussagekräftig, dann müßte sie auch, wie oben ausgeführt, zugleich Prädiktoren für die künftige Kriminalitätsentwicklung enthalten, also eine Kollektivprognose ermöglichen. Welche Konzepte oder Faktoren kommen zur Erklärung in Betracht? Man wird an Veränderungen in der Religiosität, des Wertewandels und Erziehungsstils, ferner an Krieg, wirtschaftliche Krise oder Arbeitslosigkeit sowie an die Motorisierung denken. Freilich läßt sich nicht verkennen, daß die Analyse insoweit noch immer in den Grenzen des additiven Mehrfaktorenansatzes befangen bleibt. Diesem ist es aber unmöglich, das Gewicht der einzelnen Faktoren sowie die Beziehungen zwischen ihnen anzugeben. Die folgende Graphik, die nicht einmal sämtliche Faktoren erfaßt, veranschaulicht dieses Dilemma (siehe Schaub. 9).
Selbst der übliche Rückgriff auf das soziologische Konzept des sozialen Wandels erweist sich nur begrenzt als hilfreich und weiterführend. Zwar macht jenes Konzept, da empfänglich für Komplexität und wertneutraler als der Fortschrittsbegriff, einleuchtend, daß sich auch die Kriminalität mit dem sozialen Wandel verändert. Gleichwohl bleibt es darüber hinaus allgemein und vage. Auch die neueren Ansätze der politisch-ökonomischen Transformation und Modernisierung vermögen den Mangel nicht auszuräumen. Dies um so mehr, als sie teilweise Modernisierung und Kriminalitätszuwachs fast in einem gesetzmäßigen Zusammenhang verknüpft sehen sowie dazu neigen, den Modernisierungsdruck zu überschätzen, um in eine resignative Verbrechenskontrolle zu münden (kennzeichnend Boers 1996, 316 ff., 331 f.). Immerhin überzeugt, daß ein ergiebiger Erklärungsversuch an die Geschichte des Verbrechens (dazu oben § 20) und ferner an den internationalen Kriminalitätsvergleich (dazu oben § 21, 3) als Datenbasen anknüpfen, aber zugleich über die Deskription hinaus um theoretische Vertiefung und Präzisierung bemüht sein muß.
Ferner hat er die Veränderungen der Verbrechenskontrolle, einschließlich der Kriminalisierung und des Sanktionenwandels (siehe §§ 5; 18, 44), mit einzubeziehen. Schließlich müssen Einsichten zur kriminologischen Theorie, wenn sie ihre Aussagekraft behaupten wollen, sich auch in diesem Zusammenhang empirisch bewähren. Dies kann nichts anderes bedeuten, als auch hier auf interne und externe Verhaltenskontrolle, jedoch unter dem spezifischen Aspekt des Wandels, abzustellen und außerdem die Veränderungen der soziokulturellen Rahmenbedingungen (einschließlich Wirtschaft und Technik) zu berücksichtigen.
So „läßt sich vermuten, daß das Tempo solcher gesellschaftlicher Transformationsprozesse eine wichtige Größe im Kausalgeflecht der Kriminalität darstellt. Das würde bedeuten, daß nicht der soziale Wandel schlechthin, nicht der wachsende wirtschaftliche Reichtum einer Gesellschaft als solcher, nicht die Urbanisierung überhaupt kriminogene Tendenzen hervorbringen, sondern das forcierte Einsetzen solcher Prozesse und der dadurch abrupte Ablösungsprozeß einer Gesellschaftsform durch die andere. Eine im Gleichgewicht befindliche Gesellschaft erfährt Veränderungen, die ihr Gleichgewicht stören. Ehe sich ein neues Gleichgewicht im neuen Sozialsystem einstellt, durchläuft die Gesellschaft eine Übergangsphase erhöhter Orientierungslosigkeit, sich schnell abbauender alter und nur mühsam aufbauender neuer Normen“ (Sack 1968, 285). Allerdings wirft auch diese Annahme die Frage auf, unter welchen Bedingungen das vorausgesetzte Tempo der gesellschaftlichen Transformationsprozesse erreicht ist und sich überdies messen läßt, ferner, wann das Gleichgewicht des Sozialsystems gestört und ein neues erlangt ist. Der Beginn und die Dauer solch anomisch wirkender Prozesse sind schwer zu bestimmen, zumal sie sich auch in nichtkriminellen Formen abweichenden Verhaltens (Depressionen, Ehezerrüttung, Unfälle, Selbsttötung) ausdrücken können. Außerdem müssen sich Norm- und Verhaltensunsicherheit nicht durch vermehrte Straffälligkeit äußern, wie etwa der viel erörterte Wertewandel vermuten läßt (dazu die international vergleichende Studie von Noelle-Neumann u.a. 1987, 45 ff., 297 £f£., mit freilich zu kulturpessimistischer Deutung). Wir brauchen nur an die Sexualdelikte zu denken. Hier ist die Zahl der sexuell-abweichenden Verhaltensweisen, verglichen mit der Lage um 1960, sicherlich erheblich gewachsen. Dennoch ist der Umfang der registrierten Sexualstraftaten zurückgegangen.
So werden der Anstieg der Kriminalität und die Zunahme der Verbrechensfurcht in den neuen Bundesländern Anfang der neunziger Jahre vor allem auf den sogenannten sozialen Umbruch in Ostdeutschland zurückgeführt. Damit ist ein Transformationsprozeß gemeint, der eine rasche und grundlegende Umwandlung gesellschaftlicher Institutionen bewirkt sowie in wesentlichen Teilen von individuellen und kollektiven Akteuren bewußt herbeigeführt wird. Soweit freilich mit der Transformation Kriminalität und Kriminalitätsfurcht als unausweichliche und kaum beeinflußbare Modernisierungsrisiken verknüpft werden (so Boers 1996, 316, 331), begegneten solch fatalistischer Deutung Bedenken. Jedenfalls kann von einer gesetzmäßigen Kausalverbindung nicht die Rede sein. Dem stehen auch die strukturelle Steigerung von Tatgelegenheiten und der Anstieg der Massenund Bagatellkriminalität in Ostdeutschland nicht entgegen. Im Hinblick auf die bedeutende Zunahme der Arbeitslosigkeit liegen zwar Annahmen über das Entstehen einer neuen „Armutskriminalität‘ durch soziale und ökonomische Benachteiligungen nahe. Doch würde ein monokausaler Zusammenhang zu kurz greifen (dazu kritisch Boers 1996, 324 f.), zumal die Frauen, die besonders in Ostdeutschland am stärksten unter der Armut zu leiden haben, kaum einen Zuwachs an Straffälligkeit erkennen lassen (weitere Einwände bei Walter, DV JJ-Journal 1996,
209 ff.). Vor allem die seit 1990 in Ostdeutschland verstärkt zu beobachtenden schwereren Formen der Eigentums- und Gewaltkriminalität scheinen auf komplexeren sozialstrukturellen Integrationsdefiziten zu beruhen (dazu Boers 1996, 324 m.N.).
Zu den funktionalen Erfordernissen einer jeden Gesellschaft gehören u.a. biologische Reproduktion, Wirtschaftssystem und Technologie, Schichtung, Kommunikation und ferner Verhaltenskontrolle. Eine flüchtige Orientierung zeigt, daß sich in all diesen Bereichen erhebliche Veränderungen während der letzten Jahrzehnte ergeben haben, insbesondere aber in der Umbruchsituation Ostmitteleuropas seit 1989. Damit sind denn auch zugleich die soziokulturellen Rahmenbedingungen umrissen. Sie können als mutmaßliche Einflußfaktoren in die drei komplexen Hauptgebiete der soziokulturellen Bedingungen sowie der Politik und der Wirtschaft unterteilt werden, wobei weitere Einzelfaktoren wie Wertorientierung, Freizeit, Massenmedien, Technik und Urbanisierung einbezogen sind.
3.2 Politik, Wirtschaft, Arbeit und Technik und ihr Einfluß auf die Kriminalitätsbewegung
Politik und politisches System können sich in unterschiedlicher Weise auf die Kriminalität auswirken. Die neuerdings vielfach erörterte Korruption (siehe oben § 23, 4) als Mangelerscheinung „politischer Kultur“ oder die sogenannte Regierungskriminalität in der ehemaligen DDR liefern aktuelle Beispiele. Freilich gerät man in Definitionsschwierigkeiten, wenn man nicht nur auf die offiziell registrierte Kriminalität abstellt, sondern auch die jenseits nach geltendem Recht erfaßbare „Kriminalität der Mächtigen“ einbezieht (vgl. oben § 23).
Wie bereits im Zusammenhang von Verbrechenskontrolle und Kriminalisierung ausgeführt wurde, zielen die staatlichen Anstrengungen auf die Bekämpfung und die Verminderung des Verbrechens. Deshalb ist das Politikfeld der Rechts- und Sozialpolitik als Einflußfaktor von besonderem Interesse. Aber selbst in diesem Bereich zeigen die Analysen, daß die Zusammenhänge nicht so eindeutig und überzeugend sind, wie man dies annehmen sollte. Am ehesten lassen sich noch Beziehungen sichern, die mit der Funktionstüchtigkeit strafrechtlicher Sozialkontrolle überhaupt oder dem Zusammenbruch bzw. Stillstand der Strafrechtspflege zusammenhängen. Dies kann man erneut an der Entwicklung in der ehemaligen DDR in den Jahren 1989 bis 1992 erkennen mit dem erheblichen Anstieg an Raub- und Eigentumsdelikten sowie (tödlichen) Straßenverkehrsunfällen. Im übrigen jedoch äußert sich die begrenzte Abhängigkeit des Rechts von vorgelagerten sozialen Normensystemen auch hier. Obwohl langfristig gesehen in der Strafzumessungspraxis eine „Tendenz zur Milde“ festzustellen ist, läßt sich ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen milder Gerichtspraxis und Verbrechenshäufung nicht nachweisen (so schon Exner 1949, 104 £.). Insbesondere scheinen einzelne Reformen des Sanktionensystems sich auf die Kriminalitätsrate kaum meßbar auszuwirken. Zum Teil sind die Befunde auch widersprüchlich. So wurde für Frankreich bei steigender Kontrolle durch Verstärkung der Polizeikräfte eine positive, für die Bundesrepublik und England und Wales jedoch eine negative Korrelation zur Kriminalität ermittelt (Council of Europe 1985, 53, 57; zur problematischen Polizeidichte siehe ferner oben § 19, 4).
Stärkere Auswirkungen auf die Kriminalitätsentwicklung wird erwartungsgemäß sozialpolitischen Maßnahmen zugeschrieben. So wird etwa der Rückgang der Diebstähle in Deutschland seit der Jahrhundertwende nicht zuletzt mit der Sozialgesetzgebung in Zusammenhang gebracht (Exner 1949, 108). Dies wäre freilich nur Ausdruck des von Lisztschen Postulats, wonach eine gute Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik ist. Allerdings reicht die weit bessere Sozialpolitik in der Gegenwart offensichtlich nicht aus, um zu verhindern, daß die Diebstahlsrate bislang unbekannte Höhen erreicht (siehe oben Tab. 2), von dem Wachstum anderer Deliktsgruppen ganz zu schweigen.
Einen nachhaltigen Einfluß auf das Kriminalitätsgeschehen wird man von plötzlichen und einschneidenden politischen Ereignissen wie z.B. Revolutionen oder Krieg erwarten dürfen. Neben Besonderheiten wie der Warenverknappung, dem Schwarzhandel und der Geldentwertung wird man auch an die veränderte Normund Sanktionsgeltung, entsprechend der Devise, daß Not kein Gebot kennt, denken müssen.
Neben der Politik stellt das Wirtschaftssystem den zweiten großen Einflußbereich. Entsprechende Analysen reichen bereits in die Anfänge kriminologischen Denkens zurück.
So begriff etwa die französische Milieu-Theorie die Kriminalität als eine ausschließlich ökonomisch bedingte Erscheinung (dazu Eisenberg 1995, 1038 ff.). Präziser hatte bereits von Mayr im sogenannten „Sechser-Gesetz“ den Zusammenhang zwischen Roggenpreis und Vermögenskriminalität zwischen 1835 und 1861 in Bayern belegt, wonach jeder Sechser, um den das Getreide im Preis anstieg bzw. sank, einen Diebstahl auf 100 000 Einwohner mehr bzw. weniger zur Folge hatte (siehe von Mayr 1917, 403, 950). Auch später konnten noch Zusammenhänge zwischen Lebensmittelpreisen, insbesondere Brot- und Getreidepreisen, und der Kriminalität ermittelt werden (dazu Exner 1949, 70 ff.). Ferner wurden Schwankungen der Konjunktur, des Geldwertes und des Einkommens als Faktoren herangezogen. Jedoch seit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg verloren derartige Erklärungen aufgrund wachsender Komplexität der Gesellschaft und nicht zuletzt wegen des Ausbaus des sozialen Sicherungssystems an Aussagekraft.
Seit den sechziger Jahren hat man der traditionellen Notkriminalität die Interpretationsformel der sogenannten Wohlstandskriminalität gegenübergestellt (vgl. Kaiser 1966; Heiland 1983). In den 70er Jahren haben hingegen erneut wirtschaftliche Krise und Arbeitslosigkeit kriminologische Bedeutung gewonnen (vgl. Council ofEurope 1985; Albrecht 1987). Betroffenheit von Notlagen und soziale Drucksituation scheinen eher zu verbreiteter Konformität als zu erhöhter Devianz zu führen (Haferkamp 1984, 84). In den 90er Jahren wiederum greift man die bereits vor zwanzig Jahren geprägte Formel von der „neuen Armut“ auf und meint, in Anlehnung an neuere Armutsberichte die Armut auch kriminologisch thematisieren und die gegenwärtige Kriminalitätsbewegung damit erklären zu können.
Dabei läßt sich freilich der hochspekulative Charakter einer solchen monokausalen Deutung nicht verkennen. Denn jene These entrinnt dem herkömmlichen Zyklus der Armut zwischen „Verdrängung und Dramatisierung“ nicht. Sie läßt sich weder mit den verfügbaren Daten über die Arbeitslosigkeit noch mit jenen der Sozialhilfe sichern. Überdies lassen sich weder im Längs- noch im Querschnitt Armuts- und Kriminalitätsverteilung zur Deckung bringen. Ferner stimmen Armutsgeographie und Kriminalitätsgeographie nicht miteinander überein. Andernfalls hätte die Kriminalität in den 60er Jahren nicht wie geschehen steigen dürfen und hätten in den 90er Jahren die Kriminalitätsbelastungen in den neuen Bundesländern, namentlich bei den Frauen, erheblich höher sein müssen. Entsprechendes gilt für den internationalen Vergleich von Arbeitslosigkeit, Armut und Kriminalitätshäufigkeit. Auch decken sich das Sozialprofil der Armen und der Straffälligen nicht. Andernfalls müßten wie erwähnt vor allem die Frauen straffällig werden, da sie schätzungsweise zwei Drittel aller Armen stellen. Bekanntlich ist jedoch die weibliche Kriminalität noch immer sehr gering.
Immerhin wird man die gravierend veränderten Gelegenheits- und Chancenstrukturen für die Erklärung der modernen Massenkriminalität nicht außer Betracht lassen können (Sarnecki 1985, 205 f.; Wilson/Herrnstein 1985, 328 £., Schneider 1987, 254 f.). Dies um so mehr, als dieser Sachverhalt auch für die Einschätzung von wirtschaftlicher Krise und Arbeitslosigkeit seine Bedeutung zu behalten scheint.
Während die ältere Forschung noch von deutlichen Zusammenhängen zwischen der Arbeitslosenrate und-der Häufigkeit von Eigentumsdelikten ausgeht (vgl. Exner 1949, 80) und danach eine Million Arbeitslose 10 000 Verurteilungen wegen Diebstahls entsprechen soll, läßt sich ein solcher Zusammenhang jedenfalls für die Gegenwart nicht mehr sichern (für die USA Wilson/Herrnstein 1985, 328). So ist der größte Anstieg der Eigentumskriminalität in der Nachkriegszeit bereits vor Eintritt der Massenarbeitslosigkeit in den siebziger Jahren zu beobachten. Außerdem trifft Arbeitslosigkeit häufig mit anderen Sozialisationsdefekten zusammen, so daß wie beim Alkoholeinfluß schwierig zu beurteilen ist, ob Sozialisationsdefekte sowohl Arbeitslosigkeit als auch Kriminalität verursachen, ob Arbeitslosigkeit zu Kriminalität oder Kriminalität zu Arbeitslosigkeit führt (vgl. Albrecht 1987, 41 ff.; Spieß 1993, 33, 37; Hagan 1993, 468, 486 f.). Zwar scheinen Arbeitslose überproportional an der Kriminalität beteiligt zu sein (Schwind 1996, 222). Jedoch bleibt die Frage nach den bedingenden Variablen offen. Zumindest ist ein monokausaler Zusammenhang auch hier nicht nachweisbar. Vielmehr trifft die Arbeitslosigkeit mit weiteren Defekten wie fehllaufenden Sozialisationsprozessen, Steigerung bereits vorhandener Konfliktpotentiale sowie Stigma entlassener Strafgefangener und sozialer Desintegration zusammen. Danach bildet Arbeitslosigkeit nur eine Dimension im kriminogenen Mängelprofil.
Obschon wegen der komplexen Kriminalitätsentstehung monokausale Versuche, Kriminalität ausschließlich jeweils auf einen Faktor zurückzuführen — sei es Not und Armut, wirtschaftliche Krise und Arbeitslosigkeit oder Wohlstand —, als unangemessen erscheinen müssen, führen jene einander widersprechenden ökonomiebezogenen Formeln paradoxerweise zu ein und derselben Folgerung:
Danach entwickelt sich die Eigentumskriminalität in der industriellen Gesellschaft zunehmend unabhängig von den unterschiedlichen wirtschaftlichen Lagen. Not und Elend der unteren Sozialschichten können daher nicht mehr die herkömmliche Bedeutung in der Verursachung beanspruchen, geschweige als alleinige Ursachen der Kriminalitätssteigerung gelten.
Wie aber läßt sich trotz erheblicher Wohlstandssteigerungen aller Sozialschichten und trotz Abbaus von Ungleichheiten ein Ansteigen besonders der Eigentumskriminalität erklären? Zwar kann man darauf verweisen, daß bei generell wachsendem Lebensstandard die Kriminalitätsbelastung vor allem in den sozioökonomisch benachteiligten Randgruppen ansteigt. Doch lassen sich damit die modernen Erscheinungen der Massenkriminalität nicht zureichend interpretieren, schon gar nicht die Verkehrsdelikte sowie die Laden- und Fahrraddiebstähle. Offenbar wohnt dem ökonomischen Wachstum ein revolutionäres Potential inne, das zur grundlegenden Veränderung der von der Bevölkerung gehegten Ansprüche aus ihren bisherigen traditionellen Bindungen heraus und zu ihrer Dynamisierung führt. Diese Interpretation beruht auf der Hypothese einer Anspruchs-Befriedigungslücke, “ d.h. also eines signifikanten Abstandes zwischen Aspirationen und Erfüllungen als eines vorrangigen Auslösers psychischer Anomiedispositionen“ (Klages 1984, 12). Lassen sich die Erwartungen nicht in dem gewünschten Umfange verwirklichen, so tritt ein Zwiespalt zwischen der erhofften und der tatsächlichen Bedürfniserfüllung auf. Die sogenannte Schere zwischen subjektiven Vorstellungen und den objektiven Gegebenheiten führt zur Enttäuschung, sozialen Frustration, zum Legitimationsverlust und zur Instabilität des sozialen Gemeinwesens. Sie mündet also in die Anomie (Klages 1984, 7 f.). Dabei ist auffallend, daß die Anomiephänomene mit den Wachstumsprozessen der Wohlstandsgesellschaft positiv korrelieren.
Politische, wirtschaftliche oder soziale Krisen bringen nicht nur Erwartungsenttäuschungen mit sich, sie lassen auch Unsicherheit, Apathie und Pessimismus wachsen. Erklärt werden diese Abläufe und Zustände mit dem Auftreten des Wohlfahrtsstaates und dessen Unfähigkeit, die Balance zwischen den selbstproduzierten staatlichen und von den Bürgern gesteigerten Ansprüchen und Erwartungen herzustellen. Wirtschaftliches Wachstum lockert die Bindungen des Menschen an die herkömmliche Sozialordnung und bringt insofern sozialpsychologische „Entwurzelungen“ mit sich (Klages 1984, 15). Daher ist das Auftreten von Anomietendenzen mit den Strukturmerkmalen der Wohlstandsgesellschaft und ihrer Entwicklung eng verbunden (Heiland 1983, 193).
Die Annahme von der Wohlstandskriminalität greift also über einen rein sozio-ökonomischen Ansatz hinaus; sie sieht in der Ausdehnung der Ansprüche und der Ausbildung von Gelegenheits- und Chancenstrukturen in westlichen Industriegesellschaften die entscheidenden Ursachen ständig steigender Eigentumskriminalität. Sind die gewachsenen Ansprüche nicht in sozialgebilligter Weise zu verwirklichen, tritt außerdem eine Diskrepanz zwischen erreichtem Einkommen und dem angestrebten Anspruchsniveau auf, und wird die Diskrepanz ferner als bedrohlich erfahren, so stellen sich Enttäuschungen ein. Man sucht durch kriminelle Handlungen die bedrohliche Situation zu “ entschärfen“, indem man materielle Güter entwendet, mit denen man wieder Statusgewinn erzielen kann (Heiland 1983, 192). Veränderte Einstellungen gegenüber dem Eigentum und größere Zugänglichkeit zu Konsumgütern durch die Vielzahl von Chancen und Gelegenheiten erleichtern den Zugriff auf die begehrten Güter anderer.
Zwar stimmt der Zusammenhang von realer Einkommensverbesserung und Anstieg der Eigentumskriminalität mit der Wohlfahrtsstaatshypothese überein (Heiland 1983, 194). Gleichwohl ist insgesamt diese Interpretation nicht in der Lage, das Wachstum der Eigentums- und Vermögenskriminalität überzeugend zu erklären. Empirisch konnte die angenommene Bedeutung der Variablen „Anspruchsniveau“ und „Gelegenheit“ nicht erhärtet werden (Heiland 1983, 127; a.A. Sarnecki 1985, 205 ff.). Ferner ist kritisch einzuwenden, daß Bedürfnisfrustration und Unzufriedenheit auch anders als durch Eigentumskriminalität verarbeitet werden können. Außerdem erscheinen anomietheoretische Deutungen für Ladenund Fahrraddiebstähle als Bindungs- und Orientierungslosigkeit oder als illegitime Mittel der Zielerreichung sehr anspruchsvoll. Vor allem aber werden interne und externe Verhaltenskontrolle konzeptuell völlig ausgeblendet.
Mit dem Teilsystem der Wirtschaft ist auch, obschon nicht allein, die Technik verbunden. Dabei sind hier vor allem die Auswirkungen technischer Neuerungen von Interesse. Als kennzeichnende Erscheinungen, ja Symbole unseres Jahrhunderts kann man die stürmische Verbreitung des Kraftfahrzeugs und der Massenmedien sowie in der Gegenwart die Mikroprozessortechnik und die damit verbundenen Produkte ansehen. Unmittelbar läßt sich ein Einfluß derart sichern, daß Automatisierung und Computerisierung einzelne Straftatbestände überhaupt erst ermöglicht, jedoch auch erforderlich gemacht haben. Man denke an die sogenannten Computer-Delikte (siehe LB § 74, 2). Andererseits wirken derartige Einflüsse mittelbar über den soziokulturellen Bereich, etwa über die Verbreitung neuer Medien, als Einflußnahme auf die sogenannte Freizeitgesellschaft oder über Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur.
Aufgrund der Verbreitung des Kraftfahrzeugs und des Bedürfnisses nach rechtlicher Gestaltung des Straßenverkehrs wurde eine neue Deliktsgruppe mit der Kriminalisierung von Verkehrsverstößen erst geschaffen. Ein kovarianter Zusammenhang zwischen Kraftfahrzeugbestand oder genauer Fahrleistung einerseits und der Verkehrsdelinquenz andererseits ist seit langem gesichert. Aber auch traditionelle Deliktsbereiche wie z.B. die Eigentums- und Vermögenskriminalität werden stark beeinflußt. Die hohe Zahl der Kraftfahrzeugdiebstähle verdeutlicht dies. Ferner hat sich die technische Innovation auf die Umwelt folgenreich ausgewirkt und damit die Kriminalisierung einer Gruppe von Umweltschädigungen notwendig gemacht. Die herkömmliche zivil- und verwaltungstechnische Kontrolle ist offenbar nicht mehr in der Lage, das Gefahrenpotential zureichend zu beherrschen.
Mit Wirtschaft, Arbeitund Technik sowie demographischen Veränderungen — von der gewaltigen Wanderungsbewegung von Millionen von Flüchtlingen und ausländischen Arbeitern in der Nachkriegszeit gar nicht zu reden (siehe unten § 38) — hängt auch die Urbanisierung zusammen. Die anonymen Großstadtverhältnisse begünstigen nicht nur die Entstehung von Anomiepotentialen, sondern schwächen zugleich informelle und formelle Sozialkontrolle. Schon mit dem räumlichen Auseinanderfallen von Wohnung und Arbeitsplatz durch die zeitweilige Abwesenheit vieler Menschen von der Wohnung wird die informelle Sozialkontrolle erheblich beeinträchtigt, vor allem durch das situative Zusammentreffen von nichtbesitzenden potentiellen Tätern mit geeigneten Objekten. Die sprunghaft gestiegenen Einbruchsdiebstähle erscheinen als Tribut, den die weite räumliche Trennung der modernen Wohnkultur vom Arbeitsplatz und dessen Anreizen in der heutigen Wirtschaft fordert. Durch die Schwächung informeller Sozialkontrolle wiederum bieten sich mehr Gelegenheiten als früher zur Begehung von Eigentumsdelikten.
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