Achtes Kapitel Gewaltkriminalität
§ 39 Theorie, Struktur- und Trendanalyse der Gewaltdelikte
Gewalt, und das heißt auch kriminelle Gewaltanwendung, sind, wie es scheint, zu einer alltäglichen Erfahrung geworden. Vandalismus, ethnozentrische Gewalt, Fußballrowdytum, Mediengewalt, Gewalt in der Familie, Demonstrationsgewalt und Terrorismus, um nur einige Phänomene stichwortartig zu nennen, aber auch Machtmißbrauch durch Mächtige dieser Welt veranschaulichen und belegen das Gemeinte. Dem steht nicht entgegen, daß diese Wahrnehmung hauptsächlich durch die Massenmedien vermittelt und verstärkt wird. Denn — und auch das zeigt die durch neue Opferbefragungen überprüfte Erfahrung — unmittelbar und „hautnah“ werden nur wenige Bürger durch Gewalttätigkeiten betroffen, so groß die Verbrechensfurcht (dazu oben § 36, 1) auch sein mag. Gewaltkriminalität zählt noch immer, auch in unserer Gesellschaft, zu den seltenen Straftaten. Nicht stets ist sie beängstigend.
Dennoch kommen wir nicht an dem Sachverhalt vorbei, daß die alltägliche Wahrnehmung von Gewalt und der Umgang damit offenbar eine neue Empfindlichkeit und Verletzbarkeit unserer Gesellschaft gegenüber den Ausbrüchen roher Gewalt bewirkt haben. Wahrscheinlich hat sich bereits die allgemeine Definitionsbereitschaft zur Stigmatisierung von Gewalthandlungen verstärkt und die Anzeigenschwelle gesenkt. Untersuchungen über erfragtes Täter-Opfer-Verhalten, aber auch die beachtliche Kluft zwischen Polizei- und Justizstatistik stützen diese Annahme.
Bei dieser Sichtweise dürften wir auch nicht nur Verzerrungen selektiver Wahrnehmung erliegen, sondern echten Veränderungen in der Verbrechenswirklichkeit begegnen. In den fünfziger Jahren sprach man im Hinblick auf den temporären Rückgang der vorsätzlichen Körperverletzungen und den Anstieg der Verkehrsunfälle noch von der Verlagerung der Aggressivität von Vorsatztaten in die Fahrlässigkeitsdelikte. Auf solchem Erfahrungshintergrund erscheinen die neuen Phänomene von Gewalt und Gewaltkriminalität geradezu erwartungswidrig. Manche mögen deshalb an einemodische Ausprägung des kriminellen Verhaltens denken. Daher zählt die Gewaltkriminalität neben Drogen-, Wirtschaftsund Umweltdelinquenz unverändert zu den aktuellen Erscheinungen und ihre Ursachen zu den nicht endenwollenden Kontroversen der Gegenwart.
- Gewaltbegriff und Strukturelemente strafbarer Gewalttätigkeit
Schrifttum: Krey, Strafrecht. Besonderer Teil. Bd. 1. Stuttgart u.a. 1996″, 149-184; Merten, Zur Vielschichtigkeit des Gewaltbegriffs. In: Gewalt und Kriminalität. BKA-Vortragsreihe 31 (1986), 22-32; Neidhardt, Gewalt. Soziale Bedeutungen und sozialwissenschaftliche Bestimmungen des Begriffs. In: Was ist Gewalt?, hrsg. v. BKA. Bd. 1. Wiesbaden 1986, 109-147; Rolinski u.a. (Hrsg.), Gewalt in unserer Gesellschaft. Berlin 1990; Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch. Kommentar. München 1997” ; Schwind/Baumann u.a. (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission). Bd. 1. Berlin 1990; Wolter, Gewaltanwendung und Gewalttätigkeit. NStZ 1985, 193-198, 245-252.
Schon über die Frage, was strafbare Gewaltanwendung ist, herrscht bekanntlich Streit, von „struktureller‘‘ oder ‚‚institutioneller Gewalt“ ganz zu schweigen. Zwar ist Gewalt eines der häufigsten und wichtigsten Merkmale der strafgesetzlichen Tatbestände. Erscheinungen wie Verfassungsänderung, Gewinnerzielung oder Geschlechtsverkehr können durch Gewaltanwendung zu Hochverrat, Erpressung und Vergewaltigung werden. Vor allem bei der Nötigung dient das Merkmal der Gewalt dazu, den unerlaubten vom noch zulässigen sozialen Druck abzugrenzen. Dennoch ist umstritten, ob es Gewalt und Nötigung ist, wenn jemand auf der Autobahn durch dichtes Auffahren und aggressive Betätigung der Lichthupe den Vordermann von der Überholspur drängt oder einem anderen durch Beschädigung von dessen Auto eine Reise unmöglich macht. Seit zwei Jahrzehnten besteht daher in der Strafrechtswissenschaft, in der Rechtsprechung und in der Rechtspolitik ebenso wie in den empirischen Grundwissenschaften eine heftige Auseinandersetzung um den rechtlich und damit kriminologisch relevanten Gewaltbegriff (Schwind u.a. 1990, 35 ff.; kritisch Krey 1996, 149 ff.). Auch Juristen, obwohl zur-Klärung von Kontroversen berufen, lassen uns hier anscheinend im Stich. Denn ihr Sachverstand versagt zumindest dann, wenn sie selbst „in Unruhe und Verwirrung“ befangen sind (Wolter 1985, 194). Einmal geht es um die Frage,® was Gewalt ist, und zum anderen darum, ® welche Gewalt gerechtfertigt erscheint Während im Schrifttum die eine Richtung zumindest eine Verletzung der körperlichen Integrität beim Opfer als Erfordernis verlangt (so z.B. Krey 1996, 158 £.), lehnt die andere Richtung einen derartigen Gewaltbegriff als primitiv- mechanistisch ab und möchte nur noch auf die psychische Zwangseinwirkung beim Opfer abstellen (vgl. Schönke/Schröder/Eser 1997, Vorbem. 6 ff. zu 88 237 f£.).
Der Bundesgerichtshof folgt der weiten Auslegung des Gewaltbegriffs (vgl. BGHSt 18, 330; 23, 126). Nach seiner Ansicht können kompulsive Gewalt und Drohung ineinander übergehen, so daß sich die Unterschiede zwischen ihnen verwischen. In der Entscheidung gegen den Kölner AStA-Vorsitzenden Laepple (BGHSt 23, 49 f., 54) beurteilte er den Sitzstreik auf den Straßenbahnschienen nicht als Gewalt gegenüber dem Stadtrat, wohl aber als Gewaltausübung gegenüber den Straßenbahnführern. Noch stärker an dem physischen Gewaltbegriff scheint sich eine neuere Entscheidung des BGH zu orientieren, wonach das bloße Fahren zu einer abgelegenen Stelle, an der die mitgeführte Frau Hilfe nicht erwarten kann, nicht ohne weiteres eine Gewaltanwendung i.S.d. § 177 StGB darstellt (NIW 1981, 2204 ff.). Demgemäß steht in der höchstrichterlichen Rechtsprechung einer weiten Auslegung der Gewalt bei Demonstrationen ein enger Gewaltbegriff bei der Vergewaltigung gegenüber. Der Bürger versteht jedoch den Strafjuristen vielfach beide Male nicht. Zwar bedeutet Gewaltanwendung Unfriedlichkeit (Art. 8 Abs. 1 GG); auch ist sieregelmäßig verwerflich (§ 240 Abs. 2 StGB). Dennoch geben Sitzstreiks, Blockaden, Barrikaden, Vorlesungs- und Parlamentsstörungen durch Lärm schwierige Auslegungen auf.
Selbst das Bundesverfassungsgericht (NJW 1937, 43 ff.) hat sich zur Frage der behaupteten Verfassungswidrigkeit des Nötigungstatbestandes zunächst nur mühsam zu einer Kompromißentscheidung durchringen können:
So verstieß nach einheitlicher Ansicht des Ersten Senats die gesetzliche Normierung des Tatbestandsmerkmals „Gewalt“ nicht gegen das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG). Infolge Stimmengleichheit konnte nicht festgestellt werden (§ 10 Abs. 3 S. 3 BVerfGG), daß die weite Auslegung des Gewaltbegriffs durch die Rechtsprechung (zuletzt BGH NJW 1986, 1803 ff., Gr. Senat) das aus Art. 103 Abs. 2 GG herleitbare Analogieverbot verletzt. Die Indizwirkung der „Gewalt“ im weiteren Sinn für die Verwerflichkeit (§ 240 Abs. 2 StGB) wurde allerdings in Anlehnung an die neue Linie des BGH einheitlich als unverhältnismäßig abgelehnt. Wiederum infolge Stimmengleichheit wurde es aber verfassungsrechtlich nicht beanstandet, wenn der Tatrichter im Einzelfall Sitzblockaden als verwerflich und damit rechtswidrig wertet, ohne hierbei Fernziele der Demonstranten zu berücksichtigen.
Nach einer neueren Entscheidung (NJW 1995, 1141 ff.) hat jedoch das BVerfG diese gerichtliche Auslegung des Gewaltbegriffs des § 240 StGB als zu unbestimmt i.S.d. Bestimmtheitsgebotes des Art. 103 Abs. 2 GG und damit für verfassungswidrig erklärt. Nach Meinung des Ersten Senates kann eine Zwangseinwirkung, welche allein auf einem geistig-seelischen Einfluß beruht, keine Gewaltanwendung darstellen. Andernfalls lasse sich nicht mehr mit ausreichender Sicherheit vorhersehen, welches körperliche Verhalten, das einen Dritten psychisch an der Durchsetzung seines Willens hindert, verboten istund welches nicht. Diesem Beschluß liegen vier Verfassungsbeschwerden von aufgrund von Sitzblockaden wegen Nötigung bestrafter Demonstranten zugrunde. Die Tatsache, daß das bloße Sitzenbleiben von anderen Personen als Gewalt aufgefaßt wird, führe letztlich dazu, daß das Tatbestandsmerkmal so aufgelöst würde, daß es nicht mehr möglich wäre, unter allen Zwangswirkungen die strafwürdigen herauszufinden. Dabei verweist das BVerfG darauf, daß es bis heute nicht gelungen sei, einen hinreichend klar umrissenen Gewaltbegriff i.S. einer Nötigung zu finden (dazu kritisch Krey 1996, 156 ff.).
Die Absicht der Koalitionsfraktionen, Sitzblockaden und ähnliche Aktionen, die andere in ihrer Bewegungsfreiheit hindern, wieder strafbar werden zu lassen, hat sich in der ersten Formulierung eines Gesetzentwurfs niedergeschlagen. Die in Aussicht genommene Rechtsänderung setzt aber nicht beim Nötigungsparagraphen selbst an, sondern versucht eine Legaldefinition des Begriffs der Gewalt. Sie soll in § 11 StGB eingefügt werden, der ohnehin eine Reihe von Begriffsbestimmungen enthält. Unter „Gewalt“ soll danach zu verstehen sein, „die körperliche oder psychisch vermittelte, mit einem gegenwärtigen empfindlichen Übel verbundene Zwangseinwirkung“. Der Effekt i.S. einer wiederhergestellten Strafbarkeit von Sitz- und anderen Blockaden würde in den Begriff „psychisch vermittelt“ liegen. Nach einer entsprechenden Gesetzänderung würde auch der psychische Zwang, der von einer scheinbar taten-, also auch gewaltlos verharrenden Menschenmenge, die anderen den Weg blockiert, wieder eine Bedingung für eine strafbare Nötigung sein, also, wie es in dem Entwurf heißt, eine „Strafbarkeitslücke“ schließen, die durch die Entscheidung des BVerfG entstanden sei. Zu denken sei hier auch an Blockaden der Zufahrten zu Kernkraftwerken, aber auch an die Blockade eines Asylbewerberheims durch Rechtsextremisten. Eine das ganze Strafgesetzbuch erfassende allgemeine Definition des Gewaltbegriffs würde sich auf zahlreiche andere Vorschriften erstrecken, nämlich von jenen über Hochverrat bis zur Erpressung, zu Menschenraub und zur Kindesentziehung. Die Erweiterung auf eine psychische Einwirkung würde unschädlich sein, weil es sich hier um ein zusätzliches Merkmal des Gewaltbegriffs handelt, der sich zunächst in einer körperlich wirkenden Form darstellt. Etwas anders könnte es bei den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sein, besonders bei der Vorschrift gegen die Vergewaltigung. Hier würde eine definitorische Ausdehnung des Gewaltbegriffs in Richtung aufeine psychische Einwirkung auch auf der rechtspolitischen Linie moderner Strafrechtsauffassungen liegen (FAZ Nr. 110 v. 12.5.1995).
Allerdings wird der Begriff „Gewalt“ schon in der Umgangssprache unterschiedlich gebraucht. Er wird sowohl in einem übertragenen (,„Wortgewalt‘‘) als auch in einem gegenständlichen Sinne (‚rohe Gewalt‘) verwendet. Für zusätzliche Begriffsverwirrung hat die Friedensforschung gesorgt. Sie sieht die sogenannte strukturelle Gewalt „in ungleichen Machtverhältnissen und folglich in ungleichen Lebenschancen“. Auf diese Weise wird „Gewalt“ allgegenwärtig. Sie läßt sich als „strukturelle“, „politische“, „expressive“, „instrumentelle“, „technologische‘ oder „ökonomische“ Gewalt nahezu beliebig beschwören. Damit wird Gewalt zu einem Allerweltsbegriff, mit dem man kaum wissenschaftlich argumentieren, sondern nur noch polemisieren kann. Aber auch in der Fachsprache der Juristen bleibt der Begriff mehrdeutig. Im Staatsrecht weist „Gewalt“ vielfach auf „Herrschaft“ oder „Funktion“ hin. In diesem Sinne versteht sie das Grundgesetz, wenn es von der „Staatsgewalt‘‘ von der „verfassungsgebenden“ und „gesetzgebenden“, von der „rechtsprechenden“ und der „vollziehenden‘“ Gewalt handelt. Körperliche Gewalt ist dagegen gemeint, wenn vom „Gewaltmonopol“ als der dem Staat der Neuzeit ausschließlich zustehenden legitimen Befugnis der Anwendung körperlichen Zwanges die Rede ist (zum Ganzen Krey 1996, 149 ff.; Merten 1986, 22 ff.).
Soziokulturelle Anhaltspunkte sprechen dafür, daß der Gewaltbegriff in einem jahrhundertelang dauernden Zivilisationsprozeß — stark bestimmt durch ordnungspolitische Interessen — zunehmend negativ besetzt wurde, bis er ein Tabu markierte, wobei zunehmend eine „Entgrenzung des Gewaltbegriffs“ zu beobachten ist: Mit der Durchsetzung des Gewalttabus ging die beginnende Erweiterung des Gewaltbegriffs einher, sei es als „Gewalt gegen Sachen“, sei es als körperlicher und psychischer Zwang. Ferner erscheint Gewalt neuerdings nicht mehr als Gegenbegriff allein zur „Ordnung“, sondern auch erneut zum „Frieden“ und zur „Freiheit“. Durch die „Entgrenzung“, Uferlosigkeit und Umdeutung könnte der Gewaltbegriff das „Tabu“ verschleißen, das er symbolisiert (Neidhardt 1986, 138 £., 140).
Das Gesetz — gleichgültig, ob es sich dabei um das österreichische, schweizerische oder das deutsche Strafgesetzbuch handelt – kennt allerdings keine Typologisierung strafbaren Verhaltens nach dem Gesichtspunkt der „Gewalt“. Nach seinen Ordnungsgrundsätzen unterscheidet es – in Abgrenzung zu anderen Deliktsgruppen — nur Straftaten gegen Leib und Leben oder gegen die Person. Der Begriff der „Gewaltkriminalität“ oder der „Gewaltdelikte‘“ entstammt als Forschungsprinzip vielmehr der Wissenschaft und, genauer, der Kriminologie. Teilweise wird er im deutschsprachigen Bereich gleichsinnig mit Angriffs- oder Aggressionsdelikten gebraucht sowie im anglo-amerikanischen Bereich als „criminal violence“.
Freilich widmet das kriminologische Schrifttum der Problematisierung des Gewaltbegriffs keine große Sorgfalt (vgl. z.B. Göppinger 1997, 569 ff.; Schneider 1987, 237, 291 f.). Dennoch besteht ein Bedürfnis der Forschung ebenso wie der Rechtspolitik, jene Delikte, die unter Ausübung oder Androhung von Gewalt begangen werden, zusammenzufassen, gemeinsam zu untersuchen und ihre Folgen abzuschätzen. Dieses Bestreben existiert unabhängig davon, ob sich die Deliktstypen vordergründig als vorsätzliche Tötung, vorsätzliche Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Raub, sexuelle Nötigung oder Brandstiftung darstellen. Gerade die Begehungsweise oder Tatausführung liefert einen deutlichen Hinweis für die gesteigerte Sozialgefährlichkeit, auch wenn täuschendes oder listiges Vorgehen sozialethisch nicht weniger verwerflich sein mag als die Äußerung und Anwendung roher Gewalt.
2. Erklärungsansätze und Bedeutung empirischer Aggressionsforschung
Schrifttum: Archer/Gartner, Violence and Crime in Cross-National Perspective. New Haven u.a. 1984; Baurmann, Gewaltsam ausgetragene Konflikte, wie sie bei der Polizei bekannt werden. In: Gewalt und Kriminalität. BKA-Vortragsreihe 31 (1986), 131-144; Berkowitz, Aggression: A Social Psychological Analysis. New York u.a. 1962; Dollard u.a., Frustration and Aggression (1939). Weinheim u.a. 197 1%, Freud, Jenseits des Lustprinzips (1920). In: Gesammelte Werke. Bd. XII, hrsg. v. Freud u.a. London 1943, 3-69; Hacker, Aggression. Die Brutalisierung unserer Welt. Düsseldorf u.a. 1985?; Landau, Trends in Violence and Aggression. A Cross-Cultural Analysis. Ann 22 (1984), 119-150; Lösel/Selg u.a., Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt aus psychologischer Sicht. In: Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, hrsg. v. Schwind u.a. Bd. II. Berlin 1990, 1-156, Lorenz, Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. Wien 1963; Murken, Aggressivität als Problem der Genetik. In: Plack (Hrsg.), Der Mythos vom Aggressionstrieb. München 1973, 121-144; Neidhardt, Aggressionstheorie und öffentliche Meinung: Aggressivität und Gewalt in der modernen Gesellschaft. In: Aggressivität und Gewalt in unserer Gesellschaft, hrsg. v. Neidhardt u.a. München 1973, 7-37; Selg u.a., Psychologie der Aggressivität. Göttingen 1997.
Auch wenn der Begriff der Gewaltkriminalität vielschichtig ist, so läßt sich doch auf ihn nicht verzichten. Es kann nur noch darauf ankommen, ihn zu klären und genauer zu fassen. Dafür bieten sich Sozialschädlichkeit und Eingriffsintensität als Kriterien der Strukturanalyse an. Geht man von der naiven Verhaltenstheorie (Alltagswissen) und der Aggressionsforschung aus, so kann man mehrere Aggressionsgrade unterscheiden:
° die Aggression, die sich nur in Gedanken äußert, indem man wütend und angriffslustig ist, sich aber noch bezähmen kann; ® die verbale Aggression, die sich in Schimpfen und Schreien Luft macht und bis zur Beleidigung führen kann; ° die Aggression gegen Sachen und Tiere mit deutlichem Zerstörungstrieb, z.B. vandalistische Handlungen und Tierquälerei, und schließlich ° die Aggression gegen Menschen bis zum vorsätzlichen Tötungsdelikt.
In den ersten beiden Formen äußert sich die Aggressivität gewöhnlich in Spott, Ironie, Kränkung, Mißachtung, Arroganz und in gezielt entwürdigendem Verhalten.
Vereinfachend kann man drei Ansätze der Aggressionsforschung unterscheiden, nämlich den
® psychoanalytischen, den ® behavioristischen (verhaltenstheoretischen) und den ® ethologischen (verhaltensbiologischen) Ansatz.
Für diese Unterscheidung bedeutet es nur einen geringen Gewinn, daß Freud und orthodoxe Psychoanalytiker mit dem Verhaltensforscher Lorenz, von dem sie durch Welten getrennt sind, im Ergebnis übereinstimmen. Denn beide Richtungen halten die Aggression für einen Trieb; sie folgen also Triebtheorien.
Es waren vor allem die Interpretationen mehr noch als die Erkenntnisse der Lorenz-Schule, die nicht nur auf das im Menschen biologisch angelegte Aggressionspotential hinwiesen, sondern als politische Implikation auch die institutionelle Überformung und Kontrolle nahelegten. Aggressive Verhaltensweisen spielen im Zusammenleben der Tiere wie der Menschheitsgeschichte eine so beherrschende Rolle, daß ihre Zurückführung auf einen angeborenen Trieb nur zu nahe liegt. Die Aggression gehört demnach zur Grundausstattung des Menschen. Lorenz hat diese Annahme, auch wenn sie heute überwiegend zurückgewiesen wird, fraglos eindrucksvoll begründet. Von der Beobachtungtierischen Verhaltens (Ethologie) herkommend, hat er in seiner „Naturgeschichte der Aggression“ den überzeugendsten Versuch der biologischen Begründung eines angeborenen Aggressionstriebes unternommen. Neben gewichtigen Argumenten der Hirnphysiologie für eine biologische Fundierung der Aggresssionsbereitschaft sollen auch die Ergebnisse der neueren Psychopharmakologie zeigen, daß es Substanzen gibt, die am Limbischen System angreifen und eine Dämpfung von Angst und Aggression bewirken.
Gleichwohl wird die Lorenzsche Triebtheorie scharf kritisiert und heute überwiegend abgelehnt (vgl. Neidhardt 1973, 8 f., Selg 1997, 20). Der Haupteinwand der Kritik beruht darauf, daß Lorenz unzulässige Analogieschlüsse vom Tier auf den Menschen gezogen habe.
Ob schließlich humangenetische Besonderheiten, insbesondere ein überzähliges Y-Chromosom, die entscheidenden Ursachen für Gewaltverbrechen liefern, hat die moderne Forschung zunehmend beschäftigt. Jedoch läßt sich bislang nicht beweisen, daß ein zusätzliches Y-Chromosom genetisch überhaupt aktiv ist (Murken 1973, 125; Schwind 1996, 89).
Sicher scheint hingegen zu sein, daß es mit Hochwuchs, häufig wohl auch mit Minderbegabung einhergeht (Murken 1973, 131). Dagegen konnte bei psychologischen Untersuchungen an XYY-Probanden keine gesteigerte Aggressivität festgestellt werden (Murken 1973, 129 £.). Die Tatsache, daß das Verhältnis von XYY- zu XXY-Aberrationen bei Straftätern dem in der Bevölkerung entspricht, läßt den Schluß zu, daß sowohl ein zusätzliches X- wie ein überzähliges Y-Chromosom nur durch eine allgemeine Störung der Genbalance in Erscheinung tritt (Murken 1973, 125). Im sozial auffälligen Verhalten von Klinefelter-Patienten und Männern mit XYY-Aberration besteht denn auch kein Unterschied. Wie sonstige Straftäter auch begehen sie am häufigsten Eigentumsdelikte.
Daher kann die Hypothese einer ursächlichen Verknüpfung von überzähligem Y-Chromosom und Aggressivität nicht mehr aufrechterhalten werden. Zwar disponiert sowohl die XYY-Aberration wie auch das Klinefelter-Syndrom zu „anomalem, möglicherweise kriminellem“ Verhalten (Murken 1973, 127). Ob es jedoch tatsächlich zu diesem Verhalten kommt, kann allein mit der Chromosomenmißbildung nicht mehr erklärt werden. So bestätigt die moderne Chromosomenforschung die Erkenntnisse, die schon durch Zwillingsuntersuchungen gewonnen wurden (Murken 1973, 135; vgl. im übrigen oben § 31 m.N.). Für eine strafrechtliche Exkulpierung von Männern mit X- oder Y-Aberration bleibt daher kein Raum, zumal auch Personen mit normalem XY-Bild Anlagen besitzen können, die zu kriminellen Verhaltensweisen disponieren.
Die von Freud (1920) entwickelte Aggressionstheorie, die einen Destruktionstrieb postuliert, der aus einem allem Organischen innewohnenden Todestrieb abgeleitet wird, ist demgegenüber in ihrer Bedeutung zurückgetreten. Sie findet heute kaum noch Anhänger.
Den Triebtheorien, gleichgültig ob psychoanalytisch oder ethologisch begründet, stehen die psychologischen Lerntheorien gegenüber. So führt die moderne psychologische Aggressionsforschung aggressives Verhalten im Kern auf Lernprozesse zurück (Lösel u.a. 1990, 17).
Am bekanntesten ist die dem Behaviorismus folgende Frustrations-Aggressions- Hypothese von Dollard u.a. (1939, 1971, 9 ff.) geworden. Hier ist zwar umstritten, ob die Konzeption nicht auch eine Triebkomponente enthält; doch stellt nach dieser Richtung die Aggression immerhin eine Reaktion auf die Störung einer zielgerichteten Aktivität dar. In der Wissenschaft besteht heute Einigkeit darüber, daß die Frustrations-A ggressions-Hypothese in ihrer ursprünglichen Fassung falsch und eindeutig widerlegt ist (Selg 1997, 23 ff.).
Nach den modernen Lerntheorien wird nicht nur die Art und Weise aggressiven Verhaltens, sondern schon „die Bereitschaft zur Aggression, der Drang oder die bei einem Menschen erkennbare Lust zur Aggression … gelernt und eventuell wieder verlernt“ (Selg 1997, 28). Gleichzeitig betont man aber den Wert der Frustrations-Aggressions-Hypothese als Teilstück einer multikausalen Aggressionstheorie. Hierfür scheint sich heute im Schrifttum eine Mehrheit abzuzeichnen (Neidhardt 1973, 9; Selg 1997, 36; Hacker 1985, 174 ff.).
Die genannten Ansätze schöpfen die Fülle der verfügbaren Erklärungsangebote noch keinesfalls aus. Fast alle entsprechen unserer Alltagserfahrung; sie leuchten in vieler Hinsicht ein. Und doch lassen sie uns unbefriedigt. Zu sehr scheinen sie von spezifischen Lehrmeinungen, von subjektiven und einseitigen professionellen Perspektiven geprägt zu sein. Denn eine alles umgreifende, alle Gewaltphänomene erklärende, also universelle Theorie als „‚kriminologische Weltformel“ besitzen wir nicht. Wenn aber viele Ursachen mitwirken, wie die sogenannte multikausale Aggressionstheorie annimmt, dann kommt es vor allem auf das Gewicht und die Verknüpfung der einzelnen Ursachen, aber auch auf die Bedeutung der konkreten Gewaltphänomene an. Deshalb müssen wir bei den Ursachen „der“ Gewalt danach unterscheiden, welche Gewalt wir im einzelnen meinen. Denn Gewalttätigkeit ist als individual- oder sozialpathologisches Phänomen, als singuläres Phänomen oder als Massenerscheinung, als Beeinträchtigung von Personen oder von Sachen so vielgestaltig, daß es völlig unwahrscheinlich ist, eine gemeinsame Wurzel zu finden, auf die sich derart vielerlei Erscheinungen kausal zurückführen ließen.
Welche Bedingungen aber lassen sich in epochalspezifischer Sichtweise für unsere Gesellschaft benennen, die offenbar die kriminelle Gewalttätigkeit zu fördern imstande sind? Dabei kann es nicht darum gehen zu erklären, warum es überhaupt zu Gewaltkriminalität kommt. Denn dies ist eine Urerfahrung, wie wir mindestens seit der antiken Tragödie und dem Alten Testament wissen. Erklärungsbedürftig ist vielmehr, warum kriminelle Gewalt — verglichen mit den fünfziger Jahren — derartige Dimensionen angenommen hat, wie sie Kriminalstatistik und unsere tägliche Wahrnehmung vermitteln.
Anscheinend gibt es in Staaten wie der Schweiz oder in Japan noch immer Mechanismen informeller Art, die fähig sind, das Aggressionspotential einzubinden, zu kanalisieren, neutralisieren und einzudämmen, jedenfalls nicht als nach außen gerichtete Gewalt in Erscheinung treten zu lassen. Wenn aber bei uns derartige Mechanismen nicht mehr oder nicht so selbstverständlich wirken und die Übereinstimmung in den Grundwerten und im täglichen Umgang miteinander abhanden kommt, also nicht mehr selbstverständlich ist, dann gerät unser System offensichtlich in eine Krise. Diese Entwicklung erscheint in den Augen mancher Sozialkritiker, vor allem im Hinblick auf die verbreitete Orientierungs- und Zukunftslosigkeit in der jungen Generation, auch als Legitimitätskrise. Anomische ‚Situationen wie die individuelle und soziale Perspektivlosigkeit werden als „Vorboten der Gewalt“ gedeutet. Dauerfrustration, Gefühle der Verlorenheit, der Orientierungs- und Zukunftslosigkeit können einen günstigen Nährboden für Gewaltkriminalität bilden. Ein solcher Zusammenhang läßt sich auch empirisch stützen. Fußballrowdytum, Demonstrationsgewalt und Gewalt in der Familie liefern Anwendungsfälle.
Auch hier lassen sich die sozialen Konflikte in Familie, Schule und Arbeitswelt nicht übersehen. Häufig ist Arbeitslosigkeit bei jungen Straffälligen nur ein Teil eines breiter gelagerten Mängelprofils. Auch reagiert nicht die große Zahl der Arbeitslosen aggressiv, obwohl viele von ihnen „leiden“ (dazu oben § 24, 3.2). Ferner erreichte die Gewaltkriminalität bei uns schon Spitzenwerte, als von Massenarbeitslosigkeit in unserer Gesellschaft noch keine Rede sein konnte.
Offenbar beruht die Tatsache, daß unsere Gesellschaft ein gesteigertes Maß an Gewaltkriminalität hervorbringt, auf den vielschichtigen Veränderungen unserer Zeit, die man als sogenannten sozialen Wandel begreift. Er reicht von dem Wertsystem, der Familienstruktur, den Beziehungen der Menschen sowie der Wohn- und Arbeitswelt bis hin zum technologischen Wandel. Anscheinend steigen Bereitschaft und Anwendung von Gewalt als Antwort auf Belastungssituationen (Streß), die der soziale Wandel bedingt und die nicht konfliktfrei verarbeitet werden können, vielmehr als Sinnkrise erlebt werden. Dies ist wiederum vor allem dann wahrscheinlich, wenn die soziale Stützung durch Familie und Gesellschaft versagt oder ausfällt.
Demgemäß rückt die soziale Streßtheorie Faktoren wie Arbeitslosigkeit, ökonomische Ungleichheit bei gleichzeitigem Fehlen oder Versagen sozialer Unterstützung und Inflation und ihre Auswirkungen auf die Bereitschaft zu krimineller Aggression in den Blickpunkt (vgl. Archer/Gartner 1984, 157 ff.; Landau 1984, 119 ff.).
3. Einfluß massenmedialer Gewaltdarstellung
Schrifttum: Bandura/Ross, Imitation of Film-mediated Aggressive Models. JAbSocPsych 66 (1963), 3 ff., Bauer/Selg, Gewaltdarstellungen im Fernsehen — Kennen wir die Folgen? BPS-Report 4 (1981), Nr. 5, 6-16; Berkowitz u.a., Film Violence and Subsequent Aggressive Tendencies. Public Opinion Quarterly 27 (1963), 217-229; ders. u.a., Reaction of Juvenile Delinquents to „Justified“ and „Less Justified‘“ Movie Violence. JResCrim 1 (1974), 16-24; Feshbach, The Stimulating Versus Cathartic Effects of a Vicarious Aggressive Activity. JAbSoc- Psych 63 (1961), 381-385; ders., The Catharsis Effect: Research and Another View. In: A Staff Reporttothe National Commission on the Causes and Prevention of Violence. Prep. by Baker u.a. Washington/D.C. 1969, 461-472, Förster/ Schenk, Der Einfluß massenmedialer Verbrechensdarstellungen auf Verbrechensfurcht und Einstellungen zu Straftätern. MschrKrim 67 (1984), 90-103; Groebel, Medien und Gewalt. In: Medienwirkungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland. Teil I: Berichte und Empfehlungen, hrsg. v. Schulz. Weinheim 1986, 47-60; Jung, Massenmedien und Kriminalität. In: KKW 1993°, 345-350; Kaiser, Jugendschutz und Medien aus kriminologischer Sicht. In: Jugendschutz und Medien. Schriftenreihe des Instituts für Rundfunkrecht an der Universität zu Köln, hrsg. von Brack u.a. München 1987, 67-89; Killias, Massenmedien und Kriminalitätsfurcht. Abschied von einer plausiblen Hypothese. Schweiz. ZfSoz 2 (1983), 419-436.
Der Einfluß massenmedialer Gewaltdarstellung auf Aggressivität und Kriminalität ist in den letzten Jahren zunehmend untersucht worden. Ein wichtiger Beweggrund für dieses Interesse liegt in dem Anstieg der Gewaltkriminalität. Als Beispiel für die kriminogene Bedeutung von Film und Fernsehen ist auf die sogenannten Anschlußdelikte (z.B. „Halstuchmörder‘“) hinzuweisen (zum Regensburger Horrorvideo-Fall s:05§ 24,33).
Als Medien begreift man bekanntlich allgemeine Kommunikationsmittel. „Massenmedien“ sind dabei diejenigen Kommunikationsmittel, die sich an eine große Zahl von Personen richten und zugleich zahlreich vorkommen. Sie können informativen und unterhaltenden Charakter haben. Entsprechend den benutzten technischen Verfahren und ihrem Inhalt hat man die Medien bisher in drei Gruppen unterteilt:
°® Druckmedien: Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Comics usw. ° Funkmedien und Tonträger: Rundfunk- und Fernsehsendungen, Compact Discs (CDs), Schallplatten, °e Filmmedien: Filme aller Art im Kino und daheim.
Im Hinblick auf die zunehmende Verbreitung von Videorecordern jedoch, der Tendenz der Fernsehprogrammgestaltung hin zum Unterhaltungsfilm und dem Aufkommen von Musikfilmen und Musikvideos lassen sich die beiden letzten Gruppen nicht mehr scharf trennen. Zu beachten sind ferner Computer-Spiele, die oft Gewaltdarstellungen beinhalten.
Auch wenn von den einzelnen Medienarten recht unterschiedlich Gebrauch gemacht wird und hierfür Lebensalter, Geschlecht, Schichtzugehörigkeit, Bildungsgrad und Berufstätigkeit der Konsumenten, bei Jugendlichen auch der elterliche Erziehungsstil bedeutsam sind, so ist doch am unterschiedlichen Medienkonsum die einheitliche Dominanz der audiovisuellen Medien wie Rundfunk, Tonträger, Film und Fernsehen auffallend. Innerhalb dieser Medien stehen Tonträger an drster Stelle, gefolgt von Fernsehen und Film. Erst mit deutlichem Abstand folgen Druckmedien.
Da Gewalt zwar nicht ausschließlich, aber-doch überwiegend durch Medien vermittelt wird-und dies nicht nur punktuell, sondern vielfältig und langfristig geschieht, implizieren Mediengefahren zugleich den Jugendschutz. Fraglich kann nur sein, was „Gefahren“ sind und wann eine Dosierung erreicht ist, die es rechtfertigt, Aktivitäten des Jugendschutzes auszulösen. Denn daß die Nutzung von Schriften, Ton- und Bildträgern, Abbildungen und anderen Darstellungen (§ 11 Abs. 3 StGB; § 1 Abs. 1 und 3 GjS) nicht schlechthin gefahrenträchtig und jugendschutzrelevant sein kann, liegt auf der Hand. Dies trifft selbst dann zu, wenn es erzieherisch unerwünscht ist, daß die Inanspruchnahme der audiovisuellen Massenmedien — unabhängig von deren Inhalt — einen beachtlichen Teil des Freizeitverhaltens junger Menschen ausmacht. Außerdem lassen sich Gefahren für die Entwicklung junger Menschen nur dann begründet annehmen, wenn nicht lediglich eine ganz abstrakte Möglichkeit, sondern eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Gefährdung für Entwicklung, Wertorientierung und Verhalten empirisch gesichert werden kann. Hierbei geht es also um Zusammenhänge zwischen Medienkonsum einerseits und Einstellung, Überzeugung und Verhaltensweisen des Nutzers und damit um die Einflüsse der Medien auf den einzelnen Rezipienten andererseits.
Im Gegensatz zu den Druckmedien liegt die Gefährdung bei Fernsehprogrammen überwiegend in der Gewaltdarstellung. Die große Verbreitung und leichte Zugänglichkeit des Fernsehens gerade für junge Menschen führen dazu, das Fernsehen als „Schule der Gewalt und des Verbrechens“ zu bezeichnen. Anscheinend nimmt die alltägliche Brutalität auf dem Bildschirm auch bei den staatlichen Sendeanstalten zu, wenn man bestimmten Medienanalysen folgt. Auf dem Videomarkt ist das Potential an Jugendgefährdung besonders hoch, zumal die Ausbreitung von Videorecordern und Videofilmen stürmisch wächst. Erwartungsgemäß stehen hier sowohl Gewalt- als auch Sexualdarstellungen im Vordergrund. Etwa 40% der angebotenen Programme stammen aus der Sparte Western/Abenteuer/Horror/Krieg/Sexualität. Die Nachfrage nach derartigen Programmen soll dabei das Angebot noch übersteigen.
Insgesamt gibt es bislang zwar zahlreiche, aber keine umfassenden empirischen Untersuchungen über die Auswirkungen der Mediengewalt auf Aggressivität und Kriminalität. Die Erörterung dieses Problems stützt sich vor allem auf psychologische Laborexperimente und vereinzelte soziologische Studien, die im Laufe der letzten Jahrzehnte durchgeführt wurden. In dem Zeitraum 1970 bis 1980 sind allein 26 deutschsprachige Forschungen zu Medien und Gewalt dokumentiert, die dieses Thema entweder zentral behandeln oder zumindest Teilaspekte des Problems berühren. Dabei entfällt der überwiegende Teil der Untersuchungen auf universitäre Forschung, vor allem an psychologischen und pädagogischen Instituten. Einige Untersuchungen wurden im Auftrag nichtuniversitärer Medienforschungsinstitute durchgeführt. Fernsehen ist das am häufigsten behandelte Medium. Bei den Faktoren, deren Beeinflussung durch.die Medien analysiert wird, steht die Aggression an erster Stelle (13 der 26 Arbeiten), es folgen Angst (5) und physiologische Erregung (4). Aufklärung und Information kommen dreimal, Aggressionsabbau einmal vor. Drei der Projekte befassen sich mit Inhaltsanalysen ohne Einbeziehung von Rezipientenreaktionen (Groebel 1986, 48 £.).
Obwohl die psychologischen Experimente durchweg ähnlich aufgebaut waren, gelangten die einzelnen Forschergruppen zu widersprüchlichen Hypothesen:
®e Nach Feshbach (1961; 1969) soll das Ansehen von aggressiven Handlungen eine Ersatz- und Ventilfunktion haben und zur Abnahme aggressiver Regungen führen (Katharsis-Hypothese). ® Gegen diese Annahme wandten sich vor allem Berkowitz u.a. (1963). Nach ihrer Inhibitionshypothese löse die Beobachtung von aggressivem Verhalten beim Betrachter vielmehr eine Aggressionsangst aus, die sich hemmend auf das Auftreten eigenen aggressiven Verhaltens auswirke. Diese Hemmung trete vor allem beim Betrachten von als ungerecht empfundenen Aggressionsakten auf (hierzu Berkowitz u.a. 1974). ®e Nach der Stimulationshypothese soll dagegen das Betrachten aggressiver Verhaltensweisen Lerneffekte auslösen und zur Nachahmung anregen (Bandura u.a. 1963). Bei einer Überprüfung der Langzeitwirkung bei der Beobachtung aggressiven Verhaltens stellte man fest, daß sich Kinder noch nach 6 Monaten an erlernte aggressive Verhaltensmodelle erinnern können. ® Nach einer vierten — ursprünglich nicht im Zusammenhang mit Massenmedien untersuchten — Hypothese soll die ständige Konfrontation des Zuschauers mit Gewaltdarstellungen zu einer Abnahme der Sensibilität gegenüber Gewalt und zu einem Gewöhnungseffekt führen (Habitualisierungshypothese).
Davon abgesehen, daß amerikanische Untersuchungen auch im Bereich des Fernsehens nicht ohne weiteres auf deutsche Verhältnisse übertragen werden können, liefern die genannten Untersuchungen keine gesicherten Erkenntnisse. Die Experimente fanden in einer künstlichen Laboratoriumsatmosphäfre statt; die Anzahl der Probanden war sehr gering und nicht repräsentativ zusammengesetzt. Erhebliche Variablen wie Persönlichkeitsstruktur und Umweltsituation der Probanden wurden nicht erfaßt. Aggressionen äußerten sich oft nur verbal oder wie bei Kindern in Spielsituationen. Außerdem ist es verfehlt, Aggression und Kriminalität gleichzusetzen. Überdies ist das einfache Untersuchungsmodell eines Ursache-Wirkungs-Mechanismus zu kritisieren. Deshalb gilt das Gebiet der Medienwirkungen als wenig geklärt (Jung 1993, 346) und als äußerst kontrovers. So halten manche Wissenschaftler den Einfluß des Bildschirms für wichtig, andere für nichtig, die einen für aggressionsanregend, die anderen für aggressionsmindernd (Schwind 1996, 244). Diese vielschichtigen Befunde sperren sich offenbar eindeutigen Interpretationen und Schlußfolgerungen.
Da überdies eine mannigfaltige Verflechtung und Abhängigkeit von mächtigen Medienträgern vermutet wird, die Gutachten in Auftrag geben und damit die Forschungslage mitbestimmen, läßt sich eine Einigung auf diesem Gebiet auch kaum erwarten. Doch dürfte darin nicht die einzige, ja nicht einmal bedeutendste Schwierigkeit liegen, die eine empirisch abgesicherte Beurteilung hindert. Der entscheidende Gesichtspunkt dürfte vielmehr in der komplexen Struktur der sozialen Lernprozesse liegen, in der Gewaltdarstellungen nur eine Einflußkomponente ausmachen und zudem unterschiedlich verarbeitet werden. Ein Kind oder ein Jugendlicher wird trotz allem nicht nur durch die Videokultur sozialisiert. Selbst labile Jugendliche werden durch Videofilme wenig gefährdet, wenn deren Vorführung selten konsumiert wird und wenn die Umwelt die Auswirkungen auffangen und normalisieren kann.
Man wird nach den Ergebnissen der bisherigen Forschung annehmen können, daß
1. die Darstellung von Gewalt in Massenmedien zu delinquentem Verhalten beitragen, aber nicht als Hauptfaktor angesehen werden kann. Vielmehr müssen bestimmte Voraussetzungen beim Betrachter vorliegen; 2. vor allem jüngere Kinder unter bestimmten Voraussetzungen (Frustration, Persönlichkeitsdefekte usw.) im Rahmen eines Lernvorganges Handlungsmuster übernehmen und zur Nachahmung aggressiven Verhaltens angeregt werden können. Das Sehen von Gewalttätigkeit im Fernsehen scheint eher zu aggressivem Verhalten zu verleiten als das Fehlen solcher Darstellungen. Auch mögen aggressive Handlungen für das kindliche Verhalten Modellcharakter haben und aggressives Verhalten bei Kindern verstärken. 3. diese Nachahmung bei beobachteter Gewalt, die gerechtfertigterscheint, eher auftritt. Dasselbe gilt, wenn das Objekt, gegen das sich die aggressiven Tendenzen richten, eine Ähnlichkeit (z.B. Name, Beruf, Nationalität, Situation) mit dem im Film Gezeigten besitzt.
Mit diesen Befunden stimmen im wesentlichen die amerikanischen Kommissionsberichte sowie der überwiegende Teil des deutschen Schrifttums überein. Nur eine Minderheitsmeinung ist der Ansicht, daß sich bislang weder Hinweise auf eine Aggressivitätsreduktion noch auf eine Aggressivitätssteigerung durch fiktive Fernsehgewalt finden lassen.
Gleichwohl ist die Kriminalisierung der Verherrlichung von Gewalt (§ 131 StGB und Art 135 schwStGB) zweifelhaft. Das sogenannte Brutaloverbot führte der (schweizerische) Gesetzgeber mit der Begründung ein, daß schon die Möglichkeit einer Gefahr für Personen, die nicht „normal“ angepaßt seien, diese Kriminalisierung rechtfertige. Die Strafbestimmungen sind aber in der Praxis wenig bedeutsam und haben nur eine Symbolfunktion Die Gefahren der Darstellung von Kriminalität in den Massenmedien äußern sich aber auch in anderen Bereichen. Einmal sei in diesem Zusammenhang an das Lebach-Urteil des BVerfG erinnert, das sich in seiner Entscheidung mit der Abwägung von Rundfunkfreiheit und dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegen die allgemeinen Persönlichkeitsrechte, insbesondere gegenüber dem Schutz und der Resozialisierung des Straftäters, auseinanderzusetzen hatte (BVerfGE 35, 202 ff.). Hervorzuheben sind also die Auswirkungen der Gewaltdarstellung auf das „Image“ des Kriminellen in der Öffentlichkeit, auf die Auflösung und Verstärkung von Verbrechenswellen sowie auf die steigende Verbrechensfurcht (vgl. Killias 1983, 419 ff., Förster/Schenk 1984, 91; Schneider 1987, 727 ff., Eisenberg 1995, 1000 f., Schwind 1996, 250 ff.).
4. Deliktstypen der Gewaltkriminalität
Schrifttum: Kerner u.a., Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt aus kriminologischer Sicht. In: Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, hrsg. v. Schwind u.a. Bd. I. Berlin 1990, 415-606; Kürzinger, Gewaltkriminalität. KKW 1993? ‚170-177, Kube, Gewalt gegen Sachen. In: Gewalt und Kriminalität, hrsg. v. BKA. Wiesbaden 1986, 85-98; Schneider, Kriminologie der Gewalt. Stuttgart u.a. 1994.
Strafrechtlich und kriminologisch äußern sich Aggressionshandlungen, soweit sie relevant sind, nach ihrer Art und Weise in folgenden Deliktstypen:
Vorsätzliche Tötungsdelikte einschließlich Abtreibung, vorsätzliche Körperverletzung, Freiheitsberaubung und Bedrohung, sexuelle Nötigung und Vergewaltigung, Raub und Erpressung, ferner Hausfriedensbruch, Landfriedensbruch, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Sachbeschädigung, vorsätzliche Brandstiftung und Tierquälerei, eventuell auch Beleidigung und Gewaltdarstellung.
Der gesetzlichen und strafrechtsdogmatischen Einteilung hingegen liegt, wie oben aufgezeigt, als Gliederungsgesichtspunkt zuallererst das geschützte Rechtsgut, sein Träger und sein Rang zugrunde. Bezüglich der Art und Weise der Tatbegehung unterscheidet das Gesetz nur zwischen Gewaltanwendung und der Drohung mit Gewalt oder einem sonstigen „Übel“. Von den Rechtsgütern, teilweise „höchstpersönlich“, werden erfaßt: Leib und Leben, Freiheit einschließlich Freiheit zu sexueller Selbstbestimmung, öffentliche Gewalt und Sicherheit, Eigentum als befriedetes Besitztum, Gefühle und Empfinden, Hausrecht und Ehre.
Allgemein herrscht darüber Einigkeit, daß jedenfalls die vorsätzlichen Tötungs- und Körperverletzungsdelikte, der Raub sowie die Vergewaltigung und sexuelle Nötigung von der Gewaltkriminalität begrifflich gedeckt werden (Schneider 1994, 13 ff.; Göppinger 1997, 571).
Hingegen besteht über die Einbeziehung weiterer Deliktstypen Streit. Will man auf einen Eingriff in physische oder psychische Integrität des Verbrechensopfers abstellen (so Kürzinger 1993, 171; ders. 1996, 243), so wird man die vorsätzliche Beschädigung oder Zerstörung von Sachen begrifflich eliminieren. Die Ausklammerung der Gewalt gegen Sachen erscheint aber unbefriedigend, wenn man gewalttätige Demonstrationsstraftaten oder an Vandalismus, Hausbesetzung und Brandstiftung denkt (vgl. Kube 1986, 85 ff., zum Begriff der Gewalttaten siehe 8 126 Abs. 1 StGB; enger jedoch die Begriffsfassung in § 1 OEG). Ferner kann nicht überzeugen, begrifflich nur den Raub einzubeziehen, jedoch die Erpressung auszuschließen. Abgesehen davon, daß die Kriminalstatistik selten „Raub und Erpressung“ zusätzlich differenziert, würde dies dazu führen, zwar die Bedrohung mit zu berücksichtigen, jedoch die Drohung mit einem empfindlichen Übel im Falle der Erpressung außerhalb des begrifflichen Bereichs zu belassen. Hier könnte die erwähnte Zwangslage oder die Zwangswirkung für das Opfer einen Gesichtspunkt der Abgrenzung liefern. Ganz allgemein scheint das Schrifttum dazu zu neigen, Gewaltkriminalität vornehmlich im Sinne aggressiver Delikte gegen die Person zu verstehen (vgl. Kerner u.a. 1990, 423, 426; ferner Schwind 1996, 24 £.).
Da also über den Begriff keine Übereinstimmung herrscht, muß man jeweils nach den Untersuchungsabsichten und der davon abhängigen Fassung des Begriffs unterscheiden, üss einen pragmatischen Verbrechensbegriff zugrunde legen.
5. Entwicklung und Stand der Gewaltdelikte
Schrifttum: Bundeskriminalamt (Hrsg.), Gewalt und Kriminalität. BKA-Vortragsreihe 31 (1986); Kerner u.a., Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt aus kriminologischer Sicht. In: Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, hrsg. v. Schwind u.a. Bd. II. Berlin 1990, 415-606; Kürzinger, Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion. Berlin 1978; Leaute, Unsere Gewalt. Wuppertal 1978; Mirrlees-Black u.a., The 1996 British Crime Survey. Home Office Statistical Bull 19/1996. London 1996; Roth, Kollektive Gewalt und Strafrecht. Die Geschichte der Massendelikte in Deutschland. Berlin 1989; Schneider, Kriminologie der Gewalt. Stuttgart 1994; US Dept. Justice, Criminal Victimization in the United States 1993. Washington/D.C. 1995.
Seit Ende der fünfziger Jahre beobachten wir im Bereich der Jugenddelinquenz, dann auch auf die allgemeine Kriminalität übergreifend eine zunehmende „Brutalisierung‘ der Deliktsbegehung. Zu denken ist hier an die „Mode der Gewalt“ bei jugendlichen Rechtsbrechern, an die häufigere Anwendung von Schußwaffen, das vermehrte Auftreten von Banküberfällen und Geiselnahmen und neuerdings vor allem an die Erscheinungen der Demonstrationsgewalt, der ausländerfeindlichen Gewaltakte und des politisch motivierten Terrorismus (zum Ganzen BKA 1986; Kerner u.a. 1990, 415 ff., Schneider 1994, 28 ff.).
Dem entspricht auf der anderen Seite die wachsende Zahl von Schußwechseln bei der Verbrechensbekämpfung und von getöteten Polizeibeamten, aber auch die polizeiliche Auf- und Höherstufung strafrechtlicher Sachverhalte als Tötungsdelikte, die ehemals als Verkehrsgefährdung, Widerstandshandlungen gegen die Staatsgewalt oder Körperverletzungen mit Todesfolge definiert wurden. Offenbar hat sich in den letzten Jahrzehnten die Definitionsbereitschaft zur Stigmatisierung von Gewalttätigkeiten allgemein verstärkt und die Anzeigeschwelle gesenkt. Der vorübergehende Anstieg der angezeigten Fälle von Kindesmißhandlung, aber auch die auffälligen Diskrepanzen zwischen Täterermittlungsziffern und Verurteiltenzahlen im Verhältnis 9 : 1 scheinen dies ebenso zu belegen wie der nach der Polizeistatistik der Jahre 1960 bis 1995 feststellbare Rückgang der Körperverletzungen mit tödlichem Ausgang um mehr als 75%, wenn man die polizeilichen Häufigkeitsziffern zugrunde legt. Die bekanntgewordenen Tötungen und Tötungsversuche stiegen demgegenüber von 1116 Fällen im Jahre 1960 auf 3928 Fälle im Jahre 1995, also um mehr als das Dreifache. Die Steigerungsrate der bekanntgewordenen Raubtaten betrug in diesem Zeitraum gar fast 1000% mit 63 470 Fällen im Jahr 1995 (vgl. dazu Kürzinger 1996, 247 ff., 251 f.). Die Zahl der Verurteilungen wegen dieser Delikte weist freilich niedrigere Steigerungsraten auf. Am auffälligsten zeigt sich die Diskrepanz bei den Freiheitsberaubungen.
Betrachtet man die vorsätzlichen Tötungen, die Freiheitsberaubungen und Nötigungen, vorsätzlichen Körperverletzungen, den Raub und die Vergewaltigung insgesamt (vgl. Tab. 12), so zeigt sich,e daß der Anstieg dieser Delikte erheblich ist, aber noch unter dem der Gesamtkriminalität bleibt (anders jedoch in der Jugendkriminalität, dazu LB § 51, 3) und e daß ferner die quantitative Bedeutung dieser Straftaten im Vergleich zu anderen Deliktsgruppen relativ gering ist.
Im Jahre 1965 entfielen 6,5% der bekanntgewordenen Straftaten auf die erwähnten Delikte, 1995 waren es 7,4% bezogen auf das gesamte Bundesgebiet. Die wegen Gewalttaten Verurteilten machten 1994 für das Altbundesgebiet 9,7% aller Verurteilungen aus. Rechnet man zur Gewaltkriminalität auchnoch die Schwangerschaftsabbrüche, Sachbeschädigungen, vorsätzlichen Brandstiftungen, die Erpressung, den Haus- und Landfriedensbruch sowie die Beleidigungen, so erfolgten 1994 rund 14,4% aller Verurteilungen wegen Gewaltdelikten.
Nach den Opferbefragungen ist allerdings die relative Bedeutung der Gewaltkriminalität im Vergleich zur Eigentumskriminalität höher, als es die Polizeistatistik erkennen läßt. Der Grund für diese Diskrepanz dürfte in der geringeren Bereitschaft der Polizei zu suchen sein, Anzeigen bezüglich leichterer Gewalttaten aufzunehmen (vgl. Kürzinger 1978, 158 £.), zumal es sich überwiegend um Privatklagefälle handelt (8§ 374, 376 StPO). Denn die Anzeige- und Meldebereitschaft der Privatpersonen liegt bei diesen Rechtsbrüchen ebenso hoch wie allgemein bei Eigentumsdelikten. Überdies werden Gewalt- und Freiheitsdelikte von jungen Leuten erheblich schwerer eingestuft als Straftaten gegen das Eigentum.
Eine ähnliche Entwicklung wie im Bundesgebiet zeigt sich in England, Frankreich, Italien und Schweden. Einen überproportionalen Anstieg verzeichnen auch in diesen Ländern die unter Gewaltanwendung begangenen Eigentumsdelikte (vgl. Leaute 1978, 20; Mirrlees-Black u.a. 1996, 28 f.). Angewachsen sind weiter die vorsätzlichen Körperverletzungen, besonders in Schweden. Im übrigen gilt für die erwähnten Staaten, daß der Anstieg der Gewaltdelinquenz vom Zuwachs der Gesamtkriminalität überholt worden ist, vor allem von der Zunahme der Bereicherungsdelikte.
Auch in Österreich zeigen die Gewaltdelikte eine etwas günstigere Entwicklung als die Gesamtkriminalität. Nach der Polizeilichen Kriminalstatistik wurden im Jahre 1995 etwa 83 000 Straftaten gegen Leib und Leben (§§75-95 öStGB) registriert. Damit ist die Häufigkeitsziffer seit 1985 von 1108 auf 1037 Delikte pro 100 000 Einwohner gesunken. Die Zahl der gerichtlichen Verurteilungen dieser Deliktsgruppe ist von 1985 bis 1995 sogar um 23% zurückgegangen (öPKS 1985, 14; 1994, 14; 1995, 14; Gerichtliche Kriminalstatistik 1995, 26 £.).
Nahezu unproblematisch scheinen Entwicklung und Stand der Gewaltkriminalität in der Schweiz zu sein. Zwar haben sich dort die vorsätzlichen Tötungen und Körperverletzungen, der Raub und die Notzucht von 1954 bis 1994 etwa verdoppelt, wenn man die absoluten Zahlen der verurteilten Straftaten zugrunde legt. Die Verurteilungsziffern für diese Delikte sind in demselben Zeitraum jedoch nichts stets im gleichen Umfang gestiegen. Im Jahre 1994 machten diese Straftaten lediglich 2,1% aller Verurteilungen aus (schw. KriSta 1954, 5 ff.; schweiz. Strafurteilsstatistik 1994). Nach der seit 1982 bestehenden schweizerischen Polizeistatistik nimmt der Umfang der Gewaltkriminalität ständig zu. Danach sind bis 1995 die Körperverletzungen um etwa 28% angestiegen, vorsätzliche Tötungen (einschl. versuchter Tötungen) um 27% und Raub ungefähr 26%, die Notzucht hingegen hat um 29% abgenommen (schw. PKS 1982-1995). Da allerdings die absoluten Zahlen relativ gering sind, läßt sich angesichts des kurzen Beobachtungszeitraums noch kein sicherer Schluß auf die Entwicklungstendenz treffen.
In den Vereinigten Staaten wiederum steigt die Gewaltkriminalität unverändert an: Während alle von der Polizeistatistik erfaßten Indexstraftaten von 1960-1994 (1960: 1 861 300; 1994: 13 991 675) um 650% zunahmen, wuchs die Zahl der erfaßten Gewaltdelikte um über 660%, allen voran die schwere und gefährliche Körperverletzung (einschl. Mord- und Totschlagsversuche) mit fast 760% (UCR 1960, 2; 1994, 10 ff.). Betrug die Häufigkeitsziffer dieses Delikts 1994 in Deutschland 112 auf 100 000 Einwohner, so war sie in den USA mit rd. 430 etwa viermal so groß. Betrachtet man den Raub, so fiel einer der Belastungshöhepunkte in das Jahr 1981. Nach einer vorübergehenden Abnahme ist die Zahl der registrierten Raubstraftaten seit 1989 erneut stark angestiegen. Gleichwohl hat sich die Anzeigebereitschaft der Opfer von Gewaltdelikten wenig verändert (US Dept. Justice, Criminal Victimization 1992, mit einer Streubreite der Anzeigerate zwischen 46% [1972] und 50% [1992]). Legt man freilich denselben Zeitraum und dieselbe Deliktsgruppe nach der amerikanischen Polizeistatistik zugrunde, so ergibt sich insgesamt ein Anstieg nach Häufigkeitsziffern von mehr als 82%, wobei sich die Delikte der schweren Körperverletzung mit 170% verdreifacht haben (vgl. UCR 1973, 61, und 1992, 31). Im Unterschied zur polizeilichen Anzeigestatistik (Anstieg um mehr als 30%) ist also nach den Opferbefragungen (Abnahme rd. 8%) für die letzten zwei J ahrzehnte eine Stabilisierung des Niveaus der Gewaltstraftaten erkennbar. So werden nach den Befragungen in den Jahren sowohl 1981 als auch 1992 jeweils rd. 6,6 Millionen Gewaltstraftaten in den USA angenommen. Die erhebliche Diskrepanz zwischen den beiden Erfassungsweisen beruhen im wesentlichen auf methodisch bedingten Unterschieden der Wahrnehmung und Konstituierung von Kriminalität.
§40 Gewalt in der Familie
Schrifttum: Lösel/Selg u.a., Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt aus psychologischer Sicht. In: Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, hrsg. v. Schwind u.a. Berlin 1990 Bd. I, 1-156; Mirrlees-Black u.a., The 1996 British Crime Survey. Home Office Statistical Bull 19/1996. London 1996; Pillemer, Violencg against the Elderly. Social Problems 33 (1985), 146-159; Sack, Gewalt in der Familie. Kurzfassung des Forschungsberichts. Hannover 1985; SchalVSchirrmacher, Gewalt gegen Frauen und Möglichkeiten staatlicher Intervention. Stuttgart 1995; Schneider, H.-J., Kriminologie der Gewalt. Stuttgart u.a. 1994; Schneider, U., Gewalt in der Familie. Stuttgart 1993; Schwarzenegger, Gewalt in der Familie in Japan. Ein Überblick. In: Gewalt in der Kleingruppe und das Recht, hrsg. v. Rehbinder. Berlin 1997; Senatsverwaltung für Inneres (Hrs 8.); Endbericht der Unabhängigen Kommission zur Verhinderung von Gewalt in Berlin. Berlin 1994; Steffen u.a., Gewalt von Männern gegenüber Frauen: Befunde und Vorschläge zum polizeilichen Umgang mit weiblichen Opfern von Gewalttaten. München 1987; dies., Familienstreitigkeiten und Polizei. München 1991; US Dept. Justice, Teenage Victims. A National Crime Survey Report. Washington/D.C. 1991; dass., Violence Against Women: Estimates from the Re-designed Survey. Washington/D.C. 1995; Wetzels/Grewe/Mecklenburg u.a., Kriminalität im Leben alter Menschen. Stuttgart u.a. 1995; Werzels/Pfeiffer, Sexuelle Gewalt gegen Frauen im öffentlichen und privaten Raum. Hannover 1995.
Gewalt in der Familie oder in einer familienähnlichen Beziehung umfaßt Mißhandlungen von Personen, die in einer auf gegenseitiger Sorge und Unterstützung angelegten engen Gemeinschaft zusammenleben (Zösel u.a. 1990, 93). Opfer der Gewalt sind die schwächsten Mitglieder in der Familie: die Kinder, die Frauen und auch die Eltern der (Ehe-)Partner. Dabei kann es sich sowohl um reine Aggressionsdelikte als auch um sexualbezogene Straftaten handeln. Standen in den fünfziger und sechziger Jahren die verletzten Kinder im Blickpunkt, so lenkten in den siebziger Jahren die mißhandelten Frauen und in den achtziger Jahren die älteren Personen, soweit sie viktimisiert wurden, die Aufmerksamkeit auf sich. Doch die Grundkonstellation — Viktimisierung der schwächsten Mitglieder des nach außen abgeschotteten Familienverbandes – ist in allen Fallstudien ähnlich. Die Beziehungen zwischen passiver Gewalterfahrung und eigener Gewalttätigkeit oder Duldung von Gewalt können auf den Grundlagen der Lernpsychologie als ursächliche Zusammenhänge aufgefaßt werden. Dabei scheint nicht nur die Täter-, sondern auch die Opferrolle gelernt zu werden. Freilich besteht keine mechanische oder gar gesetzliche Verbindung zwischen Gewalterfahrung im Elternhaus und eigener Gewaltanwendung, wie ihn der Begriff „Kreislauf der Gewalt‘ nahelegen könnte. Die Erlebnisse in der Herkunftsfamilie werden vielmehr von den Erfahrungen überlagert, die das Kind in der Schule, in der Freizeit und in informellen Gleichaltrigengruppen mit der Handhabung von Konflikten gewinnt (Zösel u.a. 1990, 106 £.).
Gewaltdelikte, die sich innerhalb der Familie ereignen, werden nur selten und unter erheblichen Schwierigkeiten aufgedeckt. Entsprechend groß bleibt das Dunkelfeld. Vielfach fehlen unbeteiligte Tatzeugen. Auch entspricht es sowohl der Einstellung vieler Ärzte als auch der Behörden, nur zögernd in den Intimbereich der Familie einzugreifen. Gewalttätige Konflikte gehen allerdings nur selten über die Partner- oder Eltern-Kind- Beziehung hinaus, was gegen die „Gewaltträchtigkeit“ des gesamten Familiensystems oder ein „familiäres Gewaltklima“ spricht. Sie werden vorrangig durch Inanspruchnahme von Hilfe aus dem privaten Umfeld (Freunde, Verwandte) zu bewältigen versucht. Dies gilt generell für gruppenorientierte Kulturen mit der Bevorzugung informeller Konfliktregelung wie in Japan (dazu Schwarzenegger 1997). Gegenüber juristischer Regelung bestehen offensichtlich Vorbehalte, wie gegenüber Behörden Informationsschranken existieren. Diese werden nur bei schwerwiegenden Fällen oder Dauerkontakten zu Behörden wegen wirtschaftlicher Hilfeleistung durchbrochen (vgl. Sack 1985, 19 f. 25, 28). Die Einstellung der Öffentlichkeit zu den Problemen der Gewalt in der Familie ist gespalten: Auf der einen Seite werden die Taten mit ihren Folgen übersehen oder bagatellisiert, auf der anderen wird – falls Taten gerichtsbekannt werden — drastische Bestrafung gefordert. Aufgrund wachsender Sensibilisierung nimmt anscheinend die Bereitschaft der Opfer zu, Gewalt in der Familie gegenüber der Polizei offenzulegen. So geht aus der neuesten British Crime Survey hervor, daß mittlerweile 30% der Gewaltdelikte im häuslichen Bereich (domestic violence) der Polizei mitgeteilt werden. Im Jahre 1981 waren dagegen erst 20% dieser Delikte angezeigt worden. Entsprechend ist die Bereitschaft gewachsen, Gewaltdelikte in der Familie in Opferbefragungen zu offenbaren. Dies dürfte auch die erhebliche Steigerungsrate (1981-1995 um 242%) derartiger Delikte in England und Wales erklären (vgl. Mirrlees-Black u.a. 1996, 28 f.).
Das Hauptinteresse der Forschung während der letzten Jahre gilt begreiflicherweise den Delikten gegenüber Frauen, die unter dem Begriff „Gewalt in der Familie“ zusammengefaßt werden. Die Vernachlässigung anderer Deliktsbereiche einerseits sowie die große Zahl der überwiegend im angloamerikanischen Raum erschienenen Arbeiten zu sexistisch geprägten Aggressionsdelikten andererseits finden ihre Erklärung darin, daß mit der Liberalisierung und Öffnung der Bereiche Sexualität und Familie eine tiefe Betroffenheit über das vorgefundene Ausmaß dieser Delikte einherging. Daraus wiederum folgte ein starkes Bedürfnis, Erkenntnisse über die Ursachen zu gewinnen und hieraus Präventionsstrategien zu entwickeln (vgl. dazu Schneider 1994, 126 f.). Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand erscheinen derartige Viktimisierungen untrennbar verbunden mit der Stellung der Frau in der Gesellschaft, den tradierten geschlechtsspezifischen Verhaltensmaßstäben, Rollenerwartungen und Wertvorstellungen sowie der gesellschaftlichen Machiverteilung.
Wie Fallschilderungen und neuere Forschungen belegen, werden neben den Kindern auch die Frauen in der Familie körperlich mißhandelt und sexuell mißbraucht. Berichte aus den mehr als 320 Frauenhäusern in den Altbundesländern (in den USA sollen hingegen etwa 1200 und in Japan insgesamt nur 7 Frauenhäuser existieren; dazu Schwarzenegger 1997) zeigen deutlich, in welchem Ausmaß sie von ihren Ehemännern geschlagen und teilweise erheblich verletzt werden. Wenn auch die Frauen leichter als die Kinder die Möglichkeit haben, die Taten anzuzeigen, scheuen doch viele von ihnen aus Angst und Scham diesen Weg, so daß auch hier nur ein Bruchteil der Taten öffentlich bekannt wird. Eheprobleme, Alkoholgenuß und Arbeitslosigkeit dürften einige der Ursachen für das aggressive Verhalten der Ehemänner sein, das in allen Sozialschichten vermutet wird.
Die KFN-Studie von Wetzels/Pfeiffer (1995, 12 £.) gelangt aufgrund einer Befragung von 1089 Frauen zu einem Anteil von 16,1% Opfern physischer Gewalt nur in engen sozialen Beziehungen in dem Fünfjahreszeitraum von 1987 bis 1991. Dies entspräche hochgerechnet weit mehr als 1 Mio. mißhandelter Frauen im Altbundesgebiet. Andere Autoren schätzen die Zahl der in der Ehe mißhandelten Frauen für das Gebiet der Altbundesländer gar bis zu 4 Mio. (Schneider 1993, 87). Auch bei Berücksichtigung der unterschiedlichen Definitionen, Zeiträume und Stichproben erscheinen die vertretenen Annahmen und Schätzungen jedoch wesentlich überhöht, ja spekulativ (zum Ganzen ferner m.w.N. Schall/Schirrmacher 1995, 11 ff.). So weist die britische Crime Survey 1995 „lediglich“ 1,3% der Frauen als Opfer familiärer Gewalt aus (Mirrlees-Black 1996, 5, 30), dabei überwiegend durch ihren Partner.
Aus den Berichten der Frauenhäuser geht hervor, daß die eheliche Vergewaltigung keine Seltenheit ist. Allerdings wird dieses Thema von den betroffenen Frauen noch viel stärker tabuisiert, als dies sonst bei Gewalt innerhalb der Familie der Fall ist. Die körperliche Mißhandlung in Form von Treten, Schlagen und Würgen steht eindeutig im Vordergrund. Über die Häufigkeit der ehelichen Vergewaltigung gibt es wenig gesichertes Zahlenmaterial, zumal die Wirklichkeitskonstruktionen über die fraglichen Ereignisse begreiflicherweise weit auseinandergehen. Auch lassen die Erhebungen nicht selten die sonst für Opferbefragungen üblichen methodischen Standards weitgehend vermissen.
Immerhin gelangen neuere nordamerikanische Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß etwa ein Zehntel der befragten Frauen angibt, von ihrem Ehemann durch Gewalt (oder Drohung) zum Beischlaf gezwungen worden zu sein (US Dept. Justice 1995, 2 ff.). Demgegenüber geht eine Untersuchung des KFN Niedersachsen (Wetzels/Pfeiffer 1995, 11, 14£.) von einem erheblich höheren Anteil sexueller Gewalt gegenüber Frauen in Deutschland für die Jahre 1987 bis 1991 aus. Doch die von jener Befragung ausgewiesenen Ergebnisse stützen die Behauptung nur teilweise. Denn bei einer Gesamtstichprobe von 894 verheirateten Frauen und auf der Basis von 23 Fällen (ca. 3%), in denen der Täter als Ehemann im gemeinsamen Haushalt mit dem Opfer lebte, wird spekulativ auf 350 000 Frauen hochgerechnet, die „im Zeitraum von 1987 bis 1991 Opfer einer Vergewaltigung (sexuellen Nötigung) durch ihren mit ihnen zum Tatzeitpunkt im gleichen Haushalt lebenden Ehemann wurden“. Dabei wird freilich weder nach Vergewaltigung und sexueller Nötigung noch nach den ebenfalls erfragten Versuchshandlungen differenziert. Im Gegensatz zu jenen Ergebnissen und Interpretationen der deutschen Befragung wird für die gesamten Vereinigten Staaten die Zahl weiblicher Opfer von sexueller Gewalt auf 500 000 geschätzt. Im übrigen ist die Drohung oder Anwendung sexueller Gewalt durch den im Haushalt der Frauen wohnenden Ehemann mit 5% der Fälle keinesfalls höher als entsprechende Viktimisierungen durch Freunde (16%), Bekannte (53%) oder Fremde (18%). Danach begegnen den deutschen Schätzungen und Interpretationen erhebliche Bedenken. Soweit Ehegatten als Vergewaltigungstäter in Betrachtkommen, scheint es sich in den fraglichen Fällen wohl um überwiegend und zur Tatzeit bereits getrenntlebende Paare zu handeln, wobei dieser Sachverhalt auch auf einer veränderten Wirklichkeitskonstruktion durch die Frau beruhen mag. Doch löst die Vergewaltigung auch während der (noch bestehenden) Ehe allgemein für die Opfer einen tiefen Schock, verbunden mit dem Verlust des Vertrauens und des Selbstwertgefühls, aus. Es sollte daher auch auf gesetzgeberischem Wege versucht werden, die betroffenen Frauen mit diesem Problem nicht allein zu lassen. Obwohl die Kriminalisierung der ehelichen Vergewaltigung in praktischer Hinsicht keine große Bedeutung haben wird, kann dadurch doch klargestellt werden, daß die Frau auch nach der Eheschließung, insbesondere aber nach einer Trennung vom Ehepartner, in diesem Verhaltensbereich nicht rechtlos gestellt ist. Demgemäß ist die Vergewaltigung in der Ehe künftig in den einheitlichen Straftatbestand der Vergewaltigung einbezogen.
Mehr noch als die Frauen zählen die Kinder zu den Opfern von Gewaltakten in der Familie. Vor allem handelt es sich um Kindesmißhandlungen, aber auch um den sexuellen Mißbrauch von Kindern. Gleichwohl bildet der Anteil von gewalttätigen Viktimisierungen durch Angehörige nicht mehr als 5% an.allen entsprechenden Verletzungen und Schädigungen, die Jugendliche durch fremde Gewalttätigkeit erleiden (dazu und zur Verbreitung der Viktimisierung im Jugendalter US Dept. Justice 1991, 1 ff., 7, table 13). Die Opfer der Mißhandlungen sind in der Regel Kleinstkinder und Kinder im Vorschulalter. Entgegen früherer Feststellungen werden eheliche Kinder genauso häufig mißhandelt wie uneheliche oder Stiefkinder (dazu LB § 61, 1). Die männlichen und weiblichen Täter der bekanntgewordenen Fälle stammen fast immer aus den sozialen Unterschichten (Senatsverwaltung für Inneres 1994, 2, 42; Kürzinger 1996, 260). Dies hängt allerdings auch mit der größeren Sichtbarkeit bei sozial ungünstigen Verhältnissen zusammen. Häufig waren die Täter als Kinder selbst Opfer von Mißhandlungen. Den Umfang der Kindesmißhandlung in Deutschland schätzt man auf jährlich 60 000 bis zu mehr als 1 Mio.(Senatsverwaltung für Inneres 1994, 241; ferner oben § 34, 2).
Aber auch alte Menschen werden in ihrer Familie gelegentlich mißhandelt. Sie werden beschimpft, bedroht, geschlagen; man enthältihnen Essen, Wasser und Kleidung vor. Manchmal werden sie gar an Möbelstücke festgebunden, um sie leichter kontrollieren zu können. Sogar „Ruhigstellung“ mit Beruhigungs- und Schlaftabletten kommt gelegentlich vor. Ferner werden alte Menschen zu Objekten herabgewürdigt, die der Macht der Angehörigen ausgeliefert sind (zum Ganzen Pillemer 1985, 106 ff.). Zwar werden sie im Vergleich zu jüngeren deutlich seltener Opfer von Gewalt. Doch mit zunehmendem Alter steigt der Anteil von Täter-Opfer-Beziehungen, die im häuslich-familiären Bereich angesiedelt sind, an der Gesamtzahl der Opfererfahrungen an. Relativ zur Anzahl der Opferwerdungen insgesamt ist die Viktimisierung im sozialen Nahraum für ältere Menschen daher bedeutsamer. Bei einem weiten Begriff der Viktimisierung, der neben physischer Gewalt auch Vernachlässigung, Medikamentenmißbrauch sowie chronische und verbale Aggression und wirtschaftliche Ausnutzung umfaßt, wurden nach einer Befragung 1991 insgesamt 6,6% der Befragten 60-75jährigen nach deren Angaben als Opfer eingeschätzt. Dabei herrschte die physische Gewalterfahrung in mehr als der Hälfte der erfragten Opfererfahrungen vor (Wetzels u.a. 1995, 111 ff., 177 £., 187£.). °
§ 41 Politisch motivierte Gewaltverbrechen und Terrorismus
Schrifttum: Blath/Hobe, Strafverfahren gegen linksterroristische Straftäter und ihre Unterstützer, hrsg. v. BJM. Bonn 0.J. (1982); Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzberichte 1991 ff. Bonn 1992 ff., Hassemer, Ziviler Ungehorsam — ein Rechtfertigungsgrund? FS für Wassermann. Neuwied 1985, 325-349; Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität. Freiburg 1967; ders., Makrokriminalität. Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt. Frankfurt/M. 1989; Jubelius, Frauen und Terror. Kriminalistik 35 (1981), 247-255; Kaiser, Terrorismus und Jugendprotest. In: Handbuch der Familien- und Jugendforschung. Bd. 2, hrsg. v. Markefka u.a. Neuwied 1989, 739-756; Kalinowsky, Rechtsextremismus und Strafrechtspflege. Eine Analyse von Strafverfahren wegen mutmaßlicher rechtsextremistischer Aktivitäten und Erscheinungen, hrsg. v. BMJ. Bonn 1990°; Karstedt-Henke, Theorien zur Erklärung terroristischer Bewegungen. In: Politik der inneren Sicherheit, hrsg. v. Blankenburg. Frankfurt/M. 1980, 169-234; Kerner u.a., Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt aus kriminologischer Sicht. In: Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, hrsg. von Schwind u.a. Bd. H. Berlin 1990, 415-606; Lampe (Hrsg.), Die Verfolgung von Regierungskriminalität der DDR nach der Wiedervereinigung. Köln 1993; Löw (Hrsg.), Terror und Extremismus in Deutschland. Ursachen, Erscheinungsformen, Wege zur Überwindung. Berlin 1994; Neidhardt, Linker und rechter Terrorismus. Entscheidungsformen und Handlungspotentiale im Gruppenvergleich. In: Gruppenprozesse. Analysen zum Terrorismus 3, hrsg. v. v. Baeyer-Katte u.a. Opladen 1982, 434-476; Sack, Politische Delikte, politische Kriminalität. In: KKW 1993? & 382-392; Triffterer, Kriminologische Erscheinungsformen des Machtmißbrauchs und Möglichkeiten zu ihrer Bekämpfung. ZfRechtsvergleichung 3 (1991), 184- 210; Uthoff, Rollenkonforme Verbrechen unter einem totalitären System. Berlin 1975; Willems u.a., Fremdenfeindliche Gewalt. Tätertypen, Gewaltursachen und Ansatz zur Auseinandersetzung. Bonn 1993.
- Kriminologisches Problem
Wie die Erfahrungen in den letzten Jahrzehnten verdeutlichen, kann sich politisch motivierte Gewaltkriminalität in und gegen Ausübung staatlicher Herrschaft äußern. Dabei kann nicht zweifelhaft sein, daß Gewalttätigkeit als staatlicher Machtmißbrauch folgenreicher ist als gegen staatliche Institutionen gerichtete Gewalthandlungen, selbst wenn diese in Gestalt terroristischer Aktivitäten durch nichtstaatliche Gruppen ausgeübt werden. Gewaltverbrechen unter totalitärer Herrschaft (dazu Jäger 1967, 11 £.; Uthoff 1975, 31 ff.), nicht selten Erscheinungen der Makrokriminalität (Jäger 1989), veranschaulichen dies. Darüber hinaus finden sich in der Gegenwart vielfältige Gewaltformen durch Mißbrauch staatlicher Macht, namentlich als Menschenrechtsverletzungen durch Unterdrückung, Folterung und Ausrottung (vgl. Triffterer 1991, 185 ff.).
Hat der Staat mindestens seit dem Bewußtsein der Verbrechen unter totalitärer Herrschaft und seit dem Vietnamkrieg seine „natürliche Unschuld“ verloren und ist damit die Ausübung öffentlicher Gewalt problematisch geworden, so kann nicht verwundern, daß die politische Grundlage des gesetzlich definierten Gewaltbegriffs mit in die Überlegungen einbezogen wird. Gerade die Beiträge zur sogenannten strukturellen Gewalt und der kritischen Kriminologie (dazu oben § 4) zeigen, wie sehr dieses Definitionsproblem ständig neu durchdacht wird.
Die Differenzierung zwischen „normalen“ und politisch motivierten Gewalttätern wird auf subjektiver Ebene vorgenommen. Danach gilt als ein politischer Gewalttäter derjenige, der die strafbare Handlung als Instrument und Mittel zu einem politischen, moralischen oder wertbezogenen, also einem über ihn hinausweisenden Zweck einsetzt (Sack 1993, 383). Da aber die Grenzziehung sehr schwierig ist, weil sich etwa die politischen Gegebenheiten ständig ändern, liefert diese Definition keine klare Unterscheidungsmöglichkeit. Sie erscheint überdies zu eng (zur Begriffsgeschichte und zum Bedeutungswandel der politischen Delikte siehe LB § 62, 1). Immerhin ist die politisch motivierte Gewaltkriminalität Ausdruck politischer Konflikte.
2. Gewaltverbrechen unter totalitärer Herrschaft
Zu den politisch motivierten Gewaltverbrechen, die bis zur Gegenwart und auf absehbare Zeit nachwirken, zählen vor allem die sog. nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. In den knapp 50 Jahren bis 1993 wurden von über 105 000 Beschuldigten zwar rd. 6500 Personen wegen NS-Gewaltverbrechen von westdeutschen Gerichten rechtskräftig verurteilt. Hingegen wurde gegen mehr als 94 500 Beschuldigte das Verfahren eingestellt (zum Ganzen ferner oben § 23, 2 und 3).
Neue Formen staatlich organisierter Gewaltkriminalität sind namentlich aus der ehemaligen DDR bekanntgeworden (vgl. Lampe 1993). Jedoch steht hierzu die kriminologische Aufarbeitung und Dokumentation noch aus. Immerhin lassen Facetten wie die Strafverfahren gegen die sogenannten Mauerschützen sowie die Strafverfolgung von „ Justizunrecht“ erkennen, wie weit das Spektrum reicht, aber auch, wie begrenzt die Verfolgbarkeit der eigentlich verantwortlichen Haupttäter und der Hintermänner ist.
3. Politischer Extremismus, Gewalt und Terrorismus
Mit Beginn der neunziger Jahre hat sich das Erscheinungsbild der politisch motivierten Gewaltkriminalität erheblich gewandelt. Nunmehr stehen die fremdenfeindliche Gewalt, der Ausländerextremismus (dazu oben § 38, 3) sowie die gewalttätigen Ausschreitungen der sogenannten „Autonomen“ im Vordergrund. Die Qualität des Verhaltens reicht freilich über Ordnungswidrigkeiten hinaus und meint ausschließlich strafbare Gewalttaten, die sich bis zu terroristischen Handlungen steigern. Formen allgemeinen Protestverhaltens und zivilen Ungehorsams, obschon sie mitunter in hohem Grade Gewaltbereitschaft indizieren, werden generell von politisch motivierter Gewalt nicht mehr erfaßt. Sie verharren gewöhnlich noch bei „begrenzter Regelverletzung“ und dem Einsatz psychischer Gewalt. Demgegenüber greifen die militanten Aktivisten darüber hinaus, indem sie bewußt auch physische Gewalt gegen Menschen und Sachen einsetzen oder billigend in Kauf nehmen. In gesteigerter Form münden sie in den Terrorismus
Anfang der neunziger Jahre sind die rechtsextremistischen Gewalttaten mit 128 im Jahr 1990 auf 990 im Jahr 1991 sprunghaft angestiegen (Bundesministerium des Innern 1992, 76). Dieser Trend verstärkte sich noch im Jahr 1992. Jetzt wurden im westlichen Bundesgebiet mehr als 1700 rechtsextremistische Gewalttaten gezählt, wovon etwa 90% fremdenfeindlich motiviert waren. Dabei starben 18 Menschen, davon 7 Ausländer. Von den Taten entfielen etwa 681 auf Brand- und Sprengstoffanschläge gegenüber Asylbewerberunterkünften. In Ostdeutschland zählte man 1991 fast 500, 1992 weit mehr als 700 fremdenfeindliche Straftaten (Bundesministerium des Innern 1992, 70; Willems 1993).
Seit dem sogenannten Asylkompromiß von Juli 1993 ist die Entwicklung rechtsextremistischer Gewalt in Deutschland rückläufig. Die Zahl der Anschläge nahm erheblich ab. Im Vergleich zum Höchststand im Jahr 1993 ging die Zahl der fremdenfeindlichen Gewalttaten bis 1995 sogar um 66% von 1609 auf 540 Gewalttaten zurück. Tötungshandlungen mit rechtsextremistischem Hintergrund blieben 1994 und 1995 im Versuchsstadium stecken (Bundesministerium des Innern 1994, 79, 83; 1996, 99, 105).
Nach der empirischen Forschung handelt es sich ganz überwiegend um männliche Täter im Alter zwischen 15 und 20 Jahren, die mehrheitlich in der Gruppe handeln. Nur in wenigen Fällen waren die Taten planvoll organisiert; der Großteil hingegen erfolgte spontan, wobei die Täter oftmals unter Alkoholeinfluß standen. Während in den alten Bundesländern mehr als die Hälfte der Täter den Skinheads zugerechnet werden, ordnet man in Ostdeutschland den Großteil rechtsextremistischen Gruppen zu (Willems u.a. 1993, 110, 127 £., 136, 140 ff.).
Der Anstieg rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten und ihre kommentierende Berichterstattung in den Massenmedien haben die Entwicklung der linksextremistischen Militanz dem Blick der Öffentlichkeit weitgehend entzogen. Zu Unrecht; denn Linksextremisten wenden zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele nach wie vor in bedeutendem Umfang Gewalt an. Die körperverletzende Gewalt hat dabei ein bisher kaum bekanntes Maß an Brutalität erreicht. Die von linksextremistischen Tätern angerichteten Sachschäden gehen in die Millionen
Obwohl sich bereits in derartigen Handlungen extremistische Verhaltensformen ausdrücken, greift der Terrorismus weit darüber hinaus. Denn er setzt die Gewalt nicht nur punktuell, sondern strategisch ein, um durch Aufsehen, Erschrecken und Einschüchterung optimale politische Wirkung zu erzielen: Nach dem Verständnis der Verfassungsschutzberichte ist Terrorismus „der nachhaltig geführte Kampf für politische Ziele, die mit Hilfe von Anschlägen auf Leib, Leben und Eigentum anderer Menschen durchgesetzt werden sollen, insbesondere durch schwere Straftaten, wie sie in § 129 a Abs. 1 StGB genannt sind, vor allem Mord, Totschlag, erpresserischer Menschenraub, Brandstiftung, Herbeiführung einer Explosion durch Sprengstoff oder durch andere Gewalttaten, die der Vorbereitung solcher Straftaten dienen (vgl. Kerner u.a. 1990, 512 m.N.).
Terrorismus läßt sich danach als die planvolle politisch motivierte Anwendung von krimineller Gewalt begreifen. Er kann sich gegen den Staat, gegen Mitglieder führender gesellschaftlicher Gruppen oder beliebige Bürger richten, aber als Staatsterror auch durch den Staat oder das Militär erfolgen. Die Gewaltaktionen werden systematisch, sei es punktuell oder kontinuierlich, und allgemein über längere Zeiträume hinweg eingesetzt. Sie sollen durch Art des Vorgehens, Wahl des Opfers oder Größe des Schadens Aufsehen erregen. Stets zielen sie darauf, um politischer Zwecke willen die Bevölkerung einzuschüchtern. Will der Terror des Staates oder Militärs das politische System stabilisieren, so der gegen den Staat gerichtete Terrorismus die herrschende Ordnung erschüttern, um die Bevölkerung für den Umsturz zu mobilisieren. Doch das geltende Recht versagt ihnen die Privilegierung, geschweige Anerkennung. Im übrigen kann man zwischen Gewalttätern, die politische Ereignisse lediglich als willkommenen Anlaß benutzen, um ihre Aggressionen und Frustrationen gewalttätig zu entladen, und der überwiegenden Zahl derer unterscheiden, die sich im Gefolge eskalierender Auseinandersetzung zu Gewalttaten hinreißen lassen.
Zwar sind terroristische Anschläge seit langer Zeit weltweit bekannt. Aber seit dem 19. Jahrhundert haben sie an Stärke und Umfang gewonnen. Offenbar setzt Terrorismus eine Gesellschaftsform voraus, die es ermöglicht, Anschläge im Verborgenen zu planen, zu organisieren und durchzuführen, gleichzeitig aber die Publizität des Anschlags durch Massenmedien sicherzustellen. Sieht man vom Terrorismus unterdrückter ethnischer Minderheiten ab, die nach kultureller und politischer Autonomie streben (z.B. ETA, IRA und PLO), so hat sich der Terrorismus vornehmlich den Umsturz des jeweils herrschenden politisch-gesellschaftlichen Systems zum Ziel gesetzt. Dies trifft sowohl für die anarchistischen Organisationen des 19. Jahrhunderts zu wie in neuerer Zeit für die Roten Brigaden in Italien, die Action directe in Frankreich sowie für die Rote-Armee-Fraktion und rechtsextremistische Gruppierungen in der Bundesrepublik. Sinngemäß zeichnen vielfältige Aktivitäten mehrerer Gruppierungen das Bild des Terrorismus. Im einzelnen handelt es sich um die „Rote-Armee-Fraktion“ und ihr Umfeld, die „Revolutionären Zellen“, ferner um sich „undogmatisch‘“ oder „autonom“ bezeichnende Gruppen einschließlich der sog. Bahnterroristen, rechtsextremistische Vereinigungen sowie ausländische Gruppierungen (dazu Kürzinger 1996, 264 ff., und LB § 62,3).
Die Themen, die in den letzten Jahrzehnten die öffentliche Protestdebatte bestimmt haben, sind im gesellschaftlichen Einstellungsspektrum eher mit „linken Sensibilisierungen“ verknüpft. Daraus allerdings ableiten zu wollen, daß in Deutschland grundsätzlich das linke Gewaltpotential größer sei als das rechte, erschiene voreilig. Man denke nur an Themen, die im gesellschaftspolitischen Meinungsspektrum eher der „rechten Sensibilisierung“ entsprechen wie z.B. Überfremdung, Ausländerzuzug, Asylbewerberzustrom, Schutz des Lebens. Immerhin hat sich im Gegensatz zu den linksterroristischen Vereinigungen trotz dem fraglos gewachsenen rechtsextremistischen Gewaltpotential bis heute keine stabile rechtsterroristische Bewegung gebildet. Dem steht nicht entgegen, daß sich auch — wie Hakenkreuzschmierereien, Friedhofsschändungen und Überfälle auf Ausländerheime zeigen —, am rechten Pol ein aktionswilliges und schnell mobilisierbares Potential entwickelt hat. Der Organisationsgrad rechtsextremer Terroristen variiert von spontanen Ad-hoc-Aktionen bis zu konspirativ agierenden Gruppen, die sich der terroristischen Logik der RAF bedienen. Die terroristischen Handlungen richten sich vor allem gegen Asylbewerberwohnheime, aber auch gegen einzelne Ausländer. In der zweiten Jahreshälfte 1991 ist es zu einem wellenartigen Anstieg von Überfällen und Brandanschlägen in Ost- und Westdeutschland gekommen, freilich nicht nur hier, sondern auch in Schweden und den Niederlanden. Trotz dieser und einzelner linksterroristischer Erscheinungen (z.B. die Ermordung von Herrhausen) hat sich in den neunziger Jahren das „terroristische Gewaltpotential“ anscheinend nicht mehr ausgedehnt. Dies gilt wohl auch dann noch, wenn man neuere Randerscheinungen wie den sog. Bahnterrorismus im Zusammenhang mit dem Anti-Atom-Protest und dem Öko- Protest mitberücksichtigt.
Zwar trifft es sowohl für Links- wie Rechtsterroristen zu, daß es sich bei ihnen mehrheitlich um junge Leute handelt (siehe Blath/Hobe 1982, 37 £., Neidhardt 1982, 447, Kalinowsky 1990, 45 f.). Dennoch läßt die Analyse der Altersstruktur von links- und rechtsterroristischen Gruppen signifikante Unterschiede erkennen. So finden sich bei der RAF und anderen linksterroristischen Gruppierungen weitgehend altershomogene Kollektive, während rechtsterroristische Gruppen eine Mehr-Generationen- Zusammensetzung aufweisen. Im übrigen sind die Anteile der Geschlechter verschieden: Setzen sich linksterroristische Gruppen etwa zu einem Drittel auch aus jungen Frauen zusammen, so herrschen bei den rechtsterroristischen Gruppen die jungen Männer mit mehr als 90% vor. Bedeufsame Unterschiede, nicht zuletzt im Hinblick auf das Leben im Untergrund bestehen zwischen links- und rechtsterroristischen Gruppierungen ferner im Hinblick auf Sympathisanten und das unterstützende Umfeld. Vergleicht man beide Seiten miteinander, so ergeben sich Abweichungen insofern, als es allein an den Rändern des linksextremistischen Lagers eine wirksame Ausdifferenzierung eindeutiger Unterstützungsorganisationen des Terrorismus gab und gibt. In ähnlichem Maße ist eine Ausdifferenzierung und Kristallisierung von eindeutigen Unterstützerorganisatoren des Terrorismus im rechtsextremistischen Lager noch nicht gelungen (Neidhardt 1982, 457). Auch fehlen im rechtsextremen Lager Zentren, wie sie der Linksextremismus in den Universitätsstädten entwickelt hat. Die das Gewaltkonzept der RAF bejahenden Gruppierungen bilden nach wie vor ein für sie verläßliches Unterstützungspotential (ferner Schwind 1996, 534 ff. m.N.).
Außerdem entspricht der abweichenden Entstehungsgeschichte der links- und rechtsterroristischen Gruppen ein unterschiedliches Bild der Mitglieder. Die linksterroristischen Organisationen sind aus dem Umfeld der Studentenbewegung hervorgegangen. Sie stammen durchweg aus den sozioökonomisch gehobenen Schichten. Rechtsterroristen hingegen weisen einen deutlich niedrigeren Bildungsstand auf als Linksterroristen. Vor allem stehen bei diesen sozialwissenschaftliche Ausbildungsgänge im Vordergrund, während sie bei Rechtsextremisten völlig fehlen. Dies mag die unterschiedlichen Reflexionsstile beider Gruppen und den geringen Wert, den Theorien und intellektueller Habitus bei rechten Gruppen einnehmen, erklären. Im übrigen freilich weist das Sozialprofil der Gewalttäter beider Extreme beachtliche Gemeinsamkeiten auf: Personen, die Anschläge begehen, sind tendenziell jünger und ledig, haben einen vergleichsweise eher geringeren Ausbildungsstand, gehören somit eher unteren Berufsgruppen an, stammen relativ selten aus höheren Sozialschichten, sind relativ häufig vorbestraft, obschon nicht einschlägig. Demgegenüber entsprechen linksterroristische Mitglieder, die wegen Unterstützungshandlungen oder gruppenbezogenen Beschaffungsdelikten bestraft wurden, eher dem Bild, das man sich von Linksterroristen generell macht. Sie weisen einen höheren Bildungsstand auf und stammen aus gehobenen Gesellschaftsschichten (Blatl/Hobe 1982, 42). Außerdem folgt aus den Lebenslaufanalysen junger Terroristen, daß sie häufig vom Elternhaus politisch vorgeprägt wurden. Mißerfolge bezüglich eingeschlagener Bildungswege oder des angestrebten beruflichen Aufstiegs gehen der politischen Aktivität gewöhnlich voraus, die offenbar Erlebnisse der Selbstbestätigung bringt. Sie führen jedoch bei rechtsextremistischen Tätern überwiegend nicht zu einem Bruch mit der bisherigen Umgebung, wie dies für einen Teil linksextremistischer Terroristen kennzeichnend ist.
Ferner ergeben sich in der Wahl der Mittel und dem strategischen Vorgehen zwischen Links- und Rechtsterroristen Unterschiede. Wählen Linksterroristen in der Bundesrepublik ihre Opfer nach deren sozial herausragender Stellung in der Gesellschaft aus (Generalbundesanwalt, Arbeitgeberpräsident, Minister, Gerichtspräsident, General, Abgeordneter, führender Industrieller oder Banker), so richten sich rechtsterroristische Anschläge bislang nicht gegen Repräsentanten des politischen Systems, sondern vornehmlich gegen Ausländer, Angehörige von Minoritäten oder beliebige Dritte (vgl. Willems u.a. 1993).
4. Theorie und Erklärung politisch motivierter Gewalttätigkeit
Theoretische Ansätze zur Erklärung decken fast die gesamte Breite der traditionellen Anlage-Umweltdiskussion ab. Angesichts der Vielfalt von Erscheinungsformen und Motiven, insbesondere unterschieden nach Links- und Rechtsextremismus, ferner nach dem Zusammenhang von Jugend und Terrorismus, ist dies kaum verwunderlich. Als Teilursachen werden folgende Faktoren hervorgehoben:
e Die Enttäuschung über das Ausbleiben durchschlagender Erfolge der Studentenbewegung sowie kriminalisierende Prozesse als Folge sozialer Protestbewegungen (dazu Karstedt-Henke 1980, 22 ff.). e allgemeine Gewöhnung an Sicherheit und Wohlstand, e Abnormität der Persönlichkeiten (Fanatismus, Geltungssucht), obschon keine Geisteskrankheit, ®e Fehleinschätzungradikaler Systemveränderungsversuche als kritisches Engagement bei vorausgehender Verzweiflung an der Gesellschaft, ® Legitimitätsschwäche des Staates als Teil einer umfassenden „Grundwertekrise“, die bei Teilen der Jugend zu kulturrevolutionären Ansätzen führt, e Abbau der Hemmschwelle durch Annahme eines „Kriegszustandes“ mit der Bundesrepublik mit sozialisierender Drucksituation, ® Orientierungslosigkeit und Rollenkonflikt von sozialen Aufsteigern nach Hochschulstudium, verbunden mit beruflicher Unsicherheit, °_ Generationskonflikt mit gestörten Beziehungen zum Elternhaus und ® spätpubertäre Entwicklungsstörungen.
Diese vereinfachende Aufzählung läßt erkennen, daß viele junge Menschen von dem Gefühl bestimmt werden, daß das herrschende Sozialsystem legitime Ansprüche kaum wahrnimmt oder erfüllen kann. Eigene Wertvorstellungen und Erwartungen zum Frieden, zum Umweltschutz und zum Leben ohne Atomkraft lassen sich nicht kurzfristig verwirklichen. Undurchschaubarkeit des Sozialsystems, vorherrschende Interessen der Privatwirtschaft, Schwerfälligkeit der Verwaltung, politische Skandale einerseits und die begrenzten Einwirkungsmöglichkeiten andererseits verdeutlichen die Ohnmacht des einzelnen und nähren das Protestpotential. Demgemäß geht das zwar angefochtene, aber unverändert zentrale Modell zur Erklärung politischen Protestes davon aus, daß individuelle Frustrationen kollektiviert werden und vornehmlich im Staat einen angehbaren Adressaten finden (vgl. Kerner u.a. 1990, 516 £.).
Um Aufmerksamkeit für ihre Ziele zu wecken, gehen die Anhänger der Protestbewegung auf die Straße, wollen auffallen, begehen zu diesem Zweck bewußt „begrenzte Regelverletzungen“. Andernfalls würde wahrscheinlich die öffentliche Meinung gar nicht auf sie reagieren. Die Konfrontation mit der Polizei führt im Wege der Konfliktereignisse zu einem gegenseitigen ‚Sich-Aufschaukeln, so daß die Beteiligten nicht selten in den Mittelpunkt der Prozesse geraten, obwohl die gewalttätige Auseinandersetzung am Anfang weder auf der einen noch auf der anderen Seite beabsichtigt war. Die Dynamik der Gewalt kann daher als Prozeß von Reiz und Reaktion gesehen werden, eine soziale Protestbewegung als Konfliktprozeß zwischen einer Protestgruppe und den Kontrollinstanzen des politischen Systems (vgl. Karstedt-Henke 1980, 171). Bei ihrer Antwort auf gewaltsame Provokationen politischer Protestbewegungen stehen die staatlichen Organe vor Unwägbarkeiten und kaum überschaubaren Entwicklungen, die sich aus der paradoxen Wirkung der Kontrolle ergeben. Verfolgung verursacht nämlich Angst und Resignation sowie Empörung und weitere Mobilisierung, kann also sowohl dämpfen als auch aufputschen. In Eskalationsprozessen bewegen sich die Beteiligten gewollt oder ungewollt in Richtung auf eine wachsende Abweichung und zunehmende Militanz. Jede Seite neigt dazu, die andere zu Überreaktionen zu veranlassen, wobei es schwierig, vielleicht unmöglich ist, den Anfang einer solchen Entwicklung zu ermitteln und den Hauptverursacher dingfest zu machen.
5. Vorbeugung, Kontrolle und Kriminalpolitik
Da politischer Protest und Demonstrationsgewalt soziale Mängellagen, Bedürfnisse und staatliches Versagen indizieren, mündet die Analyse in die Frage nach den politischen Lösungsmöglichkeiten.
Soziale Befriedung setzt vor allem voraus, das Vertrauen der Bevölkerung in das Funktionieren des demokratischen Prozesses zu sichern oder doch wiederherzustellen. Jedermann muß erkennen können, daß Politik und staatliche Einrichtungen von sich aus Bedürfnisse und Ängste des Bürgers wahrnehmen und ohne „Druck von der Straße“ oder „Druck der Gewalt‘ angehen. Ferner muß die Bevölkerung die Überzeugung gewinnen, daß sie auch reale Einflußmöglichkeiten auf politische Entscheidungsprozesse hat. Politikern und staatlichen Einrichtungen obliegt es, in allen Teilen der Bevölkerung auf den notwendigen demokratischen Grundkonsens hinzuwirken und ihn zu festigen. Ein demokratischer Basiskonsens über die Ablehnungswürdigkeit politisch motivierter Gewaltanwendung wird aber nur dann gefestigt werden können, wenn sich die Politiker sensibler gegenüber Ängsten und Bedürfnissen der Bevölkerung zeigen. Der Bürger muß das Gefühl haben, auch ohne spektakuläre Aktionen beachtet und repräsentiert zu werden. Das gilt nicht nur für die jeweils aktuellen Themen, sondern ist eine dauernd anzustrebende Sensibilität. Schon im Vorfeld von Entscheidungen sollte auf Bürgerinteressen durch Anhörung Rücksicht genommen werden. Zwar sind plebiszitäre Formen wegen der Gefahr der Demagogie und Embotionalisierung von Debatten, insbesondere durch die Nutzung moderner Massenmedien, unerwünscht, ja gefährlich. Dennoch gilt es, neue Formen für das legitime Bedürfnis unmittelbar persönlicher Einflußnahme im politischen Willensbildungsprozeß außerhalb der traditionellen Foren wie den Parteien zu schaffen.
Als entscheidend für die Prävention politisch motivierter Gewalttätigkeit erscheinen die durchgängige Unsicherheit und Inkonsistenz der strafrechtlichen Sozialkontrolle, angefangen von Politik und Gesetzgebung über die Rechtsprechung bis hin zu den polizeilichen Einsatz- und Handlungsstrategien. Sie erscheinen folgenreicher als gelegentliche „Überreaktionen“ der Kontrollinstanzen. Wenn Politiker, Gesetzgeber und Strafgerichte nicht genau wissen, was sie unter krimineller Gewalt verstehen sollen, dann muß man sich über das unterschiedliche Vorgehen der Polizei, geschweige der Demonstranten, nicht wundern. Die Berufung auf eine lageangemessene Flexibilität und der an sich zulässige Rückgriff auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit können nur notdürftig die staatliche Hilflosigkeit verdecken (zur Kritik an der „Flexibilisierung“ des Vorgehens gegenüber sogenanntem zivilen Ungehorsam Hassemer 1985, 341 ff., 345 ff.).
In dieser Unsicherheit drückt sich freilich nur der mangelnde Konsens in der Gesamtgesellschaft über die Grundlagen unserer Existenz und des Umgangs miteinander aus. Obschon man über diese Lebensfragen legitimerweise unterschiedlicher Meinung sein kann, erscheint es erforderlich, eine Strategie zu verfolgen, die nicht nur vordergründig auf Verminderung gewalttätiger Aktionen gerichtet ist, sondern deren Befolgung auch Aussicht auf Befriedung verspricht. Dazu gehört neben der Offenlegung, Information und Überzeugungsarbeit ferner die Herstellung von Berechenbarkeit und Voraussehbarkeit. Auch hier kommt es auf das konsistent und rechtsstaatlich gebundene Handeln von Polizei und Justiz an. Gerade das örtlich unterschiedliche Vorgehen gegen die Räumung von Hausbesetzungen etwa in Berlin, Hamburg und München verdeutlicht dies. Die unmittelbare Räumung jeder Besetzung, wie sie in München seit langer Zeit üblich ist, vermindert offensichtlich die Chancen der Etablierung einer Besetzerszene und die Erfolgserwartungen einer potentiellen Bewegung. Werden Besetzungen aber zunächst toleriert, später beendet oder bei gleichgelagerten Objekten verhindert, sind regelmäßig Krawalle die Folge.
Daraus folgt, daß dann, wenn es an Wille und Kraft zur Durchsetzung von Rechtsnormen fehlt, und damit an einem „capable guardian“, auch Gewaltbereitschaft ungebremst in Gewalttätigkeit umschlagen kann. Aktuell rechtsfreie Räume für potentielle Gewalttäter mögen unerwünschte Solidarisierungseffekte kurzfristig unterbinden. Doch langfristig wird diese vermeintliche Befriedung auf Kosten der Legitimität des Staates teuer erkauft und ruftzur Nachahmung auf. Bei Hausbesetzungen kommt“demgemäß nur die sofortige Räumung oder die Gewährung mittelfristiger Nutzungsverträge in Betracht. Hier ist die rechtzeitige und nicht erst mühsame nachträglich hergestellte Koordination der Behörden unerläßlich. Die Konsistenz staatlichen Vorgehens muß auch der Offentlichkeit erkennbar und deshalb verdeutlicht werden. Ferner bedarf es einer einheitlichen Rechtspraxis bei der Reaktion auf und der Sanktionierung von Handlungen wie Blockaden, um den Eindruck zu vermeiden, daß gleiche Aktionen eine unterschiedlich juristische Beurteilung erfahren, je nachdem ob sie von sozialen Bewegungen oder von Berufsverbänden mit einer starken politischen Lobby ausgehen. Inkonsistenzen in diesem Bereich beeinträchtigen nachhaltig das Rechtsbewußtsein, damit das Bewußtsein der Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung und das Vertrauen in deren Schutz durch die staatlichen Organe (vgl. Kerner 1990, 523 ff.).
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