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Sechstes Kapitel Verbrechensopfer und Viktimisierung

§ 33 Lehre vom Opfer und die Theorie der Viktimisierung

Schrifttum: Amelunxen, Das Opfer der Straftat. Beiträge zur Viktimologie. München 1970; Baumann, Das Bild des Opfers in der Kriminalitätsdarstellung der Medien. Ergebnisse einer Untersuchung. Freiburg 1995;varı Dijk, Research and the Victim Movement in Europe. EuCrimRes 23 (1985), 5-15; Garofalo, Reassessing the Lifestyle Model of Criminal Victimization. In: Positive Criminology, ed. by Gottfredson u.a. Beverly Hills u.a. 1987, 23-42; v. Hentig, The Criminal and His Victim. Newhaven/Conn. 1948; Jung, Viktimologie. In: KKW 1993°, 582-588; Kaiser/Kury/Albrecht (eds.), Victims and Criminal Justice. 3 Vol. Freiburg 1991; Kiefl/Lamnek, Soziologie des Opfers. Theorie, Methode und Empirie der Viktimologie. München 1986; Landau/Freeman-Longo, Classifying Victims: aProposed Multidimensional Victimological Typology. In: International Review of Victimology 1 (1990), 267-286; Mendelsohn, Une nouvelle branche de la science bio-psyche-sociale: la victimologie. Revue internationale de criminologie et de police technique 10 (1956), 95-109; Miethe/Meier, Crime and its Social Context. Toward an Integrated Theory of Offenders, Victims and Situations. New York 1994; Miyazawa/Ohya (eds.), Victimology in Comparative Perspective. Tokyo 1986; Schafer, The Victim and His Criminal. New York 1968. (Neuaufgelegt unter dem Titel: Victimology: The Victim and His Criminal. Reston/Va. 1977), Schneider, Das Verbrechensopfer in der Strafrechtspflege. Berlin u.a. 1982; ders., Viktimologie. HWKrim 5 (1991), 405-425; Seligman, Helplessness. San Francisco 1975; Sessar, Über das Opfer. Eine viktimologische Zwischenbilanz. In: FS für Jescheck. Berlin 1985, 1137-1157.

1. Entstehung und Bedeutung der viktimologischen Perspektive
Das Opfer und sein Verhalten sind kriminologisch in mehrfacher Hinsicht relevant. Die Bedeutung äußert sich sowohl in den Beziehungen zum Täter, zur Tat und zur Kriminalitätsbewegung als auch in jenen zur Verbrechenskontrolle und zur Rechtspolitik. Teilweise sind die vielfältigen Aspekte — mehr naiv erahnt als bewußt gesehen – schon seit alters her bekannt. Vielen Rechtsordnungen sind sie als Problem geläufig. In der Gegenwart bezeugen dies normative Lösungen des materiellen Strafrechts und des Strafverfahrensrechts (eingehend unten §§ 47 ff.) sowie des Zivilrechts (z.B. Mitverschulden 1.S.d. § 254 BGB).

Zu denken ist an allgemeine und besondere Strafzumessungsregeln (§§ 46 und 46 a StGB) bei Provokation und Verlangen des Opfers (8§ 213, 216 StGB), bei der Kompensation und Aufrechnung (§§ 199, 233 StGB) sowie an das Absehen von Strafe gemäß § 60 StGB (zum Einfluß der Täter-Opfer-Beziehung auf Schuld- und Strafbemessung siehe BGHSt 11, 20 ff.). Ferner sind hier die Vorschriften der Notwehr (§ 32 StGB), der Einwilligung zur Körperverletzung (§ 226 a StGB) und zur Entführung (§ 236 StGB) sowie Antrags- und Privatklagedelikte (§ 374 StPO) und gewisse (alte) Beweisregeln (z.B. Schreien der vergewaltigten Frau und Beweisvermutung bei sog. Auffahrunfällen) zu erwähnen. Aber auch für den Gewaltbegriff im Strafrecht ist die körperliche Beteiligung des Opfers oder dessen Zwangslage als Abgrenzungsmerkmal erheblich.

Die viktimologische Blickschärfung und stürmische Zunahme opferbezogener Forschung wirft die Frage ebenso nach dem Erkenntnisgewinn wie nach der weiteren Fortentwicklung auf.

Nehmen wir die kriminologischen Lehrbücher der ersten Nachkriegsjahre zum Ausgangspunkt, so können wir unschwer feststellen, daß damals Verbrechensopfer oder Täter-Opfer-Beziehungen in ihrem Rang entweder gar nicht erkannt oder noch kaum zu den relevanten Dimensionen kriminologischer Analyse gerechnet werden. Zwar hält man schon in jener Zeit die persönlichen Beziehungen des Täters zum Opfer, vor allem bei Mord, für besonders wichtig. Auch erkennt man, daß es „so etwas wie eine persönliche Eignung, Opfer eines bestimmt gearteten Verbrechenseingriffes zu werden“, gibt. Aber das Vorhandensein dieser Eignung wie das Verbrechensopfer überhaupt wird lediglich als „ein maßgebender Teil der Tatsituation“ begriffen (Exner 1949, 262 f.), in ihrer Aussagekraft der „inneren Tatsituation“ und der „Gelegenheit“ nachgeordnet sowie gleichrangig mit Aspekten des „Tatorts“, der „Tatzeit“ und der gemeinschaftlichen Begehungsweise eingestuft. Substantiell entspricht dem trotz abweichender Akzentuierung die Sichtweise v. Hentigs (1948, 383 ff.), indem dieser das Opfer systematisch lediglich als „Element der Umwelt“ begreift. Eine weitere Perspektive sieht das Opfer wiederum als „Gruppenfaktor“.

Zu sehr ist die traditionelle Betrachtung wohl noch auf Tat und Täter gerichtet, als daß sie dem Verbrechensopfer schon eine größere Beachtung hätte schenken können, übrigens ganz ähnlich der geringen Bedeutung, die herkömmlich Klageerzwingungsverfahren, Privatklage und Adhäsionsprozeß in Wissenschaft und Strafrechtspflege eingeräumt wird. Überall wird die Rolle des Opfers erst in neuerer Zeit problematisiert und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg systematisch erforscht.

Die Viktimologie (lat. victima = Opfer) will die Beziehungen zwischen dem Rechtsbrecher und dem Verbrechensopfer untersuchen. Die Bezeichnung soll von Wertham (1948) stammen. Teilweise wird Viktimologie als selbständige Disziplin begriffen, die sich als Parallelwissenschaft zur Kriminologie versteht und sich ausschließlich den Opfern von Verbrechen oder Unfällen zuwendet. Nach dieser nur selten vertretenen Auffassung besteht die Aufgabe der Viktimologie darin, die Opferpersönlichkeit unter biologischen, psychologischen und soziologischen Gesichtspunkten zu untersuchen (Mendelsohn 1956, 97). Außerdem soll ein System vorbeugender und therapeutischer Maßnahmen entwickelt werden, um das potentielle Zum-Opfer-Werden zu verhindern. Dem entspricht die Entwicklung einer besonderen „Opfer-Prognose“. Danach liegt die Rechtfertigung der Viktimologie „in ihrem Korrelat zur Kriminologie“ (Sessar 1985, 1147). Manche systematische Darstellungen (Kiefl/Lamnek 1986 u.a.) verdeutlichen dies.

Von der Konzeption einer übergreifenden Opferlehre geht fraglos eine starke Faszination aus, zumal sich damit ein begrüßenswertes sozialpolitisches Anliegen verbindet (Jung 1993, 582). Doch alle diese Ansätze, so wichtig sie auch im einzelnen sein mögen, werden der kriminologischen Bedeutung des Opfers nicht stets gerecht. Denn auch jetzt pflegt man aus der kriminologischen Täterforschung bekannte Fragestellungen häufig nur zu übernehmen und auf die Opferanalyse sinngemäß anzuwenden. So läßt etwa die Frage danach, ob es ein geborenes Opfer gäbe, vermuten, daß sich im viktimologischen Forschungsfeld die kriminologische Wissenschaftsgeschichte wiederholt. Dementsprechend bedeutet „eine Opferforschung als Korrelat zur Täterforschung …““ die Suche nach viktimogenen Faktoren vor allem psychischer und sozialer Art, Charakteristika also, die jemanden attraktiv genug machen, das Ziel eine Straftat zu werden. Ähnlich der Kriminologie, deren Entstehungsbedingungen bei näherem Hinsehen stets den Mehrfachtäter meinen, interessiert sich die Viktimologie für Mehrfachopfer“ (Sessar 1985, 1140). Auch hier wiederholen sich die methodischen Schwierigkeiten. Die Entwicklung oder Anwendung eines neuen Instrumentariums zur Opferanalyse setzt erst spät ein, ebenso das Bewußtsein von der Massenviktimisierung durch eine politische Subkultur sowie das Wissen über die partielle Identität von Täter- und Opferpersönlichkeiten. Die gebotene Einheitlichkeit der vielschichtigen kriminologischen Analyse macht es daher fraglich, die Untersuchung von Situation, Verhalten und Persönlichkeit des Opfers theoretisch zu verselbständigen und zu einem autonomen Forschungszweig, der Viktimologie, auszugestalten.

Gleichwohl nimmt die viktimologische Forschung während der letzten Jahrzehnte einen eindrucksvollen Aufschwung. Dieser verdankt seine Existenz und Durchschlagkraft nicht etwa neuen Durchbrüchen in der Erkenntnis von Hause aus viktimologischer Untersuchung, sondern vor allem Anstößen ‚von außen“. Er muß also besondere Gründe haben.

Die neue Blickschärfung für Funktion und Belange des Opfers erfreut sich, wie es scheint, vielfältiger Genese. Sie entstammt ebenso dem Bewußtsein steigender Kriminalität, ja der Furcht vor dem Verbrechen, wie dem neu entwickelten Forschungsinstrument der Opferbefragung und in Anknüpfung daran dem neu entstandenen Interesse an Anzeigeverhalten, Selbsthilfe und Sozialkontrolle.

Die strategische Rolle des Opfers in seiner Macht zur Definition und Selektion des Verbrechers und damit als Agent strafrechtlicher Sozialkontrolle wird sichtbar. Gerade die Befunde der Opferbefragungen rücken sie in ein neues Licht, erscheint doch damit eine Reihe methodischer Schwierigkeiten ebenso der bisherigen Dunkelfeldforschung wie der kriminalstatistischen Analyse weithin behoben. Überdies verspricht die komparative Opferbefragung, zur Entschlüsselung des Problems weltweiter Kriminalitätsbelastung beizutragen, also einen Vergleich zu ermöglichen (siehe oben § 21, 3 m.N.), den die internationale Kriminalstatistik bislang vergebens erstrebt hat. Ferner erlaubt es die Verknüpfung perzipierter Viktimisierung und Sanktionswirkung, dem „Rätsel“ der Generalprävention empirisch näherzukommen. Auf der anderen Seite glaubt man, daß der neueingeführte Begriff des sogenannten opferlosen Verbrechens einen brauchbaren Indikator für die Grenze der Kriminalisierung zu liefern vermag. Hinzu kommt die Blickschärfung für Ungleichheit und das Engagement für sozial Ohnmächtige. Im einzelnen gemeint sind Kinder, Frauen und sozial Schwache. Die Theorie erlernter sozialer Hilflosigkeit (siehe oben § 27, 1), zum Teil ebenso für Opfer wie für Täter tauglich, sucht diesen Sachverhalt zu deuten. Um die starke Forschungsentwicklung in den Bereichen der Kindesmißhandlung und der Vergewaltigung zu erklären, mußten freilich noch zusätzliche Anreize ausgelöst werden. Diese entstammen der neuen Sensibilität für Gewalt – in der Gesellschaft, der Familie oder in der Ehe — und nicht zuletzt spätemanzipatorischen Strömungen, wie sie sich im neuen Feminismus äußern. Von der verstärkten Empfindlichkeit gegenüber jeglicher Gewalt, vor allem der Gewaltausübung in der Familie, dürfte „eine Sogwirkung für die Viktimologie insgesamt“ ausgegangen sein. Derartige Anregungen und Denkanstöße werden seit Anfang der siebziger Jahre vielfältig aufgegriffen, fortentwickelt und gelegentlich auch propagandistisch verstärkt (vgl. van Dijk 1985, 5 ff.) durch eine Reihe internationaler Symposien zur Viktimologie und Kongresse bis hin zu den Verhandlungen des Deutschen Juristentages 1984 zur Rechtsstellung des Verletzten (dazu und zur Schadenswiedergutmachung siehe unten §§ 47 ff.). Ob gewollt oder nicht, wird die Hinwendung auf das Opfer von dem sich stärker bemerkbar machenden „Law and order“-Denken begünstigt (Jung 1993, 583).

Faßt man die Anregungen und neuen Einsichten zusammen, so sind es weder die viktimologisch selbstgenügsame Untersuchung noch eine etwaige Radikalisierung der Viktimologie, welche die Neuentwicklung anbahnen und ihr zum Durchbruch verhelfen. Entscheidend ist vielmehr die Entwicklung und Anwendung der Opferbefragung sowie die breite und intensive Verknüpfung der neuen Befunde mit dem gesamtkriminologischen Wissen, der Kriminalpolitik und — obschon etwas verzögert — der Strafrechtsdogmatik. So gesehen ist die kriminologische Analyse durch Einbeziehung der viktimologischen Perspektive außerordentlich befruchtet worden. Konstruktion der Verbrechenswirklichkeit sowie Analyse der Kriminalisierung und Sozialkontrolle: liefern hier unverändert die Impulse. Die gesamtkriminologische Analyse zu Verbrechen, Kriminalität, Täterpersönlichkeit und Verbrechenskontrolle läßt daher den Verzicht auf viktimologische Fragestellungen schon gar nicht mehr zu, wenn man keinen Erkenntnisverlust riskieren will. So geht es um die vertiefte Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen Verbrechenskontrolle, Kriminalisierung, dem Straffälligwerden und der Kriminalitätswirklichkeit. Diesen Beziehungen ist auch die Viktimisierung zugeordnet, freilich unter besonderer Blickschärfung für Gewalt und soziale Ungleichheit.

Als thematische Schwerpunkte lassen sich der Viktimisierungsprozeß, Opferbefragungen, Opferbehandlungs- und -entschädigungsprogramme, Opferrechte und ihr spezielles Verhältnis zum Strafrecht ausmachen (dazu die Beiträge in dem dreibändigen Sammelwerk von Kaiser/Kury/ Albrecht 1991). Außerdem kann man eine Verschiebung der Gewichte beobachten, nämlich von den Opfertypologien zur Analyse von Situationen der Viktimisierung. Allerdings gilt das Hauptinteresse der Forschung noch immer den Gewalt- und Sexualdelikten. Wenn viele Viktimologen ihre eigentlichen Prioritäten in dem Bereich „Opferhilfe, Opferbehandlung und Prävention“ erblicken, so hängt dies sicher nicht nur mit persönlichem Engagement zusammen. Eher schon ist die Viktimologie von ihrem sozialen und kriminalpolitischen Selbstverständnis her geradezu darauf angelegt, diesen Bereich angesichts der zum Teil empfindlichen Lücken zum Schwerpunkt ihrer Aktivitäten auszugestalten (Jung 1993, 586). So gewinnt die Schadenswiedergutmachung (vgl. §§ 46 Abs. 2,56 b Abs. 2 StGB, 153 a Abs. 1 StPO, 15 Abs. 1 JGG) als sogenannter Täter-Opfer-Ausgleich (§ 46 a StGB, §§ 10 Abs. 1 Nr. 7,23 Abs. 1,45 Abs. 2,47 Abs. 1 Nr. 2 JGG) durch mehr Verfahrensgerechtigkeit (Befriedung und Fairness) grundlegende Bedeutung (dazu eingehend unten § 49). Ferner anerkennt man die Entschädigung der Verbrechensopfer von Gewalttaten zunehmend als öffentliche Aufgabe.

Doch hierin erschöpft sich das viktimologische Potential noch nicht. Die Impulse haben auch darüber hinaus das Strafrecht erreicht und hier zu Ansätzen einer „Viktimo-Dogmatik‘ geführt (dazu unten § 47). Die Auseinandersetzung reicht von der Grundsatzfrage über den Rang der Wiedergutmachung im Rahmen der Strafzwecke über die Bedeutung des Opferverhaltens für die Konstruktion und Interpretation strafrechtlicher Tatbestände bis zur Stellung des Verletzten im Strafverfahren.

Danach gilt die viktimologische Perspektive als fester Bestandteil des „Dreiklanges von Tat, Täter und Opfer“, (Schwind 1996, 320, in Anlehnung an Amelunxen 1970), wobei allerdings diese Trias auch kritisch als „Täter, Staat und Opfer“ umgedeutet wird. Immerhin ist die Täter-Opfer-Beziehung nach heutiger Auffassung für das Verständnis der Straffälligkeit (vgl. v. Hentig 1948; Schafer 1968) und für die Verbrechenskontrolle (Schneider 1982; Sessar 1985, 1144 ff.; Miyazawa/Ohya 1986, 439 ff., Kaiser/Kury/Albrecht 1991, Vol. 2; Schneider 1991, 405 ff.) so bedeutsam, daß auf sie auch für die kriminologische Analyse nicht verzichtet werden kann.

2. Lehre vom Opfer und ihre Schwächen
Wie Antrags- und Privatklagedelikte (§ 374 StPO) sowie Klageerzwingungsverfahren (§ 172 StPO) noch abgeschwächt erkennen lassen, nehmen in der Frühzeit der Rechtskultur das Verbrechensopfer und dessen Angehörige den Schutz ihrer Belange selbst wahr. Erst im Laufe der Rechtsentwicklung werden die Verletzungen von Rechtsgütern des Opfers ausdrücklich anerkannt und vom Staat als verfolgungswürdig übernommen. Daher äußert sich in dem historisch gewordenen Kriminalisierungsprozeß auch ein bestimmtes Bild vom Verbrechensopfer. Dieser Befund gibt im wachsenden Umfang zu wissenschaftlichen und rechtspolitischen Überlegungen Anlaß.

Dabei ist man keineswegs sicher, ob von hier aus gegenüber dem Verbrechensbegriff (siehe oben § 18) überlegene Kriterien (z.B. „victimless crimes“) gewonnen werden. Zweifel folgen nicht nur aus der Beobachtung, daß sich der Kernbestand des Unrechts als verhältnismäßig zeitüberdauernd erwiesen hat. Zu denken ist vor allem an die Schwierigkeiten im sozialen Umwertungsprozeß bei Verkehrsdelikten trotz erheblicher Verkehrsopfer sowie die mühsamen Bestrebungen zur Neukriminalisierung und Verstärkung der Strafverfolgung auf den Gebieten der Umwelt- und Wirtschaftskriminalität (dazu LB §§ 72 ff.). Denn diese Deliktsgruppen sind ja gerade durch die sich hier verflüchtigende Opfereigenschaft gekennzeichnet. Deshalb ist der für die Viktimologie zentrale Opferbegriff (Jung 1993, 583) konfliktreich (Sessar 1985, 1146). Die Herausbildung eines besonderen Opferbegriffs erscheint aber wissenschaftlich wenig fruchtbar (a.A. Schwind 1996, 321; zu Gefahren des Subjektivismus LB § 47 Rz. 13).

Ähnliche und zusätzliche Schwächen zeigen auch die Opfertypologien. Zwar lassen die verschiedenen Verhaltenstypen des Opfers das breite Spektrum der Opferrolle erkennen. So kann man das gänzlich unschuldige Opfer vom Opfer aus Unwissenheit, vom freiwilligen, dem aus Unvorsichtigkeit handelnden, dem provokatorischen, dem angreifenden, dem simulierenden und dem eingebildeten Opfer unterscheiden (Mendelsohn 1956, 105 f.). Gröbere Typologien differenzieren nach jungen und alten Personen, nach Männern und Frauen, nach abnormen Persönlichkeiten sowie nach Einwanderern und Angehörigen von Minderheiten (v. Hentig 1948, 404 ff.). Die wiederholten Versüche zur verfeinerten Kategorisierung nach dem Grad’ der Fremdheit des Täters oder der Art des Opfersbefriedigen zwar Ordnungsbedürfnisse. Auch bringen neue Klassifizierungen nach dem unterschiedlichen Opferrisiko (Verwundbarkeit, Schutzlosigkeit, Attraktivität, Schaffung erhöhter Risiken, Provokation) einen systematischen Gewinn (vgl. Sessar 1985, 1141 f.; Landau u.a. 1990, 267 ff.). Sie gelangen aber über Bekanntes eigentlich nicht hinaus und bleiben deskriptiv. Wie fast alle Typologien vermittelt auch diese beschreibende Phänomenologie keine weiterführende Erkenntnis. Sie leidet überdies an dem Mangel empirischer Absicherung.

Wohl steht die Täter-Opfer-Beziehung unverändert im Zentrum der Viktimologie. Ihre Erforschung stellt „erst eigentlich den viktimologischen Zugewinn“ dar (Sessar 1985, 1143). Doch haben die Untersuchungen hierzu nur wenig vertiefte Einsichten vermitteln können. Interaktionsanalysen liegen zum Täter-Opfer-Verhältnis kaum vor und sind ggf. rekonstruiert, beruhen verständlicherweise aber nur selten auf teilnehmender Beobachtung. Tagebuchaufzeichnungen des Opfers oder nachträgliche Tatrekonstruktionen können wegen ihrer Subjektivität bzw. Statik die wechselvolle Dynamik der Tatentwicklung nur unzulänglich einfangen und verläßlich wiedergeben, insbesondere dann, wenn es sich um die Feststellung der „Freiwilligkeit“ im Falle der Vergewaltigung oder der Zuhälterei handelt. Damit fehlen zugleich Prozeßanalysen für Entstehung und Verlauf der Viktimisierung. Allenfalls haben neue Einsichten in die partielle Täter-Opfer-Identität im Jugendalter oder im Straßenverkehr den Ertrag zu steigern vermocht, freilich vorwiegend außerhalb der viktimologischen Forschung. Sie lassen den mitunter hohen Grad der Selbstgefährdung des Täters bewußt werden. Fälle, in denen „aufgerechnet‘“ oder von Strafe abgesehen wird, deuten den Sachverhalt an. Ist die Tatgenese in der Beziehung selbst zu suchen, so werden Täter und Opfer zu „bloß“ normativen Rollenzuschreibungen (Sessar 1985, 1144), freilich mit unterschiedlichen Konsequenzen, wie sich namentlich bei der Notwehr zeigt.

Schon der Suche nach dem sogenannten Unfäller seit den 20er Jahren liegt die Annahme gehäufter Fremd- und zugleich Selbstgefährdung zugrunde und damit auch die Existenz sogenannter Opferprognosen und Opferpersönlichkeiten. Doch haben sich die Erwartungen, die einst an jenes Konzept geknüpft waren, noch nicht erfüllt.

3. Forschungslücken und Defizite der Theoriebildung
Die von Wissensmängeln gekennzeichnete Forschungslage beruht auch darauf, daß die theoretische Durchdringung und Entfaltung der viktimologischen Perspektive noch nicht weit gediehen ist. Offenbar überlagern rechtspolitische Interessen dieses Forschungsfeld. Doch gerade hier kann die viktimologische Bewegung ihre größten Erfolge verbuchen (dazu kritisch van Dijk 1985, 12 ff.). Ob die zur Erklärung herangezogenen Lebensstilkonzepte (dazu Garofalo 1987, 23 ff. m.N.), unterschiedlichen Gelegenheitsstrukturen und die Theorie der erlernten Hilflosigkeit (Seligman 1975) erheblich weiterführen, muß die Forschung erst noch ausweisen. Dies gilt auch für den Versuch, die viktimologische Perspektive in den anerkannten Theoriebestand der Kriminologie zu integrieren (dazu Miethe u.a. 1994, 60).

Nach dem Lebensstilkonzept — das bereits seit langem auf den Unfäller wie auf den Täter (siehe oben § 30) bezogen wird — hängt die Chance, Opfer einer Straftat zu werden, von den Rollenerwartungen und Zwängen ab, welche die täglichen Aktivitäten in Beruf und Freizeit bestimmen. Der Lebensstil läßt die Opferrisiken erkennen, da von ihm abhängt, mit welcher Wahrscheinlichkeit man sich unter bestimmten Umständen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmen Ort aufhält, um dort mit bestimmten Personen Kontakt aufzunehmen (vgl. Sessar 1985, 1141; Garofalo 1987, 23 ff.). Kief/Lamnek (1986, 131 ff., 167 ff.) versuchen demgegenüber, das viktimologische Erklärungspotential sozialwissenschaftlicher Theorien zu nutzen. Dies hat den Vorzug der Einbettung viktimologischer Perspektiven in die kriminologische Gesamtbetrachtung. Doch zeigt sich der Übertragungs- und Anwendungsversuch als viktimologisch wenig ergiebig. Praktisch handelt es sich um die Ausdehnung von gängigen Konzepten auf die Viktimisierung. Dies zeigt sich etwa bei der Heranziehung des soziokulturellen Wandels, bei dem der viktimologische Beitrag lediglich als Korrelat zum kriminologischen erscheint

Viktimologische Schwierigkeiten der Analyse geben besonders die modernen Massendelikte auf, die vornehmlich als Gefährdungsdelikte konstruiert sind. Trifft aber das Opferrisiko nahezu jedermann, so verstärkt sich nicht etwa das viktimologische Interesse, sondern es schwächt sich ab. „Wo jeder Opfer ist, ist niemand Opfer“. Anwendungsfälle potentieller Viktimisierung für jedermann liefern namentlich die Straßenverkehrsdelinquenz, die Umweltkriminalität und die Eigentumsdelikte. Hier sind die Täter dem Verbrechensopfer in der Regel anonym und fremd. Ähnliches gilt für die Phänomene des Alkoholismus und Drogengebrauchs sowie der Jugendsekten, hier offenbar wegen vermuteter Opferlosigkeit oder Selbstschädigung. Gleichwohl kann eine derartige Sichtweise nicht befriedigen. Denn die sich mit jenen Erscheinungen verbindenden Schäden und sozialen Folgeprobleme erfordern ebenso wie beim Unfallgeschehen kriminologische Aufmerksamkeit.

4. Opfer und Massenmedien
Die fachwissenschaftliche und engagierte Blickschärfung für das Verbrechensopfer setzt sich in den Massenmedien nur abgeschwächt und gebrochen fort. Die Eigentümlichkeiten und Mängel in der Wiedergabe oder genauer in der Konstruktion von Tatsachen massenmedialer Kriminalitätsberichte äußern sich auch hier. Zu denken ist besonders an die Selektivität der Berichterstattung, da Gewalt- und Sexualverbrechen bevorzugt werden und trotz ihrer relativen Seltenheit übermäßig häufig in den Massenmedien erscheinen. Ferner ist die Verzerrung von Realität hervorzuheben, insofern vielschichtige Zusammenhänge der Vereinfachung und Reduzierung auf Stereotypen unterliegen. Das Verbrechensopfer bildet nur insoweit eine Besonderheit, als es weniger als Tat und Täter im Blickpunkt steht, nur halb so häufig in den Schlagzeilen erscheint, falls es nicht gar unsichtbar wird (Baumann 1995, 38ff., 10ff.).

Allerdings fällt das Interesse der Wissenschaft an der Analyse massenmedialer Opferdarstellung bislang nicht viel größer aus. Die Untersuchungen zur Kriminalitätsdarstellung in der Presse reichen zwar 60 Jahre zurück. Aber die massenmediale Opferdarstellung hat es nur selten und auch erst verhältnismäßig spät vermocht, die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Dies verwundert deshalb, als sie kriminalpolitisch äußerst bedeutsam ist, insbesondere für Opferprävention und Opferhilfe sowie für das Verständnis von Gerechtigkeit in der Gesellschaft schlechthin. Doch die sich mit Tat und Täter verbindende Faszination wirkt offenbar so stark und nachhaltig, daß sie ein Interesse am Opfer auch in der Medienanalyse nur zögernd aufkommen läßt. Die empirische Forschung spiegelt herkömmlich in der Untersuchung massenmedialer Opferdarstellung die Struktur der Kriminalberichterstattung wider. Danach nimmt das Thema „Kriminalität“ im Durchschnitt keine herausgehobene Stellung ein, mit Ausnahme bestimmter Fälle von Gewaltkriminalität, die vorrangig behandelt werden. Der Aufmerksamkeitswert ist also insgesamt relativ gering.

Für den Fall, daß überhaupt über Opferaspekte berichtet wird, handelt es sich vorrangig um Individualopfer, die verglichen mit der Verbrechensrealität überrepräsentiert sind. Im übrigen sind die Verbrechensopfer überwiegend weiblich und befinden sich im jugendlichen Alter. Schwere Delikte sozial hochstehender Täter mit weiblichen Opfern haben die größten Publizitätschancen. Die Täter-Opferbeziehung wird regelmäßig für erwähnenswert gehalten.

Im ganzen erschöpft sich das Opferbild in der Presse übereinstimmend in wenigen Grundinformationen, namentlich in Kurzbeschreibungen mit Angaben zum Namen, Geschlecht, Beruf und der Art der Verletzung. Ausnahmsweise treten in spektakulären Fällen zusätzliche Informationen hinzu. Bei alledem scheinen sich Lokalzeitungen in der selektiven Darstellung des Opferbildes der Realität stärker zu nähern als überregionale Medien.

5. Folgerungen
Insgesamt gesehen muß man feststellen, daß nach fast fünfzig Jahren viktimologischer Analyse der Täter in seiner Verantwortung im ganzen nicht entlastet ist, sondern das Opfer und sein Schutzinteresse gestärkt, ja weiterhin verstärkungsbedürftig erscheinen. Umwelt-, Verkehrs-, Wirtschafts-, Sexual- und Gewaltkriminalität verdeutlichen dies. Man könnte anhand neuerer Entwicklungstendenzen der Kriminalpolitik gar den Eindruck gewinnen, als liege der beste Schutz des potentiellen Verbrechensopfers in der noch stärkeren Belastung des Täters durch seine möglichst langfristige Unschädlichmachung (‚‚incapacitation“; dazu oben § 13, insb. 5.). Denn jedenfalls in der Zeit der Inhaftierung würden vom Täter keine Gefahren ausgehen, so daß insgesamt gesehen das allgemeine Risiko der Viktimisierung gesenkt werden könnte. Ob dies wirklich der Fall wäre, ist erneut Gegenstand des Streits.

Freilich wird auch diese Kontroverse nicht durch spezifisch viktimologische Forschung gelöst, sondern am ehesten durch deren Einbettung in das gesamtkriminologische Problemfeld entschärft. Damit tritt aber das Opfer nicht wieder in das wissenschaftliche Dunkel früherer Jahrzehnte zurück, sondern gewinnt seine Bedeutung im Zusammenhang mit der Entstehung und Kontrolle des Verbrechens. Gerade die Erweiterung des Blickfeldes über die Ätiologie der Täter-Opfer-Beziehung hinaus hat entscheidend zu neuen Einsichten beigetragen, die allerdings die Bezugsrahmen traditioneller Viktimologie und Kriminologie hinter sich lassen.

§ 34 Gruppen mit besonderem Opferrisiko
Schrifttum: Albrecht, H.-J., Kinderhandel. Der Stand des empirischen Wissens im Bereich des (kommerziellen) Handels mit Kindern. Bonn 1994; Brocker, Der Schutz kindlicher Opferzeugen — Eine kritische Bestandsaufnahme. MschrKrim 79 (1996), 406-425; Fattah/Sacco, Crime and Victimization of the Elderly. Berlin u.a. 1989; FitzGerald/Hale, Ethnic Minorities, Victimisation and Racial Harassment. Home Office Research Findings no. 39. London 1996; Kaiser, Kindesmißhandlung gestern und heute aus kriminologischer Sicht. In: Kindesmißhandlung, hrsg. v. Haesler. Diessenhofen/CH 1983, 11-33; Kawelovski, Ältere Menschen als Kriminalitätsopfer. Wiesbaden 1995; Kreuzer u.a. (Hrsg.), Alte Menschen als Täter und Opfer. Alterskriminologie und humane Kriminalpolitik gegenüber alten Menschen. Freiburg 1991; Mercer, Consequences of Institutionalization of the Aged. In: Abuse and Maltreatment of the Elderly, ed. by Kosberg. Boston u.a. 1983, 84-103; Schwarzenegger, Opfermerkmale, Kriminalitätsbelastung und Anzeigeverhalten im Kanton Zürich: Resultate der Zürcher Opferbefragung. SchwZStr 108 (1991), 63-91; Sessar, Ausländer als Opfer. In: FS für Schüler- Springorum. Köln u.a. 1993, 111-121; Smith, Chances in the Victimization of Women: Is there a „New Female Victim“? JResCrim 24 (1987), 291-301; Steffen, Ausländer als Kriminalitätsopfer. In: Das Opfer und die Kriminalitätsbekämpfung. BKA-Arbeitstagung 1995, hrsg.v. Bundeskriminalamt. ‚wiesbaden 1996, 247-282; Trube-Becker, Gewalt gegen das Kind. Heidelberg 1987°, U.S. Department of Justice, Sourcebook of Criminal Justice Statistics 1995. Washington/D. er 1996; dass., Teenage Victims. A National Crime Survey Report. Washington/D.C. 1990; Wetzels/Greve/Mecklenburg u.a., Kriminalität im Leben alter Menschen. Eine altersvergleichende Untersuchung von Opfererfahrungen, persönlichem Sicherheitsgefühl und Kriminalitätsfurcht. Ergebnisse der KFN-Opferbefragung 1992. Stuttgart u.a. 1995; Whitaker, Elderly Victims. U.S. Department of Justice. Rockville/Md. 1987; Wolff/Albrecht/Strunk, Gewalt’ gegen Kinder. Das Phänomen der Kindesmißhandlung aus sozialpsychologischer, kriminologischer und jugendpsychiatrischer Sicht. Freiburg 1986.

Zu den durch Kriminalität besonders verletzbaren Gruppen zählen erwartungsgemäß Frauen, Kinder und alte Menschen. Diese prägen aufgrund höherer Gefährdung wesentlich das Opferprofil, genauer betrachtet vor allem bei Gewaltstraftaten.

1. Frauen
Im Gegensatz zu dem nach wie vor kleinen Anteil des weiblichen Geschlechts an den Straftätern (dazu oben § 29, 3) werden Frauen nur relativ geringfügig seltener das Opfer einer Straftat als Männer. Dies gilt besonders für die Viktimisierung durch Eigentums- und Vermögensdelikte.

Zwar gelangen die nationalen Erhebungen zur Verteilung eines generellen Opferrisikos zwischen den Geschlechtern zu nicht ganz einheitlichen Ergebnissen. So gaben beispielsweise 1986 in der Schweiz 24% der befragten Frauen im Vergleich zu 25% der Männer an, das Opfer einer Straftat geworden zu sein (Schwarzenegger 1991, 72). Demgegenüber lag in den USA 1992 bezogen auf 1000 Personen über 12 Jahren – bei allerdings engerer Deliktsbreite – die Opferrate von Frauen bei 45 gegenüber 62 für Männer (US Dept Justice 1996, 232).

Gravierende Unterschiede zeigen sich jedoch dann — sowohl nach Befragungen wie nach der Polizeistatistik —, wenn man die Belastungsziffern für die einzelnen Delikte aufschlüsselt: So waren beispielsweise 1995 in Deutschland von den bekanntgewordenen Mordopfern insgesamt 45% weiblichen Geschlechts. Während bei vollendeten Raubmorden 30% auf Frauen und Mädchen entfielen, waren bei Sexualmorden dagegen 90% der Opfer Frauen und Mädchen. Bei einem etwas höheren Prozentsatz männlicher Opfer von Raub, räuberischer Erpressung und räuberischem Angriff auf Kraftfahrer waren insgesamt nur 7% bei vollendetem Zechanschlußraub, 18% bei vollendetem räuberischen Angriff auf Kraftfahrer, aber 92% bei vollendetem Handtaschenraub weibliche Opfer. Hingegen sind bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung erwartungsgemäß weibliche Opfer ganz erheblich überrepräsentiert: 1995 waren 88% der Opfer einer sexuellen Nötigung und 76% sexuell mißbrauchter Kinder weiblichen Geschlechts, während der gesetzliche Tatbestand der Vergewaltigung bislang nur weibliche Opfer kannte (PKS 1995, 137, 142, 150).

Da Viktimisierung grundsätzlich eine gewisse Überlegenheit des Täters sowie Unterlegenheit des Opfers voraussetzt und ferner notwendig ist, daß Gelegenheiten zur Tatausführung bestehen, ist nicht nur an den vielzitierten Handtaschenraub oder Entreißdiebstahl zu denken, sondern ebenfalls an betrügerische Haustürgeschäfte, Autoverkäufe und -reparaturen sowie unlautere Geschäftspraktiken auf Versorgungs- und technischem Dienstleistungsgebiet.

Mehr noch als Frauen mögen Kinder zu den Verbrechensopfern zählen. Vor allem handelt es sich um sexuellen Mißbrauch und Kindesmißhandlungen.

2. Kinder
Die Kindesmißhandlung hat es schon immer gegeben; jedoch ist sie erst um die Jahrhundertwende in das Blickfeld von Wissenschaft und Öffentlichkeit getreten. Eine Flut von Veröffentlichungen seitens Juristen, Kinderärzten und Sozialarbeitern zeigt das Ausmaß von Kindesmißhandlungen an. Kinder werden mit allen denkbaren Gegenständen geschlagen, mit heißem Wasser verbrüht. Man läßt sie verhungern oder in ihrem Urin und Kot liegen. Jahr für Jahr werden 600 bis 1000 Kinder von ihren Eltern getötet. Nach Schätzungen sollen jährlich gar 60 000 bis zu mehr als 1 Million Kindesmißhandlungen begangen werden.‘ Oft sind die körperlichen Folgen der Mißhandlungen derart schwer, daß es unbegreiflich scheint, wie sie übersehen werden können und auch vom Arzt nicht als Mißhandlungsspuren erkannt werden. Kindesmißhandlung muß daher auch als ein ärztliches Problem angesehen werden. Denn der Arzt hat bei den schweren Verletzungen eine Schlüsselrolle, indem er entscheidet, ob die Mißhandlung als solche erkannt oder als Unfall betrachtet wird. Die Opfer der Mißhandlungen sind in der Regel Kleinstkinder und Kinder im Vorschulalter. Entgegen früherer Feststellung werden eheliche Kinder genauso häufig mißhandelt wie uneheliche und Stiefkinder (Trube-Becker 1987, 18).

Die Täter der bekanntgewordenen Fälle stammen fast immer aus den sozialen Unterschichten: dies hängt allerdings auch mit der größeren Sichtbarkeit bei sozial ungünstigen Verhältnissen zusammen. Häufig waren die Täter als Kinder selbst Opfer von Mißhandlungen, die sie nun an ihre Kinder weitergeben. Als besonders gefährdet gelten die sogenannten Multiproblemfamilien, die durch Arbeitslosigkeit, exzessiven Alkoholkonsum, hohe Kinderzahl und schlechte Wohnverhältnisse gekennzeichnet sind. Demzufolge wird die Kindesmißhandlung zunehmend nicht nur als strafrechtliches, sondern als soziales Problem angesehen. Die Bedeutung von Vorbeugungsstrategien tritt gegenüber der reaktiven Stufe in den Vordergrund. Allerdings können die bisherigen Angebote an Hilfestellung und Vorbeugung nur als Ansätze zu einem aktiven Kinderschutz betrachtet werden, die jedoch das wirkliche Ausmaß der Mißhandlungen und Vernachlässigung kaum eindämmen können.

Hingegen werden im Fall des sexuellen Mißbrauchs von Kindern tiefgreifende und nachhaltige Störungen der Persönlichkeitsentwicklung seltener festgestellt. Vor allem gilt dies bei normal entwickelten, in unauffälligen Umweltverhältnissen aufwachsenden Kindern, abgesehen von einer vorübergehenden Beunruhigung. Gleichwohl wird man sich kaum entschließen können, Kinder den sexuellen Zumutungen von Erwachsenen schutzlos preiszugeben (zur „Gewalt in der Familie“ siehe unten § 40). Selbst dort, und das ist die Minderheit der Fälle, wo die Initiative vom Kind ausgeht und wo eine-Art partnerschaftliche Beziehung vorliegt, bedarf es der Klärung, ob das Kind nur den Sexualpartner sucht oder vor allem die väterliche Ersatzperson und den Freund, bei dem gegebenenfalls die Sexualbeziehung mit in Kauf genommen wird. Auch bestehen Unterschiede zwischen den Fällen, bei denen sich das sexuelle Erlebnis des Kindes lediglich auf die Exhibition eines Erwachsenen beschränkt, und jenen Fällen, bei denen z.B. Väter mit ihren Kindern über längere Zeit hindurch sexuelle Beziehungen unterhalten. Im übrigen herrscht heute große Einigkeit darüber, daß das gesamte Strafverfahren mit seinen immer neuen Vernehmungen wahrscheinlich oft schädlicher für das Kind ist als die Tat selbst. Denn das Verfahren ruft den kriminellen Vorgang wiederholt ins Gedächtnis zurück und bringt darüber hinaus das Kind in eine schwierige Rolle (vgl. § 241 a StPO). Deshalb wurde auf Bundesratsinitiative der Entwurf eines Gesetzes zum Schutz kindlicher Zeugen in den Bundestag eingebracht (BT-Drucks. 13/4983). Der Entwurf sieht die Verwendung von Bild-Ton-Übertragungen und -aufzeichnungen im Strafprozeß vor, um den minderjährigen Opfern von Straftaten die oftmals belastende Aussage in der gerichtlichen Hauptverhandlung ersparen zu können (zu Möglichkeiten weiterer Reformen zum Schutz kindlicher Opferzeugen vgl. Brocker 1996, 415 ff.). Wenn schon die schädliche Wirkung verbaler Wiederholung zutrifft, dann gilt sie natürlich erst recht hinsichtlich sexueller Dauerkontakte für die psychische Entwicklung des Kindes, also dann, wenn die sexuellen Beziehungen mit dem Erwachsenen über ein punktuelles Erlebnis hinausgehen und sich wiederholen oder gar über längere Zeit hinweg andauern.

Der Schutz von Kindern gilt seit langem als eine der vordringlichen Aufgaben, die der staatlich organisierten Gesellschaft obliegt. Trotz dieser Schutzaufgabe, die mit der Europäischen Sozialcharta vom 18. Oktober 1961 weite Anerkennung gefunden hat, haben sich in der Gegenwart Erscheinungen der Kinderpornographie, des Kindersextourismus und auch eines kommerziell organisierten „Kinderhandels“ entwickelt, die ebenso des wissenschaftlichen Interesses wie der staatlichen Intervention bedürfen. Demgemäß hat der deutsche Gesetzgeber bereits Gesetze zur verschärften Bekämpfung der Kinderpornographie und des Kindersextourismus sowie die Neuregelung der Verjährung bei sexuellem Kindesmißbrauch beschlossen(vgl. § 184 Abs. 3-7 StGB). Weitere gesetzliche Bestrebungen zielen auf die Erweiterung des Tatbestandes krimineller Kindesentziehung und der Neukriminalisierung des organisierten und kommerziellen Kinderhandels. Dem steht nicht entgegen, daß die quantitativen Dimensionen von „Kinderdiebstahl“ und „Kinderhandel“ noch als sehr gering veranschlagt werden (Albrecht 1994, 1 ff., 119 ff.). Die Handhabung des § 235 StGB in der strafrechtlichen Praxis darf zwar nicht als Bedeutungslosigkeit des Tatbestandes mißverstanden werden. Jedoch beruht seine Funktion heute wohl nicht mehr zentral auf der Ahndung von Unrecht und der Bestrafung des schuldigen Täters als vielmehr darin, zivilrechtliche Sorgerechtentscheidungen abzusichern. Was den Stand der empirischen Forschung anbetrifft, so hat sich die deutschsprachige Kriminologie mit dieser Facette der Kriminalität bislang nur ganz am Rande befaßt (so Albrecht 1994, 45). Auch ist die Forschung aus der Perspektive „Prostitution und sexuelle Ausbeutung“ interessengeleitet und politisch motiviert. Die Sekundäranalyse zeigt denn auch, daß aus den Untersuchungsfeldern, aus denen heraus grundsätzlich empirische Befunde zum Untersuchungsgegenstand erwartet werden dürften, in der deutschsprachigen Forschung nur partiell Erkenntnisse gezogen werden können. Eine andere Forsehungsperspektive wird wiederum in Nordamerika aufgegriffen. Hier liegen spezifische Untersuchungen zum Kinderdiebstahl vor, die im wesentlichen Sachverhalte erfassen, die nach deutschem Strafrecht unter dem Titel „Kindesentziehung‘“ eingeordnet werden. Das Problem der Kindesentziehung wird als Problem des Eingriffs in das Sorgerecht eines Elternteils durch den nicht mehr oder jedenfalls nicht allein sorgeberechtigten anderen Elternteil thematisiert. Dabei gilt die Fallsituation als Teil des allgemeineren Problems der Kindesmißhandlung. Die Forschungsbefunde unterstreichen eine solche Einordnung. Die auf internationale Adoption wiederum bezogene Forschung hat insbesondere die kommerzielle Vermittlung von Kindern außerhalb der Adoptionsvorschriften als Problem thematisiert und damit ein Thema erneut aufgegriffen, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits als damals nationales Problem behandelt worden ist. Aus diesem Zweig der Forschung läßt sich entnehmen, daß ein erheblicher grauer und schwarzer Markt für Kleinstkinder vorhanden ist, der, wie jeder Schwarzmarkt, durch außerordentlich hohe Preise (für den Nachweis von Adoptionsgelegenheiten) gekennzeichnet ist. Freilich ist gerade in diesem Feld die Trennung von legitimer oder legaler Vermittlung einerseits und dem grauen oder schwarzen Markt andererseits nicht leicht. Die Größenordnung des Problems läßt sich daran ermessen, daß allein in Kolumbien über 100 ausländische Adoptionsagenturen offiziell registriert sein sollen, in Indien sogar mehr als 300 (dazu und zu möglichen rechtlichen Konsequenzen Albrecht 1994, 47 f., 124 f.).

3. Alte Menschen
Obwohl alte Menschen über 60 Jahre von allen Altersgruppen in geringstem Maße Verbrechensopfer werden, ist ihre Viktimisierung bedeutsam. Dies trifft vor allem bei Raub und Mord zu. Immerhin entfällt auf diese Altersgruppe nach‘der Polizeilichen Kriminalstatistik 1995 bei vollendetem Mord ein Anteil von 17,7%, bei Raub, räuberischer Erpressung und räuberischen Angriffen auf Kraftfahrer ein Anteil von 11,9%, bei Handtaschenraub gar 57,2% der Fälle und bei Körperverletzungen mit tödlichem Ausgang 9,2% der Opfer (PKS 1995, 137, 150, 162). Nach den Opferbefragungen stehen Handtaschenraub, Betrug (in der eigenen Wohnung) und Einbruch an der Spitze der Straftaten gegen alte Menschen.

Die Gründe für die partielle Opferanfälligkeit alter Menschen liegen in der modernen Gesellschaft auf der Hand. Vor allem ist hier die verbreitete soziale Isolation zu nennen; gerade die geschiedenen, getrennt lebenden, verwitweten und alleinstehenden alten Leute gelten als besonders opferanfällig.

Dieser Situation entsprechend hat sich eine charakteristische Typologie von Straftaten gegenüber dieser Gruppe herausgebildet. So sind alte Menschen wegen ihrer geistigen und physischen Schwäche bevorzugte Opfer beispielsweise für den Handtaschenraub; gerade jugendliche Räuber suchen sich dafür alternde, körperlich und seelisch schwache, einsame Menschen als Opfer aus (Schneider 1987, 710; in manchen Großstadtbezirken der USA werden etwa 83% der Kriminalität an alten Menschen von Jugendlichen begangen). Durch ihren begrenzten Bewegungsradius und den verhältnismäßig gleichförmigen Verrichtungsmodus ihrer Lebensgewohnheiten sind sie besonders anfällig. So müssen sie meist Öffentliche Verkehrsmittel benutzen, holen zu festgelegten Zeitpunkten ihr Geld von der Bank oder Post und gehen zu bestimmten Zeiten zum Einkaufen. Dies macht sie in erhöhtem Grad verwundbar für Diebstahl, Einbruch und Raub. Besonders Trickdiebstahl jeder Art (unter Tarnung als Handwerker, Stromableser usw.) und vielerlei Betrugsformen (Konsumenten- und Reparaturbetrug) haben sich herausgebildet (in den USA wurden in den sechziger und siebziger Jahren Grundstücksbetrügereien großen Ausmaßes bekannt, bei denen alten Menschen von Spekulationsfirmen Grundstücke, die ihnen gar nicht gehörten, unbewohnbares Land oder auch mehrfach dasselbe Grundstück als „Pensionärssiedlungen“ veräußert wurden; dazu Schneider 1987, 710 f. m.N.).

Auch werden alte Menschen gelegentlich mißhandelt. Obwohl sie weniger häufig als jüngere Altersgruppen Opfer werden, wiegen die Viktimisierungen schwerer (Whitaker 1987, 1 ff.). Sie werden vom Pflegepersonal beschimpft, bedroht, geschlagen; man enthält ihnen Essen, Wasser und Kleidung vor. Manchmal werden sie an Möbelstücken festgebunden, um sie leichter kontrollieren zu können. Auch ärztlich nicht indizierte „Ruhigstellung“ mit Beruhigungs- und Schlaftabletten kommt gelegentlich vor (siehe Schneider 1987, 707 f.). Ferner werden alte Menschen zu Objekten herabgewürdigt, die der Macht der Angehörigen oder des Pflegepersonals ausgeliefert sind. Man spricht hier von „Infantilisierung“ der Heimbewohner (Mercer 1983, 91).

In ihren Auswirkungen ist die Kriminalität gegenüber alten Menschen besonders gravierend. Nicht nur die körperlichen und seelischen Schäden wiegen oft schwer. Auch die Gegenstände sind ihnen unersetzlich, weil sie für sie einen hohen Erinnerungs- und Gefühlswert darstellen. Selbst wo es den Geschädigten möglich wäre, gestohlene oder zerstörte Sachen zu ersetzen, ist es gerade den alten Menschen, die oft von Rente oder Sozialhilfe leben, wegen der Begrenztheit der finanziellen Mittel unmöglich, Ersatzgegenstände zu erwerben. Entsprechend groß ist die Verbrechensfurcht (dazu unten § 36). Diese kann sich verselbständigen und führt mitunter zu einer Art „Festungsmentalität“ (Schneider 1987, 712 f.). Zwar ist diese oft übertrieben, in gewissem Umfang irrational und beruht auch auf verzerrten Kriminalitätsdarstellungen in den Massenmedien (dazu oben § 33, 4). Dennoch ist sie aus dem Bewußtsein alter Menschen wegen ihrer besonderen Gebrechlichkeit und: Gefährdung einfühlbar. Sie verstärkt damit wiederum die Isolierung und Anfälligkeit. Im Hinblick auf die Auswirkungen für diese hilfsbedürftige Gruppe verdient die Viktimisierung alter Menschen über die rein zahlenmäßige Bedeutung hinaus verstärkte Aufmerksamkeit.

4. Ausländer und Minderheiten
Besonders durch Hautfarbe, Sprache, Kleidung und Verhalten erkennbare Angehörige von Minderheiten erscheinen durch Viktimisierungen in erhöhtem Maße gefährdet (vgl. FirzGerald/Hale 1996). Allerdings trifft das Risiko, Opfer zu werden, weder die Mitglieder aller Minoritäten gleichmäßig noch für sämtliche Arten von Delikten zu. Dies äußert sich namentlich bei der Viktimisierung durch sogenannte ethnozentrische Gewalt. Selbst die fremdenfeindlichen und rassistischen Gewaltakte der neunziger Jahre wandten sich nicht unterschiedslos gegen alle Minderheitenangehörige, sondern richteten sich besonders gegen jene als Opfer, bei denen sich die Indikatoren der Fremdheit, zum Teil identisch mit den perzipierten Faktoren eines Verdrängungswettbewerbes, zu häufen schienen. Obwohl innerhalb der Viktimisierungsformen vornehmlich Gewaltdelikte im Blickfeld öffentlicher und wissenschaftlicher Wahrnehmung liegen, dürfte sich damit Kriminalität gegenüber Ausländern und Minderheiten keinesfalls erschöpfen. Unter Ausnutzung der Bedrängnis, der mangelnden Vertrautheit und der Unerfahrenheit von Ausländern wird man sicherlich zusätzlich einen nicht unerheblichen Betrag an Betrugs- und Wucherdelikten vermuten dürfen.

Im übrigen würde man das Potential der Gefährdung und die Dimensionen des Opferrisikos verkürzen, wenn man die Analyse bloß auf Beziehungen zwischen Majoritätsangehörigen und Minderheitsmitgliedern beschränkte und damit die erheblichen Beziehungskonflikte zwischen den Minoritäten sowie innerhalb der ethnischen Gruppen ignorierte. Von derartigen In-Group-Delikten sind in neuerer Zeit vor allem sogenannte Schutzgelderpressungen, vorsätzliche Tötungen und andere Gewaltstraftaten bekanntgeworden (dazu Sessar 1993, 111 ff.). So ergab eine für Bayern repräsentative PKS-Stichprobe, daß die Mehrheit der ausländischen Opfer (insgesamt 54,4%) durch einen ausländischen Tatverdächtigen geschädigt wurde, davon über 60% durch einen Tatverdächtigen derselben Staatsangehörigkeit. Allerdings ist nicht bekannt, wie das Dunkelfeld der Straftaten gegen Ausländer beschaffen ist (vgl. Steffen 1996, 261, sowie § 39, 5).

5. Zusammenfassung
Zwar ist die Viktimisierung heutzutage weitverbreitet. Derartige Beeinträchtigungen reichen bis zum Opferwerden im öffentlichen Straßenverkehr und zum sogenannten Psychoterror am Arbeitsplatz. Hier kann nahezu jedermann Opfer werden. Manche Personen werden es gar wiederholt. Von allen durch Verbrechen Gefährdeten ragen bestimmte Gruppen als besonders verletzbar heraus. Zu ihnen gehören Frauen, Kinder, alte Menschen und Angehörige sichtbarer Minderheiten, aber auch die Verfolgten politischer Gewaltherrschaft. In der Gegenwart haben vor allem Gewaltakte und sexueller Mißbrauch, einschließlich Kinder- und Frauenhandel sowie Kinderpornographie Besorgnisse ausgelöst und Beachtung gefunden. Insbesondere aus der Analyse amerikanischer Opferbefragungen ist bekannt, daß trotz unterschiedlicher Verletzbarkeit der gesellschaftlichen Gruppen das Opferrisiko damit noch nicht schlechthin determiniert wird. Vielmehr vermag erst das Zusammentreffen mehrerer Faktoren das Opferrisiko zu steigern. Dazu gehören außerdem kriminalgeographische Besonderheiten im Sinne hoher oder geringer Urbanisierung und der Vorkehrungen zum Selbstschutz. Im übrigen werden Kinder nicht nur von Erwachsenen viktimisiert, sondern auch von Mitgliedern ihrer Altersgruppe. Entsprechendes gilt für Ausländer und Angehörige von Minoritäten.

Wenig einsichtig erscheint die fehlende Einbeziehung der Erpressung. Hierzu gibt es ebenso wie bezüglich der überindividuellen Opferlagen der Wirtschaftskriminalität kaum neuere Untersuchungen. Zu den viktimologisch vernachlässigten Deliktsbereichen zählen ferner, wenn auch aus verschiedenen Gründen, die Geiselnahme und die Zuhälterei. Selbst das im letzten Jahrzehnt modisch gewordene Interesse an Prävention gegenüber Vergewaltigung und an dem Schutz der Frau spart die Zuhälterei sorgfältig aus. Offenbar verdienen Prostituierte, wenn sie von Zuhältern mißhandelt und ausgebeutet werden, wegen ihrer selbstgewollten, verschuldeten oder anders begriffenen Opferlage viktimologisch kein Forschungsinteresse. Die Frauenbewegung hat verständlicherweise ihren Blick einengend vor allem auf die Gewalt gegen Frauen (dazu unten § 40) bezogen, damit aber andere viktimologische Perspektiven weitgehend ignoriert. Deshalb ist es geboten, viktimologische Einsichten auf den Gesamtbereich des Opferwerdens von Frauen auszudehnen und nutzbar zu machen. Die unterschiedliche Viktimisierung der Geschlechter, wie sie von neueren Opferbefragungen ausgewiesen wird und sich keineswegs nur auf bestimmte Gewaltdelikte bezieht, liefert dafür Hinweise.

§ 35 Verhalten des Opfers in der Situation des Verbrechens
Schrifttum: Arzt, Viktimologie und Strafrecht. MschrKrim 67 (1984), 105-124; Ellmer, Betrug und Opfermitverantwortung. Berlin 1986; Fiedler, Zur Strafbarkeit der einverständlichen Fremdgefährdung unter besonderer Berücksichtigung des viktimologischen Prinzips. Frankfurt/M. u.a. 1990; v. Hentig, Zur Psychologie der Einzeldelikte. Bd. III: Der Betrug. Tübingen 1957; Kaiser, Prahlerei, Lugund Trug in kriminologischer Sicht. In: Prahlerei, Lug und Trug, hrsg. v. Guggenbühl u.a. Zürich 1987, 70-96; Kilchling, Opferinteressen und Strafverfolgung. Jur. Diss. Freiburg 1995; Kurth, Das Mitverschulden des Opfers beim Betrug. Frankfurt/ M. u.a. 1984; Middendorff, Die Opfer des Betruges. In: Viktimologie, hrsg. v. der Schweizerischen Arbeitsgruppe für Kriminologie. Diessenhofen/CH 1986, 101-114; Schultz, Kriminologische und strafrechtliche Bemerkungen zur Beziehung zwischen Täter und Opfer. SchwZStr 71 (1956), 171-192; U.S. Department of Justice, The Re-designed National Crime Survey: Selected New Data. Washington/ D.C. 1989; Werfel, Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig. München 1920; Wolfgang, Patterns in Criminal Homicide. Philadelphia 1958.

Das Verhalten des Opfers in der Deliktsituation hat zunehmend die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Dabei geht es vor allem um die Beteiligung am Tatgeschehen und deren strafrechtliche Konsequenzen. Je nach Art der Beziehungs- und Deliktssituation kann sich das Opfer im Zeitpunkt der Tat unterschiedlich verhalten:

® Es kann ihm infolge Nichtwissens, Arglosigkeit oder Fehleinschätzung das Bewußtsein mangeln, überhaupt kriminell geschädigt zu werden; ® es kann ferner hilflos und ohnmächtig gegenüber dem deliktischen Vorgehen verharren oder die Flucht ergreifen; ° eskann freilich auch mit der Fremdgefährdung (etwa durch Aids oder illegale Drogen) einverstanden sein oder ® selbst die Initiative ergreifen und den Täter provozieren; ® es mag sich aber auch gegen den deliktischen Angriff berechtigt wehren, den Täter überreden wollen oder ® gar sein Notwehrrecht überschreiten.

Allerdings schöpfen diese Möglichkeiten die realistisch denkbaren Varianten des Opferverhaltens noch nicht aus (vgl. dazu Kilchling 1995, 192ff.). So ist etwa nach Befragungen von Gewaltopfern bekannt, daß sie sich zu einem Drittel widersetzen oder versuchen, den Täter zu überwältigen; über ein Viertel der Opfer flieht oder verbirgt sich, ein weiteres Viertel versucht, den Täter zu überreden, vom Delinquieren abzulassen oder zurückzutreten, 20% der Opfer gehen sogar aggressiv gegen den Täter vor; in weiteren Fällen schlagen sie Alarm oder schreien (US Dept. Justice 1989, 3). Entsprechend dem jeweiligen Opferverhalten verändern sich die Schutzbedürftigkeit des Verletzten und die strafrechtliche Beurteilung des Täters. Weil Rolle und Tatbeitrag des Opfers so vielfältig und verschieden gewichtig sind, können nach heutiger Auffassung die Interessen des Opfers und dessen Wunsch nach Vergeltung die staatliche Antwort auf das Verbrechen nicht mehr allein bestimmen. Schon in der pointierten Annahme, daß „nicht der Mörder“, sondern „der Ermordete … schuldig“ sei (Werfel 1920), deutet sich ein derartiger Gedankengang an. Sie will den gelegentlich aktiven Beitrag des Opfers zum Verbrechen bewußt machen, damit die Situation der Straffälligkeit erhellen und eine gerechte Beurteilung ermöglichen. Sie neigt überdies zur Umverteilung der herkömmlichen Lasten sozialen Risikoverhaltens. Denn die Mitverantwortung des Opfers wird hervorgehoben. Darin drückt sich zugleich die allgemeine „Tendenz zur Exkulpierung“ des Täters aus.

Aussagekräftig für das Opferverhalten ist besonders die Unterscheidung danach, ob Täter und Opfer zum Zeitpunkt der Straffälligkeit einander bekannt oder fremd waren. Delikte gegen die Person und Sexualstraftaten geschehen erfahrungsgemäß häufiger im sozialen Nahraum und weisen daher einen höheren Bekanntheitsgrad zwischen Täter und Opfer auf -— Ausnahme: Überfälle auf Taxifahrer — als alle Eigentums- und Vermögensdelikte wie z.B. Betrug und Diebstahl mit Ausnahme der Erpressung. Deshalb spricht man auch bei einem Teil dieser Straftaten von sogenannten Beziehungsverbrechen (Schulz 1956, 171 ff.). Hierbei handelt es sich um Taten, welche durch die aktuelle Auseinandersetzung zwischen Täter und Opfer gekennzeichnet sind.

Daher verwundert es nicht, daß bei Mord, Totschlag, Körperverletzung, Bedrohung, Beleidigung und sexuellem Mißbrauch von Kindern Täter und Opfer einander vor der Tat in hohem Grad bekannt sind. Dem entspricht, daß bei Personendelikten Täter wie Opfer häufig unter Alkoholeinfluß stehen und daß es sich hier mehr um Auseinandersetzungen innerhalb der ethnischen oder sozialen Gruppen handelt als um Konflikte zwischen verschiedenen Bevölkerungsteilen. Schließlich gehört in diesen Zusammenhang, daß der Anteil der Opfer, welche die Tat veranlaßt, erleichtert oder mit dazu beigetragen haben, gelegentlich größer ist als jener der Täter (Wolfgang 1958). Hier stellt sich beim Mangel an Selbstverantwortung des Opfers geradezu die Frage nach dessen Schutzbedürftigkeit (Arzt 1984, 111 ff.).

Freilich wird diese Abwägung auf die Kindesmißhandlung nicht übertragen, offenbar in der Annahme, daß hier der Erwachsene trotz aller Erschwemisse und Überforderung in der erzieherischen Situation immer seine eigene Handlungsweise souverän kontrollieren müsse. Dies leuchtet im Hinblick auf die unterschiedliche Handlungskompetenz der Beteiligten und die möglichen Dauerschäden, die seelischen und körperlichen Deformierungen, ein

Die Blickschärfung für Ungleichheit und das Engagement für sozial Ohnmächtige haben in jüngerer Zeit die prekäre Opferlage von Kindern, Frauen und alten Menschen verdeutlicht (siehe oben § 34). Hilflosigkeit und Resignation einerseits sowie die Selektivität von Selbsthilfemaßnahmen und der Anzeigeerstattung andererseits (dazu unten § 36) drücken diesen Sachverhalt noch zusätzlich aus. Die Theorie erlernter sozialer Hilflosigkeit bietet dafür eine plausible Erklärung

Ganz anders stellt sich das Opferverhalten in der interpersonalen Beziehungssituation des Betruges dar. Die mitunter unverständlichen, ja atemberaubenden Erfolge von Großbetrügern und Hochstaplern werden zwar herkömmlich auf die besondere Persönlichkeitsstruktur sowie Intelligenz und Fähigkeit des Schwindlers zurückgeführt. Aber die Betrügereien sind nicht immer raffiniert eingefädelt, die Vorgehensweisen nicht stets einfallsreich und die Techniken nicht immer perfekt entwikkelt. Deshalb drängt sich in vielen Fällen die Frage auf, wie die z.T. plumpen Praktiken den gelegentlich schwer begreiflichen Erfolg haben können. Aufklärung verspricht hier vor allem die nähere Betrachtung der Täter-Opfer-Beziehung, insbesondere Bedürfnisstrukturen und spezifische Situationen zum Tatzeitpunkt. Denn wer mit einer Hochstapelei oder mit einem kleineren Schwindel erfolgreich sein will, muß vorgeben, etwas zu bieten, das die Bedürfnisse des Opfers erfüllt. Deshalb ist die viktimologische Perspektive kaum weniger bedeutsam als das Tatgeschehen und die Psychologie des Täters.

Schon allgemein fällt in der Gegenwartsliteratur das Psychogramm des Betrugsopfers wenig schmeichelhaft aus. Danach sind die Opfer oft leichtgläubig, optimistisch, dumm, abergläubisch, eitel, geltungsbedürftig und vor allem gewinnsüchtig (vgl. Middendorff 1986, 101 ff.). Offenbar muß eine bestimmte Anfälligkeit zum Opferwerden vorliegen, wenn der Heiratsschwindel oder andere betrügerische Manöver gelingen sollen. Deshalb ist die herkömmlich psychologischpsychopathologische Betrachtungsweise gegenüber der Figur des hochstaplerischen Betrügers zunehmend durch eine viktimologische Analyse des Opfers und der Täter-Opfer-Beziehung ergänzt, berichtigt oder sogar ersetzt worden. Im Schrifttum werden vier Grundkonstellationen der Täter-Opfer-Beziehung nach den Motiven des Opfers und der Ausnutzung durch den Täter unterschieden (vgl. v. Hentig 1957, 43 ff., 59 ff., 67 ff.; Middendorff 1986, 104 ff.)

Mitleid, Hilfsbereitschaft und Hilfsbedürftigkeit, Devotionslust sowie Gewinnsucht.

Die Devotionslust spielt vor allem bei Heiratsschwindel eine Rolle. Hier ist vorwiegend das durch die Einsamkeit hervorgerufene Bedürfnis nach Liebe, ‘Wärme, Gemeinschaft, Fürsorge und Geborgenheit, welches das Opfer für das eloquente, schmeichelhafte Werben des sicher und „männlich“ auftretenden Betrügers empfänglich macht, hervorzuheben. Es gibt mitunter Frauen, die selbst noch in der Hauptverhandlung gegen den Täter an dessen Versprechungen und guten Willen glauben. Der kleinste Hinweis des Täters auf seine Ernsthaftigkeit genügt, um die Frauen zu einem Widerruf der Strafanzeige zu bewegen.

Ein Beispiel für das gewinnsüchtige Opfer lieferte vor einiger Zeit der Skandal mit den angeblichen Hitler-Tagebüchern. Hier ließen die Verantwortlichen einer Zeitschrift offensichtlich jegliche Sorgfalt außer acht. Die Gier nach der großen Sensation und dem großen Geld ließ alle Sicherungen des kritischen Urteilsvermögens durchbrennen (Middendorff 1986, 111).

Ein weiteres Beispiel bildete der sogenannte „European Kingsclub“, der in den Jahren 1992 bis 1995 in Deutschland, Österreich und der Schweiz für knapp 2 Mrd. DM Anlagenbriefe, sogenannte letters, verkauft und Renditen von 70% versprochen hatte. Tatsächlich wurde das von den rd. 90 000 Mitgliedern eingezahlte Geld nicht wie versprochen angelegt. Vielmehr wurden nach dem Schneeballprinzip weitere Anleger mit den Einlagen neu hinzugekommener ausgezahlt. Als das System 1995 zusammenbrach, entstand ein geschätzter Gesamtschaden vonrd. 850 Mio. DM. Die Staatsanwaltschaft klagte lediglich 32 814 Betrugsfälle und 674 592 unerlaubte Bankgeschäfte der letzten 6 Monate der Club-Tätigkeit an. Wegen gemeinschaftlichen Betrugs und Gründung einer kriminellen Vereinigung verurteilte das Landgericht Frankfurt drei führende Mitglieder des Geldanlagevereins zu langjährigen Freiheitsstrafen (berichtet nach FAZ Nr. 295 v. 18.12.1996).

Weil der Betrug typischerweise gewaltlos begangen wird, wirkt die Betrugshandlung auf das Opfer unmittelbar auch nicht schockierend. Im Gegenteil, das Opfer trifft selbst die vermögensschädigende Verfügung, da der Betrug als ein „Intelligenzdelikt“ äußerlich in erlaubter Form sowie im Gewande normaler wirtschaftlicher Betätigung auftritt und das gesetzwidrige Handeln vom Opfer jedenfalls nicht sofort, falls überhaupt, erkannt wird. Zwar sind die meisten Opferbedürfnisse zeitlos. Zeitbedingt sind jedoch die Ausprägung, die Art und Stärke der Äußerungsform. Hier entfalten die jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse ihre Wirkung. Die Anpassung der Schwindeltechnik an die gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse bedeutet zugleich eine Anpassung an die sich wandelnde Bedürfnisstruktur der Opfer. Wünsche, Ängste, Sehnsüchte, Bereitschaften, wo immer sie auftauchen, werden vom Schwindler sofort für seine Zwecke ausgebeutet. So gesehen lebt der Betrug von der Anpassung an die aktuelle Situation. Der Blick in die Geschichte zeigt den Befund, daß offenbar jede Zeit die Betrüger hat, die ihren Bedürfnissen entspricht. Allerdings gibt es auch zeitüberdauernde Formen. So hat sich das Schwindelsystem der falschen Grußbesteller bis zum heutigen Tag nicht verändert. Wir begegnen dieser Schwindelvariante bereits in Homers Odyssee.

Den sogenannten Beziehungsdelikten stehen Deliktsformen wie Verkehrs- und Umweltstraftaten gegenüber, bei denen ein Einfluß des Opferverhaltens allenfalls gelegentlich und punktuell zu Buche schlägt. Dies trifft weitgehend auch für Massendelikte wie Laden- und Fahrraddiebstähle zu. Darüber hinaus ist bedeutsam, wie das Verbrechensopfer kurzfristig auf den erlittenen Rechtsbruch reagiert, ob durch Selbsthilfe, Selbstjustiz oder durch Strafanzeige.

§ 36 Reaktionen des Opfers auf das Verbrechen
Schrifttum: Arnold, Kriminelle Viktimisierung und ihre Korrelate. Ergebnisse international vergleichender Opferbefragungen. ZStW 98 (1986), 1014-1058; Arnold/Teske/Korinek, Viktimisierung, Verbrechensfurcht und Einstellung zur Sozialkontrolle in West und Ost. Ergebnisse vergleichender Opferbefragungen in der Bundesrepublik Deutschland, den Vereinigten Staaten und Ungam. In: Krim- Fo 35, 2 (1988), 909-942; Arzt, Notwehr, Selbsthilfe, Bürgerwehr. Zum Vorrang der Verteidigung der Rechtsordnung. In: FS für Schaffstein. Göttingen 1975, 71-88; Baurmann/Schädler, Das Opfer nach der Straftat – seine Erwartungen und Perspektiven. Wiesbaden 1991; Boers, Kriminalitätsfurcht. Über den Entstehungszusammenhang und die Folgen eines sozialen Problems. Pfaffenweiler 1992, van Dijk/Mayhew/Killias, Experiences of Crime Across the World. Key findings from the 1989 International Crime Survey. Deventer u.a. 1990; Hermann/ Streng, Die Bewältigung des Traumas. Zum Stellenwert spezifischer Opferstrategien im Viktimisierungsprozeß. BewHi (1991), 5-21; Kürzinger, Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion. Berlin 1978; Kunz, Die organisierte Nothilfe. Möglichkeiten und Grenzen der Inanspruchnahme von Notrechten durch gewerbliche Sicherheitsunternehmen und „Bürgerwehren“. ZStW 95 (1983), 973-992, Kury/Richter/Würger, Opfererfahrungen und Meinungen zur Inneren Sicherheit in Deutschland. Wiesbaden 1992; Richter, Erleben und Verarbeitung krimineller Viktimisierung. Forschungsbericht. Freiburg 1997; Schwarzenegger, Opfermerkmale, Kriminalitätsbelastung und Anzeigeverhalten im Kanton Zürich: Resultate der Zürcher Opferbefragung. SchwZStr 108 (1991), 63-91; Schwind u.a., Dunkelfeldforschung in Göttingen 1973-74. Eine Opferbefragung zur Aufhellung des Dunkelfeldes und zur Erforschung der Bestimmungsgrade für die Unterlassung von Strafanzeigen. Wiesbaden 1975; dies., Dunkelfeldforschung in Bochum 1986-87. Eine Replikationsstudie. Wiesbaden 1989; Shapland u.a., Victims in the Criminal Justice System. Aldershot/GB 1985; Steffen, Analyse polizeilicher Ermittlungstätigkeit aus der Sicht des späteren Strafverfahrens. Wiesbaden 1976; Stephan, Die Stuttgarter Opferbefragung. Eine kriminologisch-viktimologische Analyse zur Erforschung des Dunkelfeldes unter besonderer Berücksichtigung der Einstellung der Bevölkerung zur Kriminalität. Wiesbaden 1976; U.S. Department of Justice, Reporting Crimes to the Police. Washington/D.C. 1985; dass., The Re-designed National Crime Survey. Selected New Data. Washington/D.C. 1989; dass., Criminal Victimization in the United States 1989. Washington/D.C. 1990; dass., Sourcebook of Criminal Justice Statistics 1995. Washington/D.C. 1996.

1. Das Opfer nach der Straftat – Reaktionen und Bewältigungsstrategien
Die psychische Lage des Opfers nach der Tat ist nicht weniger vielgestaltig als in der Verbrechenssituation. Die Gefühle gegenüber Tat und Täter reichen von Bagatellisierung, Überraschung und Resignation bis zu Rache und Wut. Nicht selten sind die Gefühle des Opfers ambivalent und widersprüchlich. Das etwaige Hinauszögern einer Strafanzeige oder die erfragten Motive dafür, Strafanzeige zu erstatten oder, noch besser, davon abzusehen, belegen dies. Die Bereitschaft der Eigentumsopfer, dem Täter zu verzeihen und gleichwohl ein Wiedergutmachungsinteresse zu bekunden, erscheinen dem Opfer als miteinander vereinbare Bewältigungsstrategien. Sie schließen ebenso das gleichmütige Nichtstun oder den resignativen Verzicht, die kompensierende Täterschaft gegenüber einem anonymen Ersatzopfer wie die auf Strafe gerichtete Anzeige ein (zu eng daher das Spektrum möglicher Opferstrategien bei Hermann/ Streng 1991, 5 ff.). Außerdem liegen Hinweise dafür vor, daß die Antworten des Opfers auf das Verbrechen delikts- und geschlechtsspezifisch verschieden ausfallen. Je bedeutsamer der deliktische Eingriff in die Rechtssphäre des Opfers empfunden wird, desto ausgeprägter wird sich der Bestrafungswunsch in der Anzeigebereitschaft äußern, wobei das Motiv nach ausgleichender Genugtuung und nach Vorbeugung gegenüber weiteren Straftaten zusammentreffen mögen (dazu Baurmann u.a. 1991, 280 ff. m.N.).

Aufgrund der postalischen Befragung einer 342 Personen umfassenden Stichprobe von Opfern schwerer Sexual- und Gewaltkriminalität (vgl. Richter 1997, 179 ff.) ergab sich erwartungsgemäß, daß die Schäden im psychischen Bereich am schwersten eingeschätzt wurden, und zwar am höchsten bei den Opfern sexueller Gewalttaten. Da als eines der Hauptmotive zur Anzeige der unspezifische Wunsch nach Hilfe und Unterstützung war, wird die Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Betroffenen und den tatsächlichen Leistungen von Polizei und Justiz selten als unproblematisch erlebt. In der Einschätzung von wirksamer Hilfe und Unterstützung rangieren Personen aus dem familiären Umfeld, dem Freundes- und Bekanntenkreis am höchsten. Hinsichtlich der Bewältigung in den ersten zwei Monaten nach dem Opfererlebnis wird dessen Einfluß auf das körperliche und seelische Befinden sowie auf die berufliche Situation deutlich negativ bewertet. Die gegenüber dem Täter verhängten Strafen werden überwiegend als zu mild beurteilt. Hauptverhandlung und gerichtliches Verfahren werden weitgehend negativ erlebt und haben sich dementsprechend in der Einstellungsveränderung niedergeschlagen. Vor allem Opfer reiner Gewaltdelikte äußern sich über den Prozeßverlauf ganz überwiegend unzufrieden, während dies bei den Opfern der Sexualdelikte nur zur Hälfte der Fall ist.

Etwa zwei Drittel der Befragten gaben nach einem Zeitablauf von zwei bis drei Jahren nach der Viktimisierung fortdauernde seelische Beeinträchtigungen an, am stärksten die Opfer der Sexualdelikte. Die Furcht vor einer erneuten Viktimisierung ist selbst nach einigen Jahren noch sehr lebendig, insbesondere wiederum bei den Opfern der Sexualstraftaten. Insgesamt gab mehr als die Hälfte aller befragten Opfer an, die Viktimisierung sehr schlecht bewältigt zu haben. Zu den wichtigsten Befunden zählen der negative Einfluß persistierender, depressiv-orientierter Bewältigungsstrategie und die vorherrschende Wahrnehmung von Schädigungen im psychischen Bereich verglichen mit solchen körperlicher oder materieller Art. Vor allem für die Opfer der Sexualdelikte scheint das Auseinanderklaffen zwischen strafrechtlichen Verfolgungsinteressen und den sich aus der Viktimisierung ergebenden persönlichen Bedürfnissen besonders groß zu sein. Das Hauptproblem dürfte in der partiellen Unvereinbarkeit von individuellen Bewältigungsstrategien und dem Ablauf bzw. Zweck des Strafverfahrens liegen. Auch können Verarbeitungsmechanismen, die für das Opfer erfolgreich und wichtig sind wie z.B. das Vergessen, die Korrektur der Erinnerung und die Umdeutung des Geschehens für eine rechtliche Aufarbeitung unter Umständen kontraproduktiv sein. Auch insofern bedarf der Strafprozeß im Interesse des Opferschutzes noch der Verbesserung.

2. Selbsthilfe und Selbstschutz
Erscheinungen der Kriminalität sind häufig, ja alltäglich, obwohl sie noch immer zu den seltenen Ereignissen zählen. Allerdings ist nach Befragungen in Westeuropa die Hälfte der Bevölkerung und mehr innerhalb eines Fünfjahreszeitraums der achtziger Jahre kriminell viktimisiert worden (van Dijk u.a. 1990, 126, Tab. 25), allein im Jahre 1988 mehr als ein Fünftel. Da es sich überwiegend um minderschwere Eigentumsdelikte mit geringen Aufklärungsraten handelt und die polizeiliche Strafverfolgung gewöhnlich zu spät und nur lückenhaft einsetzt (US Dept. Justice 1989, 5 f.) sowie weder Aufklärung noch Vorbeugung bewältigt, wird verständlich, daß die Verbrechensfurcht wächst (vgl. Boers 1992) sowie Selbstschutz- und Selbsthilfemaßnahmen Bedeutung gewinnen. Dabei handelt es sich vor allem um Vorbeugungs- und Vermeidungsstrategien, die von den Opfern, insbesondere Frauen, häufiger als von den Nichtopfern zum Schutz vor Einbruch und Gewalt ergriffen werden (van Dijk u.a. 1990, 129 ff. sowie Schaub. 38 u. 40). Das vielfältige Instrumentarium umfaßt im wesentlichen die Beachtung besonderer Vorsicht bei Aus- und Spaziergängen, u.a. durch Begleitschutz, den Abschluß von Privatversicherungen, die Einrichtung von Alarmanlagen und anderen Schutzmaßnahmen (Rolläden, Gittern, Fahrradsicherungen), das Aufsuchen von Kinderschutzzentren und Frauenhäusern sowie das Lichtbrennenlassen oder die Verständigung von Nachbarn bei Abwesenheit. Die Aktivierung der Nachbarschaft reicht bis zur „neighbourhood watch“ (siehe oben §§ 11, 2 und 13) und Bildung sogenannter Bürgerwehren (zu den Selbstschutzmaßnahmen bereits in der Verbrechenssituation siehe oben § 35).

Mehr als zuvor versuchen Bürger, sich vor Verlusten durch Sachversicherungen zu schützen, was wiederum auf die Struktur der Anzeigeerstattung und auf die Anzeigerate zurückwirkt.

Nicht zuletzt haben der Zuwachs an beweglichen Sachgütern und die zunehmende Abwehr von Risiken durch Sachversicherungen zum Anstieg der Diebstahlrate geführt (vgl. auch van Dijk u.a. 1990, 25, 93). Entsprechend dem Versicherungsrisiko weisen die Einbruchdiebstahls- und Beraubungsversicherungen im Bundesgebiet mehrere Zonen auf

Außerdem treffen größere Industriebetriebe Vorkehrungen durch Einrichtungen und Ausbau des Werkschutzes. Gelegentlich rügen sie Normverletzungen im Wege sogenannter Betriebsjustiz selbst. Ähnliches gilt für die Verbandsgerichtsbarkeit.

Im Gefolge der spektakulären Kapitalverbrechen in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre stieg die Nachfrage nach sogenannten Leibwächtern sprunghaft. Da nur Spitzenpolitiker und nachweislich bedrohte Personen unter Polizeischutz stehen, müssen alle anderen, die sich für gefährdet halten, für ihre Sicherheit selbst sorgen.

3. Selbstjustiz
Konnten die ins Uferlose greifenden Vergeltungsinteressen der Verletzten im Laufe der historischen Entwicklung nur allmählich kanalisiert werden, so wird verständlich, daß sich heutzutage das Verbrechensopfer in seinen Belangen mitunter unerträglich eingeengt sieht. Jenseits legitimer Selbsthilfemaßnahmen brechen daher manchmal die Interessen des Opfers eruptiv durch. Sie äußern sich in Selbst- und Prangerjustiz. Anprangerung in Selbstbedienungsläden und an Laternenpfählen, Verprügelungen, „Bürgerwehren“ und Maßnahmen, die bis zur Lynchjustiz reichen, liefern in der Gegenwart dafür anschauliche Beispiele (dazu Arzt 1975, 77 ff., Kunz 1983, 973 ff.). Die an sich berechtigte Kritik an den Handlungen der Privatjustiz übersieht jedoch, daß möglicherweise schon Jahre voraus die Einstellungspraxis der Staatsanwaltschaft den Rechtsschutz und das Genugtuungsbedürfnis des Opfers erheblich geschwächt hat.

4. Private Strafanzeige
Obschon nach den Zielen und der Struktur die Belange des Verbrechensopfers im Interesse von Schuldbegrenzung und Individualprävention des Delinquenten zurücktreten müssen, bleiben sie jenseits von Selbsthilfe und Selbstjustiz wichtig genug. Legitimen Ausdruck gewinnen sie vor allem in der privaten Strafanzeige. Mehr als 60% aller (konventionellen) Strafsachen werden allein vom Opfer, nur 2 bis 9% von der Polizei initiiert (vgl. Steffen 1976, 125 £.; für die USA US Dept. Justice 1985, 4).

Eine Ausnahme besteht nur für vorsätzliche Tötungsdelikte (Sessar 1981) und die Deliktsbereiche, in denen die Polizei nicht reaktiv, sondern proaktiv tätig wird, insbesondere bei der Verkehrsdelinquenz, der Wirtschafts- und Umweltkriminalität sowie den Staatsschutz- und Rauschgiftdelikten (vgl. Kürzinger 1978, 40 £.). Bei den kleinen und mittleren Wirtschaftsstrafsachen liegt die Situation der Anzeigeerstattung geradezu umgekehrt wie bei den klassischen Massendelikten. Hier nämlich werden nur wenige Prozent von Privatpersonen angezeigt. Sinngemäßig das gleiche dürfte für die Verkehrsdelinquenz zutreffen

Die Beweggründe für das Opfer zur Anzeigeerstattung sind hauptsächlich ökonomischer und präventiver Natur, zusammen etwa 80%, wobei freilich die Deliktsart von erheblichem Einfluß ist. Die persönlich empfundene Deliktsschwere, die Eingriffsintensität in die Rechtssphäre des sozialen Nahraums, aber auch die subjektive Hilflosigkeit und soziale Ohnmacht im Blickfeld des Anzeigeerstatters sind dabei entscheidend. Rein punitive Motive (Bestrafungswünsche) treten demgegenüber zurück.

Informelle Normen lassen erkennen, wann die Schwelle sozialer Adäquanz und Tolerierbarkeit überschritten wird. Dies zeigt sich neuerdings an der Sensibilisierung und Skandalisierung gegenüber der sogenannten sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz. Vor allem bei der aggressiven Sexualdelinquenz charakterisieren Gewalt und Sexualität nicht allein die Täter dieser Deliktsgruppe, sondern der Modus operandi, die fehlende Rücksichtnahme des Täters auf die Belange des Opfers. Diese Mißachtung wird es wahrscheinlich sein, die den Selektions- und Sanktionierungsprozeß vom Opfer her in erster Linie einleitet. Deshalb werden bei den Rechtsbrechern der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung am ehesten solche Personengruppen ausgelesen, bei denen die in der kriminologischen Literatur immer wieder beschriebenen Sozialisationsdefekte vorliegen. Das Opfer beeinflußt mindestens indirekt die sanktionierende Behandlung, die der Rechtsbrecher seitens der Träger der formellen Sozialkontrolle erfährt. Dabei erweisen sich besonders die „Opfer-Täter-Dynamik“ sowie der gesellschaftliche Status, die Glaubwürdigkeit und die Mitschuld des Opfers als bedeutsam. Täterund Opfermerkmale, aber auch unterschiedliche Empfindlichkeit gegenüber der Begehung bestimmter Delikte bestimmen also den Zusammenhang zwischen Anzeigebereitschaft, Aufwand und Verfahrensausgang in erheblichem Grade (Kürzinger 1978; Shapland u.a. 1985). Dieser Sachverhalt führt zu der umfassenden Frage nach den Selektionsmechanismen überhaupt (dazu oben § 19, 2).

5. Zusammenfassung und Folgerungen
Je nach Wahrnehmung und Erleben, vermittelt durch Deliktsschwere, Situation, Alter, Geschlecht, Schicht und Vertrauen gegenüber der Polizei, antwortet das Opfer auf das Verbrechen. Seine Reaktionen sind dementsprechend unterschiedlich und zum Teil auch widersprüchlich. Motive der Bewältigung, Vorbeugung und Vermeidung bündeln sich und durchdringen einander. Diese Vielschichtigkeit der Opferreaktionen erschwert die Verallgemeinerungsfähigkeit und die Reduktion der Befunde auf wenige Erfahrungssätze. Immerhin ergeben sich international eine Reihe von Regelhäufigkeiten:

So wird durchschnittlich nur die Hälfte der vom Opfer als Delikt verstandenen Sachverhalte der Polizei zur Kenntnis gebracht. Vermutliche Erfolglosigkeit der Strafanzeige und Geringfügigkeit des Schadens motivieren vor allem das Opfer, nicht anzuzeigen. Einer derartigen Selektivität des Anzeigeverhaltens stehen die Auswahl und Inanspruchnahme eines breiten Instrumentariums von Selbsthilfemaßnahmen kaum nach. Demgemäß schenkt ihnen die neuere Forschung große Beachtung. Hingegen bilden Handlungen der Selbstjustiz, obwohl sie in den Massenmedien breiten Widerhall finden, nur selten den Anlaß und Gegenstand wissenschaftlicher Analyse.

Erfüllen private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion noch immer strategische Funktionen für die mögliche Bewältigung der Viktimisierung, das Sicherheitsgefühl und die Verbrechenskontrolle, so kommt es auf die Schnelligkeit und Effizienz der polizeilichen Aktivitäten und die Einstellung der Bevölkerung an. Allgemein hängt die polizeiliche Reaktion vom Schweregrad des Verbrechens ab. Dies trifft sowohl für die Zeitspanne bis zur Einvernahme des Opfers durch die Polizei zu als auch für die Beweissicherung (vgl. US Dept. Justice 1989, 5 ff.). Überwiegend zeigen sich die Opfer, soweit sie Anzeige erstattet haben, von der Art ihrer Behandlung durch die Polizei befriedigt (66%). Darüber hinaus sind zwei Drittel der befragten Bevölkerung der Ansicht, daß die Polizei ihres Wohnortes „ihre Sache gut mache“ (var Dijk u.a. 1990, 128). Im übrigen beobachten wir eine Entwicklung von relativ gleichmäßiger Streuung über alle Sozialschichten bei Verbrechensfurcht und Opferneigung zu einer asymmetrischen Verteilung bei der Täterermittlung und -verurteilung hin, und zwar nunmehr mit dem Schwerpunkt bei den unteren Schichten. Deshalb sind „private Strafverfolgung“ und Privatklage nicht bloß strafverfahrensrechtlich bedeutsam und der Anzeigeerstatter nicht nur ein „kriminalistisches Phänomen“. Vielmehr stellen beide Aspekte auch kriminologische Probleme von erheblicher rechtspolitischer Bedeutung dar (grundlegend Kürzinger 1978 mit umfassenden Belegen).

Zwar nimmt das Verbrechensopfer auf den Gang des Strafverfahrens Einfluß, wie sich in seinem Anzeigeverhalten und seiner Rolle als Zeuge oder Nebenkläger zeigt. Aber staatlicher Schutz durch Strafverfolgung und Justizgewährung, hilfsweise durch Klageerzwingungsverfahren, Privatklage und Opferentschädigungsgesetz, werden vom Opfer häufig als zu spät, ungenügend und unökonomisch empfunden. Dieser Sachverhalt wiederum wirkt auf die Anzeigebereitschaft zurück, indem nur in rd. der Hälfte aller Fälle von der Möglichkeit zur Anzeige Gebrauch gemacht wird. Selbst Anträge nach dem Opferentschädigungsgesetz bleiben hinter den Erwartungen zurück und vermögen die Mängel im Schutz der Opferbereitschaft nicht auszugleichen (siehe unten § 50). Die Wiedergutmachung und Opferentschädigung, fraglos wichtig und herkömmlich Opferinteressen am nächsten stehend, erscheinen auch zu tat- und vergangenheitsbezogen, als daß sie dem Präventionsbedürfnis des (potentiellen) Opfers gegenüber künftigen kriminellen Schädigungen schon ausreichend Rechnung tragen könnten

Dies gilt sinngemäß auch für die Absicherung des Opferrisikos durch privaten Versicherungsschutz. Dabei ist gleichgültig, ob es sich um die Kraftfahrzeug-Kaskoversicherung oder um die Diebstahls- und Einbruchsversicherung handelt. Zwar mag in derartigen Fällen das primäre Interesse des Opfers an der Strafverfolgung des Täters zurücktreten, soweit es nicht zur Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen oder zur Durchsetzung etwaiger Schadensersatzansprüche notwendig ist. Aber eine wirksame Vorbeugung gegenüber neuer Viktimisierung ist damit noch keinesfalls gewährleistet. Die seit zwei Jahrzehnten ständig steigende Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen, verglichen mit den Prämien für Diebstahlsversicherungen, belegt dies. Solche anscheinend befriedigenden Risikoverteilungen durch Selbsthilfe erklären wohl auch, warum die Viktimologie desinteressiert ist, hier den zugrundeliegenden Opfersituationen nachzugehen, um sie zu erhellen.

Auf der anderen Seite machen sich verstärkt Entwicklungen bemerkbar, die gefährdeten oder verletzten Opferinteressen erneut durch eigene Aktivitäten zu sichern. Diese reichen je nach Intensität und rechtlicher Billigung von der Selbsthilfe bis zur Selbstjustiz. Zu den Einrichtungen der Selbsthilfe zählen ebenso Kinderschutzzentren, Frauenhäuser und Privatversicherungen gegen Diebstahl wie anonyme Alkoholiker, Bürgerwehren, privates Schutzpersonal (Leibwächter) und sogenannte Betriebsjustiz. Derartige Mittel sind überwiegend der informellen Sozialkontrolle zuzuordnen (siehe oben § 11, 2). Soweit es sich um Opferhilfe handelt, wird sie in 2 bis 13% der Fälle gewährt (US Dept. Justice 1989, 7, van Dijk u.a. 1990, 128 f.), allerdings von den Opfern in mehrfachem Umfang gewünscht. So wichtig und notwendig Maßnahmen der Selbsthilfe auch sein mögen, sie dürfen keinesfalls zu neuer Willkür und Ungleichheit führen, insbesondere nicht zu Lasten dessen, der zur Selbsthilfe zu ohnmächtig ist oder es vorzieht, vornehmlich auf den staatlichen Schutz zu vertrauen. Der Staat darf sich also hier nicht von seiner Aufgabe, Sicherheit zu gewährleisten, befreien und die innere Sicherheit zur käuflichen Ware denaturieren. Deshalb können derartige Selbsthilfeeinrichtungen stets nur eine ergänzende Aufgabe erfüllen.