Fünftes Kapitel Verbrecher
Wie die Analysen der Kriminalität zeigen, scheinen kulturelle, politische und wirtschaftliche Einflüsse für die Entstehung des Verbrechens von übermächtiger Kraft zu sein. Sie wirken sich selbst auf das Verbrechen als Individualerscheinung aus. Dementsprechend hat die Täterorientierung an kriminologischem Aussagevermögen verloren. Dennoch läßt sich nicht verkennen, daß es sich beim Verbrechen stets um menschliches Verhalten handelt. Immer und überall sind es Menschen, die als kriminell beurteilte Handlungen begehen, und zwar unterschiedlich häufig und intensiv. Männer und Frauen, Junge und Alte verstricken sich in Rechtsbrüche. Sie werden zum Teil als Rechtsbrecher entdeckt, verdächtigt, angezeigt, verfolgt, bestraft und zu resozialisieren versucht. Opfer und Anzeigeerstatter, Polizei und Justiz, Bewährungshilfe und Strafvollzug beschäftigen sich mit ihnen. Unter diesem Blickfeld erforscht auch die kriminologische Wissenschaft die Persönlichkeit des Rechtsbrechers; sie kann sich daher nicht nur mit Gegenstand, Funktion, Ausmaß und Erklärung des Verbrechens als Sozialerscheinung oder mit der Verbrechenskontrolle begnügen, geschweige sich in einem „defensiven Formalismus“ erschöpfen. Das Bild des Rechtsbrechers und das Verständnis ihm gegenüber bestimmen auch den Umgang mit ihm. Die Persönlichkeit des Täters einfach als „black box“ zu betrachten, und d.h. ihn als Erkenntnisgegenstand zu vernachlässigen, führte zum Wirklichkeitsverlust. Dies wäre nicht nur lebensfremd, sondern würde ebenso zu inhumanen, ungerechten und präventiv unerwünschten Ergebnissen führen.
§25 Verbrechen als Individualerscheinung oder die Frage nach dem Verbrecher
Schrifttum: Brammsen, Die Person des Straftäters aus kriminologischer Sicht. JA 10 (1988), 57-67; Kürzinger, Der kriminelle Mensch — Ausgangspunkt oder Ziel empirischer Forschung? In: FS für Jescheck. Berlin 1985, 1061-1080; Rasch, Kriminalität und Persönlichkeit. In: Forensische Psychiatrie. Stuttgart 1986, 111-172; Strasser, Verbrechermensch. Zur kriminalwissenschaftlichen Erzeugung des Bösen. Frankfurt/M. 1984; Wilson/Herrnstein, Crime and Human Nature. New York 1985; Yochelson/Samenow, Criminal Personality. A Profile for Change. Vol. 1. New York 1976.
Bedeutung und Verbreitung des täterorientierten Forschungsansatzes beruhen vor allem auf der Einsicht, daß Persönlichkeitsfaktoren und Verhalten beeinflußbar sind. „Es ist der einzelne, dessen Handeln, Motivation und Schuldfähigkeit zu beurteilen sind, selbst wenn er in Gemeinschaft mit anderen gehandelt hat. Dies ist eine Ursache dafür, daß die meisten kriminologischen Erklärungsansätze in psychologische Theorien münden, auch wenn eine gesellschaftswissenschaftliche Orientierung geltend gemacht wird“ (Rasch 1986, 111). Dem suchen lern-, sozialisations- und kontrolltheoretische Konzepte zu entsprechen (siehe unten §§ 28 und 31, 3.1). Doch leuchtet es nicht ein, zwar die ‚‚Theorie der kriminellen Persönlichkeit“ breit zu erörtern und vielleicht auch noch das zeitgenössische Wissen über das Verbrechensopfer darzustellen, aber die Täterpersönlichkeit selbst schlicht zu ignorieren, weil dies offenbar zum modernen Kanon kriminologischer Wissenschaft gehört. Die Täterorientierung gründet sich ferner auf die Überzeugung, daß der Verzicht auf die individuelle Verantwortlichkeit inhumaner und für die Kriminalprävention ineffektiver wäre.
Zu untersuchen, wer der Rechtsbrecher ist, wie man ihn erkennt, welche Beweggründe sein Handeln bestimmen, wie man ihn ebenso zweckmä- Big wie maßvoll behandelt, erforderlichenfalls „bekämpft“ und wie man ihn zur Gesellschaft hin- oder zurückführen kann, gilt daher von Anbeginn als eine der vorrangigen Aufgaben kriminologischer Wissenschaft. Nur Ignoranz, Unverständnis und Polemik können diese Forschungsaufgabe als „Ausgrenzungswissenschaft“ mißdeuten. Haben sich seither auch erhebliche Wandlungen in Strafrecht und Justiz ergeben, so ist doch die Frage danach, wer der Verbrecher ist, geblieben. Ja, mit der Ausdehnung und Problematisierung des Verbrechensbegriffs ist die Beantwortung ungenauer und unsicherer geworden als je zuvor. Auch ist man sich zunehmend der geringen Determiniertheit und beachtlichen Flexibilität der Persönlichkeit, ihrer Entwicklung sowie der beträchtlichen Adaptionsfähigkeit des Individuums bewußt geworden. Der straffällige Mensch ist daher zwar ein Ausgangspunkt und Erkenntnisgegenstand, nicht aber das alleinige Ziel kriminologischer Untersuchung (dazu Kürzinger 1985, 1061 ff.; Brammsen 1988, 66).
Die traditionelle Kriminologie, obwohl sie von Anbeginn um Verbrechertypologien bemüht war, fragte eigentlich nicht nach den Abhängigkeiten vom Verbrechensbegriff und nach dessen Rückwirkungen auf das Bild von der Täterpersönlichkeit. Unabhängig von Schwere und Häufigkeit des Rechtsbruchs waren alle Delinquenten in gleicher Weise „Verbrecher“. Dabei blieb gleichgültig, ob sie wegen eines Verbrechens, eines Vergehens oder einer Übertretung straffällig geworden, ob sie Erstbestrafte oder Rückfalltäter waren.
Mit der Untersuchung des Dunkelfeldes der Kriminalität und den neueren Wandlungen des Verbrechensbegriffes wurde diese Ausgangsposition fragwürdig. Denn man sah zunehmend nicht mehr nur das Endprodukt eines Prozesses, nämlich den Strafgefangenen. Vielmehr weitete sich der Blick für das gesamte Spektrum des Verbrechens, angefangen vom Verkehrs- und Wirtschaftsdelinquenten bis hin zum Räuber und Mörder, vom nichtregistrierten bis zum mehrfach verurteilten Straftäter. Allerdings wurde damit nicht ausgeschlossen, den gleichen Fehler mitunter auf dem entgegengesetzten Ausgangspunkt der Dunkelfeldanalyse zu wiederholen (siehe dazu oben § 20, 3), als ob alle Menschen Erpresser, Räuber und Mörder wären. Schon Mitte der dreißiger Jahre begannen sich die kritischen Stimmen zu melden. Aber die Grundannahme, daß sich Kriminelle von Nichtkriminellen nach Persönlichkeitsmerkmalen unterscheiden, erwies sich als so stark, daß sie trotz gewichtiger Kritik (u.a. Strasser 1984) bis heute nicht gravierend erschüttert werden konnte (vgl. Wilson u.a. 1985, 27, 45; Schneider 1987, 394). Die Suche nach dem sogenannten Mörderchromosom (XY Y-Chromosomenmißbildung), die vor zwei Jahrzehnten geradezu hektische Formen annahm, oder neuerdings die vermeintliche Bestimmung eines Alkoholismus- Gens liefern für die fortbestehende Grundüberzeugung ein spätes Zeugnis (dazu unten §§ 26; 39, 2 mit ausführlichen Belegen). Persönlichkeitsunterschiede müssen auch häufig erklären, warum der eine sich einer Gruppe mit abweichenden Normen angeschlossen hat, der andere nicht. Selbst die Dunkelfeldforschung, obwohl ursprünglich auch als Kritik an der Täterorientierung gemeint, stützt durch ihre psychologische Anreicherung unversehens die Relevanz von Persönlichkeitsdimensionen. Sie weist damit die Annahme der alleinigen Rückführbarkeit von Persönlichkeitsunterschieden bei Rechtsbrechern auf Selektionsprozesse zurück.
Entgegen kriminalsoziologischer Kritik folgt die Täterorientierung nicht etwa daraus, daß man nur Personen, nicht aber Situationen bestrafen kann. Im übrigen werden durch das Festhalten an diesem Postulat Beeinflussung und Veränderung von kriminogenen Situationen nicht ausgeschlossen, im Gegenteil. Gerade Bewährungsauflagen und Weisungen zur Lebensführung (vgl. SSCHHLC ONE: StGB, 10,23, 60, 88 JGG) sowie soziale Hilfe (71 ff. StVollzG) und nachgehende Betreuung (§§ 123, 127 Abs. 1 StVollzG) belegen die versuchte Einwirkung auf die „Situation“. Ähnliches gilt fürd ieM aßnahmen der Verbrechensverhütung. Präventionsmaßnahmen durch Stadtplanung und Baugestaltung (siehe oben § 13, 3) sowie solche gegen Ladendiebstahl, Bankraub, Verkehrs- und Waffendelikte liefern außerdem anschauliche Beispiele der gezielten situativen Intervention. Gleichwohl sind „Gelegenheitsstrukturen“ nicht immer leichter zu verändern als Menschen, wie Aktionsforschung und Gemeinwesenarbeit zeigen.
Welche Persönlichkeitsunterschiede von Rechtsbrechern lassen sich aber nach dem heutigen Forschungsstand sichern, und wie lassen sie sich gegebenenfalls erklären? Zur Beantwortung der Frage soll die Analyse von biosozialen Perspektiven, Persönlichkeitsdimensionen, Sozialprofilen, sozialen Bezügen und Bindungen dienen. Persönlichkeits-, Lern-, Sozialisations- und Kontrolltheorien werden dabei herangezogen, um zu prüfen, inwieweit sie fähig sind, die empirischen Befunde zureichend zu erklären.
§ 26 Biosoziale Grundlagen
Schrifttum: Christiansen, A Preliminary Study of Criminality among Twins. In: Biosocial Bases of Criminal Behavior, ed. by Mednick u.a. New York 1977, 89-108; Hutchings/Mednick, Criminality in Adoptees and their Adoptive and Biological Parents: A Pilot Study. In: Biosocial Bases of Criminal Behavior, ed. by Mednick u.a. New York u.a. 1977, 127-141; Jung, Zum genetischen Fingerabdruck. MschrKrim 75 (1989), 103-107; Kunz, Die Kriminalität: Ein Produkt der Natur oder der Gesellschaft? In: Erbanlage und Umwelt, Colloquium generale – Universität Bern. Bern u.a. 1986, 211-239; Mednick/Volavka, Biology and Crime. In: Crime and Justice 2 (1980), 85-158; Mofitt/Mednick, Biological Contributions to Crime Causation. Dordrecht u.a. 1988; Plomin/Daniels, Why are Children in the Same Family so Different from one Another? Behaviorial and Brain Sciences 10 (1987), 1-60; Taschke/Breidenstein (Hrsg.), Die Genomanalyse im Strafverfahren. Baden-Baden 1995; Walters, A Meta-Analysis of the Gene- Crime Relationship. Criminology 30 (1992), 595-613; Zang, Psychische Auffälligkeiten und Kriminalität bei Männern mit einem überzähligen Y-Chromosom. In: KrimGegfr 16 (1984), 19-31; Zerbin-Rüdin, Gegenwärtiger Stand der Zwillings- und Adoptionsstudien zur Kriminalität. KrimGegfr 16 (1984), 1-17.
Einen besonderen Rang nehmen in der täterorientierten Kriminologie seit jeher die Fragestellungen, Annahmen und Befunde der Humangenetik und ihrer erbbiologischen Vorläufer ein (dazu Tab. 3). Die Ergebnisse der Zwillingsforschung verdienen auch heute Beachtung. Obwohl alle diese Untersuchungen der Frage nachgingen, ob einige Formen der Kriminalität genetisch bedingt sind, hat sich die Beurteilung der Ergebnisse erheblich gewandelt. Zunehmend geht man von einer „biosozialen Interaktion“ aus.
Besondere Bedeutung hat die Zwillingsuntersuchung von Christiansen in Dänemark erlangt. Dabei wurde die Gesamtheit der 3586 Zwillingspaare einbezogen, die 1881 bis 1910 in Dänemark geboren waren und von denen etwa 900 mindestens einen delinquenten Partner aufwiesen. Christiansen (1977, 96 ff.) ermittelte, daß bei den von ihm untersuchten männlichen Zwillingspaaren 35,2% der 325 eineiigen und 12,5% der 611 zweieiigen Paare auch einen delinquenten Partner hatten. Danach stimmt das straffällige Verhalten bei eineiigen männlichen Zwillingen in mindestens einem Drittel und damit dreimal so häufig überein wie bei zweieiigen männlichen Zwillingen. Tendenziell ähnlich war bei anderen Zwillingsuntersuchungen aus verschiedenen Kontinenten die Konkordanz bei eineiigen Zwillingen fast immer höher als bei zweieiigen (siehe Tab. 3). Worauf die Übereinstimmung im Verhalten zurückzuführen ist, bleibt noch klärungs- und interpretationsbedürftig. Da eineiige Zwillinge die gleichen Erbanlagen haben, genetisch gewissermaßen zweimal der gleiche Mensch vorhanden ist, kann bei der Untersuchung eineiiger Zwillinge der genetische Faktor konstant gehalten werden. Dennoch treten auch bei der Beobachtung eineiiger Zwillinge Schwierigkeiten auf. Eineiige Zwillinge werden wegen ihrer Ähnlichkeit oft ähnlich behandelt. Die Einflüsse, denen eineiige Zwillinge ausgesetzt sind, können in der frühkindlichen Umwelt, z.B. durch Trennung der Zwillinge, aber auch verschieden (vgl. dazu Plomin/Daniels 1987, 1 ff., 15,53 f.) und überdies andere sein als jene, die auf zweieiige Zwillinge einwirken. Berühmt ist das Beispiel der Zwillingsbrüder Korf, von denen der eine Gewaltverbrecher und der andere „Rausschmeißer“ in einem Nachtlokal wurde. Allerdings könnte die neuere Adoptionsforschung die erhoffte Klärung bringen. Sie ist der Zwillingsforschung methodisch insofern überlegen, als sich bei adoptierten Kindern — anders als bei Zwillingen, die überwiegend zusammen aufwachsen und deshalb ähnlichen Sozialisationsbedingungen unterliegen – Anlage- und Umweltfaktoren eher voneinander trennen lassen. Deshalb erregte eine dänische Untersuchung aus dem Jahre 1977 Aufmerksamkeit, als sie die Kriminalitätsbelastung von Adoptivsöhnen mit der ihrer leiblichen Väter verglich: Waren weder der leibliche Vater noch der Adoptivvater kriminell, so lag die Quote der kriminell auffälligen Söhne bei 10,4%. Diese Quote steigerte sich auf lediglich 11,5% bei den Probanden, deren Adoptivväter zwar ebenfalls kriminell auffällig geworden waren, deren biologische Väter jedoch unbelastet blieben. War hingegen der Adoptivvater unbelastet und der leibliche Vater kriminell, so lag die Belastungsquote der Söhne bei 22%. Diese Quote erreichte ihren signifikanten Höchstwert mit 36,2% jedoch erst dann, wenn sowohl der Adoptivvater als auch der leibliche Vater kriminell belastet waren. Diese Ergebnisse lassen — bei allen Einschränkungen, die zu machen sind (so sind z.B. die Adoptiveltern in Dänemark über die Kriminalität des leiblichen Vaters informiert) —, die Schlußfolgerung zu, daß eine Disposition zu bestimmtem Sozialverhalten partiell genetisch bedingt sein kann. Denn die Kriminalität des Adoptivvaters wirkt sich erst dann signifikant für die Kriminalitätsbelastung des Sohnes aus, wenn auch dessen leiblicher Vater kriminell belastet ist (zum Ganzen Hutchings/Mednick 1977, 127 ££.;, ferner Überblick von Zerbin-Rüdin 1984, 1 ff.).
Der wissenschaftliche Fortschritt, menschliche Chromosomen genau darstellen zu können, gewann in den letzten Jahrzehnten wiederholt forensische Bedeutung im Rahmen des sogenannten „XYY-Syndroms‘. Nach Entdeckung dieser ungewöhnlichen Konstellation des Geschlechtschromosoms im Jahr 1961 wurden alsbald in den USA, Australien und Frankreich dramatische Kriminalfälle verhandelt, an denen Täter mit dieser Chromosomenmißbildung beteiligt waren. Obwohl derartige Zusammenhänge, nicht zuletzt durch ihre Überbewertung ii n den Massenmedien, rasch eine breite populärwissenschaftliche Öffentlichkeit fanden, läßt sich heute unzweifelhaft feststellen, daß ein überzähliges Y-Chromosom mit aggressivem Verhalten in keiner kausalen Verknüpfung steht. Darüber hinaus kann man nach neueren Untersuchungen für die XYY-Männer die Annahme vertreten, daß diese weniger aggressiv als vergleichbare XY-Männer sind (Zang 1984, 20 f.). Dem stimmen selbst jene zu, die im übrigen charakteristische Verhaltenstypologien bei Probanden mit gonosomalen Chromosomenmißbildungen für erwiesen erachten (zum Ganzen Schwind 1996, 85 ff.).
Selbst wenn sich nach den erwähnten Befunden erhebliche Dispositionen als bedeutsam erweisen, so wird damit keinesfalls ausgeschlossen, daß gleich verlaufende Lern- oder Sozialisationsprozesse zur partiellen Übereinstimmung im Sozialverhalten beigetragen haben. Dies zeigt auch der Forschungsstand über die ähnlich gelagerte Frage nach der Vererbung von Intelligenzunterschieden.
Wie man ferner der Prognoseforschung entnehmen kann, ist Sozialverhalten noch weniger festgelegt und voraussagbar als Leistungsverhalten. Läßt sich auch die Vererblichkeit von gewissen Potentialen und Dispositionen des Verhaltens nicht bestreiten, so kann Kriminalität als sozialbewertete Erscheinung weder anlage- noch erbbedingt verstanden bzw. theoretisch erfaßt werden. Überdies rechtfertigt die Abhängigkeit des Verbrechensbegriffs von Raum und Zeit keine Auffassung, die erlaubte, einem einzelnen Gen als der lokalisierbaren erblichen Anlage eine kriminalitätserzeugende Kraft zuzuschreiben. Gleichwohl kann man Verbrechen nicht verstehen, ohne individuelle Prädispositionen und ihre biologischen Wurzeln in Rechnung zu stellen. Ferner kann die beweisrechtliche Relevanz neuerer Fortschritte der Humangenetik (sog. genetischer Fingerabdruck; dazu Jung 1989, 103 ff.; ferner BGH NJW 1990, 23, 28 ff£., Taschke/Breidenstein 1995) nicht verkannt werden. Der Bundestag hat nunmehr aufgrund einer Regierungsvorlage (BT-Drucks. 13/667 und 13/6420) die gesetzliche Regelung der DNA-Analyse im Strafverfahren in den §§ 81 e, f StPO beschlossen.
27 Persönlichkeitstheorie und Persönlichkeitsdimensionen
Schrifttum: Amelang, Sozialabweichendes Verhalten. Berlin u.a. 1986; Blau, Schuld und Gefährlichkeit des psychisch abnormen Täters. Strafrechtsgeschichtliche, kriminologische und rechtsvergleichende Aspekte. In: Straftäter in der Psychiatrie, hrsg. v. Blau u.a. Stuttgart 1984, 1 ff.; Eysenck, Crime and Personality. London 1964 (deutsch: Kriminalität und Persönlichkeit, Frankfurt/M. 1977); Eysenck/Eysenck, Personality and Individual Differences. A Natural Science Approach. New York u.a. 1985; Gschwind u.a., Kriminalpsychopathologie. Berlin u.a. 1987; Hollin, Psychology and Crime. An Introduction to Criminological Psychology. London u.a. 1989; Lösel, Täterpersönlichkeit. In: KKW 1993?, 529-540; Ortmann, Resozialisierung im Strafvollzug. Theoretischer Bezugsrahmen und empirische Ergebnisse einer Längsschnittstudie zu den Wirkungen von Strafvollzugsmaßnahmen. Freiburg 1987; Rasch, Persönlichkeit und Kriminalität. In: Forensische Psychiatrie. Stuttgart u.a. 1986, 11 1-172; Saß, Psychopathie — Soziopathie — Dissozialität. Zur Differentialtypologie der Persönlichkeitsstörungen. Berlin u.a. 1987; Scheurer, Persönlichkeit und Kriminalität. Eine theoretische und empirische Analyse. Regensburg 1993; Seligman, Helplessness. San Francisco 1975 (deutsch: Erlernte Hilflosigkeit. München u.a. 1979).
- Persönlichkeitsdimensionen als Korrelate kriminellen Verhaltens
Die Erforschung der Täterpersönlichkeit setzt voraus, daß die Annahme zeitlich relativ stabiler und über verschiedene Situationen hinweg generalisierbarer Dispositionen sinnvoll ist (Konsistenzpostulat). Das sogenannte Eigenschaftsparadigma hat sich auch keineswegs als unangemessen erwiesen. Gerade bei dissozialem, aggressivem und delinquentem Verhalten scheint sogar zeitlich und situativ größere Konsistenz zu bestehen als in anderen Bereichen. Daher nimmt die täterorientierte Kriminologie an, daß bestimmte Verhaltensdispositionen, wenn nicht gar Persönlichkeitsmerkmale im Sinne allgemeiner Eigenschaften, die Begehung von Straftaten, insbesondere von Rückfallkriminalität, begünstigen, ohne normalerweise mit einer Einbuße an Verantwortlichkeit des Täters verbunden zu sein. Jedoch herrscht in der Wissenschaft darüber keine Einigkeit, ob klar trennbare Typen der sozialen Auffälligkeit und Unauffälligkeit bestehen. Deshalb befaßt sich die Nachkriegsforschung bescheidener mit den Unterschieden im Ausprägungsgrad der einzelnen Merkmale (Lösel 1993, 530 £.).
Danach weisen Rechtsbrecher hohe Ausprägungen im Bereich der emotionalen Labilität (Neurotizismus), Impulsivität, spontanen und reaktiven Aggressivität, Abenteuerlust, Unduldsamkeit, Ängstlichkeit, Depressivität, Risikobereitschaft und negativen Selbstbewertung auf sowie geringere Impulskontrolle und Neigung zur externen Ursachenzuschreibung. Die Beziehungen zwischen Kriminalität und einzelnen Persönlichkeitsaspekten sind zwar im ganzen schwach ausgeprägt, obschon nicht geringer als manche Merkmale des Sozialprofils. Trotz gewisser Widersprüche in der Befundlage deutet sich an, daß delinquenzgefährdete und amtlich bekanntgewordene Straftäter gegenüber Vergleichsgruppen etwas andere Wahrnehmungen, negativere Selbstbewertung und geringere Selbstakzeptierung aufweisen (Lösel 1993, 536 m.N.; Scheurer 1993, 247).
Der Extremgruppenvergleich zwischen den befragten Strafgefangenen und den Nichtstrafgefangenen verdeutlicht zwar, daß Persönlichkeitsunterschiede nicht zu ermitteln sind, wenn die Strafgefangenen keine oder nur ein bis zwei Vorstrafen aufweisen. Im übrigen jedoch scheinen die vorerwähnten Persönlichkeitsmerkmale Korrelate kriminellen Verhaltens zu sein, insbesondere bei jenen, die sich nach eigenen Angaben als stark kriminalitätsbelastet einstufen.
Damit stellt sich die Frage, wie sich die genannten Unterschiede im Ausprägungsgrad einzelner Merkmale erklären lassen. Der bekannteste persönlichkeitspsychologische Ansatz zur Erklärung delinquenten Verhaltens stammt von Eysenck (siehe unten 2.). Andere Forschungsansätze suchen persönlichkeits- mit sozialpsychologischen Sichtweisen zu verknüpfen.
So ergibt sich in Anlehnung an Seligmans Theorie von der erlernten Hilflosigkeit (1975; 1979, 47 ff., 52), nach der Depressivität erlernt wird, über den Lernvorgang eine Verbindung zur Entstehung abweichenden Verhaltens (vgl. Ortmann 1987, 175 ff.). Danach wird erlernt, daß gezieltes Verhalten zwecklos ist. Die Person verhält sich aufgrund dieser Lernerfahrung auch dort hilflos, wo sie die Situation oder deren Konsequenzen kontrollieren und beeinflussen Könnte.
Erlernte Hilflosigkeit und depressive Verstimmung können als Teil eines Ängstlichkeitssyndroms interpretiert werden. Der an sich erwartungswidrige Befund der Ängstlichkeit bei Mehrfachtätern traditioneller Kriminalität leuchtet ein, wenn man bedenkt, daß solche Personen gerade wegen ihrer Ängstlichkeit frühzeitig auf Bedrohungs- und Gefahrensignale aller Art durch Ausweichen, Vermeiden und Flucht reagieren sowie aus diesem Grunde wenig Übung hinsichtlich kontrollierter Reaktionen auf stärkere und unvermeidbar auftretende Signale aufweisen. Sie zeigen dann einen recht abrupten Übergang zu relativ dramatischen Reaktionen (Ortmann 1987, 380 f.). Entsprechend werden zeitliche Ausdehnung der Zukunftsperspektive und Fähigkeit zum Belohnungsaufschub geringer. Selbst Bagatelldelikte mit magerem Ertrag gewinnen einen für den Außenstehenden nicht nachvollziehbaren hohen Belohnungswert. Da die Zukunft weder vorhersagbar noch kontrollierbar erscheint, dominiert der positive Anreizwert eines ambivalent besetzten Zieles (Gelddiebstahl ./. Strafe) die aversive Komponente stärker als bei anderen Menschen.
2. Theorie unterschiedlicher Konditionierbarkeit
Eysenck hat aus seinem Persönlichkeitsmodell eine Theorie entwickelt, die aufgrund „ihrer griffigen Kompaktheit, des umfassenden Geltungsanspruchs und der Berücksichtigung neuroanatomisch-physiologischer Erkenntnisse auch außerhalb der Psychologie einen großen Bekanntheitsgrad erreicht“ hat (Amelang 1986, 131). Denn sie verspricht zugleich eine persönlichkeitstheoretische Erklärung der Delinquenz (Ortmann 1987, 76 ff., 80 ff., 101 ff.). Danach ist Ausgangspunkt der psychologische Befund, daß sich Menschen in Temperament und Denk weise nach Extra- und Introvertiertheit (Außen- und Innengerichtetheit) unterscheiden. Nach der Annahme Eysencks sollen Extravertierte im Vergleich zu Introvertierten weniger leicht konditionierte Reaktionen ausbilden. Aufgrund verminderter Konditionierbarkeit werden die sozialen Normen weniger leicht und dauerhaft übernommen. Weil Rechtsbrecher als Personen gelten können, welche wegen ihrer Hemmungen bei Konditionierungsvorgängen die gesellschaftlichen Normen im Zuge des langwierigen Sozialisationsprozesses nicht verinnerlicht haben, folgt daraus die Vorhersage einer Beziehung zwischen Extraversion und Delinquenz. Antisoziales Verhalten wird vor allem als Folge unzureichend ausgebildeter Angst- und Vermeidungsreaktionen interpretiert (Gewissen als Konditionierte Reaktion). Soziopathen sind also im Vermeidungsverhalten weniger lernfähig als andere (Lösel 1993, 533 ff.). Normverstöße, insbesondere Kriminalität, werden folglich aufgrund mißlungener Konditionierung zu erklären versucht.
Dabei verknüpft die Theorie eigenschaftspsychologische, lerntheoretische, neuro- anatomische, psychophysiologische sowie genetische Hypothesen und Ergebnisse (Lösel 1993, 533). Mitunter wird sie auch als eine Art der Kontrolltheorie begriffen (Hollin 1989, 53). Sie geht von einem Konzept der antisozialen, psychopathischen oder soziopathischen Persönlichkeit aus (Eysenck u.a. 1985, 331). Die soziopathische Persönlichkeit wird vor allem durch die drei Persönlichkeitsdimensionen
Neurotizismus (emotionale Labilität ./. Stabilität) ®e Fxtraversion ./. Introversion und ° Psychotismus
erfaßt (Eysenck 1977, 114 ff., 131 ff.). In diesen Bereichen soll sie hohe Merkmalsausprägungen aufweisen. Weil jedes Sozialverhalten auf Konditionierungsprozessen durch Eltern, Lehrer, Gleichaltriger und Partner beruht, sollen nach Eysencks Annahme derartige Prozesse auch das spätere Verhalten bestimmen. Da jedoch aufgrund schlechter Konditionierbarkeit Extravertierte häufiger mit den entsprechenden Stimuli konfrontiert werden müßten als Introvertierte, meint Eysenck, eine Disposition der Extravertierten zur Delinquenz ableiten zu können. Das ständige dissoziale Verhalten wird vor allem als Folge unzureichend ausgebildeter Furchtreaktionen verstanden. Eysenck (1977, 137) nimmt an, daß die kriminelle Tat vom Täter nicht begangen, sondern der Täter nicht an ihr gehindert werde. Die bei Delinquenten beobachtete hohe Emotionalität übernehme darüber hinaus die Funktion des Antriebes.
Danach läßt sich vermuten, daß bei Extravertierten die sozialisierenden Einflüsse geringer wirken und daß sich ferner Delinquente von Nichtstraffälligen in der stärkeren Extraversion und Emotionalität sowie durch eine weniger ausgeprägte Impulskontrolle unterscheiden. Intaktes Gewissen und soziale Verantwortlichkeit gelten demgegenüber als die entscheidenden Faktoren, welche den einzelnen vor Normverstößen bewahren.
Tatsächlich zeigen denn auch manche Untersuchungsbefunde, daß registrierte Rechtsbrecher eine stärkere Ausprägung der fraglichen Persönlichkeitsdimensionen aufweisen als Nichtregistrierte. Danach läßt sich die Theorie Eysencks zwar auf eine Reihe von empirischen Forschungsergebnissen stützen, welche die behaupteten Zusammenhänge bestätigen. Allerdings sind die Ansätze und Ergebnisse der Untersuchungen „weit davon entfernt, konsistent zu sein in dem Sinn, daß jeweils Personen mit offiziellen Registrierungen im Durchschnitt höhere Meßwerte aufweisen als Unbestrafte‘“‘; insgesamt ist die Befundlage unschlüssig (vgl. Amelang 1986, 57, 133). Teilweise sind die bisherigen Überprüfungen schon methodisch anfechtbar und die Korrelation überdies niedrig. Ferner werden jeweils nur einzelne Hypothesen und nichtindikative Zusammenhänge untersucht. Auch erscheint fraglich, ob ein allgemeines Merkmal der Konditionierbarkeit besteht. Außerdem fehlt die konzeptuelle Berücksichtigung der sozialen Umwelt für Art und Wirkungen der Konditionierung (Amelang 1986, 133; Ortmann 1987, 82). Vor allem ist noch präzisierungsbedürftig, warum sich soziopathische Persönlichkeiten in den meisten Lebensbereichen normkonform verhalten und Kriminalität mit dem Lebensalter deutlich abnimmt (zum Ganzen Lösel 1993, 530 ff.). Trotz ihrer Schwächen ist aber die Eysencksche Theorie noch immer anregend und bedeutsam (Hollin 1989, 59).
3. Psychopathologische Ausprägungen
Handelt es sich um Neigungs- oder Rückfalltäter, so pflegt man hauptsächlich psychopathologische oder psychiatrische Kriterien zur Beurteilung der Täterpersönlichkeit heranzuziehen. Danach gelten als Psychopathie jene Abweichungen von der „Durchschnittsbreite von Persönlichkeiten“, bei denen die Person unter ihrer und die Gesellschaft unter deren Abnormität leidet (Göppinger 1997, 233 f. in Anlehnung an K. Schneider). Hiermit sind Ausprägungen von Persönlichkeitsstörungen nicht-somatischer Art gemeint, die angeboren oder aufgrund einer abnormen Anlage lebensgeschichtlich entstanden sind. Sie betreffen hauptsächlich charakterologische Abweichungen, die sich auf das soziale Leben störend auswirken (Blau 1984, 9).
Jedoch treffen derart charakteristische Ausprägungen nur auf einen kleinen Teil der Menschen zu, auf Straffällige wie auch auf andere
Personen. Im ganzen handelt es sich um uneinheitlich diagnostizierte, persönlichkeitstypologische Verallgemeinerungen. Wegen ihrer geringen Zuverlässigkeit und der Unmöglichkeit klarer Grenzziehung aufgrund vieler Mischformen und Überschneidungen mit neurotischen Erscheinungen haben sie in der Gegenwart wissenschaftlich an Bedeutung verloren. Ihre Erklärung wird zur Tautologie, wenn die Straffälligkeit die psychiatrische Diagnose mitbestimmt (weitere Bedenken bei Schneider 1987, 392 ff.). Ähnliche Einwände begegnen dem angloamerikanischen Konzept der antisozialen, soziopathischen oder dissozialen Persönlichkeit (zuversichtlich hingegen Saß 1987). Obschon die Weltgesundheitsorganisation in ihrem Internationalen Diagnoseschlüssel nicht mehr an den Differenzierungen der „Psychopathie“ festhält, besteht hierfür offenbar ein praktisches Bedürfnis, das nicht ignoriert werden kann (vgl. Hollin 1989, 117). Doch die „kopernikanische Wende“, die in der Persönlichkeitsforschung zu neuen Einsichten führen könnte, steht noch aus. Daher sieht man sich alsbald auf die Analyse der Sozialprofile und Bezugsbereiche von Rechtsbrechern, verglichen mit Kontrollgruppen, weiterverwiesen. Hierbei handelt es sich freilich nicht mehr um die Frage nach reinen Persönlichkeitsdimensionen, sondern um jene nach sozialen Merkmalen.
§ 28 Theorie unterschiedlicher Sozialisation und Sozialkontrolle
Schrifttum: Akers, Self-Control as a General Theory of Crime. JQuantCrim 7 (1991), 201-211; Amelang, Sozial abweichendes Verhalten. Berlin u.a. 1986; Bandura, Social Learning Theory. Englewood Cliff/N.J. 1977; Bock, Kriminologie und Spezialprävention. ZStW 102 (1990), 504-533; Braithwaite, Crime, Shame and Reintegration. Cambridge u.a. 1989; Edelstein u.a., Beziehungen über Zeit und Raum hinweg. MPG-Spiegel 2 (1989), 3-6; Elliott, The Assumption that Theories Can be Continued with Increased Explanatory Power: Theoretical Interpretation. In: Theoretical Methods in Criminology, ed. by Meier. Beverly Hills u.a. 1985, 123-149; Göppinger, Der Täter in seinen sozialen Bezügen. Heidelberg u.a. 1983; Gottfredson/Hirschi, A General Theory of Crime. Stanford/ Ca. 1990; Haage, Theorien der sozialen Kontrolle und des sozialen Lernens in der Kriminologie: eine kritische Bestandsaufnahme des Beitrags der Kontrolltheorien und ausgewählter anderer Theorien zu einer Theorie des sozialen Lernens in der Kriminologie. Frankfurt/M. 1995; Hirschi, Causes of Delinquency. Berkeley 1969; Lamnek, Wider den Schulenzwang. Ein sekundäranalytischer Beitrag zur Delinquenz und Kriminalisierung Jugendlicher. München 1985; Mawson, Transient Criminality: A Model of Stress-induced Crime: Westport/CT 1987; Meier, Crime and Society. Boston u.a. 1989; Niggli, Kriminologische Theorien und ihre Bedeutung für die Kriminologie in Deutschland, der Schweiz und den USA – Ein empirischer Vergleich. MschrKrim 72 (1992), 261-277; Nunner- Winkler, Zur moralischen Sozialisation. KZfSS 44 (1992), 252-272; Otto, Generalprävention und externe Verhaltenskontrolle. Freiburg 1982; Reiss, Delinquency as a Failure of Personal und Social Controls. ASR 16 (1951), 196 ff.; Rössner, Was kann das Strafrecht im Rahmen der Sozialkontrolle und der Kriminalprävention leisten? Überlegungen zu einer neuen theoretischen Grundlegung. In: Kriminalprävention und Kriminaljustiz, hrsg.v. Jehle. Wiesbaden 1996, 203-225; Tittle, Two Empirical Regularities (Maybe) in Search of an Explanation: Commentary on the Age/Crime Debate. Criminology 26 (1988), 75-85; Tyler, Why People Obey the Law. Newhaven u.a. 1990; Walter, J ugendkriminalität. Stuttgart u.a. 1996; Wiatrowski/Anderson, The Dimensionability of the Social Bond. JQuantCrim 3 (1987), 65-81; Wiswede, Soziologie abweichenden Verhaltens. Stuttgart u.a. 1979°.
Möglichkeiten der Erklärung bestehen vor allem im Kontext der Lern-, Sozialisations- und Kontrolltheorien, wenn es gelingt, institutionelle und viktimologische Aspekte integrativ einzubinden. Die auf dem Konzept der Sozialkontrolle beruhenden Kontrolltheorien wollen wieder bei der von Hobbes im „Leviathan‘“ gestellten Ausgangsfrage nach dem Ursprung sozialer Ordnung anknüpfen, nämlich erklären, warum Menschen den Normen Gehorsam leisten (dazu Tyler 1990). Aufgrund der sozialpsychologischen Erkenntnis, daß Aggression und Verfehlung zu den Grundmerkmalen des Menschen zählen, fragen die Vertreter des kontrolltheoretischen Ansatzes nicht primär danach, warum sich Menschen sozialschädlich verhalten, sondern untersuchen vielmehr, wie normkonformes Verhalten erworben wird.
Jede Gesellschaft hat ein besonderes Interesse daran, daß sich Personen nach bestimmten Werten und Normen richten. Um dies zu erreichen, bedarf es der sozialen Kontrolle (dazu eingehend oben § 10, 2). Dabei kann man begrifflich interne von externer Kontrolle unterscheiden. Weil interne Kontrolle durch Sozialisation vermittelt wird, verdient dieser Prozeß theoretische Vertiefung, eine Aufgabe, der sich die Sozialisationstheorie angenommen hat.
- Aussage und Anspruch der Sozialisationstheorie
Sozialisation meint bekanntlich den Vorgang, in dem der Mensch die Normen, Werte und Orientierungen der Gruppe, der er angehört, erlernt. Sie ist das durch die soziale Umwelt vermittelte Lernen von Verhaltensweisen, Denkstilen, Gefühlen, Kenntnissen, Motivationen und Werthaltungen. Der Lernvorgang erfolgt durch Beobachtung, Nachahmung, Vergleich, Vermeidung, Einübung und Einsicht. Er kann verstärkt und geschwächt werden (dazu eingehend Bandura 1977; Haage 1995, 239ff., 389). Als Sozialisationsziele gelten die Erlangung von intellektuellen Fähigkeiten und Selbstsicherheit, Leistungsmotivation, Gewissensbildung, Fähigkeit und Bereitschaft zur produktiven Konfliktbewältigung und Solidarität.
Sozialisationstheoretische Konzepte kennen allerdings unterschiedliche Akzentuierungen.
° Sobetonen Soziologen mehr den äußeren sozialen Zusammenhang der Sozialisation, etwa die besonderen Sozialisationsbedingungen unterer Sozialschichten oder bestimmter Subkulturen. ®e Psychologen, insbesondere Entwicklungspsychologen, legen vor allem Gewicht auf die Ausgestaltung kognitiver Kontrolle mit Blickrichtung auf die Ausformung einer autonomen Moral. Sie betonen demgemäß den Sozialisationsprozeß für die Entwicklung moralischer Grundwerte. ® Psychoanalytiker richten bei ihrer Erklärung ihre Aufmerksamkeit auf triebdurchbrüchiges Verhalten, auf Fixierungen der frühkindlichen Sexualentwicklung sowie auf fehlende Steuerung durch verinnerlichte Kontrollen (Über-Ich- Lücken). ® Lerntheoretisch orientierte Ansätze, sei es innerhalb der Soziologie oder Psychologie, unterstreichen schließlich den allmählichen Aufbau von Verhaltensmustern durch die Wirkung von Belohnung und Bestrafung, wobei komplizierte Lernprozesse wie Modellernen, Erwartungslernen, Vergleichslernen und Hypothesenlernen einbezogen werden.
Auch wenn keines der Sozialisationsmodelle Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, besteht Einigkeit darüber, daß jede neue Generation „eine Invasion von Barbaren“ (Parsons) darstellt, die es zu sozialisieren, zu enkulturieren gilt, und daß in diesem Prozeß die Vermittlung normativer Orientierungen zentral ist. Zumindest auf der Mikroebene gibt es so etwas wie „Moral“ (Nunner-Winkler 1992, 252). Die persönliche Aneignung von moralischen Normen ist allerdings ein differentieller Lernprozeß.
Alle Kinder lernen, welche Normen gültig sind; Kinder und Erwachsene aber unterscheiden sich in ihrer moralischen Motivation, in der Geschwindigkeit des Aufbaus, in der Intensität und im Typus moralischer Motivation, d.h. in den Gründen, die dazu bewegen, Moralnormen folgen zu wollen: Einige (dies entspricht dem Konditionierungsmodell) wollen Sanktionen vermeiden, andere lassen sich durch Empathie mit dem Opfer motivieren; etliche (und dies entspräche dem Überich- bzw. S-Überformungsmodell) wollen ein schlechtes Gewissen und Schamgefühle vermeiden. Viele aber wollen die Regel befolgen, einfach deswegen, weil die Regeln gültig sind und weil es gut ist, das Rechte zu tun. Daß dieses Motiv bereits bei Kindern nachweisbar ist, belegt die Notwendigkeit, die tradierten sozialisationstheoretischen Erklärungen um ein Modell moralischen Lernens zu ergänzen, in dem Freiwilligkeit und Einsicht einen Platz haben (Nunner- Winkler 1992, 268).
Erfolgt der Vermittlungsvorgang — gemessen an den herrschenden Erwartungen – nicht richtig oder unvollständig, so kann der Mangel zu Norm- und Verhaltenskonflikten und damit auch zu Verletzungen des Strafgesetzes führen. Entsprechendes gilt im Fall der Übernahme von Neutralisierungstechniken, um das abweichende Verhalten zu legitimieren (z.B. Schutzbehauptungen wie „die anderen sind auch nicht anders oder gar noch schlimmer“). Demgegenüber pflegen sich bei normverletzenden Sozialisierten Gewissensbisse‘und Schuldgefühle einzustellen. Hier setzt denn auch die sogenannte Schamtheorie ein, die das Gefühl des Schämen-Müssens verstärken möchte (vgl. Braithwaite 1989). Schon Kinder lernen, das politische System als Teil des Sozialisationsprozesses diffus zu unterstützen. Wiederholte Fehlschläge des politischen oder Rechtssystems können allerdings diese diffuse Unterstützung beeinträchtigen. Immerhin bietet die Sozialisation eine Art Kissen affektiver Bindung, das die Akzeptanz aufrechtzuerhalten hilft (Tyler 1990, 176 f.). Danach leuchtet ein, daß etwaige Defekte des Sozialisationsprozesses sich besonders bei denjenigen äußern, die als soziale Abweicher und Rechtsbrecher in Erscheinung treten. Tatsächlich hat denn auch die Forschung reiche Beobachtungen und Belege erbracht, die sich als Sozialisationsmängel interpretieren lassen. Besonders bei Jugendlichen, Alten und Frauen sowie bei sozialen Randgruppen und Mehrfachtätern erweist das Konzept seine Erklärungskraft. Dementsprechend wird das negativ auffällige Sozialverhalten derartiger Populationen im neueren Schrifttum vor allem im Lichte der Sozialisationstheorie gesehen (vgl. Lüderssen 1984, 97 £.; Amelang 1986, 53; Walter 1995, 57 ff.; Kürzinger 1996, 85 ff.; Rössner 1996, 206 ff.; Schwind 1996, 160 ff.).
2. Grenzen und Kritik
Dennoch kann das Sozialisationskonzept, und zwar auch dann, wenn es als differentielle Sozialisationstheorie begriffen wird, als eine integrierende Theorie der Kriminalität nicht ganz befriedigen. Wir beobachten nämlich einen zahlenmäßig beachtlichen Teil von Rechtsbrechern – besonders im Falle der Verkehrsdelinquenz sowie der Delikte gegen Bürokratien einschließlich „zivilem Ungehorsam“ und bei sogenannten Opferlosen Verbrechen -, die lediglich einmal oder nur äußerst selten straffällig werden und die sich ohne größere soziale Intervention allgemein angepaßt und rechtstreu verhalten. Wie vor allem die Kohortenstudien zeigen, macht der Anteil derer, die mit der Polizei in wiederholte Kontakte geraten, nur etwa die Hälfte der jungen Tatverdächtigen aus. Die große Zahl der Verkehrsdelinquenten und der Wirtschaftskriminellen ist wiederum so gut sozialisiert, daß deren Entdeckung und Identifizierung erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Die Befunde der Dunkelfeldforschung verdeutlichen überdies, daß es keine Sozialisation gibt, die Kriminalität unter allen Umständen und in sämtlichen Konfliktlagen ausschließen würde. Andernfalls wäre sie Ausdruck einer starren, geschlossenen Welt, die sich kaum als überlebensfähig erwiese. Bei Tätern mit „normaler“ Sozialisation läßt sich also die Zufälligkeit oder Singularität des Rechtsbruchs sozialisationstheoretisch nicht erklären, es sei denn als Neutralisation oder als Überforderung und Normalität (zu einem streßbedingten Modell temporärer Bindungslockerung an sich rechtstreuer Personen Mawson 1987). Aber auch eine solche Annahme ließe sich empirisch im wesentlichen nur für die minderschwere Kriminalität stützen.
Darauf mag es beruhen, daß man bei statushohen Kriminellen wie etwa bei „korrupten Politikern“ so selten nach der Sozialisation zu fragen pflegt. Denn hier geht es nicht mehr um die möglicherweise entlastenden Sozialisationsmängel, sondern steht bereits die Legitimation der gesellschaftlichen Ordnung oder der politischen Kultur auf dem Spiel (zur Korruption Näheres oben § 23, 4). Ein Einwand gegen die Aussagekraft der Sozialisationstheorie läßt sich aber daraus nicht herleiten. Ähnlich verhält es sich mit der Kritik, die sich gegen die vermeintliche Selbstverständlichkeit oder Banalität sozialisationstheoretischer Aussagen wendet (so etwa Bock 1990, 504 ff.). Damit sollen freilich die Aussagegrenzen der Sozialisationstheorie nicht verkannt werden.
3. Konsequenzen und Weiterführung
Gibt es aber keine Sozialisation, und d.h. keine interne Kontrolle, die gegen kriminelles Verhalten stets und in allen Konfliktlagen immunisiert, so bleibt das Sozialisationskonzept ergänzungsbedürftig. Immer dann, wenn Personen sich durch Verinnerlichung der Werte nicht selbst kontrollieren (dazu Reiss 1951, 198 ff.), wird insoweit äußere Kontrolle durch besondere Organe notwendig, um die zum sozialverträglichen Zusammenleben erforderliche Verhaltenskonformität zu gewährleisten. Nur in einem Sozialsystem, in dem alle Menschen das wollten, was sie sollten und auch danach handelten, bestünde kein zusätzlicher Kontrollbedarf. Externe Verhaltenskontrolle wird jedoch dann erforderlich, wenn° verinnerlichte Kontrollen fehlen oder abweichende Normen verinnerlicht sind, e der Anreiz kriminellen Verhaltens hoch ist und damit auch die Neigung zur Neutralisation wächst, ® Überforderungssituationen eintreten oder e die bisherige Normierung von der Bevölkerung angezweifelt wird, an verhaltensprägender Kraft verliert oder eine neue nicht oder nur zögernd angenommen wird.
In diesem Fall müßten Formen und Strukturen externer Verhaltenskontrolle verändert werden, während in den erstgenannten Fällen auch der Sozialisationsbedarf nachzuholen und zu decken wäre.
Nach unseren Erfahrungen ist der Mensch moralisch nicht so stark festgelegt, daß er sich auch dann konform verhält, wenn sich dies für ihn nachteilig auswirkt (Beispiel Drogenkonsum), wie Funktionalisten und Kriminalökonomen behaupten, sondern von inneren Kontrollen weitgehend frei. Konformes Verhalten wird daher grundsätzlich erst durch externe Kontrollen erzeugt; Kriminalität ist folglich Ergebnis der Abwesenheit von Disziplinierungskräften. Da aber weder der Funktionalismus noch die Konflikttheorie zufriedenstellende Antworten auf das Hobbessche Ordnungsproblem gefunden haben, versucht man, die Bedingungen sozialkonformen Verhaltens neu zu bestimmen.
4. Aussage und Anspruch der Kontrolltheorie
Als theoretisch bedeutendster soziologischer wie empirischer Beitrag der letzten Jahrzehnte hat die Kontrolltheorie von Hirschi (1969) in der Kriminologie breite Zustimmung gefunden (vgl. Niggli 1992 m.N.). Das von Hirschi vertretene Konzept gehört zu der Gruppe der sogenannten Bindungstheorien, d.h. denjenigen Theorien informeller Sozialkontrolle, die den Grad der Einbindung des Individuums in die Gesellschaft als Maßstab für die Angepaßtheit seines Verhaltens zugrunde legen.
Bindungen sind affektive Beziehungen über Zeit und Raum hinweg. Beim Eingehen einer Bindung erleben wir einige unserer stärksten Gefühle. Die Erfahrung einer neuen Bindung entspricht subjektiv dem Gefühl des Sich-Verliebens. Eine alte Bindung aufrechtzuerhalten oder zu erneuern, gibt uns das Gefühl von Glück und Zufriedenheit. Einmal etabliert bleiben Bindungsmuster über die Zeit meist ziemlich stabil. Unter bestimmten Umständen können sich Bindungsmuster indessen verändern, z.B. durch den Eintritt neuer Lebensereignisse wie Geburt oder Tod, durch Therapie oder durch Eingehen neuer Beziehungen. Der Verlust einer Bindung führt in der Regel zu Gefühlen von Wut, Schmerz und Trauer.
Bindungen lassen sich am besten verstehen, wenn man die Bedingungen berücksichtigt, unter denen sie zustandegekommen sind. Bindungen stammen anscheinend aus der Stammesgeschichte der Menschheit. Sie hatten ursprünglich die Funktion, den Nachwuchs vor Raubtieren zu schützen. Ein Kind, das an eine erwachsene Person gebunden ist, hat bessere Chancen, Schutz vor Raubtieren zu finden, und verfügt deswegen über höhere Lebenschancen als ein Kind ohne Bindungen.
Bindungsbeziehungen unterscheiden sich jedoch in ihren Qualitäten. Welche Güte eine Bindungsbeziehung hat, hängt von der Qualität der Interaktionen zwischen den Bindungspartnern ab. So gesehen sind Bindungen nicht Eigenschaften von Personen, sondern von Beziehungen. Ein Kind kann – je nach Art der Interaktion — ein Bindungsmuster zu seiner Mutter und ein ganz anderes Bindungsmuster zu seinem Vater haben (zum Ganzen Edelstein u.a. 1989, 3 ff.).
Wenn dieses „Band“, das unseren Sinn für Verpflichtung und Schuld definiert, brüchig oder neutralisiert wird, dann ist auch kriminelle Abweichung zu erwarten. Der Bindungslose ist „free to deviate“ (Hirschi 1969, 34). Bindungen werden von Hirschi auf vier relevanten Ebenen erblickt:
Nach der Grundannahme wird das Verhalten durch das emotionale Band, welches das Individuum mit Bezugspersonen verbindet, bestimmt (attachment to meaningful persons). Auf ihm beruht die Verpflichtung gegenüber dem anderen und die Bedeutung der persönlichen Beziehungen für die Gestaltung des eigenen Lebens. Mit der rationalistisch geprägten Komponente der Kontrolltheorie (commitment to conventional goals) wird die subjektive Seite einer Kosten-Nutzen-Analyse und die Antizipation der Folgen eigenen Handelns beschrieben.
Weiter geht die Annahme dahin, daß jemand, der durch konventionelle Tätigkeiten (involvement in conventional activities) in Anspruch genommen wird, kaum Zeit und Gelegenheit findet, sich in kriminellen Aktivitäten zu engagieren. Sie stellt damit auf sinnvolle Freizeit und mangelnde Gelegenheit zu delinquentem Verhalten ab. Auf der anderen Seite wird in der fehlenden Integrierung in konventionelle Aktivitäten der Schule oder des Berufs die fehlende Bindung an die Gesellschaft erblickt.
Die vierte Komponente schließlich enthält die Anerkennung gesellschaftlicher Spielregeln und die Billigung des (konventionellen) gesellschaftlichen Wertsystems, also den Normkonsensus (belief in social rules). Im Gegensatz zu den Konflikttheorien nehmen die Kontrolltheoretiker das Bestehen eines gemeinsamen Wertsystems innerhalb der Gesellschaft an, deren Normen durch Rechtsbrecher verletzt werden (Hirschi 1969, 23). Stärke und Wirksamkeit der Orientierung an den bestehenden Werten sind allerdings von der Kraft anderer Bindungen an die gesellschaftliche Ordnung abhängig.
Wie immer man die Bedeutung der einzelnen Bindungskomponenten einschätzen mag, es läßt sich nicht verkennen, daß deren Fehlen oder Schwächung häufig mit kriminell-abweichendem Verhalten zusammentrifft. „Die Kontrolltheorie von Hirschi formuliert nicht nur weithin dasjenige, was Laien zur Kriminalitätsgenese erwarten und auch bei der Erziehung gewöhnlich berücksichtigen, sondern auch originäre Faktoren, die allerdings seltener überprüft wurden.“ Obwohl die Zahl der angenommenen kriminogenen Determinanten mit vier sehr gering ist – von Amelang (1986, 191 ff.) als Anbindung, Vereinbarung, Einbindung und Werthaltungen gekennzeichnet -, gestattet die Kontrolltheorie, „eine große Bandbreite sehr unterschiedlicher Variablen zu organisieren“. Sie ist „deshalb nicht nur von hohem integrativem, sondern auch heuristischem Wert“. Eine Kombination mit oder Einfügung in andere Konzepte ist unschwer möglich (Amelang 1986, 206).
So gelten nach der Tübinger Langzeituntersuchung „strukturlose Freizeitgestaltung“ und das „ungebremste Leben im Augenblick“ sowie der „Übersprung in der Ausdehnung der Freizeit auf die Leistungsbereiche‘‘ als charakteristische Merkmale der wiederholt Straffälligen im Vergleich zur Normalpopulation (Göppinger 1983, 136, 170). Als entscheidend wird mit Recht der Unterschied in der Fähigkeit angesehen, feste persönliche Bindungen einzugehen.
Das „ungebremste Leben im Augenblick“ von wiederholt straffälligen Personen ist also durch kurze Zeitperspektiven, mangelnde Realitätskontrolle und fehlende Lebensplanung gekennzeichnet. Die Suche nach sofortiger Befriedigung spontaner Bedürfnisse ist mit geringer Ausdauer und Belastbarkeit verbunden, ferner mit inadäquat hohem Anspruchsniveau, paradoxen Anpassungserwartungen und ausgeprägter Forderung nach Ungebundenheit. Jedoch führen regelmäßig nicht einzelne dieser Kriterien, sondern der gesamte unstete Lebensstil zu Gefährdungen. Die Tübinger Untersuchungsergebnisse beruhen auf breit angelegten multidisziplinären Erhebungen (zusammenfassend Göppinger 1997, 31 ff.). Sie dekken sich weitgehend mit anderen europäischen und amerikanischen Forschungen. Dieser Sachverhalt zählt überdies seit langer Zeit zum festen Wissen kriminologischer Erfahrung.
5. Grenzen und Kritik
Die Kontrolltheorie kann auf die Mitglieder der verschiedensten sozioökonomischen Schichten bezogen werden. Sie vermeidet damit den normalerweise engen Aussagebereich sozialkultureller Konzepte. Au- Berdem ist sie empirisch überprüfbar; der Grad der Einbindung des Individuums in die Gesellschaft kann also gemessen werden. Allerdings ist die Zahl der vier erfaßten kriminogenen Determinanten sehr gering. Die Qualität der Bindungsbeziehungen, insbesondere die Unterschiedlichkeit der Bindungsmuster (etwa „sicher‘ oder „unsicher‘“‘), werden nur grob erfaßt (anders hingegen die Studie von Edelstein u.a. 1989, 4). Auch über die Entwicklung von Bindungen oder die Entstehung von Bindungslosigkeit gibt die Kontrolltheorie wenig Auskunft (vgl. Tittle 1988, 81, 83). Die Gründe, die den einzelnen dazu bewegen, Rechtsverletzungen zu begehen, werden nicht näher spezifiziert, insbesondere dann nicht, wenn es trotz Bestehens emotionaler Bande zu kriminell abweichenden Eltern oder trotz allgemeiner Bindung zu Mitmenschen, jedoch wegen fehlender oder versagender externer Kontrolle zur Kriminalität kommt (z.B. im öffentlichen Straßenverkehr) oder wenn schließlich Techniken der Neutralisierung situativ eine kriminelle Problemlösung zu rechtfertigen scheinen (z.B. Konflikttaten wie den Schwangerschaftsabbruch oder die Umdeutung als zivilen Ungehorsam). Denn die Motivation zur Delinguenz wird für alle Menschen als gleich unterstellt. Der Peer-group-Einfluß gilt als ebenso bedeutsam wie andere soziale Lernprozesse. Soweitman die sozialisationstheoretische Annahme, insbesondere der Gewissensbildung durch Normverinnerlichung, ablehnt, wird hierin zu Recht eine der Schwächen kontrolltheoretischer Theoriebildung erblickt. Spielt nicht Normkonformität oder Devianz der relevanten Bezugspersonen, sondern nur die Intensität der Anbindung an jene eine Rolle, wie Hirschi meint, so widerspricht dem die Erfahrung, vor allem nach dem Wissen über soziales Lernen (Amelang 1986, 193). Der empirische Bewährungsgrad ist denn auch nicht sehr hoch (Meier 1989, 146). Demgemäß vermag die Theorie auch nicht jene Fälle zu erklären, in denen eine Person trotz Fehlens konventioneller Bindungen keine Rechtsbrüche begeht, da es an entsprechender Motivation mangelt. Die Kontrolltheorie setzt affektive und kognitive Bindungen lediglich als Bedingungen für normkonformes Verhalten voraus. Daher bleibt sie in zwei Richtungen ergänzungsbedürftig:
e Einmal müssen die Unterschiede in Entstehung und Erwerb, aber auch in Schwächung, Neutralisierung und Verlust von Bindungen erklärt sowie die Qualitäten der Bindungsbeziehungen näher erfaßt sowie ° zum anderen die Funktionstüchtigkeit der externen Verhaltenskontrolle theoretisch mit einbezogen werden.
6. Ergänzung durch Verknüpfung
Zur Entstehung und damit zur Erklärung von Bindung oder Bindungslosigkeit erweist sich das Sozialisationskonzept als hilfreich (auf die Vereinbarkeit der Konzepte weisen Gottfredson/Hirschi 1990, 269, 272 ff., sowie kritisch Akers 1991, 209, ausdrücklich hin). Trotz mancher Schwächen bleibt das Sozialisationskonzept dafür geeignet. Denn es betont den Zusammenhang mit einer allgemeinen Theorie sozialen Lernens und rückt die Entwicklung von Bindungen in den Mittelpunkt. Soziale Lernprozesse, aber auch individuelle Merkmale und die emotionalen Beziehungen eines Menschen zu seiner Umwelt von Geburt an können erklären, wie Bindungen zustandekommen, wie intensiv sie sind, ferner wie sie aufrechterhalten und gefestigt werden. Theorieelemente der Sozialisation, der Moralentwicklung und externen Sozialkontrolle treffen danach zusammen. Sie betten die deskriptiv begriffenen kriminoresistenten oder kriminovalenten Konstellationen (dazu Göppinger 1997, 379 ff.) theoretisch ebenso ein, wie sie die vielschichtige Genese der sogenannten Integrationsprävention (dazu oben § 13, 4) verdeutlichen. Es handelt sich also um eine integrierende Perspektive, die dem sozialpsychologischen Theoriebestand entstammt (vgl. Elliott 1985 129 £., Meier 1989, 155; Schwind 1996, 160 ff.).
Danach haben z.B. jüngere und ältere Menschen, Männer und Frauen verschiedene Sozialisationserfahrungen. Diese führen zu unterschiedlich starken Bindungen an die herrschende Ordnung. Auf Vertrauen beruhende Bindungen aber stellen innere Kontrollen oder Sicherungen gegen Abweichung dar. Einmal etabliert, bleiben Bindungsmuster über die Zeit meist ziemlich stabil. Je fester die individuellen Normbindungen sind, desto intensiver mißbilligt das Gewissen die Abweichung, desto stärker „schämt‘“ man sich und desto wahrscheinlicher ist die Bewahrung vor Kriminalität. Alte Bindungsmuster können sich indessen durch Eintritt neuer Lebensumstände, durch das Eingehen neuer Beziehungen, aber auch durch gezielte Intervention (Therapie) verändern. Ferner können Vertrauensverluste, Überforderungen, Streß (vgl. Mawson 1987) und Kulturkonflikte Bindungen schwächen. Die Stärke der Bindungen bleibt daher nicht unabänderlich, sondern wird durch spätere Erfahrungen mit den Mitmenschen, ferner durch Erfolg und Mißerfolg in Schule und Beruf sowie Familienzusammenhalt und -krise beeinflußt.
Die Kontrolltheorie geht über andere Bindungskonzepte insoweit hinaus, als sie im Zusammenhang mit der rationalen Bindungskomponente die externe Verhaltenskontrolle ausdrücklich bejaht (vgl. Otto 1982, 64). Verhalten wird danach durch seine Konsequenzen kontrolliert und ist auch durch diese weithin erklärbar. Damit teilt die Kontrolltheorie das Interesse an der sozialen Reaktion gemeinsam mit dem Labeling approach oder sozialen Reaktionsansatz, jedoch mit unterschiedlicher Motivation und Begründung. Erscheinen dem Labeling approach Kriminalsanktionen aufgrund der Ungleichverteilung von Macht und Handlungskompetenz grundsätzlich als verdächtig, so den Kontrolltheorien geradezu als existentiell notwendig, um Verhaltenskonformität zu erreichen oder um — anders gewendet — die latente Bedrohung eines jeden Sozialsystems durch den „Kampf aller gegen alle“ zu verhindern. Zugleich setzen damit die Kontrolltheorien wieder am Ursprung, demraison d’ätre aller Sozialtheorie, an. So werden denn auch die Wurzeln der Kontrolltheorie in der Ausgangsfrage Durkheims erblickt, wie in hochdifferenzierten und durch Arbeitsteilung gekennzeichneten Gesellschaften die soziale Ordnung gewährleistet werden kann (Meier 1989, 142). Durkheim suchte die Antwort in dem Begriff der Integration und der Bindung an gesellschaftliche Gruppen. „Integration“ und „Bindung“ tragen auch in der modernen Theoriebildung der Kriminologie begründet zur Entschlüsselung normkonformen wie abweichenden Sozialverhaltens bei. Als aussagekräftig erweisen sich besonders jene Komponenten der Kontrolltheorie, welche die emotionale Bindung zu nahen Bezugspersonen, die Verknüpfung mit konformen Aktivitäten und die gemeinsame Wertüberzeugung betonen. Je nach Stärke oder Schwäche der Bindung wird auch die strafrechtliche Sozialkontrolle zu unterschiedlichen Interventionen herausgefordert. Die sehr differenziert vorgehende Selektionspraxis der strafrechtlichen Kontrollinstanzen trägt dem überwiegend alltagstheoretisch Rechnung.
Dennoch gehört es zu den unaufgebbaren Wahrheiten des Labeling approach, auf Ungleichheiten und dysfunktionale, ja mißbräuchliche Handhabung staatlicher Sanktionierung hingewiesen zu haben. Hinter dieser Blickschärfung stehen fundamentale Prinzipien unserer Gesellschaft. Darauf soll und darf nicht verzichtet werden. Jede Strategie zur Intensivierung externer Verhaltenskontrolle wird sich daran messen lassen müssen. Allein in der Kraft zur Erklärung, wie und warum es zu straffälligem Verhalten überhaupt kommt, und in der praktischen Leistungsfähigkeit ist die Theorie von der unterschiedlichen Sozialisation und Sozialkontrolle an Reichweite anderen Konzepten überlegen. Denn sie vermag nicht nur unterschiedliche Kriminalitätsbewegung, Werdegang des Rechtsbrechers, Situation des Rechtsbruchs und soziales Reaktionsverhalten zu erklären, sondern auch die Frage zu beantworten, warum trotz sozialstruktureller Unterschiede der Großteil der Menschen überwiegend rechtskonform handelt (dazu vor allem Reiss 1951, 196; Hirschi 1969, 34; Wiatrowski/Anderson 1987, 66 ff.). Im Gegensatz zur Anomietheorie oder zum Labeling approach deckt sie nicht nur ein Präventionsfeld ab, sondern erfaßt kriminogene Strukturen sowohl im Bereich der primären als auch in den Feldern der sekundären und tertiären Prävention. Überdies ermöglicht sie die Begegnung mit den ihr entsprechenden Straftheorien der Resozialisierung und integrativen Generalprävention. Jenen Konzepten und ihrem systematischen Ort muß im gedanklichen Zusammenhang externer Verhaltenskontrolle die Aufmerksamkeit gelten. Hier soll zunächst den Sozialmerkmalen der Rechtsbrecher nachgegangen werden. Wie die Unterschiede zu Kontrollgruppen erkennen lassen, sind derartige Kriterien, die sich zu anomischen Syndromen verknüpfen lassen, offensichtlich erklärungsbedürftig.
§ 29 Sozialprofile
Schrifttum: Göppinger, Der Täter in seinen sozialen Bezügen. Ergebnisse aus der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung. Heidelberg 1983; Kerner u.a., From Child Delinquency to Adult Criminality. EuroCriminology 8-9 (1995), 127-162; Sarnecki u.a., Predicting Social Maladjustment. Stockholm 1985; West/Farrington, The Delinquent Way of Life. 3rd Report ofthe Cambridge Study in Delinquent Development. London 1977.
- Allgemeine Zusammenhänge und anomische Syndrome
Zwar sind nach der neueren Forschung Persönlichkeitsmerkmale für Straffällige nur in geringer Ausprägung zu sichern. Dennoch läßt sich nicht verkennen, daß die registrierten Rechtsbrecher, insbesondere die Mehrfachtäter, nicht in der gesamten Bevölkerung gleichmäßig, sondern asymmetrisch und überdies nach Schwerpunkten verteilt sind. - So unterscheidet sich die Delinquenzbelastung der jungen Generation von jener der älteren, die der Männer von der der Frauen, die negativ soziale Auffälligkeit der Randseiter von jener der Majoritätsgruppe, die Straffälligkeit in der Unterschicht von jener in der oberen Schicht und schließlich die Kriminalitätshäufung bei beruflich und sozial Gescheiterten verglichen mit der Normalpopulation oder mit den sozial besser Plazierten. Nach den Untersuchungsbefunden sowie nach den Erfahrungen der Sozialarbeiter, Polizeibeamten, Strafrichter und des Strafvollzugspersonals treffen bei den bekannt gewordenen Rechtsbrechern folgende Sozialmerkmale häufig zusammen: gestörte Familie, wiederholter Wechsel der Pflegestelle oder Beziehungssituation im Kindes- und Jugendalter, intellektuelle Minderbegabung, Zurückbleiben in der Schule, berufliches Scheitern, intergenerationeller Abstieg, niederer sozialer Status (z.B. Ungelernter, Hilfsarbeiter), Freizeit überwiegend außerhalb der Familie und mit Altersgenossen.
- Mit der Häufung derartiger Merkmale wächst die diagnostische und prognostische Aussagekraft, und zwar unabhängig davon, ob man ihnen kriminogene oder symptomatische Bedeutung zuerkennt. Da nicht bei allen Rechtsbrechern dieselben Kombinationen bestehen, versucht man, nach der Verteilung von Merkmalsbündelungen zu forschen. Derartige Bestrebungen haben bei der Erklärungssuche zu Syndrombildungen und bei der sozialen Voraussage zu sogenannten Strukturprognosetafeln geführt. Je nach Lage und Zusammentreffen kann man die Merkmalskombinationen zu anomischen Syndromen zusammenfassen. Man wird dabei an Zeichen der Verwahrlosung, der Fehlanpassung, der Unreife und des Sozialisationsdefekts denken. Die Forschung hat sie über Jahrzehnte hinweg immer wieder bei den Gruppen negativ Sozialauffälliger ausgewiesen (vgl. z.B. die Befunde von West/Farrington 1977; Göppinger 1983, Kerner u.a. 1995, 154 £f.).
Eine schwedische Untersuchung (Sarnecki 1985, 23 f.) hat für jene Personen ein besonders hohes Risiko zu allgemeiner sozialer Auffälligkeit einschließlich von Kriminalität im Erwachsenenalter ermittelt, die bereits im Kindesalter mehrfach polizeilich aufgefallen waren. Die Nachuntersuchung ergab folgendes Ergebnis: Die wiederholt im späten Kindesalter wegen Rechtsbrüchen auffällig gewordenen Jungen waren etwa 20 Jahre später — verglichen mit den nur einmal oder überhaupt nicht auffällig Gewordenen —° erheblich länger krank (bezogen auf das Jahr 1982), ° häufiger straffällig geworden, zu Gefängnis verurteilt, schwer drogenabhängig und häufiger gestorben, ® seltener verheiratet und hatten weniger Kinder zu Hause (bezogen auf das Jahr 1980), sie ° hatten häufiger Unterhalt an das außerhalb von ihrem Haushalt lebende erste Kind zu leisten, ° hatten weniger gute und erfolgreiche Schulausbildung, ® waren häufiger arbeitslos und — verglichen mit dem Vater — häufiger beruflich abgestiegen, ® hatten geringeres Einkommen und ° waren tendenziell seltener Hauseigentümer (siehe Tab. 5).
Insgesamt also läßt sich die größere Fehlanpassung und Lebensuntüchtigkeit der wiederholt früh auffälligen Rechtsbrecher nicht übersehen. Entsprechend der Annahme, daß Auffälligkeit in einem Verhaltensbereich häufig mit Problemen in anderen Verhaltensbereichen verknüpft ist, ergab sich auch nach den Längsschnittuntersuchungen ein mehr als zufälliges Zusammentreffen von Persönlichkeitsproblemen und Belastungen. Zum Beispiel kamen zum Schulversagen häufig Alkoholmißbrauch, Arbeitslosigkeit, Scheidung und wiederholte Delinquenz hinzu.
Derartige Profildaten sind fraglos aussagekräftig. Sie zeigen Wahrscheinlichkeiten in der Gefährdung an. Wie im Falle des Lebensalters und des Geschlechts weisen sie zum Teil universelle Bedeutung auf. Dennoch läßt sich nicht übersehen, daß die Häufungen unterschiedlich ausfallen. Daher erscheint eine empirische Verallgemeinerung nur begrenzt zulässig. Lediglich die Deskription der Profildaten ist gelungen, nicht aber die Erklärung. Es ist dokumentiert, daß Personen mit den erwähnten Sozialmerkmalen erheblich häufiger an der Kriminalität beteiligt sind. Es ist jedoch weder erklärt, warum dies so ist, noch, wieso Menschen ohne jene Kennzeichen — gleichsam regelwidrig — delinquieren. Daher läßt die bloße Ausbreitung von Rohdaten zum Sozialprofil der Rechtsbrecher die entscheidende Frage noch offen.
Einen Schritt, sich der Erklärung zu nähern, verspricht die Analyse des Lebensalters und Geschlechts, ferner der sozialen Bezugsfelder und Bindungen. Auf diese Weise dürften die Wahrscheinlichkeiten und damit die Aussagekraft der Befunde erhöht werden. Dies ist um so mehr geboten, als die oben hervorgehobenen anomischen Syndrome erkennbare Grenzen aufweisen, indem sie sich zur Erklärung des Verkehrs-, Umwelt- und Wirtschaftsdelinquenten nur bedingt ergiebig erweisen.
2. Lebensalter und Kriminalität
Schrifttum: Albrecht/Dünkel, Die vergessene Minderheit — alte Menschen als Straftäter. Zf Gerontologie 14 (1981), 259-273; Brusten/Hurrelmann, Abweichendes Verhalten in der Schule. Eine Untersuchung zu Prozessen der Stigmatisierung. München 1973; Farrington, Age and Crime. In: Crime and Justice 7 (1986), 189-250; Feest, Alterskriminalität. In: KKW 1993? ‚14-17; Hirschi u.a., Age and Explanation of Crime. AJS 89 (1983), 552-584; Karger/Sutterer, Kohortenstudie. In: Tätigkeitsbericht 1991. MPI Freiburg 1992, 66-75; Kerner u.a., From Child Delinquency to Adult Criminality. EuroCriminology 8-9 (1995), 127-162; Kreuzer (Hrsg.), Alte Menschen als Täter und Opfer. Freiburg 1991; Pongratz u.a., Kinderdelinquenz, Daten, Hintergründe und Entwicklungen. München 1975; Remschmid u.a., Kinderdelinquenz und Frühkriminalität. In: Krim- Gegfr 20 (1984), 87-105; Sutterer/Karger, Self-reported Juvenile Delinquency in Mannheim, Germany. In: Delinquent Behavior Among Young People in the Western World, hrsg.v. Junger-Tas. Amsterdam 1994, 156-175; Stattin/Magnusson, Stability and Change in Criminal Behaviour up to Age 30. BritJCrim 31 (1991), 327-346; Tracy/Wolfgang/Figlio, Delinquency in Two Birth Cobhorts. Washington/D.C. 1985; Villmow/Stephan, J ugendkriminalität in einer Gemeinde. Freiburg 1983.
Mindestens seit den kriminalstatistischen Analysen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist bekannt, daß die Kriminalität nicht gleichmäßig über das gesamte Lebensalter streut, sondern unterschiedlich verteilt ist. Allgemein steigt die registrierte individuelle Kriminalitätsbelastung bis zum Alter von 20 Jahren steil an, um dann zunächst allmählich, nach dem 35. Lebensjahr wieder stärker abzufallen (vgl. Schneider 1987, 608; Eisenberg 1995, 933 ff.; Kürzinger 1996, 192 ff.; Schwind 1996, 56 ff.; Göppinger 1997, 497 ff.), von einem partiellen Wiederanstieg bei 60 und mehr Jahren abgesehen. Diese Verteilung hat sich auch durch neu hinzukommende Kriminalitätsformen wie die Verkehrsdelinquenz nicht wesentlich verändert, eher noch verstärkt (vgl. Schaub. 10 und Tab. 6).
Dem entspricht weitgehend auch der Verlauf der individuellen kriminellen Karriere. Die Intensität der Deliktsbegehung läßt um das 40. Lebensjahr erheblich nach, wechselt jedoch häufig in gemeinlästiges Verhalten wie Trunkenheit und Randalieren über. Eine solche Entwicklung ist als „maturing out effect“, eine Art Auswachsen durch Reifwerden, selbst von Drogenabhängigen bekannt, soweit diese Gruppe überhaupt ein höheres Lebensalter erreicht. Nicht selten steigt die Kriminalität der über 60jährigen wie im Falle der Eigentums-, Verkehrs- und Sexualdelikte noch einmal leicht an (dazu Albrecht/Dünkel 1981, 259 ff.).
Allerdings wird man aufgrund neuerer Kohortenforschung sowie vergleichender Analysen zwischen Kriminalstatistik und Dunkelfeldbefragungen annehmen dürfen, daß sich in Wirklichkeit die stärkste Deliktsbelastung schon im Jugendalter bei etwa 14 bis 16 Jahren findet, wenn auch hauptsächlich im Bereich der minderschweren Kriminalität. Die amtliche Registrierung von Straftaten mit ihren Konsequenzen setzt hingegen erst verzögert ein. Der Grund hierfür liegt in der allmählichen Verlagerung der Sozialkontrolle von dem informellen in den formellen Bereich. Zum einen wachsen mit zunehmendem Jugendalter deliktische Schwere und Intensität, zum anderen nimmt die Toleranz der Gesellschaft gegenüber straffälligem Verhalten ab. Demgemäß wundert nicht, daß im Alter bis zu 16 Jahren die Delinquenz der männlichen Jugendlichen über die Schichten hinweg nahezu gleichmäßig streut, während danach, also mit Verlassen des „sozialen Schonraums“, sich die schichtspezifische Delinquenzbelastung nach Häufigkeit und Schwere zu Lasten der unteren Schichtangehörigen verlagert (vgl. Villmow/Stephan 1983, 151 ff., 181, 183 £.). So gesehen trifft die Annahme zu, wonach die Wahrscheinlichkeit des Rückfalls wächst und das Rückfallintervall desto kürzer wird, je jünger der Täter war, als er seinen ersten (registrierten!) Rechtsbruch beging.
Die nähere Analyse zeigt freilich, daß nach Raum, Zeit, Geschlecht und Deliktstypus die bisherigen Allgemeinaussagen der weiteren Differenzierung bedürfen.
% Zwar deutet eine frühe Erfassung als Rechtsbrecher auf die Wiederholung von Straftaten im späteren Alter hin (Sarnecki 1985, 49 £., 61 ff.). Gleichwohl läßt sich feststellen, daß die große Mehrheit der Frühdelinquenten nicht mehr offiziell in Erscheinung tritt und die überwiegende Zahl selbst der stark delinquenzbelasteten Jugendlichen ihre Delinquenzkarriere spätestens im Erwachsenenalter abbricht. In Ländern mit geringer Lebenserwartung weicht die höchste relative Belastung von dem hierzulande bekannten Bild nach unten ab. Eine ähnliche Beobachtung trifft für den angloamerikanischen und skandinavischen Raum sowie für Japan und ehemals für die DDR zu, jedoch hier wahrscheinlich aus Gründen der anders gelagerten Sozialkontrolle. Liegt nach der Kriminalstatistik die Belastungsspitze in Skandinavien bei 13 bis 15 Jahren, in England bei 14 bis 17 Jahren, so in den USA bei 14 bis 19 Jahren (Farrington 1986, 192 £., 202). Obwohl junge Menschen seit geraumer Zeit — relativ gesehen – die höchste Delinquenzrate aufweisen, ist die Belastung in dem ietzten Vierteljahrhundert international noch erheblich angestiegen, während die Delinquenzbelastung der über 25jährigen trotz vermehrter Deliktschancen (Motorisierung, Möglichkeiten im Beruf und Unternehmen) konstant geblieben ist (siehe Tab. 6 sowie LB § 77). Die altersspezifische Deliktsbelastung des weiblichen Geschlechts unterscheidet sich von jener der Männer hauptsächlich in der geringeren Häufung und in der späteren Mehrfachdelinquenz mit dem Schwerpunkt im Jungerwachsenenalter, nicht jedoch im Altersverlauf der Einfachdelinquenz, die ähnlich jener der Männer erscheint. Lediglich die Entwicklung der Straffälligkeit von Ausländerinnen weicht von diesem Bild ab mit dem Schwerpunkt im Jungerwachsenenalter für Einfach- wie Mehrfachtäterinnen. Allgemein steigt zwar die Delinquenzbelastung bis zum Alter von etwa 20 Jahren steil an und nimmt dann zögernd ab (vgl. Schaub. 10). Doch trifft diese Charakteristische Verteilung nicht für alle Tätergruppen und Deliktstypen zu, da ab dem Alter von 17 Jahren hauptsächlich die Mehrfachdelinquenz zu Buche schlägt und die altersspezifische Spitzenbelastung in die Höhe treibt. Umgekehrt sind die Einfachtäter bereits seit dem 17. Lebensjahr in der Abnahme begriffen. Wegen der zum Teil beruflich oder situativ vorgegebenen unterschiedlichen Deliktsmöglichkeiten finden wir auf dem Gebiet der Wirtschaftskriminalität die höchste Deliktsrate erst bei den 40jährigen (siehe LB § 74, 1). Auf der anderen Seite werden Fahrraddiebstahl und Brandstiftung vorwiegend von Kindern, Auto- und Ladendiebstahl, Sachbeschädigungen und sexuelle Nötigung von Jugendlichen sowie Verkehrsdelikte von Heranwachsenden und Jungerwachsenen begangen (zur vergleichenden Verteilung in den USA Farrington 1986, 199 £.).
Auch wenn man selektive Verzerrungen durch leichtere Überführbarkeit und größere Geständnisbereitschaft junger Täter berücksichtigt, darf man insgesamt gesehen die ausgewiesene altersspezifische Verteilung als empirisch gesichert annehmen. Hierbei handelt es sich neben den geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Delinquenzbelastung um die sichersten Befunde von nahezu universeller Gültigkeit. Über die Gründe, warum dies so ist, streitet man seit langem (vgl. Hirschi u.a. 1983, 552 ff.; Farrington 1986, 189 ff.). Entsprechend der hier vertretenen Auffassung bietet sich vor allem eine sozialisations- und kontrolltheoretische Erklärung an, ohne freilich mit einem solchen Konzept die Befundtatsachen schon voll ausschöpfen zu können.
Die Bedeutung offizieller Interventionen für das weitere Leben und Sozialverhalten eines jungen Delinquenten bleibt hingegen noch unklar (vgl. Villmow u.a. 1983, 267 ff.). Während einerseits wohl in Anlehnung an den Labeling approach stigmatisierende Wirkungen damit verbunden werden, wird andererseits aufgrund der zweiten Philadelphia-Studie bezüglich der Entwicklung des Geburtsjahrgangs 1958 angenommen, daß die Jugendgerichtsbarkeit gegenüber dem chronischen Rechtsbrecher zu weich und nachgiebig verfahre (so Tracy u.a. 1985, 24 ff.). Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand wird man die erwartbaren Verhaltensunterschiede durch justizförmige Interventionen als nicht sehr groß veranschlagen dürfen, und zwar weder als Stigmatisierung noch als Bewährungserfolg.
Im Hinblick auf die komplexen interaktiven Prozesse (dazu Kerner u.a. 1995, 158, 161) ist es nicht nur wenig überzeugend, sondern geradezu fehlerhaft, wenn die Beziehung zwischen härterer Bestrafung, etwa durch Freiheitsentziehung, und höheren Rückfalldaten kurzschlüssig auf einen Kausalzusammenhang reduziert wird. Zuviel ist in der fraglichen Population bereits vorher fehlgelaufen, als daß eine Freiheitsentziehung angesichts der vorfindbaren Bedingungen (Persönlichkeitsentwicklung und soziales Umfeld) noch viel Konstruktives bewirken könnte, es sei denn mit außergewöhnlichen Anstrengungen wie in der Sozial- und Drogentherapie.
Aufgrunü der unterschiedlichen Delinquenzbelastung und deren Bedeutung im Lebenslauf pflegt man Kinderdelinquenz, Jugend- und Alterskriminalität herauszuheben. Finden Kinder- und Altersdelinquenz wegen ihrer verhältnismäßig geringen Bedeutung – jeweils.ca. 5% aller Tatverdächtigen — Aufmerksamkeit, so die Jugendkriminalität wegen ihrer überdurchschnittlichen Häufung und wegen ihrer überragenden kriminalpolitischen Relevanz (vgl. Schaub. 10 und 20).
Über Ausmaß und Dimensionen der Kinderdelinquenz geben Dunkelfeldbefragungen und die Polizeiliche Kriminalstatistik Auskunft. Nach den Befragungen ist delinquentes Verhalten im Kindesalter weit verbreitet und so gesehen normal (vgl. die Studien von Brusten/Hurrelmann 1973 und Remschmidt 1984, 87 ff.). Nur wenige der verhaltensauffälligen Kinder werden auch offiziell als delinquent bekannt. Legt man das Jahr 1995 zugrunde, so werden jährlich knapp 1,9% aller deutschen Kinder polizeilich als delinquent registriert, also eine verschwindend kleine Zahl. Deshalb erscheinen Anzeige- und Selektionsmuster so bedeutsam.
Gleichwohl liefert uns die Polizeiliche Kriminalstatistik Informationen, die wir sonst nicht beschaffen könnten, auch wenn sie uns nur über die registrierte Kinderdelinquenz zu unterrichten vermag. Danach kann man feststellen, daß die polizeilich als delinquent bekanntgewordenen Kinder in der Nachkriegszeit jährlich einen Anteil von 3 bis 7% an allen Tatverdächtigen ausmachen, zuletzt 1995 5,5% (PKS 1995, 78). Ferner läßt die Analyse erhebliche länderspezifische und regionale Schwankungen im Bundesgebiet erkennen, zum Teil entsprechend dem unterschiedlichen Urbanisierungsgrad. Nach absoluten Zahlen wurden 1995 insgesamt rd. 117 000 Kinder als Delinquente registriert. In der Nachkriegszeit schwankt die absolute Zahl delinquenter Kinder zwischen 35 000 und knapp 100 000 mit dem Höhepunkt im Jahre 1978. Dabei wirken sich auch der unterschiedliche Bevölkerungsanteil der Kinder und die in den letzten Jahren abnehmende Geburtenrate aus. Stellt man auf die Belastung pro 100 000 der entsprechenden Bevölkerung unter 14 Jahren ab (sog. Prävalenzrate), so schwankt sie jährlich zwischen 1 und 2%. Delinquente Kinder, soweit sie offiziell bekannt werden, rekrutieren sich hauptsächlich aus den 10- bis unter 14jährigen. Während die Kinder unter 10 Jahren insgesamt weniger als 1% aller Tatverdächtigen ausmachen, stellen die Kinder ab 10 Jahren bereits über 5% der Tatverdächtigen insgesamt (PKS 1995, 80).
Die Strukturanalyse läßt erkennen, daß hierzulande ganz ähnlich wie in der Schweiz, in Schweden und in Japan zahlenmäßig die Auffälligkeit wegen Diebstahls vorherrscht. Besonders Laden-und Fahrraddiebstähle gewinnen eine herausragende Bedeutung. Dem steht nicht entgegen, daß sich die größten Kinderanteile innerhalb einzelner Deliktsgruppen bei Brandstiftung mit etwa 25%, Sachbeschädigung mit 12%, Diebstahl mit 11% und Erpressung mit 7% finden (PKS 1995, Tab. 20). Bei den Akteuren der Kinderdelinquenz handelt es sich erwartungsgemäß überwiegend um Jungen. Allerdings ist der Anteil der Mädchen von 11% im Jahre 1955 auf ca. 25% im Jahre 1995 erheblich angestiegen (PKS 1995, 76). Auch nach Befragungen verstoßen Mädchen wesentlich seltener gegen Rechtsnormen als Jungen und gegebenenfalls auch nicht wegen vergleichbar schwerer Delikte (Remschmidt 1984, 90; anders Sutterer/Karger 1994, 165).
Der größte Teil der delinquenzauffälligen Kinder wird nur einmal polizeilich registriert, obwohl tatsächlich häufiger Delinquenz vorgelegen haben mag, wenn wir an die Dunkelfelduntersuchungen denken. Nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Kindern begeht eine relativ große Zahl von Delikten (vgl. z.B. Karger/ Sutterer 1992).
Kindliches Verhalten und demgemäß auch die Kinderdelinquenz folgen eigenen Regeln. Anordnung und Beurteilung von Verhaltensauffälligkeiten nach den Deliktskategorien des allgemeinen Strafrechts werden dem kindlichen Verhalten kaum gerecht (Pongratz u.a. 1975, 44). Ein Großteil der Kinderdelinquenz entspricht ganz normalem kindlichen Verhalten wie Sport, Spiel und Abenteuer, bei denen die Kinder die Grenzen des Strafrechts überschreiten, ohne sich dessen bewußt zu sein. Die Beurteilung nach Deliktskategorien scheint kindliches Verhalten zu verfremden. Deshalb bestehen gute Gründe dafür, an dem Unterschied im Fühlen, Erleben, Denken und Verhalten zwischen Kindern und Erwachsenen festzuhalten, im Interesse der Kinder, aber auch der Gesellschaft. Obschon die Mediensozialisation und der Fernsehkonsum für Wertorientierung und Verhalten der nachwachsenden Generation in der Gegenwart erhebliche Bedeutung gewonnen haben, besteht weder Anlaß noch Notwendigkeit, auf „die Idee der Kindheit“ zu verzichten und gar in erzieherische Apathie zu verfallen.
Die Gründe für den Anstieg in der Registrierung von Kinderdelinquenz liegen wahrscheinlich im sozialkulturellen Wandel, alsoin Veränderungen der Wertorientierung, Familie, Schule und Erziehung, aber auch der Toleranz sozialer Auffälligkeit, der Anzeigehäufigkeit und Selektion (vgl. Schwind 1996, 53 ff.).
Im Gegensatz zu den Eingliederungsschwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen in die Gesellschaft ist das Älterwerden und damit auch die Alterskriminalität durch Rückbildungs- und Abbauerscheinungen, abgeschwächte Anpassungs- und Leistungsfähigkeit, Hirnveränderungen und teilweise Persönlichkeitsveränderungen gekennzeichnet. Doch übereinstimmend mit der Jugendzeit läßt sich das Altern als ein Übergangsstadium zu einem neuen sozialen Status begreifen. Das allmähliche Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß, die Verminderung des Einkommens und die reicher verfügbare Freizeit, aber auch die partielle Isolierung erfordern eine neue Anpassung des Verhaltens, die in einer Art Sozialisationsprozeß gelernt werden muß. In den meisten hochindustrialisierten Gesellschaften drückt sich die „Altersgrenze“ zugleich mit Erreichen des Rentenalters oder der Pensionierung aus. Man setzt daher bei dem 60. bis zum 65. Lebensjahr den Beginn des Alters und damit auch der Alterskriminalität an. Dementsprechend kennt die moderne Kriminalstatistik die Altersgruppe ‚60 und mehr Jahre“ (Schneider 1987, 699; Feest 1993, 14).
Obwohl die über 60jährigen bei wachsender Zahl gegenwärtig etwa ein Viertel der strafmündigen Bevölkerung ausmachen, gelangt ihr Anteil an der registrierten Gesamtkriminalität über 6% kaum hinaus (vgl. Tab. 7 über Umfang und Entwicklung der Alterskriminalität). Zwar haben in den Nachkriegsjahrzehnten die über 60jährigen Rechtsbrecher erheblich an Zahl zugenommen. Doch bewegt sich dieser Zuwachs nur innerhalb der Gesamtkriminalität und stellt sich bezüglich der Verurteilten relativ betrachtet, also auf 100 000 der Bevölkerung bezogen, als ein erheblicher Rückgang dar (vgl. Tab. 7). Ob sich in dieser Entwicklung mehr die unterschiedliche Strafverfolgung widerspiegelt — da Verfolgungsorgane geneigt sind, eher jugendspezifische als altersspezifische Delikte zu verfolgen (so Feest 1993, 16) — oder die wirkliche Delinquenzbelastung, ist nicht eindeutig zu beurteilen. Immerhin leuchtet ein, daß mit dem allmählichen Rückzug alternder Menschen aus dem sozialen Leben, insbesondere im öffentlichen Straßenverkehr, auch die Risiken abnehmen, in strafrechtlich relevante Konflikte verwickelt zu werden. Ferner gelangt in den abnehmenden Verurteiltenziffern, verglichen mit der gegenläufigen Entwicklung der Kriminalitätsbelastungsziffern, auch eine spezifische altersstrafrechtliche Strategie der Strafjustiz nach §§ 153, 153 a StPO zum Ausdruck, die mit jener des Jugendstrafrechts gem. der 88 45, 47 JGG korrespondiert.
Im übrigen engt sich das Deliktsspektrum auf wenige typisch erscheinende Deliktsgruppen wie die Verkehrs- und Eigentumsdelikte ein. Beide Deliktsformen, jeweils etwa zur Hälfte beteiligt, machen über 80% der registrierten Alterskriminalität aus. Mit dieser Struktur unterscheidet sich die Alterskriminalität ganz erheblich von den Kriminalitätsbildern der vorausgehenden Altersgruppen. Insbesondere bei Frauen kann der Ladendiebstahl als typische Form der Alterskriminalität gelten (Albrecht/ Dünkel 1981, 259 ff.). Demgegenüber gewinnen andere Straftaten wie z.B. die Gewaltdelikte hier kaum Bedeutung. Dies gilt auch für Formen des organisierten Verbrechens sowie für Berufs- und Wirtschaftskriminalität, obwohl hier ältere Menschen gelegentlich eine führende Position einnehmen mögen. Selbst die Sexualdelikte, die wie im Falle des sexuellen Mißbrauchs von Kindern stereotyp als Schwächedelikte älterer Personen gegolten und deshalb gelegentlich Überlegungen zu einem „Altersstrafrecht‘ veranlaßt haben, fallen mit einem Anteil von weniger als 1% nur gering ins Gewicht.
Bedeutsam für die Beurteilung der Alterskriminalität erscheint, daß etwa drei Viertel aller Altersdelinquenten im hohen Alter erstmals wegen einer Straftat verurteilt werden. Nur eine kleine Zahl von etwa 5% war schon in Lebensabschnitten vor dem 50. Lebensjahr nachweislich kriminell in Erscheinung getreten (Feest 1993, 16), wobei man freilich die Löschungen von amtlichen Registereintragungen vernachlässigen muß. Ferner handeln alte Straffällige überwiegend allein. Auch sind Personen der unteren Sozialschichten bei ihnen nicht überrepräsentiert.
Erwartungsgemäß zeigt sich bei der Analyse der strafrechtlichen Sozialkontrolle gegenüber Straftaten alter Menschen, daß gegen diese Verfahren überdurchschnittlich häufig wegen Geringfügigkeit eingestellt und daß sie aufgrund fehlender Vorbelastungen selten zu gravierenden Freiheitsstrafen verurteilt werden (dazu Albrecht/Dünkel 1981, 265; vgl. aber den Fall einer wegen Ladendiebstahls wiederholt rückfällig gewordenen und deshalb verurteilten 68jährigen Frau, NStZ 1989, 75 f.). Im Strafvollzug findet sich, abweichend vom Maßregelvollzug, mit 1% nur eine verschwindende Minderheit, weshalb allerdings der Vollzug freiheitsentziehender Sanktionen schwierige und bislang meist ungelöste Probleme aufwirft.
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