Erstes Kapitel Begriff, Aufgaben und Rolle der Kriminologie
§ 1 Begriff und Selbstverständnis der Kriminologie Schrifttum: Bock, Kriminologie als Wirklichkeitswissenschaft. Berlin 1984; Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts. München 19907 ‚ Kaiser, Was ist eigentlich kritisch an der „kritischen Kriminologie‘? In: FS für R. Lange. Berlin 1976, 521-539; Mannheim (ed.), Pioneers in Criminology. London u.a. 1960.
- Definition und Gegenstand
Kriminologie ist die geordnete Gesamtheit des Erfahrungswissens über das Verbrechen, den Rechtsbrecher, die negativ soziale Auffälligkeit und über die Kontrolle dieses Verhaltens. Ihr Wissenschaftsgebiet läßt sich mit den drei Grundbegriffen Verbrechen, Verbrecher und Verbrechenskontrolle treffend kennzeichnen. Ihnen sind auch Opferbelange und Verbrechensverhütung zugeordnet.
Die Wortbildung „criminologie“ (Lehre vom Verbrechen), abgeleitet von lat. crimen (dt. Verbrechen), wird dem französischen Anthropologen Topinard (1879) zugeschrieben. Der italienische Jurist Garofalo benutzte den Begriff erstmalig zur Kennzeichnung seines Buches „Criminologia“ (1885). Die Bezeichnung hat sich allgemein durchgesetzt. Neben dem Wort Kriminologie begegnen wir auch den Begriffen Kriminalpsychologie (seit 1792), Kriminalsoziologie (seit 1882) und Kriminalbiologie (seit 1883) als sogenannten Bindestrich-Kriminologien. Häufig werden diese Wortverbindungen ähnlich wie neuerdings die Strafrechtssoziologie gleichsinnig mit Kriminologie gebraucht. Derartige Verknüpfungen beziehen sich jedoch strenggenommen nur auf einzelne Erkenntnisgegenstände der Kriminologie. Darüber herrscht innerhalb der kriminologischen Wissenschaft, soweit sie in juristischen Fachbereichen vertreten wird, kaum noch Streit. Eine vorherrschende oder gar einheitlich-verbindliche Begriffsbestimmung der Kriminologie gibt es nicht, weder im Inland noch im Ausland. Gleichwohl unterscheiden sich die Meinungen darüber, was man in der Gegenwart unter Kriminologie versteht, trotz abweichender Akzentuierung nicht erheblich. Übereinstimmung besteht darüber, daß Kriminologie eine empirische Wissenschaft ist. Ferner ist man allgemein der Auffassung, daß sich-die kriminologische Wissenschaft mit dem Verbrechen, dem Rechtsbrecher und dem Verbrechensopfer befaßt sowie mit der Verbrechenskontrolle insoweit, alses um Auswahl, Zumessung und Vollzug von Kriminalsanktionen sowie um die Prognose und Behandlung des Täters geht. Schließlich ist man sich einig, daß auch die Erscheinungen des Alkoholismus, der Gemeinlästigkeit, der Prostitution und des Selbstmordes bereits zum Gegenstand der Kriminologie gehören. Dem steht nicht entgegen, daß man den darüber hinausgreifenden kriminalsoziologischen Sammelbegriff des abweichenden Verhaltens als zu vage und uferlos betrachtet. Kriminologische Erkenntnis muß sich danach vornehmlich auf beobachtbare und intersubjektiv nachprüfbare Tatsachen des Problemfeldes beziehen (Näheres unten § 4). Spekulationen, Meinungen oder Werturteile reichen nicht aus, können jedoch ihrerseits den Gegenstand empirischer Untersuchung bilden. Die Befunde sollen im übrigen nicht zufällig, sondern systematisch gewonnen und daher auch nicht „anekdotisch“ geordnet sein. Ferner genügt „zeitkritische Essayistik“ wissenschaftlichen Anforderungen nicht.
Meinungsverschiedenheiten bestehen im wesentlichen über die Funktion und Leistungsfähigkeit kriminologischer Theorien sowie über die interdisziplinäre Orientierung, ferner über die Reichweite und Bezeichnung des „Vorfeldes“ der Kriminalität. Außerdem streitet man über die kriminologische Bedeutung der Persönlichkeitsforschung, der Praxisorientierung und der Verbrechenskontrolle einschließlich Selektion, Polizei und Kriminalistik. Letztlich vertritt man unterschiedliche Auffassungen zum Begriff der Empirie sowie über Aufgaben, Forschungsansätze und Rolle der Kriminologie. Dabei läuft man gelegentlich Gefahr, die beachtlichen Gemeinsamkeiten inhaltlicher Darstellung kriminologischen Wissens in den zeitgenössischen Lehrbüchern zu verkennen, die diese trotz unterschiedlicher Systeme aufweisen. Die verschiedenen Konzeptionen jedoch deuten nicht auf Mängel oder Armut der Wissenschaft hin, sondern bereichern als Ausdruck fachorientierter Sichtweise und kriminologischer Phantasie den Kenntnisstand.
Das unterschiedliche Selbstverständnis der Gegenwartskriminologie läßt sich nach der Weite des Gegenstands wie folgt ordnen:
Kriminologie beschränkt sich nach traditionell engerer Auffassung auf die empirische Erforschung des Verbrechens und der Täterpersönlichkeit. Kennzeichnend für diese Position sind beschreibende Darstellungen der Gesamtkriminalität oder von Einzeldelikten sowie wissenschaftliche Einzelfall- und Längsschnittstudien.
Hingegen bezieht die weitgefaßte Konzeption in der Kriminologie auch die erfahrungswissenschaftliche Kenntnis über die Wandlungen des Verbrechensbegriffs (Kriminalisierung) und über die Bekämpfung des Verbrechens, die Kontrolle des sonstigen sozial abweichenden Verhaltens sowie die Untersuchung der polizeilichen und justitiellen Kontrollmechanismen mit in die Analyse ein.
Der kriminologische Gegenstand umfaßt danach die Entstehung von Strafgesetzen, deren Verletzung und die entsprechenden Reaktionen.
Vor allem der aus der Kriminalsoziologie stammende Labeling approach oder soziale Reaktionsansatz hat mit seiner Blickschärfung für Verbrechensbegriff, Handlungsmuster und Bedeutung der strafrechtlichen Sozialkontrolle für Bewegung, aber auch für neue Streitfragen im kriminologischen Denken gesorgt. Dazu haben nicht zuletzt die von ihm favorisierten Strategien der Entkriminalisierung, Entstigmatisierung, Entinstitutionalisierung (Diversion) und seine Ablehnung des Behandlungsmodells als kriminalpolitische Folgerungen beigetragen. Manche Vertreter der jüngeren Generation meinen überdies, daß die Kriminologie damit „den Nullpunkt“ erreicht habe, auf dem sich verheißungsvoll der Bau der „neuen Kriminologie‘ errichten lasse. Danach soll dieses Gebäude vor allem „kritisch“ und „historisch reflexiv“, ja radikal entworfen werden. Dabei darf man freilich nicht übersehen, daß eine solche kriminalsoziologische Gegenwartsströmung neben fruchtbarer Anregung und Erweiterung des kriminologischen Denkens, von dem die traditionelle Kriminologie noch nichts weiß, auch beträchtliche Blickverengungen mit sich bringt (eingehend unten §§ 5; 14).
2. Abgrenzung
Allerdings befaßt sich nicht nur die Kriminologie mit dem Verbrechen, dem Rechtsbrecher, dem Verbrechensopfer und der Verbrechenskontrolle. Vielmehr beschäftigen sich auch Strafrechtswissenschaft, Kriminalistik und Kriminalpolitik mit diesen Erkenntnisgegenständen. Auch wenn man die verschiedenen Disziplinen durch den übergeordneten Begriff der „Kriminalwissenschaften“ miteinander verknüpft, bleibt nicht nur zu fragen, was sie verbindet, sondern auch, was sie in ihrer Sichtweise unterscheidet.
Es ist seit langer Zeit üblich, Strafrecht und Kriminologie mit den Begriffen juristische und nichtjuristische Wissenschaft, normative und empirische Wissenschaft zu scheiden. Die Strafrechtswissenschaft behandelt vor allem das Entscheidungsdenken, die normative Abgrenzung, die Auslegung und die theoretische Strukturanalyse des Verbrechens sowie die prozessualen Voraussetzungen und justizförmigen Wege der Verbrechensverfolgung. Sie bringt die rechtspolitischen Grundsätze oder kriminalpolitischen Konstanten (Humanität, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Verhältnismäßigkeit) rechtsdogmatisch zur Geltung. Demgegenüber geht es der Kriminologie um die möglichst bewertungsfreie Analyse der realen Erscheinungsformen, Umstände und Folgen, die mit der Entstehung,
Entwicklung und Kontrolle des Verbrechens zusammenhängen. Auch wenn sich die Fragestellung, das methodische Vorgehen und das Erkenntnisinteresse unterscheiden, liefern Verbrechen und Verbrechenskontrolle gemeinsame Ausgangsund Bezugspunkte. Nur mit den Disziplinen und Mitteln der „gesamten Strafrechtswissenschaft“ scheint sich der kriminalpolitische Denk-, Willensbildungsund Entscheidungsprozeß der rationalen Kontrolle zu fügen. Dadurch wird aber auch die Wahrscheinlichkeit, daß Kriminologie und Strafrecht zueinander finden, und damit die Bereitschaft zu größerer Rationalität wachsen.
Trotz geschichtlicher, institutioneller und funktionaler Gemeinsamkeiten unterscheiden sich Fragestellung und Denkstil in Kriminologie und Strafrecht. Der Strafjurist wird auf formale Rechtsgleichheit und Rechtsstaatlichkeit, der Kriminologe hingegen auf die Mängel bei der Rechtsanwendung, z.B. auf die „‚Gleichheit im Unrecht‘ sowie deren Konsequenzen, hinweisen und die Folgenorientierung betonen. Im Strafrecht finden wir Elemente des Erkennens und der bewußten Bewertung nebeneinander, in der Kriminologie demgegenüber die Tendenz, nicht wissenschaftsimmanente Werturteile möglichst auszuschalten. Die Strafrechtswissenschaft neigt dazu, aus dem Kriminalrecht stets ein (Kern-) Strafrecht zu formen, während die Kriminologie dazu tendiert, es als strafrechtliche Sozialkontrolle zu begreifen.
Kriminalpolitik wiederum betrifft als Teil der Politik den kriminalrechtlich verankerten Schutz von Rechtsgütern des einzelnen Bürgers und der Gesellschaft. Sie legt ihren Entscheidungen Tatsachen der Verbrechenswirklichkeit und der Verbrechenskontrolle zugrunde, bringt jedoch auch sozialethische Grundsätze und Wertungen mit ein. Sie ist Ausdruck politischer Kultur und folgt nicht nur dem der Funktionalität verpflichteten Effizienzprinzip. Da gemessen an der Kriminalität und an ihren unerwünschten Nebenwirkungen kein uns bekanntes System des Gesellschaftsschutzes befriedigt, findet die Kriminalpolitik seit jeher ihren Schwerpunkt in der Erneuerung des Strafrechts, der Reform der Strafrechtspflege und des Sanktionensystems. Daher faßt man Kriminalpolitik und Strafrechtsreform nicht selten als sinngleich auf (Näheres unten Zehntes Kapitel).
Kriminalistik schließlich obliegt die polizeiliche Vorbeugung, Verfolgung und Aufklärung des Verbrechens. Sie gliedert sich in Kriminalstrategie, Kriminaltaktik und Kriminaltechnik.
Danach läßt sich feststellen, daß sich trotz beachtlicher Gemeinsamkeiten in den Erkenntnisgegenständen das methodische Vorgehen und das Erkenntnisinteresse der verschiedenen Disziplinen erheblich unterscheiden. Neue Bedürfnisse, unterschiedliche Fragestellungen und Ansätze, aber auch die im Hinblick auf die Stoffbeherrschung erzwungene Arbeitsteilung haben den Verselbständigungsprozeß notwendig gemacht. Gleichwohl scheint sich der kriminalpolitische Denk-, Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß nur bei Berücksichtigung der relevanten einzelwissenschaftlichen Beiträge der rationalen Kontrolle zu fügen.
3. Folgerungen und Ausgangspunkte
Es besteht heute Einigkeit darüber, daß die Kriminologie eine Erfahrungswissenschaft ist, und weitgehend auch darüber, daß sie eine selbständige Disziplin darstellt.
Der Anspruch, eine empirische Wissenschaft zu sein, bezieht sich auf Forschungsansätze, die mehr auf Beobachtungen gegründet sind als auf Meinungen. Freilich bleibt auch in der Kriminologie dafür Raum. Aber die solide Grundlage der Wissenschaft sind die erhobenen Fakten und die gewonnenen Beobachtungen, an denen Hypothesen und Theorien überprüft werden. Die empirische Haltung meint daher nichts anderes, als eher mit Fakten denn mit Meinungen umzugehen, und vor allem die Bereitschaft, sich der Kraft der Tatsachen auch dann zu beugen, wenn sie den eigenen Erwartungen und Wunschvorstellungen des Forschers entgegenstehen. Diese Haltung geht davon aus, daß es besser ist, ohne Antwort zu bleiben als eine unangemessene hinzunehmen. Allerdings besteht überall das Problem, ständig bereit und genügend offen zu sein, um auch persönlich unerwünschte Forschungstatsachen zu akzeptieren, ohne sie „frisieren“ oder umdeuten zu wollen. Diese wichtige Frage nach der Objektivität der Forschung sowie nach der persönlichen Lauterkeit und Redlichkeit des Forschers wendet sich als Aufforderung an jedermann im kriminologischen Forschungsbereich. Sie kann letztlich nur durch wissenschaftliches Ethos (vgl. § 3, 3), Forschungspluralismus und Kritik sichergestellt werden.
Nach der heftigen Auseinandersetzung und Fortentwicklung während der letzten Jahrzehnte herrscht ferner weite Übereinstimmung darüber, daß „Verbrechen“, „Verbrecher“, „Verbrechensopfer“ und Sanktionsvollzug zum festen Bestandteil kriminologischen Denkens und Forschens gehören. Ist es auch schwierig, die postulierte Einheitlichkeit des kriminologischen Denkens durchzuhalten, so hat es die Kriminologie doch immer mit einem vielschichtigen Problemfeld zu tun. Dieses läßt sich anhand der genannten Grundbegriffe treffend kennzeichnen (dazu 88 17 ff.). Die darauf gerichtete Dauerbeobachtung obliegt der Kriminologie. Demgemäß erfahren alle Forschungsansätze der Gegenwart von hier aus ihre Orientierung oder lassen sich hierauf zurückführen.
Über die Behandlungs- und Sanktionsforschung sowie in ihrem Mitwirkungsanspruch bei der Klärung kriminalpolitischer Fragen nähern sich auch Vertreter der engeren Kriminologie-Auffassung im Ergebnis der weitergefaßten Position. Allerdings werden die Nähe zur Strafrechtswissenschaft sowie die Bedeutung der strafrechtlichen Sozialkontrolle für die kriminologische Analyse noch immer unterschiedlich eingeschätzt.
Die engere Auffassung von der Kriminologie erscheint unbefriedigend und inkonsequent. Will man den jeweiligen Legalbegriff des Verbrechens — wie weit und zufällig er auch sei — nicht einfach positivistisch hinnehmen, so muß man auch die Prozesse und deren Motive, die zur Kriminalisierung menschlichen Handelns führen, erforschen. Außerdem erschöpft sich der Wirklichkeitsbereich des Strafrechts keinesfalls im materiellen Strafrecht und im Strafvollzug, sondern umschließt das gesamte „Feld der Strafrechtspflege“, also auch den Strafprozeß sowie die kriminalpolitische Willensbildung und Gesetzgebung. Damit werden auch Normanwendung und -durchführung (Implementation) wissenschaftlich einbezogen. Nur eine willkürliche Trennung vermag diesen Zusammenhang zu zerreißen. Wird aber die empirische Analyse des Strafverfahrens als eine wichtige Forschungsaufgabe der Kriminologie betrachtet, dann kann sich diese Untersuchung nicht auf die Darstellung möglicher Besonderheiten der Strafzumessung beschränken. Sie muß auch die Prozeß- und Ergebnisevaluation des kriminalrechtlichen Handelns sowie den Rechtsstab (Richter, Staatsanwälte, Strafvollzugsbedienstete und Bewährungshelfer) und dessen Handlungsmuster bereits im Vorverfahren mit in die Betrachtung einschließen. Weil die Polizei neben der Staatsanwaltschaft die Straftaten zu erforschen (§§ 152, 160, 163 StPO) und im übrigen neben Verbrechensopfer und Anzeigeerstatter die ersten Begegnungen mit dem Rechtsbrecher hat, sind auch Handlungs- und Entscheidungsmuster von Polizei und Staatsanwaltschaft in die kriminologische Forschung einzubeziehen. Dies ist schon deshalb notwendig, weil ohne die Kenntnis polizeilichen Vorgehens die Polizeiliche Kriminalstatistik und ohne Wissen über Funktion und Tätigkeit der Staatsanwaltschaft die Rechtspflegestatistik nicht zureichend interpretiert werden können.
Verbrechen beruht allgemein aufkeinem genetisch vorgegebenen Defekt der Persönlichkeit. Vielmehr bestimmt die staatlich organisierte Gesellschaft, welches sozialschädliche Verhalten als Verbrechen beurteilt werden soll. Dies meint die nicht selten mißverstandene Formel von der „Machbarkeit“ des Verbrechens. Auch geht es darum, die Wirkung der Strafgesetze auf die Kriminalität zu erforschen. Daher setzt die Theorie des Verbrechens eine Theorie der Kriminalisierung voraus. Dem steht nicht entgegen, daß der Kern- und Grundbestand des Verbrechens, teilweise am Dekalog orientiert, seit langer Zeit ziemlich gleichgeblieben ist. Allerdings werden schon von der Kriminalisierung gewisser Verhaltensformen her bestimmte Gruppen oder Schichten in der Gesellschaft stärker als Normadressaten angesprochen als andere. Die traditionelle Kriminalisierung des Diebstahls (dazu LB § 66) einerseits und die neuere Blickschärfung für Wirtschaftskriminalität (dazu LB § 72 ff.), Umweltschutzdelikte (vgl. LB §§ 75 £f. ) sowie für die partielle Entkriminalisierung der Verkehrsstraftaten und Depönalisierung des Ladendiebstahls andererseits verdeutlichen dies. Gerade das Konzept des White-Collar-Crime sowie jenes von der „Kriminalität der Mächtigen“ (vgl. § 23) verdanken ihre Entstehung und Resonanz weitgehend dem Protest gegen die Verkürzung der Gerechtigkeit, die in der herkömmlichen Handhabung der strafrechtlichen Legalordnung erblickt wird. Mit dem Inhalt des Strafgesetzes treffen Gesellschaft und Gesetzgeber bereits die wichtige Vorentscheidung über den tatsächlichen Adressatenkreis und die wahrscheinliche Population der Rechtsbrecher. Auch an dieser Stelle begegnen wir dem Problem der Chancengleichheit, hier nur negativ bezogen auf die Verminderung oder die Versagung sozialer Plazierungschancen mit Hilfe des Strafrechts. Nicht nur Schule und Bildung, sondern auch, zumindest negativ, das Strafrecht befinden zeitweilig über die Plazierung eines Menschen in der Gesellschaft. Dies wiederum erfordert die empirische Problematisierung und nicht nur, wie in der Vergangenheit, die undurchdachte Hinnahme des positiven Verbrechensbegriffes. Die gegenteilige Auffassung würde den Kriminologen immer in die Gefahr bringen, zum Verteidiger des jeweiligen Status quo zu werden, unabhängig davon, wie dieser Zustand beschaffen ist. Eine distanziert ideologiekritische Analyse der Gesetzgebung ist dann nicht mehr möglich.
Im übrigen lassen sich die Sorgen, mit den Kriminalsoziologen in Konflikt zu geraten und sich deshalb besser auf den eigenen gesicherten Besitzstand zurückzuziehen, nicht durch definitorische Rückzugsstrategien vermeiden. Die vom Problembereich der Kriminologie umschlossenen Fragen werden von verschiedenen Richtungen untersucht. Sie sind so wichtig, brisant und folgenreich, daß sie die wissenschaftliche und rechtspolitische Erörterung auf absehbare Zeit bestimmen. Deshalb besteht auch für die Kriminologie, wie immer sie sich verstehen und „einigeln“ mag, keinerlei Möglichkeit, sich von diesem Streit zu dispensieren, falls sie gehört werden will. Selbst eine im Kompetenz- und Meinungsstreit der letzten Jahrzehnte begreifliche Tendenz zum Rückzug auf die Position „einer juristischen Kriminologie“ würde an diesem Sachverhalt kaum etwas ändern wollen. Denn auch nach dieser Auffassung werden neben dem materiellen Strafrecht Probleme des Strafverfahrens und der Strafvollstreckung im Sinne einer umfassenden Wirklichkeitswissenschaft des Strafrechts empirisch angegangen.
Die Begriffe „Abweichung“ oder „abweichendes Verhalten“, der Medizin und Statistik entlehnt sowie von Hause aus funktionalen oder rein quantitativen Kriterien zugeordnet, können hingegen keinen für die kriminologische Analyse überlegenen Ansatzpunkt begründen. Denn die gemeinten Erscheinungen wie z.B. Prostitution, Alkoholismus, Selbstmord, ferner Ehezerrüttung, Krankheit, Sektierertum, Obdachlosigkeit und Armut werden traditionell ohnehin zum kriminologischen Problem- und Forschungsfeld gerechnet, zumindest mitberücksichtigt, nicht selten als „Vorfeld“ des Verbrechens bezeichnet. Der Begriff des abweichenden Verhaltens kann daher nur die Fülle dessen, was mißbilligt oder negativ sanktioniert wird, zusammenhängend vor Augen führen. Er weist aber bei der Frage nach Kriminalunrecht und Verbrechen auf das Strafrecht zurück.
Aufgrund dieser Überlegungen läßt sich feststellen, daß das juristisch definierte Verbrechen den Ausgangspunkt kriminologischer Betrachtung darstellt (siehe unten § 17). Damit ist zugleich ausgesprochen, daß sich die kriminologische Forschungsaufgabe nicht in der Beschreibung des konkreten Deliktsgeschehens erschöpfen kann. Vielmehr muß sie den gesamten lebensweltlichen Ausschnitt an Primärerfahrungen umfassen, auf den sich das Erkenntnisinteresse richtet. Dabei ist auch die Spannweite des Unrechts von der kriminologischen Forschung zu beachten, falls diese nicht wichtige Dimensionen der sozialen Wirklichkeit verfehlen will.
Erkenntnisleitend für die Erklärung des Verbrechens ist die Theorie unterschiedlicher Verhaltenskonformität aufgrund differentieller Sozialisation und Sozialkontrolle (eingehend unten Fünftes Kapitel). Von hier aus wird das kriminologische Erfahrungswissen geordnet, ohne sich freilich dem Konzept unkritisch zu verschreiben oder gar auszuliefern.
§2 Aufgaben der Kriminologie
Schrifttum: Albrecht, P.-A., Kriminologie und Strafrecht. In: KrimHStudium 1986, 187 f., Jehle/Egg (Hrsg.), Anwendungsbezogene Kriminologie zwischen Grundlagenforschung und Praxis. Wiesbaden 1986; Klug, Autonomie, Anarchie und Kontrolle. Rechtsphilosophische und rechtspragmatische Probleme. In: FS für W. Maihofer. Frankfurt/M. 1988, 235-251; Kunz, Kriminologie zwischen erfahrungswissenschaftlicher Autonomie und kriminalpolitischer Einflußnahme. In: FS für H. Göppinger. Berlin u.a. 1990, 89-101; Müller-Dietz, Kriminologie zwischen Theorie und Praxis. In: FS für P. Braun. Saarbrücken 1986, 57-75, Sack, Das Elend der Kriminologie und Überlegungen zu seiner Überwindung. Ein erweitertes Vorwort zu Strafe, Strafrecht, Kriminologie, hrsg. v. Ph. Robert. Frankfurt/M. 1990, 15-55.
- Erkenntnissteigerung
Kriminologie will die Erkenntnis zu ihren Problembereichen systematisch steigern. Ihre Hauptaufgabe besteht daher in der Gewinnung eines festen Bestandes an gesichertem Wissen. Unterschiedliche Forschungsansätze streben danach, ohne daß einem von ihnen prinzipiell der Vorrang zukäme. Das Bestreben, Entwicklungen der Persönlichkeit, des Verbrechens und der strafrechtlichen Sozialkontrolle zu untersuchen, greift über das Beschreiben und Sammeln von Tatsachen notwendig hinaus (siehe unten § 9). Denn die Kriminologie will die Hintergründe, Zusammenhänge und Strukturen ihres Problemfeldes erfassen, will Orientierungswissen erlangen und vermitteln. Damit ermöglicht sie zugleich Kritik und Verbesserung des Strafrechts. Die Sicherung des Wissens setzt allerdings „paradigmatischen Konsens“, also die Übereinstimmung der Wissenschaftler einer bestimmten Epoche hinsichtlich theoretischer Modelle, Forschungsmethoden und Erkenntnisstand, voraus. Sie kann deshalb immer nur für eine bestimmte Theorie vorliegen (zu den Methoden kriminologischer Forschung vgl. LB § 5 sowie Göppinger 1997, 47 ff.). - Sammlung und Dokumentation von Daten
Wenn man sich der Erkenntnisaufgabe der Kriminologie bewußt bleibt und die Datensammlung nicht zum Selbstzweck werden läßt, Kann auch die Zusammenstellung und Dokumentierung kriminologischer Informationen sowie der Evaluation sinnvoll sein. Kriminologie als sogenannte Clearing-Zentrale meint eine Sammelstelle von kriminologisch relevanten Informationen für Wissenschaft, Gesetzgeber und Strafrechtspraxis. Soweit es um die Befriedigung rein praktischer Bedürfnisse und um die Durchführung von Sekundäranalysen geht, ist daher eine solche zentrale Datensammelstelle nützlich. Die modernen Verfahren der Speicherung und Abrufbarkeit von Informationen haben jene Vorstellung belebt. Dies hat wohl auch die deutschen Justizverwaltungen angeregt, eine sogenannte Kriminologische Zentralstelle einzurichten (dazu Jehle/Egg 1986, 5 ff.).
Obwohheine zentrale Erfassung, Verfügbarmachung und Abrufbarkeit kriminologischer Daten auch für die Wissenschaft nicht zu gering zu veranschlagen ist, geht der Anspruch der Kriminologie über den einer Clearing-Zentrale weit hinaus. Schon eine theorielose Beschreibung oder Sammlung von Daten ist — wie erwähnt — wissenschaftlich nicht möglich. Auch wandeln sich Theorie und Blickrichtung. Zahlreiche Streitfragen und kontroverse Befunde lassen dies erkennen. Wegen der Verkennung derartiger Einsichten kann es gelegentlich zu sogenannten Datenfriedhöfen kommen. Damit ist die Zusammenstellung von Informationen gemeint, die zu einem späteren Zeitpunkt wegen des folgenden Theorie- und Erkenntniswandels nicht mehr brauchbar erscheinen. Zu denken ist etwa an das in den zwanziger und dreißiger Jahren übliche Sammeln kriminalbiologischer Informationen in den Einrichtungen des sogenannten Kriminalbiologischen Dienstes. 1938 stellte „das Material von mehr als 21 000 Untersuchten die zweitgrößte kriminalbiologische Sammlung in Europa dar“ (Blätter für Gefängniskunde 1938, 169). Doch jene Dokumentation wurde durch die Rassenbiologie verzerrt; sie blieb überdies unausgeschöpft und der Erkenntnisgewinn gering. Solche Aktensammlungen lassen sich heute bestenfalls noch unter wissenschaftsgeschichtlichem Interesse analysieren, erfüllen jedoch keinen weiteren Zweck. Deshalb ist auch die Idee des Kriminologischen Dienstes nur in der Weise sinnvoll, daß man im Strafvollzug eine praxisbegleitende Forschung einrichtet (vgl. § 166 StVollzG) und seine Aufgaben auf Bewährungshilfe und Führungsaufsicht ausdehnt.
3. Anwendungsorientierung
Die technologische Forschungsorientierung und praxisbezogene Untersuchung wird man also nicht gering veranschlagen und deshalb konzeptuell auch nicht zu eng begreifen dürfen. Sie ist genauso legitim wie die sogenannte Grundlagenforschung in der Kriminologie. Die polemischabwertend gemeinten Bezeichnungen „administrative“ oder „populistische Kriminologie“ sind kaum geeignet, die Anwendungsorientierung zu treffen, geschweige eine solche Aufgabe auszuschöpfen. Zu denken ist beim Praxisbezug vor allem an Prävention, Prognose, Sanktion, Effizienz und Reform. Gerade eine Kriminologie, die sich mehrdimensional, interdisziplinär und vergleichend versteht, wird eine Fülle von Aufgaben der Bedarfsforschung erwarten dürfen, auch wenn sich diese um den Gedanken der Folgenorientierung bündeln. Eine Phase größerer Bereitschaft der Praxis und des Gesetzgebers für die Auf- und Übernahme empirischer Befunde läßt auch den Bedarf an verfügbaren und verläßlichen Daten wachsen. Dieses Bedürfnis trifft selbst dann zu, wenn die Planungs- und Entscheidungsvorgänge allgemein bei unvollständiger Information verlaufen.
Allerdings werden gegenüber der „Verwissenschaftlichung staatlicher Kontrolle“ und der ihr dienstbaren Kriminologie als „Kontrollwissenschaft‘ — ein Thema, das weit zurückreicht — zunehmend Bedenken erhoben. Aus ihnen folgen teils Bemühungen zur multifunktionalen Erweiterung, teils Verweigerungsempfehlungen, teils die Forderung nach „einer unabhängigen und unerschrockenen Kriminologie“, deren Aufgabe die wissenschaftliche „Kontrolle der Kontrolleure‘‘ sein müsse (Albrecht 1986, 188). Kontrollmaßstab habe vor allem die Menschenwürde und Autonomie der „Rechtsunterworfenen“ zu sein. Jenem Postulat begegnet freilich bereits die metatheoretische Forderung „Keine Kontrolle ohne Kontrolle der Kontrolle!“ (Klug 1988, 251) und damit ein Kontrollregreß ad infinitum. Außerdem werfen alltägliche Deliktserfahrungen wie die „Gewalt im Straßenverkehr“ die schwierige Frage nach der Verletzung der Menschenwürde auf, ohne daß hier ein überlegener Lösungsbeitrag „unerschrockener Kriminologie“ auch nur erkennbar würde. Im übrigen erscheint zweifelhaft, ob das wissenschaftliche Potential der Kriminologie zureicht, eine solche Aufgabe wahrzunehmen, und ob gegebenenfalls dafür die Kriminologie hauptsächlich, geschweige allein zuständig wäre. Dies gilt auch dann, wenn man herrschaftskritisch im Staat das spezifische Forschungsobjekt der Kriminologie, oder genauer der Strafrechtssoziologie, erblickte. Denn bekanntlich bildet der Staat bereits den Gegenstand mehrerer anderer Wissenschaften wie der allgemeinen Staatslehre und der Politikwissenschaft, von der Verarmung und Verengung des Objektbezuges gar nicht zu reden. Letztlich handelt es sich um die Beantwortung der Frage, wem kriminologische Forschung dienen soll und darf.
So wichtig die technologische Orientierung auch sein mag, sie erschöpft die Aufgaben des Kriminologen nicht. Andernfalls könnte er — wenn nicht zum handlungsunfähigen Sozialkritiker — zum reinen Technokraten werden. Im Umgang mit dem straffälligen Menschen und dem Verbrechensopfer wird nämlich auch Herrschaft ausgeübt und sind fundamentale Werte, insbesondere die Menschenrechte, betroffen. Deretwegen kann auch der Kriminologe nicht aus seiner Verantwortung entlassen werden. Deshalb leuchtet ein, wenn eine kriminologische „Orientierung an der erkenntnisleitenden Idee“ empfohlen wird, „menschliches Leiden im Umfeld von Kriminalität und Kriminalisierung zu mindern“ (Kunz 1990, 100). Freilich läßt sich auch dieser Anspruch bei aller Attraktivität nur einlösen, wenn man über das erforderliche Erfahrungsniveau verfügt und die Aufgaben der Bedarfsforschung zu bewältigen vermag.
§ 3 Rolle und Verantwortung des Kriminologen
Schrifttum: Brusten, Forschung für wen, für was und mit welchen Konsequenzen? In: Problematik des Strafvollzugs und Jugendkriminalität, hrsg. v. Petersohn u.a. Heidelberg 1984, 63-76; Eser, Risiken und Privilegien des Forschers — Eine Problemanalyse. In: Forschung im Konflikt mit Recht und Ethik, hrsg. v. Eser u.a. Stuttgart 1976, 7-39; Jehle (Hrsg.), Datenzugang und Datenschutz in der kriminologischen Forschung. Wiesbaden 1987; Kaiser, „Biokriminologie“, „Staatskriminologie“ und die Grenzen kriminologischer Forschungsfreiheit. In: FS für H. Leferenz. Heidelberg 1983, 47-68; ders., Brauchen Kriminologen eine Forschungsethik? MschrKrim 74 (1991), 1-16; Quensel, Kriminologische Forschung. Für wen? Oder: Grenzen einer rationalen Kriminalpolitik. KrimJ 16 (1984), 201-217; Schöch, Datenschutzrechtliche Voraussetzungen der Akteneinsicht für kriminologische Forschungsvorhaben. In: Datensammlungen und Akten in der Strafrechtspflege, hrsg. v. Jehle. Wiesbaden 1989, 299-319.
- Kriminologische Erkenntnis – für wen und wozu?
Versteht man Kriminologie als angewandte Grundlagenforschung, so stellt sich auch die Frage, wem diese Forschung dient, zumindest dienen soll, oder ob sie gar folgenlos bleibt. Erfahrungen und Analysen zeigen, daß große Erwartungen über die Einflußmöglichkeit der Kriminologie auf die Kriminalpolitik, sei es im Sinne einer Legitimation oder Delegitimation, als verfehlt, ja naiv erscheinen (eingehend unten § 50). Dazu sind die Wege der Kriminalpolitik viel zu verschlungen und vielschichtig. Deshalb wird begreiflich, wenn etwas resignierend angenommen wird, „daß kriminologische Forschung zunächst einmal um des Forschers willen für sich selber geschieht, daß ihr Einfluß üblicherweise nur indirekt über Sozialisation und Legitimation erfolgt“ (Quensel 1984, 213 £f.). Dem ist zuzustimmen, wenn hierbei das Erkenntnisinteresse, also auch die Suche nach Wahrheit, nicht ausgeklammert wird. Hieraus schöpft auch der Kriminologe in erster Linie seine Rechtfertigung.
Soweit aber Kriminologen zu kriminalrechtlichen Lösungen beitragen, dienen auch sie notwendig der „Herrschaft“, das heißt den Gruppen, die legitimerweise Ziele und Interessen der Gesellschaft im Staat durchsetzen. Sie nehmen am Herrschafts-Diskurs teil. Überdies ergreifen sie Partei für die staatlich organisierte Gesellschaft oder für bestimmte Minderheiten. Man kann diesen Konflikt nicht dadurch entschärfen oder gar lösen, daß man den (soziologischen) Begriff der „Herrschaft“ ignoriert oder als unangemessen verwirft. Denn auch dann, wenn man die Rolle des Kriminologen und den Zweck seines Wissens nicht „beim Namen nennt“, bleibt das Problem der Herrschaft und der Teilhabe daran bestehen. Die Abnutzungserscheinungen und der Mißbrauch des Begriffs der „Herrschaft‘ in den letzten Jahrzehnten führen zu keiner anderen Auffassung. Gleichwohl kann (auch) das kriminologische „Herrschafts- oder Leistungswissen“ in sehr unterschiedlicher Weise der praktischen Veränderung der Welt und den möglichen Leistungen dienen. Selbst in der „Herrschaftskritik“ (sieheunten § 14) drückt es sich noch aus.
2. Verhaltenstypen des Kriminologen
Das heutige Spektrum kriminologischer Tätigkeit reicht demgemäß von der Legitimationswissenschaft bis zur Herrschaftskritik. „Kriminologie zum Zwecke der Gesellschaftskritik“ oder „Theorielosigkeit und politische Botmäßigkeit“ veranschaulichen die Positionen. Wissenschaftler, die sich praktisch engagieren, neigen allerdings dazu, ihre kritische Distanz zur Praxis einzubüßen. Kriminologen als praxisbegleitende Forscher oder gar als praktische Kriminalpolitiker geraten daher gelegentlich in die Gefahr, zu Verteidigern des Status quo oder der von ihnen betreuten Experimente zu werden. Jenes Risiko trifft freilich nicht nur die Kriminologen, sondern auch Sozialarbeiter und alle Sachverständigen, die sich auf das gegebene kriminalrechtliche System „einlassen“. Überdies begünstigt der Bereich angewandter Forschung diejenigen Wissenschaftler, deren Wertungen weitgehend gesellschaftskonform verlaufen. Die Konformität erscheint wegen ihrer Tendenz zur Stabilisierung des Status quo wiederum manchen Kritikern als verdächtig. Dies gilt besonders seit der weltweiten Protestbewegung Mitte der sechziger Jahre.
Trotz mancher Überschneidungen kann man die Rolle des Kriminologen durch folgende fünf Verhaltenstypen kennzeichnen:
1. Der Beobachter, der die Dinge beschreibt, wie sie „sind‘‘ oder wie er sie vorfindet; 2. der Theoretiker, der die Zusammenhänge erklärt; 3. der Ideologe, der für oder gegen den Stand der Dinge argumentiert und Vorschläge macht, wie sie eigentlich sein sollten; 4. der Praktiker, der dazu beiträgt, was nach seiner Auffassung sein sollte, und 5. der Methodologe, der u.a. die vorerwähnten Verhaltenstypen analysiert.
Man wird daher fragen, ob Kriminologen nur darauf beschränkt bleiben müssen, zu beobachten und „zu entzaubern“, oder ob sie auch mithelfen sollen, bessere kriminalpolitische Lösungen zu erreichen, wobei sie möglicherweise ihre kritische Distanz einbüßen. Der Distanzverlust tritt freilich auch dann ein, wenn Kriminologen aus Verantwortung gegenüber den sozialen Randgruppen mit diesen sympathisieren und gegen die etablierte Gesellschaft Partei ergreifen. Bei solcher „Anwaltschaft ohne Auftrag“ ist meist die Annahme leitend, daß die gefährdete Minderheit ihren eigenen Willen nicht genügend ausdrücken und durchsetzen könne.
Kriminologen dürfen und müssen in einem gewissen Grad ein „gebrochenes‘‘ Verhältnis zur geltenden Rechtsordnung haben, wollen sie Gesetzgeber, Polizei und Strafrechtspflege beobachten. Dieser wissenschaftlich notwendige Spielraum schließt aber noch keine privilegierte, also rollenspezifische Befugnis zum zivilen Ungehorsam ein, etwa in den Nischen der Wissenschaft „Widerstand“ zu leisten. Noch weniger wird man den Strafrechtspraktikern ein solches Verhalten zubilligen (dazu vor allem die Diskussion zur sog. Richterblockade in Mutlangen im Januar 1987, DRiZ 1987, 162 ff.). Man erwartet von ihnen die Bindung an das Gesetz sowie eine sozialverteidigende Einstellung und damit ein rollengemäßes Verhalten als Träger gerechter Verbrechenskontrolle. Die Zusammenarbeit zwischen wissenschaftlicher Forschung einerseits und Strafrechtspflege oder Strafgesetzgeber andererseits kann nur dann fruchtbar werden, wenn die Verschiedenheit der Verantwortung des handelnden Strafrechtlers und des forschenden Kriminologen nicht aus dem Blickfeld gerät. Man wird also prinzipiell von der Autonomie der beiden Seiten auszugehen haben.
3. Wissenschaftsfreiheit, Forschungsethik und Datenschutz
Wie die Wissenschaft allgemein, so ist auch die Kriminologie in der Wahl und Erfüllung ihrer Forschungsaufgaben grundsätzlich frei. Die Wissenschaftsfreiheit ist überdies verfassungsrechtlich garantiert. In der Freiheit der Forschung, die Fragestellungen selbst zu wählen, wird geradezu der Kern der Wissenschaftsfreiheit erblickt. Für diese Wahl wiederum ist aber der Wissenschaftler moralisch verantwortlich; eine Verantwortung, die ihm nicht von Dritten abgenommen werden kann. Denn die verfassungsrechtliche Garantie der Wissenschaftsfreiheit befreit nicht vom Sittengesetz. Dadurch jedoch wird das Verhältnis zur Gesetzgebung erschwert, weil äußerer Zwang und eine Konkretisierung der Pflichten durch den Gesetzgeber die Freiheit aufheben würden, die doch gerade gewährleistet werden soll. Auch im Rückbezug auf die Ethik müssen daher die moralischen Gebote für den Wissenschaftler in einer Weise ermittelt werden, die sich an der Ratio dieser Gewährleistung der Wissenschaftsfreiheit orientiert.
Zwar wird auch die Kriminologie wie alle Wissenschaft durch ihr Verhältnis zur Wahrheit und Wahrheitssuche legitimiert. Aber wir können nicht die Tatsache übersehen, daß in manchen Zeiten und Gesellschaften die Wahrheitssuche vernachlässigt, unterdrückt, ja verboten wird. Dies kann durch die Zensur des Staates, einer Partei oder durch religionsbezogene Institutionen erfolgen, ferner durch sogenannte „Staatsforschung‘“ (dazu Brusten 1984, 66 ff.; kritisch Kaiser 1983, 60), aber auch durch die unabhängige Wissenschaft selbst. Denn diese folgt stets bestimmten Fragestellungen. Sie befindet weitgehend darüber, was gelehrt, geprüft und veröffentlicht wird. Ferner entscheidet sie, wer sich innerhalb der herrschenden Paradigmen qualifizieren kann und günstige Aufstiegschancen erhält, ebenso wer nicht zur Kenntnis genommen, „totgeschwiegen“ oder mit sonstigen negativen Sanktionen (z.B. durch sog. „Verriß“ in Rezensionen) belegt wird. Auch die heutige Kriminologie kennt derartige Mechanismen, und zwar sowohl im Ausland wie in der Bundesrepublik.
Die angedeuteten Selektionsprozesse und Begleiterscheinungen wissenschaftlicher Rekrutierung sind weithin legitim, ja wegen des wissenschaftlichen Fortschritts notwendig. Voraussetzung ist nur, daß die entsprechenden Vorgänge nachvollziehbar sind und anerkannten Standards (Ethos der Wissenschaft) folgen. Dagegen freilich melden sich mitunter Bedenken. Nicht weniger wichtig erscheint, daß Polarisierung und Politisierung der Wissenschaft der letzten Jahrzehnte zur Vernachlässigung oder Unterdrückung mancher Orientierung beigetragen haben.
Die Wissenschaft hat weithin eine Art Monopol in der Erkenntniserzeugung. Darauf kann der moderne Verwaltungs- und Sozialstaat kaum verzichten. Zwar garantiert, wie erwähnt, das Grundgesetz die Freiheit kriminologischer Wissenschaft in Forschung und Lehre. Allerdings verfügt der Staat über die Macht, die Rahmenbedingungen der Wissenschaft festzulegen. Daher hilft die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte dann nicht weiter, wenn es um die organisatorischen und finanziellen Voraussetzungen dieser Freiheit geht, die heute weitgehend nur noch vom Staat erfüllt werden können. Dabei handelt es sich im wesentlichen um die Institutionalisierung kriminologischer Forschung überhaupt, um die Ermöglichung des Zugangs und um die Bereitstellung von Ressourcen angesichts beschränkter Leistungsfähigkeit des Staates. Selbst wenn die Legislative Grundsatzentscheidungen darüber trifft, welche Forschungsbereiche besonders zu fördern sind, verbleibt der Exekutive stets ein Vergabespielraum. Obschon die Handhabung des Vergabeermessens dem Willkürverbot unterliegt, besteht doch keinesfalls ein positiver Leistungsanspruch des einzelnen Forschers. Demgemäß sind Konflikte vorgezeichnet, wenn sich der Kriminologe mit grundsätzlich unbegrenzter Neugier Forschungsproblemen zuwendet (Eser 1976, 13 f.), bei der Verwirklichung seiner Forschungspläne auf die Unterstützung staatlicher und forschungsbürokratischer Stellen angewiesen ist, aber tatsächlich keine Förderung findet. Belangvoll äußert sich dies vor allem in der Beschränkung des Zugangs zu den gewünschten Daten und bei der Ressourcenverteilung. Um aber. wissenschaftlich nach Wahrheit forschen zu können, braucht man den Zugang zu Informationen und entsprechende Forschungsmittel.
Die Forschungsfreiheit kann durch Einflußnahme auf Datenzugang und -gewinnung auf verschiedene Weise beeinträchtigt werden. Zu denken ist neben der Mittelverknappung zwar zunächst an das Verbot oder die Verwehrung des Zutritts, an die versagte Mitwirkung bei der Erhebung, etwa im Strafvollzug oder in der Strafrechtspflege. Eine weitere Möglichkeit ist die Beschlagnahmedrohung im Falle der Erhebung relevanter Informationen zur Aufklärung eines Kriminalfalles. Außerdem hat man die Einschränkungen durch Auftragsforschung und durch Auflagenerteilung zu berücksichtigen. Ferner begrenzen Datenschutzmaßnahmen die Forschungsfreiheit.
Alle diese Einschränkungsmöglichkeiten sind wichtig. Sie spiegeln sich auch im Erfahrungsbereich kriminologischer Forschung während der letzten Jahrzehnte wider. Die Kritik an der sogenannten „Staatsforschung“ beschränkt sich aber nur auf einen Teil der Zugangsproblematik und Ressourcenverteilung, also auf Gesichtspunkte, denen gegenwärtig nur partiell reale Bedeutung zukommt. Grundsätzlicher und folgenreicher als beim Gegensatz von verwaltungsinterner Forschung und unabhängiger Wissenschaft äußert sich das Spannungsverhältnis von Freiheit und Verantwortung der Forschung beim sogenannten Datenschutz. Diese Problematik ist deshalb so bedeutsam, weil es sich hier um ein verfassungsrechtliches Spannungsverhältnis, nach traditioneller Auffassung um einen Anwendungsfall des Grundrechtskonflikts zwischen dem Datenschutz als Konkretisierung der Menschenwürde und Ausgestaltung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 1, Abs. 1,2 Abs. 1 GG) und der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG), handelt.
Danach ist die unbeschränkte und ungesicherte Weitergabe beliebiger personenbezogener Daten an die Wissenschaft verfassungsrechtlich ebenso unzulässig wie die generelle Weigerung, der Wissenschaft personenbezogene Daten überhaupt zur Verfügung zu stellen. In diesem Falle wäre die Wissenschaft geradezu in ihrem Kernbereich betroffen. Soweit die Forschung auf personenbezogene Daten zugreifen möchte, entsteht bei der Datenübermittlung jedoch ein Zielkonflikt zwischen der Wissenschaftsfreiheit und dem das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sichernden Datenschutz. Da es sich bei beiden um verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter handelt, kann weder der Wissenschaftsfreiheit noch dem Datenschutz ein grundsätzlicher Vorrang zukommen. Nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz sind sie so zu begrenzen, daß beide Grundrechte zu optimaler Entfaltung gelangen können. Deshalb muß die Abgrenzung verhältnismäßig sein und darf nicht weiter gehen, als es notwendig ist, um die Konkordanz beider Rechtsgüter herzustellen. Diese Grenzziehung erfolgt durch eine Güterabwägung. Sie hat sich an der Bedeutung der kollidierenden Grundrechte zu orientieren und die Einheit der Verfassung zu beachten. Eine sinnvolle Problemlösung kann daher nur auf einem Interessenausgleich beruhen, den das Gesetz aber auch ermöglichen muß. Unter Bezugnahme auf das „Volkszählungsurteil‘ des BVerfG (E 65, 1) wird hingegen ein weiterreichender Persönlichkeitsschutz beansprucht. Eine solche Argumentation läßt jedoch schon die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung mit der Wissenschaftsfreiheit vermissen.
Die Betonung von „Verwendungszusammenhang“ und Mißbrauchsgefahr ist nicht nur einleuchtend zu begründen, sondern auch für die Abwägung mit der Wissenschaftsfreiheit entscheidend. Denn dadurch wird das konkrete, durch den Datenschutz zu sichernde Gefährdungspotential bestimmt.
Die Probleme im Spannungsverhältnis von Datenschutz und wissenschaftlicher Forschung sind jedoch besonders gelagert (Bayer, FamRZ 1986, 644). Der entscheidende Unterschied zwischen der Datenverarbeitung durch die Staatsverwaltung und der Datenverarbeitung durch die unabhängige Wissenschaft liegt in der Qualität des Gefährdungspotentials. Selbst die seltene personenintensive Forschung führt zu keiner Bedrohung der allgemeinen Privatsphäre, die mit der Bedrohung durch die staatliche Informationsverwaltung vergleichbar wäre. Im Gegensatz zur Staatsverwaltung ist eine interventionsbezogene Datennutzung im wissenschaftlichen Forschungsbereich ausgeschlossen. Generell ist der einzelne für die Forschung lediglich als Merkmalsträger relevant. Damit ist der Verwendungszusammenhang hier ein völlig anderer. Noch deutlicher wird der qualitative Gefährdungsunterschied bei der Forschung, die nur anonyme Daten benötigt, jedoch in vielen Fällen, in denen solche Daten nicht aufbereitet vorliegen, erst personenbezogene Daten in aggregierte Daten umwandeln muß. Auf das Spannungsverhältnis zwischen Datenschutz und Forschungsfreiheit können somit die verfassungsrechtlichen Richtlinien des Volkszählungsurteils nicht pauschal übertragen werden.
Relevant werden Rechte und Maßnahmen des Datenschutzes vor allem bei der Informationsübermittlung, der zumutbaren Einholung einer Einwilligung des Betroffenen, der Benachrichtigungspflicht, der Art der Verarbeitung und der Aufbewahrung von Daten. Deshalb ist eine Reihe von Kontrollmaßnahmen zu treffen, um den Schutz personenbezogener Daten sicherzustellen und den Mißbrauch auszuschließen (vgl. Anlage zu§9S. 1 BDSG). So wichtig und notwendig diese Vorkehrungen auch sind, so beeinträchtigend wirken sich manche jener Regelungen auf die Durchführung der Forschung aus. Die Tragweite tritt besonders bei Längsschnittuntersuchungen (z.B. Kohortenstudien), der personenbezogenen Begleitforschung (etwa zum Jugendvollzug oder zur Sozialtherapie) und der Implementationsforschung (etwa zu § 218 StGB, Opferschutzgesetz, Geldwäsche sowie Umwelt- und Wirtschaftsstrafrecht) deutlich hervor.
Aber auch dann, wenn man von den genannten Gefährdungen und Beeinträchtigungen der Forschungsfreiheit absieht, bleiben gravierende Probleme bestehen. Man pflegt sie zunehmend mit dem Begriff der Forschungsethik zu bezeichnen. In Unterscheidung zum „Ethos der Wissenschaft“ als Verhaltensstandard methodengerechter Forschung durch anerkannte Forschungsmaximen und konkrete Verhaltensregeln meint die Forschungsethik das Problem der moralischen Verantwortbarkeit von Forschungsfolgen für die Gesellschaft und besonders für die Versuchspersonen. So ist es etwa forschungsethisch relevant, wenn Interviewpartner getäuscht werden oder wenn im Rahmen der Behandlungsforschung die Zuweisung der Probanden zur Kontroll- und Vergleichsgruppe durch ein Zufallssystem gewährleistet wird. Während die Täuschung der Versuchspersonen forschungsethisch verwerflich ist, ist die Implementierung eines Zufallssystems im Interesse eindeutiger Erfolgsbeurteilung zu legitimieren, da sich andernfalls mögliche Selektionseffekte und andere Störvariablen nicht ausschalten lassen.
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung erfordert wirksame und ausreichende Sicherungsvorkehrungen seitens der forschenden Stelle. Erst wenn ein Mißbrauch persönlicher Daten soweit wie möglich ausgeschlossen ist, kann dem Betroffenen die Überlassung seiner persönlichen Daten zugemutet werden. Personenbezogenes Datenmaterial ist bei der forschenden Stelle aber erst dann wirklich sicher, wenn auch dem Staat die Zugriffsmöglichkeit verwehrt ist. Zu fordern ist daher die Schaffung eines Forschungsgeheimnisses mit entsprechenden Beschlagnahmeverboten und dem Zeugnisverweigerungsrecht des Wissenschaftlers.
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