3. Geschlecht und Kriminalität
Schrifttum: Adler, Sisters in Crime: The Rise ofthe New Female Criminal. New York 1975; Albrecht, H.-J., Die sanfte Minderheit. Mädchen und Frauen als Straftäterinnen. BewHi 34 (1987), 341-359; Althoff (Hrsg.), Geschlechterverhältnis und Kriminologie. Krim], Beiheft 5, 1995; Funken, Frau, Frauen, Kriminelle. Zur aktuellen Diskussion über „Frauenkriminalität“. Opladen 1989; Gransee/ Stammermann, Kriminalität als Konstruktion von Wirklichkeit und die Kategorie Geschlecht. Versuch einer feministischen Perspektive. Pfaffenweiler 1992; Kaiser, Das Bild der Frau im neueren kriminologischen Schrifttum. ZStW 98 (1986), 658-678; Kreuzer, Cherchez la femme? Beiträge aus Gießener Delinquenzbefragungen zur Diskussion um Frauenkriminalität. In: GS für Kaufmann. Berlin 1986, 291-308; Leder, Frauen- und Mädchenkriminalität. Eine kriminologische und soziologische Untersuchung. Heidelberg 1988”; Lombroso/Ferrero, Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte. Hamburg 1894; Pollak, The Criminality of Women. Westport 1950; Schmölzer, Aktuelle Diskussionen zum Thema „Frauenkriminalität“ — ein Einstieg in die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Erklärungsversuchen. MschrKrim 78 (1995), 219-235; Wilson, An International Perspective on Women and Criminology. In: IntHB 1983/1, 99-118; Wilson/ Herrnstein, Crime and Human Nature. New York 1985.
Die Kriminalität der Geschlechter zeigt erwartungsgemäß Unterschiede. Diese sind freilich so erheblich, daß Volksmund ebenso wie Fachsprache mit dem Wort „Verbrecher“ geradezu die Vorstellung verbinden, der Täter sei stets ein Mann. Vor allem handelt es sich um zwei Fragen, welche das Interesse auf sich lenken und die Diskussion beflügeln:
®° Die Gründe für den seit langem überlieferten geringen Anteil von Mädchen und Frauen an der bekanntgewordenen Kriminalität sowie ® die Ursachen für den international verbreiteten Anstieg der Frauenkriminalität in den letzten zwei Jahrzehnten.
Nach den kriminalstatistischen Materialien wird die registrierte Kriminalität überwiegend von Männern geprägt. Demgemäß betrug der Anteil der Frauen an allen Tatverdächtigen 1995 22,1% (PKS 1995, 76). Hingegen belief sich der Anteil der im Jahre 1994 verurteilten Frauen nur auf 15,1%. Von ihnen war wiederum rund ein Drittel vorbelastet. Freiheitsstrafen mußten lediglich 2129 Frauen verbüßen, deren Anteil an sämtlichen Strafgefangenen daher nur 4% ausmachte. Auch international betrachtet ist die Beteiligung von Mädchen und Frauen an der Kriminalität entsprechend gering (Wilson 1983, 105 ff., siehe Tab. 8). Danach weist kein Merkmal eine so große statistische Bedeutung auf wie das Geschlecht, Rechtsbrecher von Rechtskonformen zu unterscheiden.
Die Gültigkeit dieses Befundes wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, sondern nur abgeschwächt, daß Altersverlauf, Deliktsstruktur, Gebiet oder Dunkelfeldforschung die Unterschiede zwischen den Geschlechtern mildern (vgl. Schwind 1996, 64 £.).
So nähern sich die Deliktsbelastungen der Geschlechter mit zunehmendem Lebensalter in beachtlichem Ausmaß (vgl. Schaub. 10). Diese Entwicklung trifft zwar in Deutschland nicht in einem Grade zu wie anscheinend in Norwegen, wo sich das Verhältnis von einer etwa dreißigfachen zu einer dreifachen Mehrbelastung der Männer abschwächt. Immerhin verdoppeln sich hierzulande die Anteile der Frauen bei den über 60jährigen Verurteilten — verglichen mit den unter 25jährigen — auf mehr als 30%. Auch die Struktur der Kriminalität zeigt erhebliche Unterschiede der Geschlechter. Während Frauen an Gewaltdelikten erheblich unter dem erwartbaren Maß von 15 bis 25% beteiligt sind (1995: 10,8%), nähern sie sich beim leichten Diebstahl mit über 30%, im Falle des Laden- und Kaufhausdiebstahls mit rund 40%, dem männlichen Anteil und überflügeln diesen sogar bei Delikten wie der Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht mit jeweils über 60% im Jahre 1995. Hingegen weisen Straftaten im Amt, Verletzung der Unterhaltspflicht, Diebstahl unter erschwerenden Umständen, Sachbeschädigung, Delikte gegen sexuelle Selbstbestimmung einen Beteiligungsgrad von Frauen auf, der lediglich zwischen 3 und 10% liegt (vgl. Schaub. 11 und 12).
Gleichwohl bleibt die alte Feststellung richtig, daß die Kriminalität der beiden Geschlechter nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ, also ihrer Art nach, verschieden ist (Mezger, 1951, 13). Selbst dort, wo Frauen relativ häufiger kriminell in Erscheinung treten, ist die Kriminalität innerhalb der einzelnen Deliktsarten vergleichsweise weniger schwer und der Anteil an Bagatelldelikten weit höher (PKS 1995, 95).
Eine Modifikation der quantitativ verschiedenen Beteiligung der Geschlechter an der Kriminalität besteht aber darin, daß die Stärke der Unterschiede und damit das Bild von Nation zu Nation etwas abweicht, insbesondere wenn die Gesellschaften kulturell und damit auch die soziale Stellung der Frau divergieren (Exner 1949, 145, und Wilson 1983, 115). Doch nicht nur national, sondern auch regional und besonders lokal wird die Regelhaftigkeit der Beobachtungen etwas abgeschwächt. So erweist sich schon die Größe des Wohnotts für die weibliche Delinquenzhäufung als bedeutsam. In Großstädten z.B. nähert sich die Deliktsbelastung der Frauen eher jener der Männer an als in den Kleinstädten. Allerdings wird auch dadurch die Gültigkeit der Aussage, daß die Geschlechter quantitativ und qualitativ unterschiedlich an der Kriminalität beteiligt sind, nicht ernstlich in Frage gestellt.
Wenn in vielen Ländern der westlichen Welt die Kriminalität steigt und mehr Personen als zuvor häufiger straffällig werden, so ist allerdings eine entsprechende Zunahme der weiblichen Kriminalität keineswegs überraschend, sondern normal und daher erwartungsgemäß. Problematisch könnte der Anstieg krimineller Frauen erst dann sein, wenn er im Vergleich zu dem der Männer überproportional erfolgte. Auf einen derartigen Zuwachs scheint die Kriminalstatistik in vielen Ländern hinzuweisen und damit eine beachtliche Zunahme der Frauenkriminalität zu belegen. Polizei- und Rechtspflegestatistik weisen tendenziell übereinstimmend auf einen überproportionalen Anstieg weiblicher Rechtsbrecher in den beiden letzten Jahrzehnten hin (siehe Schaub. 13). Dabei wird die Zunahme überwiegend durch den Anstieg bei den Eigentums- und Vermögensdelikten bestimmt. Mehr als die Hälfte des Zuwachses entfällt auf den einfachen Diebstahl. Hingegen bleiben die Frauen bei den Gewaltdelikten unverändert stark unterrepräsentiert (vgl. Schaub. 12). Auch die in den achtziger Jahren erfragten Wahrnehmungen der Opfer bezüglich des Tätergeschlechts — der Anteil der Frauen an den Gewalttätern beträgt knapp 11% – zeigen substantiell keinen abweichenden Befund. Für den behaupteten neuen Typus des gewaltgeneigten weiblichen Rechtsbrechers findet sich so gesehen daher (noch) kein Anhaltspunkt.
Angesichts dieser Befunde stellt sich die Frage nach der weiblichen Kriminalität — des geringeren Anteils einerseits, aber auch des erheblichen Anstiegs andererseits – in neuem Licht. Dem steht nicht entgegen, daß der Versuch, die Besonderheiten weiblicher Kriminalität zu deuten, selten erlahmt und die Frage nach den spezifischen Ursachen nie verstummt ist. Substantiell jedoch geht der Streit wie ehemals kriminologisch um Gleichverteilung oder Verschiedenheit der Kriminalität der Geschlechter und kausaltheoretisch um biologische oder soziokulturelle Bedingtheiten.
Die Ansätze zur Erklärung weiblicher Kriminalität, die in die Gleichverteilungsthese münden, beginnen paradoxerweise mit Lombroso. Dieser nahm an, daß dem Verhalten der weiblichen Kriminellen ein abweichendes ererbtes Anlagenpotential zugrunde liegt, das sich aber nicht von dem der Prostituierten unterscheide. Der niedrige Anteil der weiblichen Kriminalität erkläre sich dadurch, daß für die Frau die Prostitution ein Ersatz für den Rechtsbruch sei (Lombroso/Ferrero 1894, 76). Gleichgültig, ob man damit die Prostitution als funktionales Äquivalent zur Kriminalität betrachtet oder ob man implicite von einem weitergefaßten Begriff abweichenden Verhaltens ausgeht, der Kriminalität und Prostitution in gleicher Weise erfaßt, in jedem Fall läuft die Argumentation Lombrosos auf die Gleichverteilungsthese hinaus. Daß sie nicht überzeugen kann, wurde schon ausgeführt.
Demgegenüber lenkte Pollak (1950, 44 ff.), der einem sozialwissenschaftlichen Ansatz folgte, die Aufmerksamkeit auf die Selektions- und
Kontrollmechanismen. Er suchte den niedrigen Anteil der Frauenkriminalität dadurch zu erklären, daß er annahm, die kriminellen Aktivitäten des weiblichen Geschlechts seien in Wirklichkeit kaum geringer als jene des männlichen; jedoch würden Frauen seltener entdeckt, weniger häufig angezeigt, überführt und verurteilt. Die „ritterliche“ Einstellung des Mannes verhindere häufig eine Strafverfolgung. Im übrigen werde die Frau vorwiegend als Anstifterin und Gehilfin tätig. Auch hier wird also substantiell von einer Gleichverteilung der Kriminalitätsbelastung beider Geschlechter ausgegangen, die allerdings durch die differentiellen Strafverfolgungsmechanismen verzerrt wird. Aussagekräftiger sind demgegenüber Dunkelfeldforschungen. Sie vor allem können neues Licht auf die Kriminalitätsbelastung beider Geschlechter werfen und den Streit darüber der Entscheidung näherbringen. Denn es könnte sich bei der Delinquenz von Frauen auch um sogenannte „maskierte Kriminalität“ handeln (vgl. Pollak 1950, 1 ff.), die weniger auffällt und daher schon seltener entdeckt wird. Einer solchen Annahme folgt denn auch die These von der annähernden „Gleichverteilung der Männer- und Frauenkriminalität“ (siehe dazu Leder 1988, 52 ff., 78 ££.).
Fassen wir die Überlegungen zusammen, so gelangen wir zu dem Schluß, daß die Annahme gleichverteilter Kriminalitätsbelastung beider Geschlechter empirisch nicht gesichert ist. Deshalb ist der Frage nachzugehen, ob und wie die unterschiedliche Kriminalitätsbelastung der Geschlechter erklärt werden kann. Auch hier stehen biologisch-anthropologische Annahmen sozialwissenschaftlichen Hypothesen gegenüber.
Da ganz allgemein sozio-biologische Ansätze in neuester Zeit eine unerwartete Renaissance erfahren haben (siehe oben § 26), verwundert nicht, daß auch die Kriminalität der Frau erneut in biologischer Perspektive gesehen wird. Doch die These leidet daran, daß sie nicht zu erklären vermag, wieso die Kriminalitätsbelastung des weiblichen Geschlechts im Laufe der Geschichte und international sehr verschieden ist, so daß die Unterschiede auch nicht mit einer biologischen Naturkonstante überzeugend erklärt werden können. Raum- und zeitbedingte Variationen zwingen daher dazu, auf spezifisch sozialkulturelle Bedingtheiten als Erklärung für die geringe weibliche Delinquenz zu schließen.
Die Vertreter der sogenannten Rollentheorie oder Anhänger der differentiellen Sozialisationstheorie gehen davon aus, daß sich das Verhalten der Frauen bislang nur teilweise an das der Männer angeglichen hat. Vielmehr wird angenommen, daß die unterschiedliche geschlechtsspezifische Rolle der Frau in unserer Kultur fest verankert sei. Die Frau durchläuft damit eine besondere Sozialisation und erlangt geschlechtstypische Verhaltensweisen, Motive und Einstellungen schon von Geburt an. Anforderungen, Erwartungen und Belohnungen richten sich von Anfang an nach dem Geschlecht und bestimmen so das Verhaltensrepertoire der Frauen selbst sowie der formellen und informellen Instanzen gegenüber weiblichem Verhalten, insbesondere die Reaktion auf abweichendes Verhalten. Mädchen werden stärker behütet und damit auch intensiver kontrolliert, lernen „weibliche“ Fähigkeiten und haben unter anderem in jungen Jahren vermehrten Kontakt mit weiblichen Personen. Dieser Ansatz nimmt Einzelelemente anderer Theorien, welche die weibliche Kriminalität nur punktuell erfassen können, wieder auf und vermittelt im Zusammenhang mit der Geschlechtskontrolle der Frau einen neuen Ansatz. Auch wenn über das maßgebliche Rollenleitbild Unsicherheit herrscht, so läßt sich nicht verkennen, daß das traditionelle oder konservative Frauenleitbild wenn nicht dominiert, so doch über eine starke Anhängerschaft und Verankerung verfügt (ähnlich Schneider 1987, 566).
Danach läßt sich nach dem heutigen Stand kriminologischer Analyse festhalten, daß der geringe Anteil weiblicher Kriminalität biologisch kaum überzeugend zu erklären ist, hingegen rollen- oder sozialisationstheoretisch einleuchtend begründet werden kann. Damit bleibt als die weitere klärungsbedürftige Frage nur noch jene nach dem verbreiteten Anstieg weiblicher Kriminalität während der letzten zwei Jahrzehnte (siehe Schaub. 13). Auch wenn international Lage und Entwicklungstendenzen uneinheitlich sind, so läßt sich doch nicht verkennen, daß in vielen der hochindustrialisierten Länder des Westens und des Fernen Ostens mindestens seit den siebziger Jahren ein bemerkenswerter Anstieg der weiblichen Kriminalität dokumentiert ist (vgl. Wilson 1983, 103). Allerdings ergeben sich nach Gesellschaftsformen (westlich, islamisch, sozialistisch u.a.), Deliktstypen und nach Altersgruppen erhebliche Unterschiede, welche die Bedeutung der Frage noch zusätzlich unterstreichen.
Eine ernstzunehmende biologische Erklärung für den partiellen Anstieg der weiblichen Kriminalität ist nicht ersichtlich. Sie ließe sich auch schwerlich begründen. Daher beschränkt sich das Erklärungspotential auf sozialwissenschaftliche Theorien. Dabei sind es vorwiegend drei Ansätze, die überwiegend erörtert werden:
® Die Emanzipationsthese, ®e die Annahme ökonomischer Bedürfnisse sowie ® die veränderte Sozialisation und informelle Sozialkontrolle, die auch die veränderten Gelegenheiten und erweiterten Handlungsspielräume für das weibliche Geschlecht einschließen.
Die Emanzipationsthese gipfelt mitunter in der Annahme des „neuen gewaltgeneigten weiblichen Rechtsbrechers“ (‚the violence-prone new femal criminal“: Adler 1975, 20). Teilweise werden auch Frauenbewegung und Anstieg der Verbrechensrate in Zusammenhang gerückt.
Nimmt man den Anteil von Frauen an allen Beschäftigten, also die Integration von Frauen in die Reihen der Berufstätigen, als Indikator für die Frauenemanzipation, so ergibt der internationale Vergleich zwischen den Vereinigten Staaten, Israel und Japan ein recht uneinheitliches Bild (vgl. Wilson 1983, 106). Jedenfalls läßt sich daraus kaum auf einen Kriminalitätsanstieg schließen. Noch weniger Anhaltspunkte scheinen für die Hypothese des gewaltgeneigten neuen weiblichen Rechtsbrechers vorzuliegen. Außerdem erweist sich die Emanzipationsthese als untauglich, die mit dem Lebensalter erneut steigende Deliktsrate zu erklären, die überdies schon seit langer Zeit einen solchen Verlauf aufweist. Ferner zeigten die — obschon spärlichen — Informationen aus der ehemaligen DDR, daß auch dort die Frauen eine geringere Kriminalitätsquote aufwiesen, obgleich sie dort länger und in einem höheren Grade in das Berufsleben integriert waren, als dies in Westdeutschland der Fall war und ist.
Danach läßt sich auch der Anstieg weiblicher Kriminalität ebenso wie schon der geringe Anteil der Frauenkriminalität überzeugend nur mit der differentiellen Sozialisationstheorie und der unterschiedlichen informellen Sozialkontrolle erklären. Lediglich am Rande treten noch besonders ökonomische Bedürfnisse, etwa bei sozialschwachen, alten und arbeitslosen Frauen hinzu und in ganz seltenen Fällen auch emanzipatorische Motive wie im Falle der Beteiligung von Frauen am deutschen Terrorismus.
Sozialisationsstörungen bei Mädchen und Frauen schaffen aber nicht nur Verhaltensunsicherheit und -auffälligkeit, sondern vereiteln geradezu die Erfüllung der sozialen Rolle, die fast alle Gesellschaften weitgehend übereinstimmend für die Frau vorsehen. Im Hinblick auf diese besondere Gefährdungslage werden in der Sozialisation des weiblichen Geschlechts entsprechende Konsequenzen gezogen. Vor allem wird eine intensivere Sozialkontrolle ausgeübt. Sie nimmt direkten Einfluß auf die Delinquenz, ist beim männlichen und weiblichen Geschlecht verschieden und hängt von der Rolle ab, welche die Gesellschaft für die verschiedenen Geschlechter vorsieht. Hier dürfte vor allem der Grund für die unterschiedliche Delinquenzbelastung der Geschlechter zu suchen sein. Die geringe Delinquenzbelastung des weiblichen Geschlechts dürfte daher weniger daraufberuhen, daß der Frau der Zugang zu illegitimen Mitteln vorenthalten wird. Ebensowenig dürfte der Anstieg der Frauenkriminalität nur damit zusammenhängen, daß Frauen zunehmend am Berufsleben und Geschäftsverkehr teilnehmen und somit mehr Möglichkeiten zur Deliktsbegehung haben. Denn die erhebliche Zunahme der registrierten Kriminalität des weiblichen Geschlechts zwischen 14 und 21 Jahren, die seit Mitte der sechziger Jahre hierzulande namentlich im großstädtischen Bereich beobachtet wird, läßt sich nur teilweise mit der Erweiterung der Zugangschancen erklären.
Man könnte für eine solche Annahme zwar den Anstieg weiblicher Täter bei der Begehung von Ladendiebstählen, Alkohol- und Drogendelikten sowie Verkehrsstraftaten anführen, neben den Sozialisationsdelikten (im Jugendschutzbereich) heutige Schwerpunkte weiblicher Kriminalität. Dieser Zuwachs hat nämlich zur Verdoppelung der Kriminalitätsbelastung weiblicher Jugendlicher seit den 60er Jahren geführt. Gleichwohl liegt die registrierte Delinquenzrate der über 50 Jahre alten Frauen seit langer Zeit wesentlich höher, ohne daß hier Veränderungen in der Chancenstruktur als Erklärung ausreichten. Auch widerspricht der angefochtenen Annahme, daß in den USA delinquente Frauen größtenteils der Unterschicht entstammen, kaum oder nur geringe Ausbildung erfahren haben und sich und ihre Kinder selbst versorgen müssen, während die Frauen, für die sich durch zunehmende Berufstätigkeit die Zugangschancen tatsächlich verbessert haben, mehr der Mittelschicht angehören.
Der Wandel in der Rolle der Frau läßt sich mit der These differentieller Sozialisation und unterschiedlicher (informeller) Sozialkontrolle erklären, einem Konzept, das nicht nur isoliert für die Frauenkriminalität, sondern darüber hinaus für die Kriminalität schlechthin ein beträchtliches Erklärungspotential aufweist. Insofern stellt sich die Frauenkriminalität auch nicht als isolierte Sondersituation innerhalb weitergreifender kriminologischer Phänomene dar (Schneider 1987,570).
Sozialisationsmängel und Integrationsstörungen reichen selbstverständlich über die Gruppe straffälliger Frauen hinaus. Gerade die unterschiedliche Beteiligung der Geschlechter am kriminellen Verhalten wirft über die Klärung der Gründe hinaus die Frage auf, warum — soweit von außen erkennbar — beim weiblichen Geschlecht der Sozialisationsprozeß allgemein störungsfreier verläuft. Denn die generell bessere Anpassung von Mädchen und Frauen an rechtliche Normen bis hin zu den Anforderungen im Straßenverkehr ist evident. Wenn es aber der soziale Lernprozeß ist, der eine umfassende Normkonformität bewirkt, dann ist damit zugleich, und zwar über den konkreten Anwendungsfall der Frauenkriminalität hinaus, dargetan, daß das soziale Lernen eine erfolgreiche Strategie zumindest dann ist, wenn sie mit großer Ausdauer und Intensität durchgesetzt wird.
§ 30 Bezugsfelder, Bindungen und Lebensstile
Schrifttum: Göppinger, Der Täter in seinen sozialen Bezügen. Berlin u.a. 1983; Hirschi, Crime and Family Policy. J of Contemporary Studies (Winter) 1983, 3-16: Kaiser, „Lebensstil“. Entwicklung und kriminologische Bedeutung eines Konzepts. In: FS für Göppinger. Berlin u.a. 1990, 27-40; Kerner/Weitekamp/Stelly, From Child Delinquency to Adult Criminality. First Results of the Follow-up of the Tübingen Criminal Behavior Development Study. EuroCriminology 8/9 (1995), 127-162; Keupp, Interpersonale Beziehungen. Eine deviante und eine konforme Gruppe im empirischen Vergleich. Heidelberg 1981; Kury, Familiale Erziehungsbedingungen und Kriminalität. In: Ist Straffälligkeit vermeidbar? Möglichkeiten der Kriminalprävention, hrsg. v. Kury. Bochum 1982, 72-219; Sarnecki u.a., Predicting Social Maladjustment. Stockholm Boys Grown Up. Stockholm 1985; West/Farrington, Who Becomes Delinquent? Second Report of the Cambridge Study in Delinquent Development. London 1973.
Wie die vorausgehende Analyse zeigt, lassen Daten des Sozialprofils Wahrscheinlichkeiten der Delingquenzgefährdung, jaanomische Syndrome erkennen. Kaum ein Merkmal weist eine derart große statistische Bedeutung auf, Rechtskonforme von Rechtsbrechern zu unterscheiden, wie Alter und Geschlecht. Das darüber hinausreichende Bestreben, unterscheidende Merkmale zwischen Rechtsbrechern und Rechtstreuen zu finden, hat Kriminologen schon seit langer Zeit veranlaßt, den verbrechensfördernden die verbrechenshindernden Merkmalsverbindungen gegenüberzustellen (z.B. Göppinger 1983, 20, 169 ff.; zu den Schwierigkeiten der Definition und Operationalisierung Eisenberg 1995, 1226). Typische Häufungen von Merkmalen sollen die Entwicklung von Straffälligkeit günstig oder hemmend beeinflussen. Gemeint ist mit derartigen als „kriminovalent‘“ oder „kriminoresistent‘ bezeichneten Konstellationen (dazu auch West/Farrington 1973, 162 ff., Göppinger 1997, 308 ff.), je nachdem ob sie fehlen oder vorliegen, unter anderem die Verknüpfung folgender Merkmale:
Erfüllung der sozialen Pflichten im Familien-, Arbeits- und Sozialbereich, adäquates Anspruchsniveau, gute Realitäts- und Selbstkontrolle, reales Verhältnis zu Geld und Eigentum, Lebensplanung, Anpassungsbereitschaft, verhältnismäßig hohe Belastbarkeit bei großer Ausdauer, Befriedigung bei der Berufstätigkeit, Gebundenheit an Häuslichkeit, Familienleben und Ordnung, produktive Freizeitgestaltung, persönliches Engagement für Sachinteressen, tragende personale Bindungen.
Danach handelt es sich offenbar im wesentlichen um Einstellungs- und Verhaltenskriterien, die sich auf unterschiedliche Ziel- und Wertorientierungen im Sozialisationsprozeß zurückführen sowie im Lichte der sogenannten Bindungstheorien erklären lassen (Kaiser 1990, 30; Kerner u.a. 1995, 158 ff.). Soweit Normen der Mittelklassengesellschaft, als herrschende Normen, verinnerlicht und zu Bestandteilen des individuellen Lebens geworden sind, erweisen sich die Personen auch als resistent gegenüber der Abweichung von Rechts- und Sozialordnung, insbesondere gegenüber dauernder und tiefgreifender sozialer Desintegration. Sie verhalten sich, mit anderen Worten gesagt, konform. Diese Verhaltenskonformität, vorbereitet durch Erlernen von Selbstsicherheit, durch Gewissensbildung, Leistungsmotivation, Bereitschaft und Fähigkeit zur produktiven Konfliktbewältigung und Solidarität, läßt sich anscheinend am besten und überwiegend dann erreichen, wenn
sichere Bindungen zu den Bezugspersonen bestehen, frühkindliche Schädigungen fehlen, ° die Eltern eine geachtete Stellung einnehmen, ® die Beziehungen der Eltern zueinander liebe- und verständnisvoll sind sowie ® die Aufgabenzuständigkeit in der Familie klar getrennt und ausbalanciert ist.
Dies jedenfalls zeigen neuere Untersuchungen. Mit dieser Beobachtung ist jedoch keine Verteidigung des herkömmlichen Familienmodells beabsichtigt.
„Nur“ die Befunde über Umwelt-, Verkehrs- und Wirtschaftskriminelle scheinen sich dieser Regel nicht zu fügen. Eine Ausnahme dürfte ferner für soziale und politische Extremsituationen (Kriegs- bzw. Nachkriegszeit) sowie kollektive Großkonflikte vorliegen. Hier handelt es sich teils um Mängel in der Verinnerlichung und Verhaltensdetermination durch Rechtsnormen, teils um Neutralisationstechniken und teils um Überforderungssituationen (Beispiel: „Notkenntkein Gebot!“).
Deuten aber im übrigen jene Kriterien unterschiedliche Lebenswelten, Sozialisationsstile und Wertorientierungen an, so liegt die Analyse derjenigen Träger und Mechanismen nahe, welche Normen der herrschenden Rechts- und Sozialordnung auf die junge Generation übertragen sollen. In erster Linie ist hierbei an Familie, Schule und Lehrbetrieb als den entscheidenden Sozialisationsmittlern und an die hier ablaufenden Prozesse zu denken (dazu Schwind 1996, 159 ff.). Außerdem spielen die Interaktionserfahrung mit Altersgruppen und kirchlichen Gemeinschaften sowie Massenmedien für die Sozialisation eine bedeutsame Rolle (zum Ganzen vgl. auch Schaub. 14). Gerade der Einfluß der Altersgruppe (Peer group) und weiterer Gesellungsformen, die mit einem beachtlichen Delinquenzpotential verbunden sein können, bedarf besonderer Beachtung und Analyse.
§ 31 Soziales Bezugsfeld „Gruppe“
Schrifttum: Franke, Kriminologische und strafrechtsdogmatische Aspekte der Kollegialdelinquenz. In: FS für Blau. Berlin u.a. 1985, 227-244; Jäger, Makrokriminalität. Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt. Frankfurt/M. 1989; Ohder, Gewalt durch Gruppen Jugendlicher. Berlin 1992; Reiss, Co-offending and Criminal Careers. Crime and Justice 10 (1988), 117-170; Sader, Psychologie der Gruppe. München 1991?; Schäfers, Einführung in die Gruppensoziologie. München 1980; Schild, Der strafrechtsdogmatische Begriff der Bande. GA 1982, 55-84; Schöch, Kriminologische Differenzierung bei der Zweierbande. NStZ 1996, 166-170; v. Trotha, Bande, Gruppe, Gang. In: KKW 1993°, 53-59.
Die Lebenswelt des Menschen wird von Anbeginn durch Gruppeneinflüsse bestimmt. Dabei dient das Konstrukt des Bezugsfeldes dazu, die Umwelt in einzelne Sozialbereiche aufzugliedern, in denen das Individuum sozialisiert wird. Neben der Familie (Herkunfts- und Eigenfamilie), Schule, Ausbildungs- und Arbeitsstelle sowie Kirche gilt die Altersgruppe der sogenannten Peers als wichtigstes Sozialisationsfeld. Dabei wird der in den ersten 10 bis 15 Lebensjahren überwiegende Sozialisationseinfluß der Familie allmählich durch jenen der Altersgruppe (Peer group) abgelöst (vgl. Schaub. 14). Für diese ist kennzeichnend, daß sie im Gegensatz zu den anderen Bezugsfeldern besonders aus der Sicht junger Menschen nicht mehr überwiegend von Erwachsenen dominiert wird und damit auch nicht erwachsenenbestimmt ist. Sie und andere Gesellschaftsformen können aber mit einem erheblichen Delinquenzpotential verbunden sein. Die sozialen Gruppenprozesse bedürfen daher besonderer Beachtung. Dabei verdient auch Aufmerksamkeit, um welche Gruppen es sich im einzelnen handelt und welches ihre Funktionen sind.
1. Bedeutung sozialer Gruppenprozesse
Personen, die häufig miteinander in Beziehung stehen, bezeichnet man meist als soziale Gruppe. Sowohl erwachsenen wie jungen Menschen gewährt die Bildung von Sozialgruppen ein Stück Eigenständigkeit gegenüber den „Zwängen der Gesellschaft“ (Schäfers 1980, 28 £.). Diese positive Funktion der Gruppe schließt allerdings eine negative Beeinflussung nicht aus. Denn auch soziale Gruppen können auf ihre Mitglieder Zwang ausüben, sie von weiteren Sozialkontakten ausschließen und so eine differenzierte Sozialisation verhindern. Sie können gar durch Vermittlung von nichtkonformen Werten zu abweichendem Verhalten des einzelnen führen. Deshalb sind die innerhalb der Gruppe bestehenden Gruppenzwänge und die einsetzende Gruppendynamik von besonderem Gewicht. Die in der Gruppe herrschenden gemeinsamen Vorstellungen üben eine Art Druck aus, in bestimmter Weise zu handeln oder nicht zu handeln, d.h. sich den in der Gruppe herrschenden Verhaltensmustern anzupassen. Auf diesem Wege bilden sich gruppeninterne soziale Normen oder gar eine gruppeninterne Subkultur. Durch das Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinschaft tritt der einzelne zurück. Normale Hemmungen und Kontrollen werden geschwächt. Der einzelne fühlt sich weniger verantwortlich und damit „entlastet“. In derartigen Geschehensabläufen ist daher die Ambivalenz, ja Gefährlichkeit der Gruppenbildung zu erblicken, sowohl für das einzelne Gruppenmitglied als auch für die potentiellen Opfer.
2. Tätergemeinschaften
Entsprechend dem Grad der Verfestigung, Organisation oder Stabilität kann man Kollegien, Cliquen, Rudel oder Banden unterscheiden. Doch läßt sich nach dem Stand empirischer Forschung nicht verkennen, daß innerhalb der gemeinschaftlichen Täterschaft — und dies trifft in Europa in weniger als der Hälfte aller Fälle zu (vgl. dazu v. Trotha 1993, 55) — die Zweierverbindung vorherrscht.
Von der personellen Benutzung ist die Zweierverbindung, auch Paar oder Dyade genannt, die kleinste soziale Einheit. Doch im Hinblick auf die möglichen Wechselwirkungen sozialer und psychischer Art ist sie ein äußerst komplexes Gebilde (Schäfers 1980, 22). Diese Tatsache und die vorrangige Stellung der Zweierverhältnisse bei gemeinschaftlicher Delinquenz Jugendlicher (Reiss 1988, 117 £.) rechtfertigen die Hervorhebung der Zweierverbindungen in dem hier gefaßten thematischen Rahmen, obwohl man kriminologisch erst bei Beteiligung von mehr als zwei Personen von einer „Gruppe“ sprechen kann (deshalb gegenüber der gegenteiligen Auffassung der Rechtsprechung kritisch Schöch 1996, 166 ff.).
Ferner handelt es sich um Gesellungsformen, die locker, diffus und gelegentlich auch situationsbedingt auftreten. Diese Merkmale kennzeichnen sog. Spontanund Gelegenheitsgruppen. Überwiegend stellt sich das Problem der kriminellen Gruppen- und Rudelbildung bei jungen Menschen (siehe dazu eingehend LB 8 51, 4.3).
Organisierte Vereinigungen oder Verbände nicht krimineller Art sind in der gegenwärtigen Gesellschaft offenkundig von Bedeutung. Dies trifft sowohl für Politik und Wirtschaft zu wie auch für den Freizeitbereich. Sie stellen damit in ihrer Funktion als Bezugsgruppen einen wesentlichen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens dar. Zu denken ist hier jedoch an die Delinquenz von Kollegien, einer Sonderkonstellation der Gruppenkriminalität in öffentlicher Verwaltung und Wirtschaft (vgl. Franke 1985, 227 ff.) und zugleich der Berufskriminalität. Kriminelle Vereinigungen hingegen finden sich heute vor allem im Bereich des sogenannten organisierten Verbrechens (siehe dazu oben § 22, 1) und in Form vonrechts- oder linksextremen Gemeinschaften des Terrorismus (dazu eingehend unten § 41). Teilweise werden auch Staatsführungen in totalitären oder korrupten Regierungssystemen, die ihre Macht mißbrauchen und sich im Rahmen von Gewaltverbrechen sowie entsprechenden Menschenrechtsverletzungen gegen Minderheiten im Staat richten (dazu Näheres oben § 23 m.N.), als organisierte Tätergemeinschaften betrachtet. Stets stellt jedoch der Zusammenschluß mehrerer Menschen zur kriminellen Bande eine besondere Beteiligungsform zur Begehung gemeinschaftlicher Straftaten dar (Göppinger 1997, 552). Diese kriminellen Verbindungen heben sich trotz unterschiedlichem Organisationsgrad von den bisher behandelten Gesellungen dadurch ab, daß strafbare Handlungen gerade den Inhalt ihres Entscheidungsverhaltens und den Zweck ihres Zusammenwirkens ausmachen. Daran ist die Bandenverbindung orientiert, obschon weniger dauerhaft und strukturell verfestigt als beim organisierten Verbrechen (vgl. Schild 1982, 55 ff. m. eingehenden N. zur älteren Literatur und Rechtsprechung; zum neueren Schrifttum Schwind 1996, 469 ff.).
3. Delinquente Gruppierungen und ihre theoretische Erklärung
Die Beziehung zwischen sozialer Interaktion, Gruppenzugehörigkeit und Lerntheorie verbindet der Gedanke, daß Interaktionen als wechselseitige Austauschprozesse von Belohnungen und Strafreizen gelten. Einen etwas anderen Ansatz bilden subkulturelle Konzepte, die zum Teil in der Tradition der Lerntheorie oder der Anomietheorie stehen.
3.1 Theorie der unterschiedlichen Kontakte
Schrifttum: Dull, Friends’ Use and Adult Drug and Drinking Behavior: A Further Test of Differential Association Theory. JCrim 74 (1983), 1608-1619; Geerds, Kriminelle Ansteckung und kriminelle Nachahmung. ArchKrim 168 (1981), 1-16; Hirschi/Gottfredson (eds.), Understanding Crime. Current Theory and Research. Beverly Hills 1980; Killias, „Kriminelles Verhalten wird gelernt“ — Aber wie? Zur Rezeption der Sozialisationsforschung in der Kriminologie. MschrKrim 64 (1981), 329-342; Sutherland/Cressey, Criminology. Philadelphia 1978.
3.1.1 Aussage und Anspruch
Besonders Sutheriand hat die sozialen Gruppenprozesse und ihren Einfluß auf das abweichende Verhalten des einzelnen in den Blickpunkt gerückt. Er hat die differentielle Assoziation oder treffender die unterschiedlichen Kontakte geradezu als Erklärungszusammenhang angeboten. Der theoretische Bezugspunkt ist die Lerntheorie. Diese hat Sutherland aus dem Bereich der allgemeinen Theorie sozialen Handelns für die Analyse kriminellen Verhaltens übernommen, teilweise in Anlehnung an das Nachahmungskonzept von Tarde (1895).
Die Lerntheorie Sutherlands verwendet einen sozialpsychologischen Bezugsrahmen. Nach ihr vollziehen sich Kontakte in sozialen Gruppen, und zwar in Gestalt von Lernprozessen. Auf diese Weise werden Verhaltensmuster, Wertorientierungen und Reaktionsweisen vermittelt. Da die Gesellschaft aus einer Vielzahl von Gruppen mit jeweils unterschiedlichem Norm- und Wertgefüge besteht, werden auch vom einzelnen Gruppenmitglied ganz verschiedene Wertorientierungen übernommen. Seine Wertorientierungen und Verhaltensmuster bestimmen sich nach Geschlecht, Alter und sozioökonomischem Status. Die erste der neun Thesen dieser Theorie lautet denn auch lapidar: „Kriminelles Verhalten ist gelerntes Verhalten“ (Sutherland/Cressey 1978, 80). Damit wird implizit gesagt, daß kriminelles Verhalten, weil es erlernt wird, weder ererbt ist noch von selbst entsteht. Dieser einst revolutionären Formel und zugleich Kritik am biologischen Positivismus verdankt die Assoziationstheorie nicht zuletzt ihre weite Resonanz bis in die sechziger Jahre. Nach der sechsten These wird ein Mensch dann kriminell, wenn die Kontakte zu kriminellen verglichen mit denen zu antikriminellen Wertvorstellungen überwiegen.
Der Vorzug und die Bedeutung dieses Konzepts bestehen vor allem darin, daß die Theorie unterschiedlicher Kontakte im Gegensatz zu den traditionell verhaltensbiologischen Ansätzen ein dynamisches Konzept entwickelt und ferner, verglichen mit dem Mehrfaktorenansatz, nunmehr einen theoretischen Bezugsrahmen geschaffen hat. Diesen Vorzügen sowie den praktisch-politischen Konsequenzen durch die wissenschaftlich einleuchtende Möglichkeit zur Behandlung und zur sozialen Intervention verdankt denn auch die Theorie einen Teil ihre Popularität und ihres Widerhalls. Umerziehung, kompensatorisches Lernen und Verhaltensmodifikation erscheinen vor allem von hier aus als wissenschaftlich begründbar, ja als theoretisch gerechtfertigt. Die Tatsache, daß die differentielle Assoziation als eine soziologische Theorie entworfen worden war, sicherte zugleich einer einzigen Disziplin die fortwährende Vorherrschaft über das Forschungsfeld (Hirschi u.a. 1980, 10). Ein Teil der Resonanz, welche dieses Konzept gefunden hat, leitet sich ferner aus der Kritik an den Mängeln des Mehrfaktorenansatzes her.
3.1.2 Grenzen und Kritik
Dennoch lassen sich die Schwächen der Theorie der unterschiedlichen Kontakte nicht übersehen. Diese liegen in ihrer Übervereinfachung und der sehr mechanisch gedachten Konstruktion des Lernvorganges. Symbolische, also nicht auf konkreten Kontakten beruhende Lernprozesse werden ausgeklammert. Ebenso bleiben individuelle Unterschiede der Lernfähigkeit vernachlässigt. Auch vermag die Theorie nicht zu erklären, warum es überhaupt zu abweichenden Wertorientierungen und kriminellen Verhaltensmustern kommt. Ferner beschränkt sie ihren Bezugsrahmen allein auf die unterschiedlichen Kontakte zwischen der sozialen Bezugsgruppe und dem konkreten Mitglied, bezieht jedoch das Reaktionsverhalten der Träger strafrechtlicher Sozialkontrolle nicht mit ein. Demgegenüber fehlt es auch an empirischer Bestätigung. Ob sich derartige Mängel durch Ergänzung und Verbesserung ausräumen lassen, erscheint zweifelhaft. Zwar kann man die Auffassung vertreten, daß Verbrechen gelernt wird; aber es ist nicht mehr länger möglich zu begründen, daß Verbrechen ausschließlich nach den Prozessen gelernt wird, wie sie Sutherland beschrieben hat (so Hirschi u.a. 1980, 16; a.A. offenbar Schneider 1987, 505 f£.). Letztlich liegt die Qualität dieser Theorie wohl mehr in dem historischen Verdienst, der traditionellen Erklärung des Verbrechens als Anlage oder aussichtsloses Schicksal die Erklärung eines sozialen Lernprozesses und damit menschlicher Einflußnahme anheimgegeben, aufgezeigt und gegenübergestellt zu haben. Doch davon abgesehen ist bereits die lebensnähere und ergiebigere Sozialisationstheorie — wie einstmals die Assoziationstheorie über die Nachahmungstheorie von Tarde — über sie hinweggeschritten.
3.2 Theorie der delinquenten Subkultur
Schrifttum: Cohen, Delinquent Boys. The Culture of the Gang. Chicago 1955 (deutsch Reinbek bei Hamburg 1961); Cremer, Die Subkultur der Rocker. Pfaffenweiler 1992; Miller, Lower Class Culture as a Generating Milieu of Gang Delinquency. J of Social Issues 24 (1958), 5-19; Sack, Die Idee der Subkultur: Eine Berührung zwischen Anthropologie und Soziologie. KZfSS 23 (1971), 262-282.
3.2.1 Aussage und Anspruch
Theorieansätze der delinquenten Subkultur wollen eine Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang von gesellschaftlicher Struktur und kriminellen Lernprozessen in der Unterschicht, namentlich bei Banden Jugendlicher, geben. Sie gehen davon aus, daß wegen Vielschichtigkeit und pluralistischer Struktur von Gesamtgesellschaften sich in diesen kleinere Subsysteme herausbilden, die, verglichen mit den herrschenden Verhaltenserwartungen, kriminell abweichende Normen kennen. Das Wertsystem der Subkultur weicht also von der Gesamt- oder Rahmenkultur erheblich ab. Nach Cohen (1955) sind Jugendliche der Unterschicht im allgemeinen Statuswettbewerb, d.h. bei der Erlangung der begehrten sozialen Positionen, stark benachteiligt, zumal die Maßstäbe von der Mittelschicht gesetzt werden. Daraus folgt eine Statusfrustration. In einer kollektiv erfolgenden Reaktion wird das herrschende Wertsystem verletzt, etwa in vandalistischen Handlungen oder durch Diebstahl. Demgemäß wird in der Existenz von Subkulturen der Versuch einer kollektiven Antwort auf anomieerzeugende Situationen erblickt. Das Spannungsverhältnis der anomisch erlebten Situation wird delinquent gelöst, indem die Mittelschichtziele und -werte zugunsten des eigenen ‚subkulturellen Wertesystems abgelehnt werden.
Neben der Subkultur der Jugendlichen wird auch die Unterschicht insgesamt als graduell abweichendes Subsystem begriffen. So nimmt Miller (1958) anders als Cohen an, daß die Unterschicht, verglichen mit der
Mittelschicht, über ein eigenes Wertsystem verfüge. Daher äußere sich in der Delinquenz nicht die Negation des herrschenden Wertesystems der Mittelschicht. Vielmehr gelangte in ihr ein Verhalten zum Ausdruck, das sich an den in der Mittelschicht lebenden Wertvorstellungen orientiere, etwa die Neigung zu aggressiv männlichen Problemlösungen.
Die subkulturellen Ansätze sind im wesentlichen an Erscheinungen der nordamerikanischen Bandendelinquenz entwickelt worden. Sie finden dort, und d.h. in einem Land mit vielerlei ethnischen Gruppen und divergierenden Wertorientierungen, auch ihren Anwendungsschwerpunkt. Sie enthalten anomietheoretische, kulturkonflikttheoretische, aber auch lerntheoretische Elemente. Bedeutsam ist, daß derartige Ansätze die kulturellen Werte und Normen als unmittelbar bestimmend für das menschliche Sozialverhalten zugrunde legen. Kriminelle Abweichung erscheint dann als Ergebnis entweder von subkulturell vermittelten oder sich in Kulturkonflikten äußernden Lernprozessen. Jedoch wollen subkulturelle Ansätze nicht die Entstehung der unterschiedlichen Normen erklären, sondern diese sind wiederum die Ursache für das Auftreten von kriminellem Verhalten. Die vom Wertsystem der Gesamtgesellschaft als abweichend begriffene Verhaltensweise erscheint subkulturell als verhaltenskonform.
3.22 Grenzen und Kritik
Unzweifelhaft zeigen subkulturelle Ansätze eine hohe Erklärungskraft bei terroristischen Vereinigungen, bei einer ideologisch motivierten „Subkultur der Gewalt“, ferner bei der Drogen- und Sektensubkultur sowie den subkulturellen Angleichungsprozessen in der Justizvollzugsanstalt. Jedoch will es scheinen, als wirke in diesen Fällen die Subkultur eher als stützendes, verstärkendes und Rechtfertigungstechniken vermittelndes Element. Denn die Gruppenprozesse verlaufen unterschiedlich intensiv.
Dies veranschaulicht auch das Hauptanwendungsgebiet der subkulturellen Ansätze, nämlich die Jugendkriminalität. Nur ein kleiner Teil der bekanntwerdenden Rechtsbrüche Jugendlicher wird gemeinsam begangen, und davon wiederum der größte Teil in sogenannten Zweierverbindungen. Gruppierungen, die eine subkulturelle Prägung aufweisen, sind im europäischen Bereich noch immer selten. Immerhin bieten Rocker, Punks, Skinheads und Fußballfans Hinweise dafür (eingehend LB § 51, 4.3 m.N.).
Unklar bleibt vor allem das Verhältnis von Ursache und Wirkung: Wird das delinquente Verhalten erst durch die Zugehörigkeit zur Bande erzeugt, oder finden sich in der Bande bereits sozial Gescheiterte und Delinquente zusammen? Soweit die Subkulturtheorie über die Kleingruppe hinaus auf die soziale Unterschicht ausgedehnt wird, bleibt offen, warum nur ein relativ kleiner Teil der Unterschicht mehrfach und wiederholt seine Statusfrustration durch Kriminalität „verarbeitet“.
§ 32 Erklärung erhöhter Delinquenzbelastung und strafrechtliche Sozialkontrolle
Schrifttum: Blumstein u.a. (eds.), Criminal Careers and „Career Criminals“. Report of NAP Penal on Research on Criminal Careers. Washington/D.C. 1986; Dolde, Sozialisation und kriminelle Karriere. München 1978; Dünkel/Geng, Aspects of the Recidivism of Career Offenders According to Different Forms of Correction and Release from Prison. In: Crime and Criminal Justice 36 (1988), 137-185; Engel, Zur Metamorphose des Rechtsbrechers. Stuttgart 1973; Farrington/ West, The Cambridge Study in Delinquent Development. A Long-term Follow- up of 411 London Males. In: Kriminalität, Persönlichkeit und Verhalten. FS für Göppinger. Berlin u.a. 1990, 115-138; Frietsch, Verlaufsformen krimineller Karrieren unter besonderer Berücksichtigung der sozialen Intelligenz. Heidelberg 1982; Göppinger, Der Täter in seinen sozialen Bezügen. Berlin u.a. 1983; Haapanen, Selective Incapacitation and the Serious Offender. A Longitudinal Study of Criminal Career Patterns. Berlin u.a. 1990; Hassin, Career Criminals, Recidivists and Dangerous Offenders. Ann 25 (1987), 233-251; Kerner, Rückfall, Rückfallkriminalität. In: KKW 1993° ‚432-437; Kerner/Weitekamp/Stelly, From Child Delinquency to Adult Criminality. First Results of the Follow-up of the Tübingen Criminal Behavior Development Study. EuroCriminology 8/9 (1995), 127-162; Mischkowitz, Kriminelle Karrieren und ihr Abbruch. Bonn 1993; Sarnecki u.a., Predicting social Maladjustment. Stockholm Boys Grown Up. Stockholm 1985; Schäffer, Rückfall bei ehemaligen Strafgefangenen: Ergebnisse einer Nachuntersuchung der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung. Baden-Baden 1996; Waldo (ed.), Career Criminals. Beverly Hills/Ca. 1983; var der Werff, Recidivism 1977. Rate of recidivism for persons convicted and persons whose cases were dropped in 1977 (indictable offences). The Hague 1989; Wilson/ Herrnstein, Crime and Human Nature. New York 1985.
1. Erhöhte Delinquenzbelastung und Rückfallkriminalität
Ist die Kriminalität von Frauen und alten Menschen kriminologisch belangvoll, weil sie so selten beobachtet wird, so sind es die Häufigkeit und Intensität des Verbrechens, die bei den Mehrfach- und Rückfalltätern das Interesse auf sich lenken. Gerade deren Erforschung verspricht, die „Frage nach dem Verbrecher“ der Antwort näherzubringen. Warum es zu Rückfall- und Intensivkriminalität im Gegensatz zur Gelegenheitsoder Erstdelinquenz kommt, beschäftigt daher seit langem die Wissenschaft. Aber auch das Strafrecht pflegt bei der Anwendung seiner Reaktionen nach Erst- und Gelegenheitstätern einerseits und Rückfalltätern andererseits zu unterscheiden. Wie man den Unterschieden nach Persönlichkeitsdimensionen und Sozialprofilen entnehmen kann, ist eine solche Differenzierung auch empirisch begründet. Demgemäß suchen Kriminalpolitik und Strafgesetz den Präventionsbedürfnissen durch Rückfallverschärfung, Sicherungsverwahrung oder auch durch sozialtherapeutische Behandlung Rechnung zu tragen. Falls es Wissenschaft und Kriminalpolitik gelänge, durch Diagnose, Prognose und zweckmäßige Behandlung den in hohem Maße rückfallgefährdeten Personenkreis frühzeitig zu erfassen und auf ihn integrierend einzuwirken, so wäre dies für die Verbrechensverhütung, aber auch für die konkreten Einzelschicksale von erheblicher Bedeutung.
Allerdings herrscht über den Begriff der Rückfallkriminalität oder des Rückfalltäters wenig Übereinstimmung, zumal gleichsinnig damit auch verwandte Definitionen wie Mehrfach- oder Intensivkriminalität, Rezidivismus, kriminelle Karriere und chronische Kriminalität gebraucht werden. Immerhin kann man sich leicht verständigen, wenn man den Begriff der Rückfallkriminalität als kriminalpolitischen Anwendungsfall der Mehrfachkriminalität begreift. Dieser ist dadurch gekennzeichnet, daß der Täter mindestens einmal bereits wegen eines Deliktes auch mit kriminalrechtlichen Sanktionen belegt worden ist und danach innerhalb eines bestimmten, in der Regel 3-5jährigen Risikozeitraums erneut straffällig wird. Obwohl die Begriffe des Rückfalls und der Rückfallkriminalität pragmatisch begriffen und deshalb in der Wissenschaft unterschiedliche Definitionen verwendet werden, behält man ihnen allgemein solche Rechtsbrüche vor, die mehrfach in verhältnismäßig kurzen Abschnitten erfolgen und zur Ahndung durch die Justizbehörden führen.
Dennoch ist die Suche nach dem chronisch Kriminellen bislang wenig erfolgreich geblieben. Nicht minder trifft dies für die Reaktionspolitik auf die Rückfallkriminalität zu. Deshalb hat man das Konzept der persönlichkeitsspezifischen Sozialgefährlichkeit des Gewohnheitsverbrechers oder Hangtäters verstärkt angezweifelt. Realität oder Mythos, das ist noch immer eine der international aktuellen Streitfragen.
Trotz aller Vorbehalte und Kritik hat man von dem Befund auszugehen, daß es eine Gruppe von Rechtsbrechern gibt, die immer wieder straffällig werden und so eine regelrechte Karriere hinter sich bringen. Hervorzuheben sind dabei die sogenannten Intensivtäter, die in einem Jahr mehrfach kriminell in Erscheinung treten.
Rückfalldiagramme bei verurteilten Tätern nach der Strafverbüßung aus Deutschland, der Schweiz und den USA lassen erkennen, daß – indiziert durch die Sanktionsart – Rückfallentwicklungen ähnlich verlaufen, so daß nach 3 bis 5 Jahren über die Hälfte der Ausgangspopulation wieder rückfällig geworden ist (vgl. Dünkel/Geng 1988, 137 ff.; Schäffer 1996, 6, 105 ff. 281 ff.; ferner oben Schaub. 3 und 4). Der Rechtspflegestatistik läßt sich ferner entnehmen, daß deliktstypisch betrachtet Verurteilte wegen Einbruchdiebstahls, Diebstahls mit Waffen und Bandendiebstahls mit 60 bis 75% die höchsten Vorbelastungen aufweisen (var der Werff 1989, 2, 11 £.).
Nahezu unauffällig von der Art der Straftat und Strafvollstreckung erfolgt der Rückfall bei mehr als der Hälfte der überhaupt rückfälligen Täter innerhalb von 6 Monaten nach der Strafverbüßung. Das Rückfallintervall wird dabei von Fall zu Fall kürzer. Dabei läßt sich nur gelegentlich ein Trend zu schweren Delikten sowie zu Spezialisierungen erkennen (siehe auch Haapanen 1990, 140). Die Neigung zu gleichartiger Rückfälligkeit (Verbrecherperseveranz) findet sich daher nur selten. Man kann sie mit der fortschreitenden Erfahrung und verbesserten Verbrechenstechnik auf einem Gebiet erklären, ebenso mit der Entwicklung bestimmter Fähigkeiten und Fertigkeiten. Freilich verbürgt das gleichartige Vorgehen zunächst nicht nur den kriminellen Erfolg, sondern erleichtert auch die Entdeckung und Überführung. Aber die Bedingungen dafür, daß es überhaupt zu einer Karriereentwicklung kommt, muß anderen Zusammenhängen entnommen werden.
Nach der Tübinger Langzeituntersuchung weisen wiederholt Straffällige, zum Teil lange bevor sie straffällig werden, eine bemerkenswert hohe Mobilität auf, was ihren Aufenthaltsort angeht. Schon in der Kindheit fallen sie auf durch häufiges Schulschwänzen, zielloses Herumstreunen, aber auch durch wiederholtes auffälliges Verhalten gegenüber Mitschülern und Lehrern. Die Ausbildung brechen sie häufig ab, werden Gelegenheitsarbeiter, machen durch schlechtes Arbeitsverhalten, häufigen Arbeitsplatzwechsel und wiederholte berufliche Untätigkeit auf sich aufmerksam. Eine Berufsplanung kennen sie nahezu nicht. Deshalb gilt ein auffälliges Sozialverhalten als Vorbote krimineller Entwicklung. Im Vergleich zu Normalbürgern läßt sich das alltägliche Verhalten von wiederholt auffälligen Menschen auf die Formel vom „ungebremsten Leben im Augenblick“ bringen (Göppinger 1983, 136, 170; Kerner u.a. 1995, 156 ff.; Schäffer 1996, 83 ff., 281 ff.).
Das Freizeitverhalten gilt als „Frühwarnbereich“. Hier zeigen sich stetige Abweichungen vom „Normalverhalten‘“ schon zu einem Zeitpunkt, als das Berufsleben noch in Ordnung zu sein scheint. Bei den untersuchten Häftlingen läßt sich fast durchweg eine „strukturlose Freizeitgestaltung‘‘ nachweisen. Oft sind die Untersuchten sinn- und planlos losgezogen in der Erwartung, irgendwo schon jemanden zu finden, mit dem man sich die Zeit vertreiben könne. Kennzeichnend ist die Ausweitung der freien Zeit zunächst auf Kosten des Schlafes, also bis tief in die Nacht oder in den frühen Morgen hinein, dann auch auf Kosten der Arbeitszeit. Dieses Verhalten wiederum hält Göppinger für einen der entscheidenden Punkte, nämlich „Übersprung der Ausdehnung der Freizeit auf die Leistungsbereiche“. In dieser Hinsicht unterschieden sich auch diejenigen Normalbürger, die wegen eines einmaligen Delikts bestraft worden waren, deutlich von den Wiederholungsstraftätern.
Als entscheidend wird mit Recht der Unterschied in der Fähigkeit angesehen, feste persönliche Bindungen einzugehen. Das „ungebremste Leben im Augenblick“ schon wiederholt straffälliger Personen ist also durch kurze Zeitperspektiven, mangelnde Realitätskontrolle und fehlende Lebensplanung gekennzeichnet. Die Suche nach sofortiger Befriedigung spontaner Bedürfnisse ist mit geringer Ausdauer und Belastbarkeit verbunden, ferner mit inadäquat hohem Anspruchsniveau, paradoxen Anpassungserwartungen und ausgeprägter Forderung nach Ungebundenheit. Doch führen regelmäßig nicht einzelne dieser Kriterien, sondern der gesamte unstete Lebenswandel zur Gefährdung (vgl. Sarnecki u.a. 1985, 23 £., Wilson/Herrnstein 1985, 213 ff.; Farrington/ West 1990, 115 ff., 132 ff.).
Allerdings decken die empirischen Befunde der Tübinger Untersuchung nur den Erfahrungsbereich mit Rückfalltätern konventioneller Kriminalität ab, sperren sich aber darüber hinaus der Verallgemeinerungsfähigkeit. Als nicht oder nur bedingt aussagekräftig erweisen sich die Befunde insbesondere für die überwiegende Zahl der Einmal- und Gelegenheitstäter sowie-der Verkehrs-, Umwelt- und Wirtschaftsdelinquenten.
Immerhin verfügen wir für den Bereich der konventionellen Mehrfachund Wiederholungstäter inzwischen über gut abgesichertes Erfahrungswissen. International lassen sich den Untersuchungen eine Reihe von rückfallrelevanten Beziehungen entnehmen. Dazu gehören namentlich folgende Zusammenhänge:
° Je früher und häufiger der Einstieg in die Kriminalität erfolgt, desto wahrscheinlicher ist auch die spätere Mehrfachdelinquenz (vgl. Schäffer 1996, 186 ff., 275). Ferner ® je schwächer persönliche, schulische und berufliche Bindungen ausgeprägt sind, desto wahrscheinlicher ist der Rückfall (dazu Mischkowitz 1993, 164 ff., 380 f.).
Zusammenfassend läßt sich zum wiederholten Rückfalltäter feststellen, daß er in seinen sozialen Bezügen stark gestört erscheint, zumal sein soziales Umfeld problembelastet ist, daß er ferner ein anderes Bezugssystem und andere Verhaltensmuster als die Mehrheit der Bevölkerung aufweist und überdies mit seiner kriminellen Karriere bereits früh begonnen hat (vgl. dazu auch Dolde 1978, 358; Sarnecki u.a. 1985, 23 f.; Farrington u.a. 1990, 117 ff.;, Kerner u.a. 1995, 149 ff., 156 ff.; Schäffer 1996, 275). Umgekehrt kennen wir typische Bedingungen, die den „Abbruch delinquenter Verlaufsformen bei Erwachsenen“ offenkundig fördern: festes Arbeitsverhäitnis oder beruflicher Aufstieg, verbunden mit Stabilisierung der finanziellen Lage, Wohnungs- und Milieuwechsel, Abbruch delinquenzbegünstigender Kontakte, Familiengründung und Einschränkung des Alkoholverbrauchs (vgl. Mischkowitz 1993, 179 ff.). Allerdings läßt sich nicht übersehen, daß es bestimmte Formen der Lebensführung gibt, die sich nicht in dieses Bild einordnen lassen, aber dennoch mit einem Abbruch des Straffälligwerdens einhergehen. Warum dies so ist, bleibt noch unklar. Offenbar gibt es recht „verschiedene Wege aus der Kriminalität“ (vgl. Mischkowitz 1993, 381 £.).
Diese Forschungsergebnisse lassen sich im Lichte der sogenannten Sozialisations-, Bindungs- und Kontrolltheorien deuten (dazu Kerner u.a. 1995, 158; Mischkowitz 1993, 377; ferner oben § 28).
Demgemäß zeigen Rückfalluntersuchungen von Strafgefangenen, daß die günstigste Prognose von ihnen jene zeigen, und zwar unabhängig von Tatart und Haftzeit, die eine dauerhafte familiäre Bindung, einen festen Wohnsitz und hohe Chancen zur beruflichen Integration aufweisen. Fehlen hingegen einige oder gar alle Merkmale, so erhöht sich das Rückfallrisiko. Daher werden unabhängig von der Vollzugsart Gefangene mit festem Wohnsitz und fortbestehender familiärer Bindung weniger rückfällig.
Selbst bei der schwierigen Problemgruppe der Heroinabhängigen finden sich eindeutige Zusammenhänge zwischen Heroinabhängigkeit und fester Partnerschaft ebenso wie zwischen der Aufenthaltsdauer in therapeutischen Gemeinschaften und der Drogenverzichtsbereitschaft.
Verlaufen die Sozialisationsvorgänge unvollständig oder mangelhaft, so kann man auch Störungen in den für den Menschen relevanten Bezugsbereichen wie Familie, Schule, Arbeit und Freizeit vermuten. Hier wird wiederum der Ort gesehen, an dem die Überwindung gestörter Beziehungen ansetzen muß. Derartige Auffassungen beruhen auf der sozialisationstheoretischen Annahme, daß der wiederholt Straffällige in seinen Bindungen unsicher und geschwächt sowie in sozialen Bezügen gestört ist. Freilich begegnen wir in der heilpädagogischen und therapeutischen Praxis einer Symptomvielfalt von Persönlichkeitsstörungen ohne Delinquenz. Aus der Analyse der Ausländerkriminalität wissen wir, daß die Reaktionen der Menschen auf desintegrierende Randsituationen verschieden, ja ganz entgegengesetzt sein können (vgl. unten § 38).
Die sozial und strafrechtlich bedeutsamen Auswirkungen der „Störstrukturen“ (Engel 1973, 24) sind derart verschieden und vielfältig ausgeprägt, daß es bisher nicht gelungen ist, die Zuordnung von Verhaltensauffälligkeiten zu Störstrukturen überzeugend zu sichern. Fähigkeit und Bereitschaft zum Einhalten der Regeln des sozialen Zusammenlebens sind offenbar sowohl bei Mehrfachtätern als auch bei anderen Verhaltensauffälligen erheblich herabgesetzt. Sie sind abhängig von der Intaktheit dessen, was man die sozialkulturelle Persönlichkeit mit voller Handlungskompetenz nennt. So finden sich bei Mehrfach- und Vielfachtätern eher Zeichen erlernter Hilflosigkeit (siehe oben § 32, 1). Daher liefern Korrelate einer nicht intakten oder gestörten Persönlichkeit wie Vorstrafenbelastung, ferner exzessiver Alkoholgenuß und Mängel in Familien-, Leistungs- und Freizeitbereich so häufig und verläßlich Hinweise (Indikatoren) für Diagnose und Prognose des Rechtsbrechers. Allerdings lassen sich die Grenzen der Verallgemeinerungsfähigkeit bisheriger Forschungsergebnisse nicht verkennen. Denn die Gruppe jener, die auch im Erwachsenenalter dauerhaft und intensiv straffällig werden, ist verhältnismäßig klein. Mit zunehmendem Alter geht jedenfalls sowohl die Anzahl der Verurteilungen insgesamt als auch die Häufigkeit und Intensität der Straftaten, deretwegen aktive Täter verurteilt werden, zurück (so die Ergebnisse einer Nachuntersuchung der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung durch Mischkowitz 1993, 139 ff., 148). Ferner ist fraglich, ob und inwieweit sich die Befunde und Konsequenzen auch auf die rückfälligen Verkehrs-, Umwelt- und Wirtschaftsdelinquenten übertragen lassen (siehe LB § 84).
2. Täteranalyse und strafrechtliche Sozialkontrolle
Nach den Langzeituntersuchungen erscheint auffälliges Sozialverhalten als Vorbote krimineller Entwicklung. Strukturlose Freizeitgestaltung, Unfähigkeit zu Bindungen und unsteter Lebensstil charakterisieren das kriminogene Bedingungsgefüge. Lern- und kontrolltheoretische Konzepte dienen zur Entschlüsselung. Allerdings läßt die begrenzte Verallgemeinerungsfähigkeit nicht übersehen, daß wir nur über die konventionellen Rechtsbrecher Erfahrungen vermittelt bekommen, nicht oder weniger über die andere Hälfte der Delinquenten in den Bereichen der Verkehrs-, Umwelt- und Wirtschaftskriminalität.
Immerhin hat die Kohortenforschung verdeutlicht, daß es eine kleine Gruppe von immer wieder straffällig werdenden Rechtsbrechern gibt, auf die ein Großteil der Straftaten entfällt. Diese sogenannten Intensivtäter verdienen daher besondere Aufmerksamkeit. Die in Nordamerika aus den Befunden gezogenen Folgerungen äußern sich durchweg in Empfehlungen zu einer „härteren Gangart“ in der Strafzumessungspraxis. Ob dies die erforderliche Reaktionsweise ist und sich diese überdies auch als kontraproduktiv erweist, erscheint im Hinblick auf das interaktive Geschehen zwischen Rechtsbruch und Reaktion fraglich. Sicher ist hingegen, daß die bisherige Sanktionspraxis nicht ausreicht, um zeitiger und wirksamer kriminelle Entwicklungen zu verhindern oder abzubrechen. Trotz weitgehender Austauschbarkeit der Sanktionen münden die kriminalpolitischen Forderungen zu der kleinen Gruppe der Intensivtäter wiederum in die individualpräventive Sanktionsforschung.
Lassen sich zumindest Mehrfach- und Rückfalltäter dadurch kennzeichnen, daß sie in ihren sozialen Bezügen gestört sind, Bindungslosigkeit oder -verlust aufweisen und eine abweichende Wertorientierung kennen, so müßte man mit diesem Befund nicht nur die Täterpersönlichkeit charakterisieren, sondern auch die Unterschiede der registrierten Delinquenzbelastung von jung und alt, von Mann und Frau, von arm undreich, in Stadt und Land, von Erst- und Mehrfachtätern erklären können. Ob dies überall möglich und gegebenenfalls auch aussagekräftig ist, erscheint jedoch zweifelhaft. Dies wohl deshalb, weil nicht nur eine Störung sozialer Bezüge bei jedem Rechtsbrecher vorliegen, sondern auch Anzeigeerstatter, Polizei und Justiz von jedem Rechtsbruch in belangvoller Weise Kenntnis nehmen müßten. Diese Voraussetzung wird nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen Sichtbarkeit, aber auch wegen der verschieden eingeschätzten Bedeutung und Selektivität des auffälligen Verhaltens nur zum Teil erfüllt. Daher liegt nicht bloß die Analyse jener Personen, Einrichtungen, Prozesse und Mechanismen nahe, welche die Normen der herrschenden Sozialordnung durch Sozialisation auf die junge Generation übertragen, sondern auch jener, welche auf die strafrechtlich relevante Verhaltenskonformität achten sollen. Theoretisch handelt es sich um die Integration von Kausalforschung und Kontrollparadigma. Dabei gilt es, auch das Verbrechensopfer einzubeziehen
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