3.3 Soziokultureller Wandel und Kriminalitätsentwicklung
Unter soziokulturellem Wandel kann man die Veränderungen der sozialen Normensysteme Religion, Moral und Recht sowie der Erziehung und der sie vermittelnden Einrichtungen wie Familie, Schule, Kirche und Justiz verstehen. Im Hinblick auf die sozialisatorische Funktion wird man auch die Massenmedien und die Freizeit einbeziehen. In diesem komplexen Bedingungsgefüge nehmen der Werte- und Sozialisationswandel sowie die Veränderungen in der Familie und die Mediensozialisation einen herausragenden Rang ein.
Die stärksten Veränderungen in der langfristigen Kriminalitätsentwicklung und die größten Unterschiede in der Verbrechensrate beim interkulturellen Vergleich stehen in einem hohen Zusammenhang mit dem Wandel der Familie (Wilson/Herrnstein 1985, 526). Dabei handelt es sich sowohl um das Ansteigen und Fallen der Geburtenrate in den letzten Jahrzehnten mit den jeweiligen Konsequenzen für die Verbrechensrate als auch um den Wandel von Stil und Inhalten der Sozialisation. Ferner äußert sich hier der allmähliche Wandel in der Rolle der Frau. Man hat davon auszugehen, daß die Familie zunehmend diffus werdende Bestände konventioneller Pflicht-, Enthaltsamkeits- und Akzeptanzwerte vermittelt, die sich mit Beimischungen von Selbstverwirklichungswerten moderner Provenienz vermengen (Klages 1984, 17). Im Beschäftigungssystem werden demgegenüber nachdrücklich Leistungsorientierungen und -bereitschaften in den Vordergrund gestellt. Die damit verbundenen Wertverwirklichungsangebote beziehen sich ausdrücklich auf konkrete Berufs- oder Tätigkeitsrollen. Von besonderer Konfliktträchtigkeit ist der einschneidend erlebte Übergang von der Familien- und Bildungswelt in die Arbeitswelt. Dabei handelt es sich um den Übergang von einem persönlichkeitsbezogenen Freiheits- und Kompetenzerlebnis zum normengesteuerten Disziplin-, Arbeits- und Leistungszwang. Dieser Übergang hat sich in der Gegenwart sozial verbreitert und verschärft (Klages 1984, 19). Die sich hier, insbesondere in der Phase der sogenannten Postadoleszenz, äußernden Spannungen und Enttäuschungserlebnisse reichern das Anomiepotential an. Bei der soziokulturellen Prägung, insbesondere der Wertevermittlung, nehmen Religion und Religiosität traditionell einen besonderen Rang ein. Während einst der Religion ein überwiegend kriminalitätshemmender Einfluß zugeschrieben wurde (Exner 1949, 88) und damit eine Erklärung steigender Kriminalität mit fallendem Interesse an Religion und Kirche gefunden zu sein schien, läßt sich eine derartige Annahme als zu einfach und undifferenziert nicht mehr aufrechterhalten.
Von der Religion läßt sich nur dann ein verhaltensbestimmender Einfluß erwarten, wenn das gesamte Klima, das Milieu und das soziale Netzwerk einen solchen Einfluß stützen und möglichst verstärken. Dies besagt im Ergebnis wiederum nichts anderes als die Betonung der Komplexität und des Verbundes sich wechselseitig stützender Normensysteme. Wo allerdings diese soziale Integration nicht ungestört erfolgt oder gespalten ist, etwa durch gegensätzliche Einflüsse des Elternhauses und der Altersgruppe (Peer group), wird man aber nur mit einem schwächeren Einfluß der Religion rechnen können. Überdies sprechen die neueren Untersuchungsbefunde dafür, daß die religiöse Determinante durch den Einfluß der Altersgruppe überlagert wird. Dies bedeutet auf die Theorieebene bezogen, daß kontroll- oder sozialisationstheoretische Wirkungen durch solche der differentiellen Assoziationstheorie verdrängt werden. Der Grund des nur schwachen Zusammenhangs mit der Religion beruht wohl darauf, daß sich eine nennenswerte Verhaltensprägung nur dann erwarten läßt, wenn das gesamte soziale Netzwerk oder Klima eine eindeutige und sich gegenseitig verstärkende Wertorientierung vermittelt. Hier erweist sich der religiöse Einfluß dann als konformitätsverstärkend, wenn die Wertinhalte etwa zwischen Religion und Recht übereinstimmen.
Neben der Bindung an Werte spielt seit jeher im kriminologischen Denken das Wissen eine besondere Rolle. Aber schon im 19. Jahrhundert war der Einfluß des Wissens in Gestalt der Bildung auf die Kriminalität lebhaft umstritten. Es wurde ihm sowohl hemmende als auch fördernde Bedeutung zuerkannt. In der Gegenwart neigt man zu der Annahme, daß sich Wissen und Bildung eher als strukturelle Veränderung der Kriminalität auswirken. So vermutet man, daß die Gewaltkriminalität durch die „Kriminalität der List“ zurückgedrängt werde (Eisenberg 1995, 992). Freilich wird eine derartige Annahme – bezogen auf die Zunahme der Betrugs- und Wirtschaftskriminalität — im strafrechtlich-kriminologischen Schrifttum schon seit den dreißiger Jahren vertreten. Gleichwohl kann man nicht feststellen, daß die Gewaltkriminalität abgenommen hat. Eher scheint es so zu sein, als hätten sich bestimmte Gewaltformen (etwa des Terrorismus, des organisierten Verbrechens und der Demonstrationsgewalt) mit der „List“ verbunden und wären zu den konventionellen Deliktsformen noch weitere hinzugekommen, hätten zugleich aber auch besondere Aufmerksamkeit gefunden.
Zu den Sozialisationseinflüssen von Elternhaus und Schule sowie der Altersgruppe ist in jüngerer Zeit die Mediensozialisation hinzugetreten. Als „Massenmedien“ gelten dabei diejenigen Kommunikationsmittel, die sich an eine große Zahl von Personen richten und zugleich zahlreich vorkommen. Entsprechend den benutzten technischen Verfahren und ihrem Inhalt kann man Druck-, Funk- und Filmmedien unterscheiden. Gefahren drohen besonders der nachwachsenden Generation einmal durch die Gewaltdarstellung (dazu eingehend unten § 39, 3) und zum anderen durch die pornographische Abbildung. Da Gewalt und Pornographie zwar nicht ausschließlich, aber doch in erheblichem Umfang durch Medien vermittelt werden, und dies nicht nur punktuell, sondern vielfältig und langfristig, implizieren Mediengefahren zugleich das Bedürfnis nach Jugendschutz.
Doch bekanntlich gilt das Gebiet der Medienwirkungen als wenig geklärt (Wilson/Herrnstein 1985, 353 f.) und äußerst kontrovers. So halten manche Wissenschaftler z.B. den Einfluß des Bildschirms für wichtig, andere für nichtig, die einen für aggressionsanregend, die anderen für aggressionsmindernd (vgl. Schwind 1996, 244). Im Hinblick auf die Wertevermittlung und den Zusammenhang von Gewaltdarstellung und pornographischen Inhalten ist besonders die kurz- und langfristige Beeinflussung der nachwachsenden Generation ins Blickfeld getreten. Obwohl eine Reihe von empirischen Anhaltspunkten für einen Medieneinfluß durch Modellernen spricht, ist im ganzen die Forschungslage noch widersprüchlich. Verschärft wird die Problematik durch die sogenannten neuen Medien, insbesondere die sich damit verbindende Welle von Gewaltvideos (vgl. den aufsehenerregenden Passauer Fall eines 14jährigen Gewalttäters nach dem Konsum von Horror-Videofilmen, der zur Verurteilung des Jungen und zur Anklage der Eltern wegen fahrlässiger Körperverletzung führte; NStZ 1996, 601 £.; FAZ. Nr. 302 v. 28.12.1996). Das neugefaßte Jugendschutzrecht versucht, durch Gesetz und Verwaltungspraxis unerwünschten Entwicklungen entgegenzusteuern.
3.4 Anomie oder Synnomie
Führt man sich die bisherige Analyse möglicher Zusammenhänge mit der Kriminalitätsentwicklung vor Augen, so sieht man sich bei der Erklärung noch weitgehend einem diffusen Mehrfaktorenansatz gegenüber (ähnlich die Bilanz von Wilson/Herrnstein 1985, 451, 527 £.). Dabei kann aber die Kriminologie nicht stehen bleiben. Denn die Faktenlage und deren theoretische Durchdringung erlauben eine Strukturierung der verschiedenen Einflüsse, sei es durch die Verknüpfung von Wohlfahrtsstaatsthese und Anomietheorie oder sei es durch die differentielle Sozialisations- und Kontrolltheorie. Deshalb wird der Erklärungsversuch präzisiert, wenn man die Wertorientierung als Variable interner Verhaltenskontrolle einbezieht. Damit wird eine Anknüpfung sowohl an die Kontrolltheorie (siehe unten § 28, 4) als auch an die Wertwandlungstheorie möglich. Danach „sind dem Auftreten von Aspirations-Erfüllungsdefiziten überall dort innere Riegel vorgeschoben, wo Pflicht-, Selbstdisziplinierungs- und Akzeptanzwerte dominieren, während umgekehrt eine Dominanz von Selbstentfaltungs- oder Antriebserfüllungsund Hedonismuswerten ganz generell das Auftreten und subjektive Wirksamwerden solcher Defizite stark begünstigt“ (Klages 1984, 13). Dem entspricht gedanklich das Konzept der Synnomie, das Adler (1983, 7 ff.) eingeführt und als Gegensatz dem Anomiebegriff Durkheims gegenübergestellt hat: „syn“ in der Bedeutung von Kongruenz, „nomos“ als Ausdruck für Werte und Normen. Mit dem Kontinuum von Anomie und Synnomie will Adler das Kriminalitätsphänomen in den verschiedenen Sozialsystemen aussagekräftiger erfassen.
Entsprechend der unkonventionellen Frage, warum in bestimmten Staaten keine oder so wenig Verbrechen bekannt werden, analysierte Adler die Kriminalität in den zehn Ländern mit der weltweit geringsten Verbrechensrate und rückte diese in den Zusammenhang mit den sozioökonomisch-kulturellen Faktoren. Zu den erfaßten Staaten gehören unter anderen die Schweiz, die frühere DDR und J apan. Zur Erklärung benutzte die Autorin einen kontrolltheoretischen Ansatz, in dem sie traditionelle Bindungen und Kontrollen oder deren funktionale Äquivalente in allen zehn Nationen hervorhob (1983, 117 ff.). Die Funktionstüchtigkeit der Sozialkontrolle scheint danach den einzelnen Staaten gemeinsam zu sein.
Diesem Ansatz waren Bestrebungen vorausgegangen, anhand von fast 50 sozioökonomischen Faktoren und der entsprechenden Daten in Beziehung mit der jeweiligen Festnahmerate in einem internationalen Kriminalitätsvergleich Einsichten zu gewinnen. Jedoch konnten auf diese Weise keine signifikanten Ergebnisse ermittelt werden (ähnlich Council of Europe 1985, 57).
Bietet überdies die kriminalstatistische Analyse schon im Inland genügend Ansatzpunkte zur Kritik, so kommen diese bei dem internationalen Kriminalitätsvergleich in verstärktem Maße zum Tragen. Häufig zeichnen die „Statistiken für den Export“ ein zu günstiges Bild der Kriminalitätsbelastung. Dies gilt auch für manche dem „World Crime Survey“ der Vereinten Nationen zugrundeliegenden Daten. Besonders deutlich wurde dies bei dem Kriminalitätsvergleich zwischen Staaten der sozialistischen und der westlichen Gesellschaft. Auch sind für die interpretierende Einbettung kriminalstatistischer Daten neben der Gefangenenrate Dimensionen wie Offenheit der Gesellschaft, Durchlässigkeit der Grenzen, Freizügigkeit, Totalisierung der Kontrolle (,Stasi“!), Beachtung der Menschenrechte und damit ein Stück Lebensqualität notwendig, wie etwa die vergleichende Gegenüberstellung der Kriminalität in der Schweiz mit jener der früheren DDR verdeutlicht.
Daß unsere Gesellschaft, wie es scheint, ein gesteigertes Maß an Kriminalität hervorbringt, beruht offenbar auf den vielschichtigen Veränderungen in unserer Gesellschaft, dieman als sozialen Wandel begreift. Dieser reicht von dem Wertsystem, der Familienstruktur, den Beziehungen der Menschen sowie der Wohn- und Arbeitswelt bis hin zu technologischen Veränderungen. Anscheinend steigt die Bereitschaft zur Delinquenz als Antwort auf Belastungssituationen, die der soziale Wandel bedingt und die nicht konfliktfrei verarbeitet werden können, vielmehr als Streß und Überforderung erfahren sowie als Sinnkrise erlebt werden. Dies ist wiederum vor allem dann wahrscheinlich, wenn die soziale Stützung durch Familie und Gesellschaft versagt oder ausfällt. Anomietheoretische Interpretationen von Gefühlen der Verlorenheit, der Orientierungs- und Perspektivelosigkeit als „Vorboten der Gewalt“ machen dies einsichtig.
Der soziale Wandel schließt auch Veränderungen von Gesetz und Recht, von Polizei und Justiz, also der Kontrollsysteme ein. Er gelangt damit in den veränderten Aufgaben zum Ausdruck, die Recht, Polizei und Justiz angesonnen werden und welche diese auch zum Schutz der elementaren Rechtswerte im Interesse aller wahrnehmen müssen. Aufgrund solcher Einsichten haben neuerdings die sogenannten Kontrolltheorien, welche die Bindung des Menschen an die Gesellschaft in den Mittelpunkt rücken, zunehmend an Bedeutung gewonnen. Deshalb liefern Werte, Bindungen und Gewissen das durchgehende Thema kriminologischer Reflexion der Gegenwart.
3.5 Prognose der Kriminalitätsentwicklung
Da sich logisch Erklärung und Prognose nicht unterscheiden, müßten die bisherigen Befunde und Einsichten auch Voraussagen für die künftige Kriminalitätsentwicklung erlauben, und zwar über eine Fortschreibung von Zeitreihen hinaus. Zu denken wäre etwa an kontrolltheoretisch abgeleitete Kriminalitätsprognosen.
So wäre es ein erheblicher Planungsgewinn für Gesetzgebung, Justizverwaltung und Polizei, wenn man die Kriminalitätsentwicklung über das Jahr 2000 hinaus verläßlich abschätzen könnte. Kollektivprognosen, die sich im Gegensatz zu Individualprognosen auf Kollektive unterschiedlicher Art (etwa Strafgefangene oder bisher straflose Personen) beziehen, sind daher inhohem Grad wünschbar, sei es im Interesse der Wissenschaft, der Kriminalpolitik oder der Praxis. Doch Hinweise auf die Notwendigkeit von Kriminalitätsprognosen ersetzen weder den Nachweis ihrer Möglichkeit, noch rechtfertigen sie es, die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen für Prognosen zu ignorieren (Heinz 1985, 69). Aufgrund des derzeitigen kriminologischen Wissens können hochgesteckte Erwartungen nicht erfüllt werden. Schon allgemein ist das prognostische Instrumentarium wenig fortgeschritten und hier bei der Kollektivprognose noch besonders unterentwickelt. Daher müssen Prognosen an mangelnder Treffsicherheit und Brauchbarkeit leiden. Man bewegt sich auch hier bei der Kriminalitätsprognose noch weitgehend auf einem informierten Plausibilitätsniveau. Doch sollte nicht übersehen werden, daß die empirischen Befunde differenzierter und besser erhärtet sind als Alltagstheorien, die üblicherweise intuitiven Prognosen zugrunde liegen. Wohl sind diese unter günstigen Bedingungen Ausdruck eines langjährigen Umgangs mit Prognosefällen. Sie beruhen also auf Erfahrungen der Anwender. Doch bei der Intuitivprognose wird der Untersuchungsgegenstand nur selektiv wahrgenommen, so daß es zu falschen Vorstellungen über die Wirklichkeit kommen kann. Für eine weitgehend zuverlässige Voraussage fehlt es jedoch noch an einem für die Prognose notwendigen Modell über die Abhängigkeit der für die Kriminalitätsentwicklung relevanten Faktoren. Ferner ist kaum vorhersehbar, wie sich diese Faktoren zukünftig entwickeln werden (vgl. Kürzinger 1996, 313, 315). Daher sollten bei dem Versuch, vorläufige Kriminalitätsprognosen zu erstellen, alle verfügbaren kriminologischen Befunde herangezogen und im übrigen die Theoriebildung zu den Erkenntnisgegenständen des Verbrechens, des Verbrechers und der Verbrechenskontrolle verbessert werden.
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