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Zehntes Kapitel Kriminologie und Kriminalpolitik

Schrifttum: Ancel, La defense sociale nouvelle. Paris 1954, 1981? (deutsch: Die neue Sozialverteidigung. Stuttgart 1970); Eser, Hundert Jahre deutsche Strafgesetzgebung. In: FS für Maihofer. Frankfurt/M. 1988, 109-134; Frehsee, Die Strafe auf dem Prüfstand. Verunsicherung des Strafrechts angesichts gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse. StV 126 (1996), 222-230, Hassemer, Perspektiven einer neuen Kriminalpolitik. StV 125 (1995), 483-490; Heinz, Kriminalpolitische Modellprojekte. Planungen, Funktionen, Wirkungschancen. In: Die 13. Bundestagung, hrsg. v. der Deutschen Bewährungshilfe. Bonn 1990, 241-276; Jescheck, Die Krise der Kriminalpolitik. ZStW 91 (1979), 1037-1064; Jung, Zur Privatisierung des Strafrechts. In: Perspektiven der Strafrechtsentwicklung, hrsg.v. Jung. Baden-Baden 1996, 69-78; Kaiser, Perspektiven rationaler Kriminalpolitik. Krim 46 (1992), 735-744; Kunz, Die Innere Sicherheit: Schlüsseldimension einer neuen Kriminalpolitik. In: Innere Sicherheit — Innere Unsicherheit? hrsg.v. Bauhofer u.a. Chur u.a. 1995, 327-340; Maelicke/Ortner (Hrsg.), Alternative Kriminalpolitik. Zukunftsperspektiven eines anderen Umgangs mit Kriminalität. Weinheim u.a. 1988; Naucke, Die Abhängigkeit zwischen Kriminologie und Kriminalpolitik. Kiel 1977, Pitschas, Revisionsbedarfe der polizeilichen Zusammenarbeit in Europa. Innere Sicherheit als gemeinschaftsrechtliches und interkulturelles Problem. In: Politik und Recht der Inneren Sicherheit in Mittel- und Osteuropa. München 1996, 1-32; Riklin, The Death of Common Sense — kritische Gedanken zur gegenwärtigen amerikanischen Kriminalpolitik. In: FS für J. Rehberg. Zürich 1996, 269-283; Roxin, Zur neueren Entwicklung der Kriminalpolitik. In: FS für Gagner. München 1991, 341-356; Schüler-Springorum, Zum Verhältnis von Kriminologie und Kriminalpolitik. In: GS für Noll. Zürich 1984, 141-156; ders., Kriminalpolitik für Menschen. Frankfurt/M. 1991; Tsitsoura, The Role of Council of Europe in the Field of Crime Policy. In: Fourth Conference on Crime Policy, ed. by the Council of Europe. Strasbourg 1991, 20-30; Zipf, Kriminalpolitik. Ein Lehrbuch. Heidelberg u.a. 1980°.

Die Analyse der Beziehungen zwischen Kriminologie und Kriminalpolitik wird vor allem durch die Frage bestimmt, in welchem Grad kriminologische Befunde die Kriminalpolitik beeinflussen (dazu Schüler-Springorum 1984, 141 ff.), und darüber hinaus, inwieweit kriminalpolitische Entscheidungen des Gesetzgebers oder Strafrichters überhaupt wissenschaftlicher Begründung, Festlegung und Kontrolle zugänglich sind. Die Klärung dieses Fragenkreises setzt voraus, daß man sich zunächst darüber verständigt, was unter Kriminalpolitik begriffen wird oder werden kann.

Kriminalpolitik zielt bekanntlich auf den kriminalrechtlich verankerten Rechtsgüterschutz. Bezeichnung und internationale Bewegung der sogenannten Sozialverteidigung („defense sociale“, vgl. Ancel 1970) verdeutlichen Zielsetzung und Inhalt. Die Kriminalpolitik bezieht sich dabei vornehmlich auf das strafrechtliche Teilsystem sozialer Kontrolle. Sie will den Bürger und die staatlich organisierte Gesellschaft vor Strafunrecht schützen oder nach neuerem, obschon angefochtenem Sprachgebrauch „innere Sicherheit“ gewährleisten (vgl. Kunz 1995, 327 ff.). Zur Erfüllung dieser Aufgabe bedient sie sich vor allem der Normen, Grundsätze und Mittel des Kriminalrechts. Insofern ist sie Teil übergreifender Rechtspolitik. Sie ist bestrebt, sich dem Wertewandel sowie den sozialen und technologischen Herausforderungen anzupassen oder sich ihnen erforderlichenfalls zu widersetzen

Da gemessen an der wahrnehmbaren Kriminalität und an ihren unerwünschten Nebenwirkungen kein uns bekanntes System des Rechtsgüterschutzes befriedigt, findet die Kriminalpolitik seit jeher ihren Schwerpunkt in der Erneuerung des Strafrechts, sei es des Verbrechensbegriffes (Kriminalisierung), des Sanktionensystems, des Strafverfahrens oder sei es der Strafvollstreckung und des Strafvollzugs (vgl. Zipf 1980). Etwa 120 allein das materielle Strafrecht ändernde Gesetze seit Einführung des Strafgesetzbuches 1871 (dazu eingehend Eser 1988, 109 ff.), davon ein Fünftel in den vergangenen’zwei Jahrzehnten, künden von dem ungebrochenen Reformbedürfnis und den kriminalpolitischen Aktivitäten. Daher faßt man Kriminalpolitik und Strafrechtsreform nicht selten sinngleich auf. Unabhängig davon, ob „Bekämpfung“, „Kontrolle“ oder „Verwaltung“ der Kriminalität beabsichtigt ist, wird schon seit den Anfängen der kriminalpolitischen Reflexion im 18. Jahrhundert vor allem die Strafgesetzpolitik zum zentralen Inhalt der Überlegungen gemacht. Dem liegt die Erwartung zugrunde, durch rationale Erörterung und Handhabung die optimale Problemlösung der Kriminalpolitik zu verwirklichen, wenn möglich gar „etwas Besseres“ als das Strafrecht zu schaffen. Neuere Tendenzen des sogenannten Abolitionismus, die auf die „Abschaffung“ oder „Privatisierung“ des Strafrechts gerichtet sind und nach überlegenen Alternativen suchen (dazu oben § 14, 5), treffen allerdings auf gegenläufige Forderungen nach verstärktem Einsatz des Strafrechts, etwa im Umweltschutz, gegenüber der Korruption und selbst in der Intimsphäre, z.B. gegenüber der „Gewalt in der Familie‘, dem sexuellen Mißbrauch von Kindern und der Kinderpormographie oder gegenüber sexuellen Belästigungen am Arbeitsplatz. Nimmt man jedoch dem Staat das Strafrecht weg, so zerstört man den Staat selbst (Jung 1996, 73).

Soweit sich Kriminalpolitik wissenschaftlich versteht, strebt sie die systematisch geordnete Darstellung der gesellschaftlichen Strategien, Taktiken und Sanktionsmittel zur Erzielung optimaler Verbrechenskontrolle an. Sie zielt daher vor allem auf die wissenschaftliche Analyse der entsprechenden Überlegungen und Prozesse der Willensbildung des Gesetzgebers, insbesondere die Erneuerung des Verbrechensbegriffes und des Sanktionensystems

Praktische Kriminalpolitik hingegen beschränkt sich auf jene staatliche Tätigkeit, die vor allem mit den Grundsätzen, Verfahrensweisen und Mitteln des Kriminalrechts auf Verbrechenskontrolle zielt und vorwiegend durch Strafjustiz und Polizei ausgeübt wird.

Als Mittel der Kriminalpolitik dienen danach sowohl der Verbrechensbegriff als Instrument der Verhaltenskontrolle wie die Sanktionen, d.h. die Strafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung sowie die Bußen und Maßnahmen des Ordnungswidrigkeitenrechts. Deren Androhung und Verhängung ist aber nur zulässig, wenn bestimmte rechtspolitische Grundsätze beachtet werden. Diese haben sich im Laufe der strafrechtlichen Entwicklung als notwendig und unverzichtbar herausgebildet. Zu denken ist vor allem an die Grundsätze der Humanität, der Verhältnismäßigkeit, der Freiheit (‚in dubio pro libertate‘“‘), der Gleichheit, der Sozialstaatlichkeit, der Effizienz und des rechtsstaatlichen Verfahrens (dazu Zipf 1980, 7, 26 ff.).

Diese „Konstanten der Kriminalpolitik“ einschließlich des Schutzes der Menschenrechte kennzeichnen nicht mehr nur die Grenzen strafrechtlicher Intervention, sondern gelten zunehmend als Bestandteil und Ziel moderner Kriminalpolitik überhaupt.

Obgleich die Kriminalpolitik bestrebt ist, das Verbrechen nach Schwere und Umfang einzudämmen, kann dieses Ziel nicht uneingeschränkt und kompromißlos verfolgt werden. Die genannten, als fundamental begriffenen rechtspolitischen Grundsätze, die zum Teil im Spannungsverhältnis zueinander stehen, sollen zwar eine gleichmäßige Handhabung der Strafrechtspflege gewährleisten, begrenzen aber zugleich das auf maximale Effizienz ausgerichtete Prinzip. Daraus folgen kriminalpolitische Kompromißlösungen, die wiederum gerade deshalb als anstößig, ja als wirkungslos oder gar als kontraproduktiv gelten

Das seit der Aufklärung zunehmend stärker gewordene Postulat einer rationalen Kriminalpolitik beruht offenbar auf der Erwartung, daß mit der diagnostischen Erhellung bestimmter Sachverhalte, die als solche unvermittelt nicht mehr durchschaubar erscheinen, auch eine angemessene Strategie zur Änderung ärgerniserregender und sozial mißbilligter Phänomene entwickelt werden könne. Ja, man hat vermutet, daß schon aus dem Akt der analytischen Betrachtung gleichsam von selbst auch ein festes Instrumentarium zur Abhilfe und damit zum kriminalpolitischen Fortschfitt nach der Formel „Besseres Wissen = besseres Handeln = besseres Leben“ erwachse. Die Naivität der kriminologischen Frühforschung, schon aus der induktiv gedachten Deskription des Verbrechens und des Verbrechers auch die Veränderung dieser Sachverhalte ableiten, d.h. kriminalpolitisch ‚schlußfolgern zu können, ist mit der Einsicht in die Vielschichtigkeit straffälligen Verhaltens wie in die des Übertragungsprozesses weithin einer kritischeren, ja skeptischen Haltung gewichen. Diese setzt sich bis hin zur Einschätzung der kriminalpolitischen Interventionsmöglichkeiten fort. Mitunter neigt man dazu, geradezu einen „Rationalitätsbruch“ zwischen Theorie und Praxis anzunehmen.

Insgesamt gesehen dürfte dem sozialen Wandel einschließlich des Wertewandels und der Veränderung des „Zeitgeistes‘ die kriminalpolitisch entscheidende Funktion zukommen. Freilich schließt dies keinesfalls die fatalistische Hinnahme einer als verfehlt beurteilten Entwicklungsrichtung ein. Auch sogenannte Modernisierungsprozesse erzwingen keine andere Sichtweise (a.A. Frehsee 1996, 223, 229). Immerhin betrachtet es die kriminologische Forschung seit langem als eine ihrer vornehmsten Aufgaben, derartige Wandlungen anzuregen, wenn möglich zu planen und erforderlichenfalls „antizyklisch“ auf sie einzuwirken, zumindest aber sie kritisch zu begleiten. Darin liegt eine ihrer praktischen Implikationen. Den Ausgangspunkt liefert die freilich zu wissenschaftszentrierte Überzeugung, daß wissenschaftliches Wissen anderen Wissensformen überlegen und daher vorzuziehen ist, um praktisches Handeln anzuleiten. Jedoch lassen sich konkrete Einflüsse der kriminologischen Forschung auf die Kriminalpolitik und ihr Gewicht zuverlässig nur sehr schwer sichern. Der Grund hierfür liegt weniger in einer „Akzeptanzkrise“ kriminologischen Wissens als vielmehr in der Vielschichtigkeit sowohl des kriminalpolitischen Willensbildungsprozesses als auch der Folgenabschätzung. Immerhin haben die kriminologischen Befunde, so vage sie auch sein und so falsch sie auch eingeschätzt werden mochten, eine nicht zu übersehende Rolle in der kriminalpolitischen Erörterung der letzten Jahrzehnte gespielt. So hat die Kriminologie auf eine Reihe von Verengungen und Einseitigkeiten der herkömmlichen Kriminalpolitik aufmerksam gemacht. Vor allem bei der Weißen-Kragen- Kriminalität, beim Dunkelfeld und den Selektions- und Stigmatisierungsprozessen sowie bei der defizitären Opferstellung hat sie auf die zwar nicht beabsichtigte, dennoch empirisch zu sichernde Verkürzung von Gleichheit und Gerechtigkeit durch die herkömmliche Strafrechtspraxis hingewiesen. Der Blick für die strafrechtliche Folgenorientierung sowie für die Ungleichheiten in Strafzumessung und informeller Erledigung ist in erster Linie empirisch orientierter Analyse zu danken, bevor derartige Einsichten in den kriminalpolitischen Wissensbestand aufgenommen worden sind. Auch ein Vergleich von Recht und Wirklichkeit nach der Strafrechtsreform sowie eine Kontrolle des gesetzlichen Entscheidungsprogramms und seiner Implementation ist ohne erfahrungswissenschaftlichen Beitrag schon gar nicht zu leisten. Aber nur in seltenen Fällen läßt sich ein bedeutender Zusammenhang zwischen erfahrungswissenschaftlicher Forschung und kriminalpolitischer Entscheidung nachweisen. Ein solcher liegt namentlich bei der Beeinflussung des Strafrechts durch die neueren Fortschritte auf den Gebieten der Biologie und der Medizin vor, soweit es sich um Anfang und Ende des Lebens sowie um die Zulässigkeit von biotechnologischen Eingriffen handelt. Weitere Anwendungsfälle liefert der Einfluß kriminologisch- viktimologischer Befunde auf die Opferschutzgesetzgebung und den Täter-Opfer-Ausgleich. Im allgemeinen jedoch sind die empirischen Befunde nicht so zwingend, daß sie kriminalpolitische Veränderungen gebieten. Vielmehr gehen diese voraus, um ihrerseits die empirische Forschung zu beeinflussen und zur Überprüfung anzuregen. Wie überdies die Forschungsergebnisse zur Sozialtherapie als „kriminalpolitisches Lehrstück“ veranschaulichen, kann sich der Gesetzgeber aus anderen Erwägungen über den Stand der Forschung völlig hinwegsetzen. Denn Kriminalpolitik befindet sich zwischen kriminologischer, strafrechtlicher und politischer Rationalität.

Damit wird erkennbar, daß die Rolle der kriminologischen Forschung für die Kriminalpolitik zwar wichtig bleibt, sich aber, verglichen mit einem gegenläufigen „Zeitgeist“ und dem stets verfügbaren Argument fiskalischen Sachzwanges, nach Durchsetzungs- und Überzeugungskraft sehr schwer tut. Im übrigen teilt sie als Ratgeberin der Kriminalpolitik diese Aufgabe mit der Rechtsvergleichung (siehe Jescheck 1979, 133 ff.) und der Strafrechtsdogmatik. Überdies erscheinen die Einflüsse des utopischen Denkens und der metaempirischen Überzeugungen sowie die Fernwirkungen aufsehenerregender Kriminalfälle kriminalpolitisch mitunter folgenreicher als die erfahrungswissenschaftliche Stützung. Nicht selten erfüllt hier die sog. administrative Kriminologie nur noch eine Art „Feigenblattfunktion“. Weil die Kriminalpolitik darauf bedacht sein muß, möglichst alle „erheblichen“ Gesichtspunkte zu berücksichtigen, ist schon deshalb der Einfluß der Erfahrungswissenschaft notwendig beschränkt. Die empirische Forschung kann daher nur eine Antriebskraft im kriminalpolitischen Willensbildungsprozeß stellen. Der Informationsfluß von der Forschung zur Kriminalpolitik ist offensichtlich komplizierter, als man sich dies früher unter der Herrschaft monokausaler Denkformen vorgestellt hat Die empirische Anbahnung bestimmter kriminalpolitischer Entscheidungen, Strategien und Konzepte kann auch nur selten mit dem gesamten Einsatz der wissenschaftlichen Objektivität geleistet werden. Der Einfluß der erfahrungswissenschaftlichen Forschung ist also nicht nur rein tatsächlich beschränkt, sondern schon iogisch begrenzt. Die Politisierung im kriminologischen Denken der letzten Jahrzehnte und gelegentliche Bestrebungen, die „Trennung von Politik und Wissenschaft, von Kriminologie und Dogmatik, von Kriminologie und Strafrecht“ zu überwinden, hat im Ergebnis eher das Bedürfnis nach Objektivität bekräftigt denn das Gegenteil bewirkt. Allerdings wird eine Gesellschaft, die nicht entscheidungsfähig ist, es auch durch Kriminologie nicht werden.

Aufgrund der unterschiedlichen Praxisnähe, der verschiedenen Reichweite und Relevanz wissenschaftlicher Erkenntnis wird man prinzipiell von einer unterschiedlichen Einflußnahme des kriminologischen Erfahrungswissens auf kriminalpolitische Entscheidungen auszugehen haben. Je nach Frage und Gegenstand können eine völlige Trennung (dezisionistisches Modell), eine starke Bindung und Abhängigkeit des Kriminalpolitikers vom Kriminologen (technokratisches Modell) und eine partnerschaftliche Zusammenarbeit (pragmatisches Modell) bestehen. Dabei wird die Einflußnahme aufgrund des letztgenannten Modells die größeren Zukunftschancen haben.

Blicken wir auf die Nachkriegsentwicklung im Bundesgebiet zurück, so läßt sich feststellen, daß Wissenschaft und Kriminalpolitik Anschluß an die internationale Entwicklung gefunden und auch schon beachtliche Erfolge erzielt haben. Die empirisch-rationale Orientierung hat sich im Ganzen durchgesetzt. Man kann begründet annehmen, daß die Konvergenzen in der Grundüberzeugung zwischen Strafrecht, Kriminologie und Kriminalpolitik heute größer sind, als sie dies in der bisherigen Geschichte waren.

Dem stehen retardierende Momente und Rückschritte sowie partielle Divergenzen und gegenläufige Richtungen, etwa überzeichnende Kritik am sog. Sicherheitsstaat, Überfolgerungen von Modernisierungsprozessen sowie Modelle „alternativer Kriminalpolitik“, nicht entgegen. Weniger Politisierung und Radikalisierung als vielmehr Zurückhaltung und Unsicherheit tragen dazu bei und zu dem Befund, daß die Strafrechtserneuerung nur schleppend vorankommt. Es handelt sich dabei nicht allein um die Klärung der Umstände, welche terroristische und extremistische Gewaltakte der letzten Jahrzehnte ausgelöst haben. Auch aus anderen europäischen Ländern wissen wir um die Skepsis gegenüber der Effektivität der Verbrechenskontrolle und der kriminalpolitischen Fortentwicklung (vgl. z.B. Jescheck 1979, 1037 ff.). Doch anders als in der Vergangenheit entzündet sich die kriminalpolitische Diskussion nicht nur am Sanktionensystem, sondern an der Reichweite des Verbrechensbegriffes und an der Strafrechtsanwendung im polizeilichen Ermittlungs- und im Strafverfahren (dazu Hassemer 1995, 486). Die sogenannte „innere Sicherheit“, bis in die Gegenwart als Begriff, Forderung und Argumentationstopos der kriminalwissenschaftlichen Diskussion so gut wie unbekannt, hat seit einiger Zeit Konjunktur (siehe Kunz 1995; 327 ff.). Verbrechensfurcht mehr noch als Verbrechensanstieg mobilisiert Wissenschaft und Praxis. Beides läßt auch die Politik nicht ruhen. Den konkreten Anlaß bieten Massen- und Gewaltkriminalität sowie das organisierte Verbrechen einschließlich Geldwäsche und Korruption. Schlagwortartig verkürzt geht es um „Auf- oder Abrüstung des Strafrechts“.

Faßt man den neueren Forschungsertrag zur Problematik der inneren Sicherheit sowie zu Sicherheits- und Strafbedürfnissen der Bevölkerung zusammen, so läßt sich nicht verkennen, daß innere Sicherheit nicht nur ein Begriff von Polizei und Politik ist, sondern auch im Bewußtsein und Erleben der Bevölkerung ihre Realität hat. Daß dieser Sachverhalt nur oder vor allem auf manipulative Einflüsse staatlicher Institutionen zurückzuführen wäre, entbehrt jeglicher Anhaltspunkte, wenn man die Wahrnehmung von Kriminalität und die verbreitete Viktimisierungserfahrung berücksichtigt. Eine Kriminalpolitik, die diese Bedürfnislage verkennt und nicht ernstnimmt, indem sie als Antwort nur auf Entkriminalisierung, Privatisierung des Strafrechts und die informelle Konfliktregelung verweist, muß langfristig scheitern und wird schließlich die punitiven Einstellungen in der Bevölkerung provozieren, die einer rationalen Bewältigung der Kriminalität und einem humanen Umgang mit dem Rechtsbrecher zutiefst abträglich wären.

Den zeitgenössischen Forderungen nach Entkriminalisierung folgen die Postulate nach Entpönalisierung oder informeller Regelung, etwa durch Diversion und Täter-Opfer-Ausgleich, in weitem Abstand. Demgemäß haben die Forderungen nach Reform des Sanktionenrechts inzwischen wesentlich an Prägnanz verloren und beschränken sich als Restbestände im wesentlichen auf die Ausweitung der gemeinnützigen Arbeit und die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe. Doch ihren Schwerpunkt findet die aktuelle Diskussion der Kriminalpolitik in Recht und Praxis der Verbrechensverfolgung, das heißt im wesentlichen im Strafprozeßrecht (so mit Recht Hassemer 1995, 186 ff.).

Faßt man die gegenwärtige kriminalpolitische Diskussion zusammen, so steht die Gewährleistung ‚innerer Sicherheit“ fraglos im Brennpunkt. Sie gilt als aktueller Topos nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich, der Schweiz und vielen anderen Ländern. Zu ihrer fruchtbaren Analyse und erfolgreichen Bewältigung bedarf es jedoch weder der Überhöhung durch eine „Sicherheitskultur‘“ noch eines „neuen Kulturalismus“ in der europäischen Kriminal- und Sicherheitspolitik (a.A. allerdings Pitschas 1996, 18 ff.). Mag auch in Deutschland die Verbrechensfurcht geringfügig zurückgehen, wie neuere Befragungen andeuten, so bleibt sie doch insgesamt beachtlich genug, um weiterhin ernstgenommen zu werden. Darüber hinaus bestimmen Gefährdungen durch Korruption und organisiertes Verbrechen sowie Viktimisierungserfahrungen, deren subjektive Verarbeitung und Folgenbewältigung neben Alter und Geschlecht die Sicherheitsbedürfnisse. Diese äußern sich als Erwartungen und Forderungen gegenüber den staatlichen Organen der Verbrechenskontrolle. Dies anzuerkennen und gegenteilige Deutungen zurückzuweisen, bedeutet keineswegs den Versuch zur unkritischen Verteidigung oder gar Legitimierung des geltenden Strafrechts. Gefahren zur ideologischen Vereinnahmung von realen oder vermeintlichen Sicherheitsbedürfnissen bestehen nicht nur auf seiten staatlicher Verbrechenskontrolle, sondern auch auf seiten kritischer Positionen in Wissenschaft und Schrifttum. Jedoch ist an der Existenz von elementaren Sicherheitsbedürfnissen der Bürger nicht zu zweifeln. Nichts unterstreicht die Dringlichkeit des Sicherheitsbedarfes stärker als der Siegeszug des privaten Sicherheitsgewerbes, dessen wachsende Inanspruchnahme durch den Bürger sowie die aktuellen Ansätze kommunaler Kriminalprävention. Da vor allem staatliche Träger der Verbrechenskontrolle Adressaten entsprechender Erwartungen sind, hängt die Erfüllung von Sicherheitsbedürfnissen besonders von den Institutionen der strafrechtlichen Sozialkontrolle ab. Doch das Strafrecht tut sich augenscheinlich schwer.

Welches die Zukunft des Strafrechts auch sei, in welche Richtung es sich auch bewegen mag, rationale Kriminalpolitik ist noch keinesfalls gewährleistet, indem man sie durch empirisch gesicherte Erfahrung zu stützen sucht. Denn schon längst hat sich kriminalpolitischer Richtungsstreit des empirischen Wissens bemächtigt, und zwar nicht nur, um es zu nutzen, sondern um es entsprechend der vorrangigen Ziele inhaltlich zu bestimmen. Demgemäß wird stärker als zuvor der Streit auf das gesicherte kriminologische Wissen vorverlagert. Anschauliche Beispiele liefern schon gegenwärtig die unterschiedlichen Befunde zu Verbrechensfurcht, Viktimisierung und Strafbedürfnissen sowie zur Realität von Umweltstrafrecht, Drogenstrafrecht und organisiertem Verbrechen, von der sogenannten Ausländerkriminalität ganz zu schweigen. Überdies wird die künftige Entwicklung sorgfältiger als bisher Gewalt-, Wirtschafts- und Umweltkriminalität wie auch die Interessen der Verbrechensopfer zu beachten haben. Die Strafjustiz wird aber auch dem strafrechtlichen Vorverfahren, einschließlich der Kontrollmuster der Staatsanwaltschaft, stärkere Beachtung schenken müssen. Eine gesteigerte Durchsichtigkeit des Strafverfahrens gerade in der ersten Phase ist geboten.

Angesichts der bekannten Schwierigkeiten für die Fortentwicklung rationaler Kriminalpolitik hat sich die Berücksichtigung ausländischer Erfahrungen und internationaler Tendenzen als hilfreich erwiesen. Im Hinblick auf die grenzüberschreitende internationale Kriminalität wird Kriminalität weniger denn je auf den nationalen Bereich beschränkt bleiben. Wirksame Verbrechenskontrolle setzt daher vielfältige Bezüge zwischenstaatlicher Zusammenarbeit voraus. Sie macht ferner die Harmonisierung der Rechtsbereiche sowie die Erleichterung der Fahndung, des Rechtshilfe- und Auslieferungsverkehrs erforderlich. Gleichwohl zeichnet sich das Programm einer Kriminalpolitik, die Chancen hätte, das Jahr 2000 zu überdauern, noch kaum in Umrissen ab. Zu sehr belasten die akuten Nöte und die Verstrickungen in den ideologisch motivierten Richtungsstreit. Doch unüberbrückbare Kontroversen, lähmende Ratlosigkeit und resignative Untätigkeit liefern keinerlei aussichtsreiche Perspektive, um die „Kriminalpolitik von morgen“ zu bewältigen (zur „europäischen Kriminalpolitik als Zukunftsaufgabe“ Schwind 1996, 556 ff.).