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Carlo Schmid, 1896-1979 eine Biographie

Carlo Schmid, der bekannte SPD-Politiker, 1896 in Perpignan geboren und 1979 in Bad Honnef gestorben, gilt als einer der letzten großen Humanisten, als lebendige Verkörperung von Geist und Macht. Der Mann, der in der Welt der Dichtung ebenso zu Hause war wie in der Welt der Politik, litt unter ihr und fühlte sich doch zu ihr berufen. Schon in der Weimarer Republik drängte es ihn, in die Außenpolitik einzugreifen. Als entschiedener Kämpfer gegen das NS-Unrechtsregime rettete er als Militärverwaltungsrat in Lille zahlreichen Menschen das Leben. Er stand in Kontakt mit den Männern des 20. Juli und war in deren Pläne eingeweiht. Seine Verdienste als einer der Väter des Grundgesetzes sind unumstritten. Schmid ging es nicht nur um die Grundlagen für eine krisenfeste Demokratie, er war auch bemüht, die deutsche Teilung zu verhindern. Die Historikerin Petra Weber hat mit diesem glänzend geschriebenen Buch nicht nur die gültige Biographie des großen Mannes der Sozialdemokratie geschrieben, sondern auch ein eindrucksvolles Porträt der Gründerjahre der Bundesrepublik Deutschland.
Petra Weber Carlo Schmid 1896-1979 Eine Biographie
Einleitung:
Der Mensch ist, was er verbirgt
Als Carlo Schmid noch in den Sielen der Politik stand, träumte er davon, seinen Lebensabend, Paprika und Tomaten züchtend, in der Provence zu verbringen. Doch wie so viele seiner Träume zerrann auch dieser. Der Abschied vom politischen Alltagsgeschäft bedeutete keinen Feierabend. Als er im Frühjahr 1973 in das Ferienhaus seines Sohnes in La Croix Valmer einzog, wartete dort eine neue Fron auf ihn: Er sollte seine Memoiren schreiben. Die Aufgabe stehe „wie ein Berg“ vor ihm, bekannte er in einem Brief an Hans-Peter Schwarz‘. Seine treue Mitarbeiterin Friedel Ahlgrimm gab ihm Ratschläge und Material für das Erinnerungswerk und ermutigte ihn: „(…) Sie werden überrascht sein, in welch lebendiger . Erinnerung Geschehnisse und Menschen geblieben sind, sobald Sie einiges gelesen haben.“ ? Weder auf Tagebücher noch auf Aktennotizen konnte er zurückgreifen. Er hatte nicht die Absicht gehabt, seine Lebenserinnerungen niederzuschreiben. Nun war er den Bitten seiner vielen Bewunderer, die ein brillantes Selbstporträt des geistreichen „Causeurs“ erwarteten, und dem Drängen von Verlegern erlegen. Die Voyeurs, die Einblicke in sein vie intime erhofften, sollten nicht auf ihre Kosten kommen. Weder eine Beichte noch eine Selbstrechtfertigung im Stile Rousseaus wollte er schreiben’. _ Er hatte nicht vor, ein „Seelengemälde“ zu zeichnen*. „Ich schreibe nieder, ‚was ich gesehen habe, insbesondere die Dinge, an denen ich selbst mitwirken konnte, nicht um damit zu zeigen, das ist mein Anteil, sondern um glaubhaft zu machen, daf meine Beurteilung glaubwürdig ist“, so skizzierte er in einem Interview mit dem „Vorwärts“ im Jahre 1973 seinen Membeirenplan‘. Er war diktiert von einem pädagogischen Eros. Carlo Schmid wollte seinem Rufe, der geistige Mentor der Bonner Nachkriegsdemokratie zu sein, gerecht werden. Die Erinnerungen sollten Lehren sein für die, die sich die Mühe machten, „aus den Erfahrungen eines langen Lebens zu lernen“. Beim Lesen von Heuss’ Erinnerungen war ihm die Idee gekommen, daß dessen Leben „Stoff für einen Erziehungsroman“ der deutschen klassischen Tradition abgeben könnte’. Galt dies nicht auch für sein Leben? Nur bedingt. Aber hatte nicht schon Goethe erkannt: „Ein Faktum unseres Lebens gilt nicht, insofern es wahr ist, sondern insofern es etwas zu bedeuten hatte.“ ° Schmid stellte seine Autobiographie in die Tradition des klassischen Bildungsromans, wie sie durch Hölderlins „Hyperion“ und Goethes „Wilhelm Meister“ begründet worden war – die beiden Werke, die er jugendlichen Ratsuchenden immer wieder als Pflichtlektüre empfahl. Hölderlins Strafpredigt an die „dumpf und harmonielos“ dahinlebenden Deutschen? und Goethes bittrer Einsicht, daß mit der bürgerlichen Gesellschaft die „Zeit der Einseitigkeiten“ angebrochen sei’°, fügte Carlo Schmid eine neue Lehre hinzu: die Pflicht des Gebildeten, politische Verantwortung zu übernehmen. Das unpolitische Bildungsbürgertum war, so lehrte er, an der Machtergreifung des Nationalsozialismus mitschuldig geworden. Er wählte sich als Beispiel. Seinen angeblichen Weg aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft in die Niederungen der Politik stilisierte er zu einer Art Damaskuserlebnis. 1945 habe er, aus der Erkenntnis schuldig geworden zu sein, zu sich selbst gesagt: „Du mußt dich auf den Weg zwischen Tod und Teufel wagen. Dann erst wird dein Leben seinen Sinn finden. Ich werde also in die Politik gehen müssen. Damit stelle ich mein Leben in eine Ordnung, die mir viel Geduld und viel Demut abverlangen wird. Ich werde mit dem Wissen ans Werk gehen müssen, daß man allein durch den Glauben an die Idee das Ideal nicht verwirklichen kann; daß man sich wird begnügen müssen, Annäherungswerte an das Wahre zu verwirklichen; daß man Stein um Stein wegräumen, Unkraut um Unkraut ausreißßen muß, bis man daran denken kann, die Entwürfe des planenden Geistes vom Reißbrett weg in Stein und Mörtel zu übertragen.“
Was sich wie ein Bekenntnis liest, war in Wirklichkeit ein Aufruf an die akademisch Gebildeten, sich der Verantwortung für das Gemeinwesen nicht zu entziehen. Trieb Carlo Schmid doch die Sorge um, daß immer weniger verantwortungsvolle und weitsichtige Politiker und immer mehr „clevere Auswerter von Meinungen“ in den Bundestag einzögen, daß Politik immer mehr nur noch zum Sprachrohr von Modeströmungen werde‘?. Gelesen als ein Appell an die Verantwortung des Bürgers, sind die Erinnerungen ein stilistisch brillant geschriebenes Buch, eine Autobiographie sind sie nicht. Viel zu komplex war die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Carlo Schmid durchlebte, viel zu sehr von Widersprüchen zerrissen war er selbst, als daß seine Lebensgeschichte sich als eine Entwicklung vom Idealisten zum Realisten, vom „Hieronymus im Gehäuse“ zum Verantwortung tragenden Politiker darstellen ließe. Carlo Schmid war kein Schöngeist, der sich nach 1945 in die Politik verirrte. Eine facettenreiche Persönlichkeit wie er läßt sich nicht in die gängigen Schemata einordnen. Sagte er doch von sich selbst, daß er sich nie anders gefühlt habe, „als jener Ulrich von Hutten, den Conrad Ferdinand Meyer sagen läßt: ‚Ich bin kein ausgeklügelt Buch, ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch‘. “ ‚3 Von diesem Menschen erfährt man in den Erinnerungen ebensowenig wie von den Konflikten und Kämpfen, die er auszufechten, von den Niederlagen, die’ er einzustecken hatte. Die wenigen persönlichen Bekenntnisse und kritischen Anmerkungen über politische Weggenossen, die die Rohfassung des Manuskriptes noch aufwies, fielen der vom Verlag erzwungenen Kürzung des Manuskriptes zum Opfer’*. Die Selbstzensur, die sich Carlo Schmid in seinen Erinnerungen auferlegte, wurde durch die Kürzung des Manuskriptes noch verstärkt. Man hat beim Lesen der Erinnerungen den Eindruck, daß Schmid fürchtete, daß das von ihm in der Öffentlichkeit vorhandene Image des Renaissancemenschen, der Geist und Macht in unnachahmlicher Weise vereinigt, zerstört werden könnte. Das mag verwundern, denn Carlo Schmid litt an diesem Image, wenn er auch dazu beigetragen haben mag, daß es entstand. Hinter dem „Denkmal“’S, zu dem man ihn stilisierte, hatte der Prophet, der Zerstörer von Tabus und Dogmen zurückzuweichen. Wohl nicht von ungefähr zitierte Schmid Heinrich Heines bittres Wort: „Das Volk steinigt gern seine Propheten, um ihre Reliquien desto inbrünstiger zu verehren.“ ‚° Schmid war diese Erfahrung nicht fremd. In Bonn erfuhr er die Wahrheit des Heine-Wortes am eigenen Leib. Als „Tafelaufsatz im Proletarierhaushalt“ der SPD hatte der mit ihm befreundete Heuss ihn verspottet’”. Zahlreiche Artikel und Würdigungen, die über ihn geschrieben wurden, hatten den Beigeschmack von Nachrufen. „Sie zeichneten mich zu sehr als einen kalokagathos“, schrieb .er Walter Jens, der für den Wahlkampf 1965 ein Kurzporträt über ihn verfaßt hatte’°. Dem Rhetor Carlo Schmid wurde mehr Bewunderung gezollt als dem Politiker. Während er die Erinnerungen schrieb, stieg manchmal ein Gefühl von _Bitternis und Unzufriedenheit bei ihm auf. Dann fand Friedel Ahlgrimm ‚Notizzettel auf dem Schreibtisch wie diesen: „Liebe Friedel, schicke mir bitte die Adenauer-Jubelreden.“’% Konnte man Erinnerungen schreiben, in denen kein „häßliches Wort“ über irgendeinen politischen Zeitgenossen vorkommen sollte”°? Schmid war sich bewußt, wie problematisch sein ganzes Unternehmen war. Aber er wollte nun einmal keinen Blick zurück im Zorn auf die vergangenen Ereignisse werfen, sondern ein pädagogisches Buch schreiben. So lesen sich die Memoiren als Bestätigung des Bildes, das man sich von ihm in der Öffentlichkeit machte. Sein Leben gerann zum Selbstzitat. Weil sich Carlo Schmid in seinen Erinnerungen als geistiger Mentor der Bonner Nachkriegsdemokratie präsentieren wollte, nehmen die Bonner Jahre einen relativ großen Raum ein, während er in seiner Erzählung über seine Tätigkeit als Kriegsverwaltungsrat in Lille und als Staatschef in Württemberg-Hohenzollern vieles ausläßt und unterschlägt, obwohl er sich nichts vorzuwerfen, nichts zu vertuschen hatte. Ganz im Gegenteil:
Er verschweigt seine Teilnahme am Widerstand gegen das nationalsozialistische Gewaltregime. Die Nichtthematisierung des Widerstandes in der Zeit nach 1945 mag dazu beigetragen haben, daß Carlo Schmid kein Wort darüber verlor. Wer jahrelang über eine Sache geschwiegen hat, bricht dieses Schweigen in späteren Jahren nur selten. Hinzu kam, daß man in den siebziger Jahren kaum mehr verstand, daß das Leben von Menschen in jener Zeit oft nur zu retten war, wenn man sich ein Stück weit auf das Regime einließ. Für Schmid war die Zeit in Lille eine Zeit existentieller Herausforderung. Damals wurde er zum aktiven Politiker, weil er durch Nichthandeln Schuld auf sich geladen hätte. Der Leser sollte auch nicht erfahren, daß dieser so robust erscheinende Carlo Schmid in Wirklichkeit eine sensible Künstlernatur war. Wie ein Geheimnis versteckte er hinter der politischen öffentlichen Rolle die andere Seite seiner Existenz, den Dichter und Künstler Carlo Schmid. Dabei verstand er Politik und Kunst nie als getrennte Bereiche. Die Utopie des Dichters, der sich der Geisteswelt Stefan Georges verpflichtet wußte, prägte auch das politische Wirken. Aber die Begegnung des musischen Menschen mit dem politischen Alltag verursacht auch Mißverständnisse und Leiden. Der Utopist war ein Melancholiker. Ernst Jünger, einer der wenigen Freunde und Weggefährten Carlo Schmids, die seine sensible, zuweilen sogar sensitive Charakterstruktur erfaßt haben, sieht Schmids Biographie durch das Spannungsverhältnis zwischen politischer und ästhetischer Existenz bestimmt”‘. Der unter dem Joch der Politik stöhnende Carlo Schmid klagte, daß er Verrat an sich selbst übe?”. Doch keiner hätte ihn dazu bewegen können, aus der Politik auszuscheiden. Er war Politiker und Künstler. Beide Rollen gehörten zu seiner Existenz. Zunächst hatte er sich durchaus zu seinem Dichtertum bekannt. Später verbarg er es immer mehr. Lag es daran, daß Politiker, die dichteten, in Deutschland noch immer als unseriös galten? Oder war es nur die Furcht, sein Innenleben preiszugeben? War das Dichten doch für ihn ein Medium der Selbstaussprache und der Selbstfindung. Carlo Schmid war kein Rousseau, der ein Herz hatte durchsichtig „wie ein Kristall“ 3.
„Ein vogel schreit: er hat mein herz gesehen Das arglos deines lächelns schwerter trafen“,
lauten zwei seiner Verse”*. Schmid verbarg sein Herz, oft auch seinen engsten Freunden. Galt auch für ihn Andre Malraux’ Feststellung, daß die Wahrheit eines Menschen vor allem in dem liege, „was er verbirgt“ 5? Schmid unterstrich in einem Nekrolog auf Malraux die Behauptung des französischen Kulturministers?°,. Anti-Memoiren hatte Malraux seine Lebenserinnerungen genannt. Auch Carlo Schmids Erinnerungen könnten diesen Titel tragen, ja vielleicht wäre für sie dieser Titel sogar zutreffender als für die Malraux’. Dieser hat in seinen Lebenserinnerungen immerhin Höhen und Tiefen der condition humaine ausgelotet. Carlo Schmid schrieb einen politischen Erziehungsroman. Eine Biographie über Carlo Schmid muß der Tatsache Rechnung tragen, daß sein öffentliches Dasein als Politiker, seine öffentliche Selbstdarstellung nur die eine Seite seiner Persönlichkeit war. Sicher, er gehörte zu den Politikern, die in der Öffentlichkeit häufig das Wort ergriffen und er scheute auch mutige Worte nicht. Aber allzu oft ordnete er sich einer höheren Staats- und Parteiräson unter. Wenn er sah, daß er sich mit seiner Meinung nicht durchsetzen konnte, schwieg er. Das macht es schwierig, seinen politischen Standort zu den jeweiligen Themen und Ereignissen zu bestimmen, zumal er weder Akten- noch Gesprächsnotizen anfertigte. In zahlreichen Nachlässen und Archiven verstreut findet sich aber doch einiges, das Aufschluß gibt über das, was er dachte und für richtig hielt. Oft kommt man seinen Gedanken auch näher, wenn man zwischen den Zeilen liest. Carlo Schmids Biographie auf eine politische Biographie zu reduzieren, wäre ein Unding. Er selbst sprach immer davon, daß die Wurzel all seines politischen Handelns der Mensch Carlo Schmid sei. Der Mensch Carlo Schmid war ein musischer Mensch. Das prägte sein Verhältnis zur Politik in befruchtender und in leidvoller Weise. Trotzdem: ein Schöngeist war er nicht. Der Weg in die Politik war für ihn kein Opfergang. Er drängte schon vor 1945 in die Politik. Betroffenheit und politischer Gestaltungswille, der Glaube, daß eine neue Elite die Politik in die Hand nehmen müsse, damit sich Weimar nicht wiederhole, ließen seinen Entschluß, in die Politik zu gehen, reifen. Der Mensch Carlo Schmid war ein Mensch der Widersprüche, der sich in einem ständigen Selbstfindungsprozeß befand. Er, der stets in globalen Zusammenhängen dachte, hat uns keine größere systematische Arbeit hinterlassen, sondern eine Vielzahl von Essays und Gelegenheitsarbeiten, die zum Teil Versuche sind, sich durch die Beschäftigung mit fremden Gegenständen und ihrer geistigen Durchdringung selbst zu erforschen. In der Tradition Montaignes schrieb Carlo Schmid in seinen Essays, insbesondere in seinen Porträtskizzen, Kapitel seiner eigenen Biographie””. Eine Biographie hat die Aufgabe, den handelnden, denkenden und leidenden Menschen im Kontext seiner Zeit zu begreifen und dadurch zugleich die Zeit dem Leser und dem Nachgeborenen nahezubringen. Auch Carlo Schmid war ein Kind seiner Zeit, die er in seinen Erinnerungen nur sehr schemenhaft konturiert hat. Man darf nicht dem Irrtum unterliegen, daß seine Biographie erst in den Jahren nach 1945 interessant werde. Sie war geprägt durch die Erfahrungen der Weimarer Republik und des NSRegimes. In den Jahren von 1918-1945 fand seine politische Sozialisation statt, in dieser Zeit begann er, politische Verantwortung zu begreifen und politisch zu handeln. Nur wenn man diese vielfältigen und komplexen Strukturen seiner Biographie berücksichtigt, kann man eine Antwort darauf finden, warum Carlo Schmid nach einem Wort Theodor Eschenburgs viel wollte, noch mehr konnte und doch wenig erreichte?®. Zumindest aber entgeht man dadurch einer ahistorischen Heroisierung oder Verurteilung. Die Biographie soll kein Nachruf werden, aber auch kein Scherbengericht, das sich im nachhinein so leicht fällen läßt. Die Arroganz der Nachgeborenen fürchtete Schmid ohnehin. Bereits 1949 stellte er mit Bitternis fest: „Wenn eines sicher ist, dann dies, daß ‚nachher‘ jeder Idiot es besser gewußt haben wird als ich.“
Ein Franzose in Deutschland:
Kindheit und Jugend
(1896-1918)
Mutterland Frankreich — Vaterland Schwaben: Die Vorfahren
„Einsam, abgeschieden von Wäldern umschlossen, liegt im nördlichen Theil des Herdtfeldes am Beginn des gegen Südosten ziehenden trockenen Gassenthälchens das nicht unfreundliche, sommerliche, gegen Süden abhängige Örtchen, dessen Häuser meist mit Stroh und Schindeln gedeckt und an den Giebelseiten mit Latten verkleidet sind.“‘ So beschreibt ein Oberamtsbericht aus der Mitte des 19. Jahrhunderts den ungefähr zweieinhalb Fußstunden von Neresheim entfernten, auf der Ostalb gelegenen Ort Unterrissingen. Herdtfeld bzw. Härtsfeld heißt die Gegend, weil dort lange Zeit vor allem Schafzucht betrieben wurde. Der Boden und das Klima waren rauh, die Lebensumstände auch. Die spätbarocke Abteikirche in Neresheim, für die Balthasar Neumann die Pläne entworfen hatte, war die einzige Attraktion dieses wenig einladenden Landstriches. Die Oberamtsstadt Neresheim war eine kleine beschauliche Landstadt. Auch hier gab es nur ein großes Haus mit Erker und Renaissancegiebel”. Das Dorf Unterrissingen zählte nicht mehr als 480 Einwohner, ihm eingemeindet war ein noch kleineres Örtchen: Michelfeld. Nicht einmal 20 Einwohner hatte der Ort, im 16. Jahrhundert scheint er nur aus einem „Bauernhof bestanden zu haben, der vor der Säkularisation zu einem Kloster gehörte. Seit dieser Zeit betrieben die der väterlichen Linie entstammenden Vorfahren Carlo Schmids dort ihr landwirtschaftliches Tagewerk%; Die Bauern dieser Gegend galten als fleißig. Sie mußten es sein, wenn sie überleben wollten. Auch der Urgroßvater Carlo Schmids, Franz Josef Schmid, und seine Frau Maria Josepha verdienten sich ihren Lebensunterhalt noch als Bauern. Mehr als eine bescheidene Existenz garantierte der bäuerliche Betrieb nicht. Die harte Arbeit ohne landwirtschaftliche Maschinen forderte ihren Tribut. Franz Josef Schmid verstarb 1840 im Alter von nur 46 Jahren. Der 1824 geborene Sohn Johannes Baptist trat zunächst in die Fußstapfen seiner Eltern. Im Mai 1855 heiratete er die verwitwete Marianna Kieninger, die zusammen mit ihrem Mann eine Speisewirtschaft und Bierbrauerei in Unterkochen, einem kleinen Ort in der Nähe von Aalen, betrieben hatte‘. Johannes Baptist Schmid entschloß sich umzusatteln und übernahm zusammen mit seiner Frau die Gaststätte. Der Bauer aus Michelfeld wurde „Hirschewirt“ in Unterkochen. Die Gaststätte versprach mehr Gewinn abzuwerfen als der bäuerliche Betrieb. Das Gastwirtschaftsgewerbe verzeichnete Mitte des 19. Jahrhunderts einen rasanten Aufschwung. Im Oberamtsbezirk Aalen scheinen die Bauern und Handwerker ganz besonders trinkfreudig gewesen zu sein. Ein sittenstrenger Aalener Chronist stimmte im Jahre 1854 geradezu ein Klagelied über seine Mitbürger an: „Länger andauernde harte Arbeit ist nicht beliebt, um so mehr aber, wo immer möglich, gutes Essen und Trinken. Gerade der Wirthshausbesuch hat in Stadt und Land seit Menschengedenken außerordentlich zugenommen und entsprechend ist die Consumption des braunen Biers gestiegen, die des wohlfeileren weißen gesunken; dazu kommen sehr häufige Tanzgelegenheiten bei Hochzeiten, Märkten . und Kirchweihen, zumal in der Stadt fast jedes Wirthshaus seine Kirchweih’ auf einen besonderen Sonntag verlegte.“ Auch sonst wußte unser Chronist wenig Lobenswertes über die Bevölkerung dieser Gegend zu berichten. Die „intellektuellen Eigenschaften“ der Bevölkerung seien „mittelmäßig“, bei den Gemeinderatswahlen von 1819 seien mehr Kreuze als Unterschriften zu finden gewesen. In den meisten Schulen gehe das Lernen noch „immer ziemlich schwer“, denn die „Geringschätzung intellektueller Bildung und höherer Kenntnisse“ sei noch immer nicht ganz verschwunden‘. Die meisten Bewohner der ı soo Seelengemeinde Unterkochen lebten von Ackerbau und Viehzucht, daneben bot die Mühlenindustrie und ein Walzwerk Arbeit und Brot. In dieser zumindest in geistiger Hinsicht dumpfen Gegend erblickte 1860 Joseph Schmid, der Vater Carlo Schmids, das Licht der Welt. Zehn Jahre lebte er dort, bis sich Anfang der 70er Jahre die Familie entschloß, in die Landeshauptstadt Stuttgart zu ziehen. Das Gastwirtschaftsgewerbe erlebte in Stuttgart zu Beginn der 70er Jahre einen ungeheuren Boom’. Bot Stuttgart nicht eine ganz andere Zukunftsperspektive als Unterkochen? Die Hoffnung auf ein florierendes Gastwirtschaftsunternehmen und bessere Bildungsmöglichkeiten für den begabten Sohn Joseph mögen die Schmids dazu bewogen haben, die gewohnte Umgebung Unterkochens zu verlassen und in die damals noch kleinstädtische Residenz Stuttgart zu übersiedeln. Mitten in der Stuttgarter Altstadt, in der in der Nähe des alten Schlosses gelegenen Münzstraße, eröffneten Johannes Baptist und Marianna Schmid 1872 ein Restaurant. Ihre Erwartungen wurden enttäuscht. Die Gewinne, die der Restaurantbetrieb abwarf, scheinen bescheiden gewesen zu sein. Eine jährliche Gewerbesteuer von vier Gulden und 24 Kreuzern lassen auf einen allenfalls mittelmäßigen Umsatz schließen‘. Bereits ein Jahr später gab die Familie Schmid die Gaststätte wieder auf und
versuchte einen Neuanfang in der Cannstadter Straße 17. Aber auch die direkt am Schloßgarten gelegene Gaststätte florierte nicht?. Möglicherweise krankheitshalber, vielleicht auch aus Enttäuschung, in Stuttgart nicht Fuß fassen zu können, gab Johannes Baptist Schmid das Gaststättengewerbe ganz auf. Im Stuttgarter Adreßbuch des Jahres 1874 erscheint er nur noch als Privatier in Miete im Haus Olgastraße 3, Parterre. Am 10. Januar 1875, im Alter von so Jahren, erlag er einem Schlaganfall. Zwei Tage später wurde er auf dem Pragfriedhof in Stuttgart bestattet’“. Der frühe Tod Johannes Baptist Schmids und die finanziellen Rückschläge, die die Familie in Stuttgart erlitt, gefährdeten die Schulausbildung des Sohnes Joseph nicht. Er durfte die Oberrealschule besuchen, die in den 70er Jahren stürmischen Zulauf erhielt. Über 1000 Schüler gingen zusammen mit Joseph Schmid in die Stuttgarter Oberrealschule“. Der Besuch der Schule ermöglichte Kindern aus Nichtakademikerfamilien in einer Zeit, in der immer mehr Techniker und Ingenieure gebraucht wurden, gesellschaftlichen Aufstieg. Joseph Schmid enttäuschte die in ihn gesetzten Erwartungen nicht. Er war ein strebsamer und guter Schüler. Als er 1877 die Oberrealschule verließ, konnte er ein ausgezeichnetes Abgangszeugnis vorweisen‘? Keine Note schlechter als gut – und das in einer Zeit, als noch strenge Zensuren gegeben wurden. Stuttgart verfügte im 19. Jahrhundert über keine Universität. In der nicht einmal 100 000 Einwohner zählenden Residenzstadt gab es nur eine Technische Hochschule, das Polytechnikum. Im Wintersemester 1877/78 begann der ı7jährige Joseph Schmid dort sein Studium — unter im Vergleich zur heutigen Massenuniversität noch idyllischen Studienbedingungen. sıs Studenten waren 1878 an der Hochschule eingeschrieben, die Professoren kannten ihre Studenten noch persönlich‘?. Der Schriftsteller und Literaturhistoriker Theodor Vischer war der Star der Hochschule, ‘der offensichtlich einen prägenden geistigen und erzieherischen Einfluß auf die jugendlichen Studierenden ausübte’*. Auch Joseph Schmid wurde Famulus bei Theodor Vischer, dessen kulturkritisch untersetzter moralischer Idealismus seine geistige Entwicklung stark beeinflußt zu haben scheint. Er konnte sich durch Vischers Predigt von der Schönheit eines Lebens im Geiste in seinem Bildungsdrang bestätigt fühlen. Der begabte junge Student erregte schon bald die Aufmerksamkeit des alten Theodor Vischer und so wurde ihm eine ganz besondere Ehre zuteil: Er durfte ihm bei der Korrektur der Druckfahnen von „Auch Einer“, Theodor Vischers mit bissigem Humor gegen den bürgerlichen Fortschrittsoptimismus geschriebenen Zeitroman, helfen. Als Belohnung bekam er von Vischer ein handsigniertes Exemplar des 1879 erschienenen Romans geschenkt“. Ein Jahr später bestand Joseph Schmid die Prüfung für das Lehramt, die damals „Kollabouraturprüfung“ hieß, mit der Note
IT‘, Theodor Vischer bescheinigte seinem Zögling eine „ausgezeichnete Eignung zum Sprachenlehrer und Erzieher“ ‚7. Dem gerade erst zwanzig Jahre alten Joseph Schmid scheint es davor gegraut zu haben, sein weiteres Leben tagein, tagaus mit Unterrichten von Schülern verbringen zu müssen. Das Brotstudium am Polytechnikum hatte seinen Bildungsdrang nicht gestillt. Der familiären geistigen Enge entronnen, strebte er nach einer Vertiefung und Erweiterung seiner Bildung, die für den jugendlichen gesellschaftlichen Aufsteiger Eigenwert besaß. Da ihm der „Reserveoffiziersstil’“ der deutschen Universitäten zuwider war“®, ging er nach Frankreich, hörte Vorlesungen an der Sorbonne und der Faculte des Lettres in Toulouse. Ob er sich diesen Luxus eines Zusatzstudiums selbst verdienen mußte, läßt sich nicht mehr feststellen. Es mag sein, daß ihm seine Mutter, die seit Beginn der 80er Jahre im Stuttgarter „Bohnenviertel“ wieder eine Gaststätte betrieb‘?, ab und zu unter die Arme griff. Zum Lebensunterhalt dürfte dies aber kaum ausgereicht haben. Jedenfalls hatte er Geld genug, um drei Jahre lang in Frankreich seinen geistigen und wissenschaftlichen Interessen nachzugehen. 1883 hatte die Zeit des geistigen Vagabundierens ein Ende. Der Ernst des Lebens begann. Joseph Schmid nahm eine Stelle als Sprachenlehrer für Deutsch und Englisch an einer Schule in Toulouse an. Bis 1888 blieb er an dieser Schule, an der er sich großer Wertschätzung erfreute. Seine pädagogischen Fähigkeiten wurden ebenso gelobt wie seine Redlichkeit und sein höflicher Umgang mit den Schülern und Kollegen”. Danach bereitete er am Institut Saint Sernin in Toulouse die „Besten der Nation“ auf die Aufnahmeprüfung in die Ecole Normale Sup£rieure vor. Nur zwei Jahre hielt er es dort aus. Joseph Schmid war ein unruhiger Geist, der noch immer nicht daran dachte, sich seßhaft zu machen und eine Familie zu gründen. 1890 begab er sich auf den Weg in das Roussillon. In: Perpignan, einem Kleinstädtchen von damals kaum 30000 Einwohnern”, wollte er im Institut Saint Gonzague eine Stelle als Sprachenlehrer antreten. Schon bald lernte er dort Anna Erra kennen, eine selbstbewußte junge Lehrerin, in die er sich verliebte. Beide verband nicht nur Zuneigung, sondern auch ein ähnlicher Lebensweg. Auch Anna Erra entstammte einem kleinbürgerlichen nichtakademischen Elternhaus, dessen geistiger Enge sie zu entfliehen suchte. Auch sie hatte der Ehrgeiz nach höherer Bildung gepackt. Sie wollte nicht heiraten, sondern als Lehrerin selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen. Der Großvater Anna Erras, Augustin Erra, hatte sich als Schuhmacher eine bescheidene Existenz geschaffen. Er lebte in Claira, einem kleinen Dorf ungefähr zehn Kilometer nordöstlich von Perpignan?”. Der 1829 geborene Sohn Barthelemy wollte sich nicht mit diesem mühsamen Handwerk abquälen. Mitte des 19. Jahrhunderts fand in den Pyrön&es-Orientales wie überall im Midi eine regelrechte wirtschaftliche Revolution statt.
Vater Joseph Schmid
Die Eisenbahn, die 1858 Perpignan erreichte, rifß die Region aus ihrer traditionellen Abgeschiedenheit und Isolierung und verband sie mit den Zentren Frankreichs. Der Wein des Roussillon eroberte die Pariser Absatzmärkte”. Eine Art „Weinbaufieber“ brach aus. In der Region Bas- Languedoc — Roussillon wurde in den Jahren 1852 bis 1862 die Weinanbaufläche um fast 100000 ha vermehrt. Durch verbesserte Keltermethoden konnte der Ertrag der Weinernte um das Dreifache gesteigert werden**. Auch Barthelemy Erra wurde von diesem Weinbaufieber ergriffen”. Als Weinbauer und -händler hatte er teil am wirtschaftlichen Aufstieg des Südens, konnte er sich einen recht ansehnlichen Wohlstand erwirtschaften, der es ihm erlaubte, seiner 1869 geborenen Tochter Anna eine Ausbildung als Lehrerin zu finanzieren. Gesellschaftlicher Aufstieg und soziale Anerkennung scheinen Barthelemy Erra viel bedeutet zu haben, denn es war in der damaligen Zeit in den Pyrenees-Orientales nicht üblich, für die Bildung von Töchtern Geld auszugeben. Noch in den 70er Jahren konnten über 70% der Frauen in dieser Region weder schreiben noch lesen. Immer noch war die Überzeugung weit verbreitet, daß die Frau dem Vater und Ehemann untertan sei”. In den 8oer Jahren verbesserten sich die Bildungsmöglichkeiten für Mädchen zusehends. Die Gründung höherer Schulen für Mädchen wurde vorangetrieben. Die „francisation“ des Roussillon drängte alte katalonische Traditionen zurück. Immer weniger Bewohner sprachen katalanisch, französisch setzte sich auch als Umgangssprache durch. Für die Schulen wurde Spracherziehung zu einer Hauptaufgabe. Oberste Maxime aller höheren Mädchenschulen war: der Gebrauch des patois ist untersagt”. Anna Erras Sprachbewußtsein, die strenge Spracherziehung, mit der sie den kleinen Carlo manchmal traktierte”, haben hier ihre Wurzeln. Der Gebrauch der französischen Hochsprache war ein Statussymbol. Nach Abschluß der Schulausbildung im Jahre 1887 absolvierte Anna Erra eine dreijährige Probelehrerzeit in dem rund zwanzig Kilometer von Perpignan entfernten Estagel. Im Oktober 1800 bestand sie vor der Prüfungskommission der Acad&mie de Montpellier die Lehramtsprüfung”. Sie erhielt eine Anstellung an einer Schule in Perpignan und zog wieder zu ihren Eltern, die vermutlich auf die berufliche Karriere ihrer Tochter stolz waren. Eine Frau, die Lehrerin war, galt in den Pyrenees-Orientales noch immer als Ausnahmeerscheinung. Um so unverständlicher scheint es für sie gewesen zu sein, daß ihre begabte Tochter sich ausgerechnet in einen Deutschen verlieben mußte, noch dazu in diesen Joseph Schmid, der bisher ein so unstetes Leben geführt hatte. Barthelemy Erra war entschieden gegen diese Beziehung und ließ seine Tochter wissen, daß er einer Heirat den väterlichen Segen verweigern werde. Fremde wurden in den Pyrenees-Orientales zumeist mit einem gewissen Mißtrauen beäugt. Als Kurt Tucholsky in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts die Pyrenäen bereiste, fiel ihm die Fremdenfeindlichkeit der dortigen Bevölkerung so
Mutter Anna Schmid, geb. Erra Charlot auf dem Bärenfell

 

 

 

 

 

 

 

 


fort auf?°. In seinen Erinnerungen nannte Carlo Schmid seinen Großvater einen typischen Patrioten der Gambetta-Zeit?‘, dem Deutschland als Erbfeind schlechthin erschien. Die meisten Weinbauern der Gegend dachten so wie Barthelemy Erra. Sie waren fast alle Anhänger der Radikalen??. Schließlich erklärte sich Barthelemy Erra doch bereit, der Heirat seiner Tochter mit einem Deutschen die väterliche Zustimmung zu geben. Allerdings konnte er nicht dazu überredet werden, selbst mit auf das Standesamt zu gehen. Zu mehr als einer schriftlichen Einwilligungserklärung konnte er sich nicht überwinden. Als sich Anna Erra und Joseph Schmid 1892 die Hand zum ehelichen Bunde reichten, war nur die Mutter anwesend. Der Vater blieb der Trauung fern3?. Immerhin war es der selbstbewußten Tochter gelungen, ihren Willen gegen den väterlichen Widerstand durchzusetzen. Das Verhältnis zwischen dem über 60 Jahre alten Vater und dem jungen Paar blieb gespannt. Aber man arrangierte sich und kam miteinander aus, solange die Ehe kinderlos blieb und wenig Anlaß zu Zwistigkeiten bestand. Am 3. Dezember 1896, sechs Uhr abends erblickte in der Chaussee du Vernet am Stadtrand Perpignans ein Junge das Licht der Welt. Zwei Tage später begab sich der stolze Vater Joseph Schmid mit dem Knaben auf dem Arm ins Bürgermeisteramt Perpignans, um die Geburt seines Sprößlings beurkunden zu lassen’*. Charles Jean Martin Henri sollte er heißen. Die Mutter nannte ihn liebevoll Charlot. Als die Familie ins Schwäbische umzog, wurde aus Charlot Carlo. Für schwäbische Ohren war der Unterschied zwischen Charlot und Carlo zu fein. So nannten ihn seine Spielund Schulkamaraden kurzerhand Carlo. Bald hatte er zwei Vornamen Karl und Carlo. Der letztere setzte sich erst nach 1945 durch. Der Aufbruch der Familie Schmid nach Deutschland erfolgte schon bald nach der Geburt des Sohnes. Bereits im Sommer 1897 entschlossen ‘sich Anna und Joseph Schmid, Perpignan zu verlassen. In Saint-Gonzague, der Schule, in der Joseph Schmid sieben Jahre unterrichtet hatte, bedauerte man den Weggang des beliebten Lehrers. Man hätte es begrüßt, wenn er, der seine Aufgabe als Lehrer mit viel Intelligenz, Einfühlungsvermögen und Hingabe wahrgenommen hatte, seinen Entschluß, Perpignan zu verlassen, rückgängig gemacht hätte??. Die junge Familie wäre wahrscheinlich auch gern geblieben, wenn der starrköpfige und streitsüchtige Großvater nicht gewesen wäre.
Kindheit und Jugend im Königreich Württemberg
an der Jagst gelegenen Möckmühl eine Stelle als Lehramtsanwärter annehmen‘. Weder die Stelle war attraktiv noch der Ort. Doch Joseph Schmid hatte Glück. Die Verbannung nach Möckmühl währte nur wenige Monate. Bereits im Februar 1898 erhielt er in Weil der Stadt eine Stelle als Realschullehrer, obwohl er erst ein Jahr später im Frühjahr 1899 die für diese Stelle erforderliche Realschullehrerprüfung ablegte*. Das vierzehn Kilometer von Leonberg entfernte Landstädtchen Weil der Stadt glich, obwohl es bis 1803 reichsunmittelbare Stadt war, eher einem Dorfe als einer Stadt. Nicht einmal 2000 Einwohner beherbergte das Städtchen in seinen Mauern, bekannt war es, wenn überhaupt, nur als Geburtsstadt von Johannes Kepler. Die 1864 eröffnete Realschule war einklassig und wurde erst 1903 dank der Tatkraft Joseph Schmids in eine zweiklassige Realschule umgewandelt, die nun auch Lateinunterricht anbot3. In diesem idyllisch anmutenden Kleinstädtchen, in das das moderne Industriezeitalter noch keinen Einzug gehalten hatte, wuchs der kleine Carlo in wohlsituierten Verhältnissen auf. Der Vater gehörte als Lehrer zu den Honoratioren des Ortes. Man denkt an eine wohlbehütete sorgenfreie Kindheit in einer Gegend, die dem kindlichen Spieldrang noch keine Grenzen setzt. Doch so unbeschwert war die Kindheit Carlo Schmids nicht. Die bildungsbeflissenen Eltern entwickelten einen pädagogischen Ehrgeiz, unter dem der kleine Carlo mehr litt, als der spätere Bildungspolitiker Carlo Schmid zugab. Da er keine Geschwister hatte, konzentrierte sich der ganze elterliche Ehrgeiz auf ihn. Später erzählte er, daß sein „geducktes Verhältnis zu sich selbst“ davon herrühre, daß er ein Einzelkind gewesen seit. Maßsgebend für Anna Schmids Erziehungsmaximen war die durch einen aufklärerischen Rationalismus und jansenistischen Pessimismus geprägte pädagogische Tradition Frankreichs’. Daß man ein Kind zum Lernen zwingen müsse, davon war sie zutiefst überzeugt. Sie sprach nur französisch mit ihm. Auch schreiben mußte er ihr in französisch, obwohl er das in der Volksschule noch gar nicht gelernt hatte. Entsprechend fehlerhaft waren seine ersten Schreibversuche‘. Der Vater lernte ihm die deutsche Sprache, doch im häuslichen Diskurs dominierte das Französische, so daß der kleine Carlo die französische Sprache weitaus besser beherrschte als die deutsche. Er lernte ein klassisches Französisch, aber die Franzosen hörten den Akzent des Roussillon, den die Pariser „savoureux“ nennen, auch später noch heraus. Anna Erra erzog ihren Sohn, als würde er in Frankreich aufwachsen. Sie ließ ihn die weltklugen Fabeln von La Fontaine pauken’, an denen man so trefflich zeigen kann, daß der Vernünftige über den Unvernünftigen stets obsiegt. Anna und Joseph Schmid waren bestrebt, die intellektuell- kognitiven Fähigkeiten ihres Sohnes zu fördern. Spontane Regungen und kreative Neigungen wurden unterdrückt. Der pädagogische Zeigefinger
Charlot, der kleine Prinz
begleitete all sein Tun und Handeln. Er sei ein Kind gewesen, „das sich mit jeder Äußerung im Examen fühlte, weil alles, was es tat mit ‚recht‘ oder ‚unrecht‘ beurteilt“ wurde, erzählte er später®. Immer wieder kam er auch noch als Erwachsener auf diese leidvollen Erfahrungen seiner Kindheit zu sprechen. Bei einem Kind, das so unter permanenter Kontrolle stand, mußte zwangsläufig das Gefühl aufkommen, den Erwartungen der Eltern nicht zu genügen. Welches Kind macht schon immer alles richtig? Welches Kind ist schon immer artig? Carlo Schmid zählte abends im Bett seine täglichen Sünden und rechnete gute und schlechte Taten gegeneinander auf. Es entstand ein Gefühl der Schuld, ein Gefühl, das ihn sein ganzes Leben nicht mehr verließ’®, Es soll nicht der Eindruck entstehen, Anna und Joseph Schmid hätten ihr Kind nicht geliebt. Die Kinderphotos zeigen, wie sehr er ihr Ein und Alles war. Mit seinen langen Haaren, seinen mit Rüschen verzierten Hosenkleidchen, sieht er aus wie ein kleiner Prinz. Ohne Zweifel: Charlot ist der Stolz der Familie, zugleich aber auch das Opfer einer bürgerlichen Bewahrpädagogik, die ihn fernhielt von seinen Altersgenossen, ihm das Spiel mit Gleichaltrigen auf der Straße verbot. Einsamkeit war eine Grunderfahrung seiner Kindheit und damit eng verbunden das Gefühl der Verlorenheit. Als ihm seine Eltern als erstes Buch Robinson Crusoe zur Lektüre gaben, nahm ihn nicht der Tausendkünstler, der mit den Widrigkeiten des Lebens fertig wird, gefangen, sondern der „Mann der Einsamkeit (…), der Urwald und die Leere des Meeres und alles, was darin an Geheimnis webt““. Das Geheimnisvolle, Unergründliche entzündete die Phantasie des Jungen, der von den Eltern immer zur Vernunft angehalten wurde. So war das Volksfest in Weil der Stadt, auf das ihn vermutlich das Dienstmädchen mitnahm, eine große Attraktion für ihn. Carlo Schmid fand für seine kleinen Sorgen und Nöte kein Verständnis, auch nicht bei der Mutter, die eine strenge, wenngleich phantasievolle und dichterisch begabte Frau war, die von starken Gefühlsschwankungen hinund hergerissen wurde. Sie wurde in Deutschland nie heimisch. Man hörte sie nur französisch sprechen. Trotz ihrer Prägung durch die bürgerlichen Ideale der Jahrhundertwende, war sie „der äußerste Gegensatz zum protestantischen württembergischen Beamtenbürgertum“!?, Sie liebte ihren Charlot zärtlich, aber sie konnte auch auf Unfolgsamkeiten äußerst aufbrausend reagieren. Einmal soll sie ihn mit dem Schürhaken geschlagen haben‘?. Auch der Vater war streng, doch nicht strenger als andere Väter auch. Körperliche Züchtigung war in jener Zeit eben noch ein bewährtes Erziehungsmittel, so schrecklich dies auch klingen mag. Die Bindung Carlo Schmids an die Mutter, die ihn auch, als er schon erwachsen war, noch mit Vorwürfen überschütten konnte, war enger als die an den Vater. Die enormen Spannungen, in denen Schmid lebte, wurzelten nicht zuletzt in der Beziehung zu seiner Mutter. Emotionale Zuwendung fand der kleine Carlo nur bei seinem Spitz Mignon, dessen plötzliches Verschwinden wohl eines der schmerzlichsten Ereignisse seiner Kindheit war’*. „Das Brüderchen war meine ganze Liebe“, lautet der Vers eines Gedichtes über den Tod eines Hündchens, das er in den vierziger Jahren schrieb’S. Mignon hatte die fehlenden Geschwister ersetzt. Carlo Schmid war ein sensibles Kind, das nicht nur unter der Strenge der Eltern, sondern auch unter seinem Außenseiterdasein litt. Erziehung und Lebensstil waren französisch geprägt, entsprachen nicht schwäbischer Mentalität und Lebensweise. Die Schulzeit in Weil der Stadt’® war vermutlich für ihn mit demütigenden Erfahrungen verbunden. Darüber aber schwieg er, wie er überhaupt später verdrängte, daß er in Weil der Stadt die ersten neun Jahre seines Lebens verbracht hatte. Im Grunde war es gar nicht so falsch, wenn Carlo Schmid später erzählte, er sei in Perpignan aufgewachsen. Er lebte zwar in Weil der Stadt, aber wuchs auf wie ein Franzose. Am 29. April 1906 fand im Gasthof zur Post in Weil der Stadt die Abschiedsfeier für Joseph Schmid statt. Er bekam eine Stelle als Oberreallehrer an der Bürgerschule in Stuttgart. Stadtschultheiß Beyerle würdigte „die erfolgreiche und ersprießliche Tätigkeit“ und das „unermüdliche Schaffen“, das Joseph Schmid „zum Nutzen der Schule jederzeit an den Tag gelegt“ hatte’’. Die guten Wünsche der Stadt begleiteten ihn in sein neues Amt. Im Mai 1906 zog die Familie nach Stuttgart, wo sie in der Hauptstätterstraße 106 eine Wohnung fand. Vermieter der Wohnung war der Möbelhändler Jüngling, der in der Parterre ein Möbelgeschäft betrieb“°. Die Hauptstätterstraße war eine Laden- und Geschäftsstraße, die bereits im 14. Jahrhundert in Anlehnung an den Prager Wenzelsplatz als Marktstraße und Fernhandelszentrum angelegt worden war. Sie verband die Stuttgarter Innenstadt mit der sogenannten Tübinger Vorstadt, in der die Handwerker und Kleinhändler wohnten. Zehn Fußminuten von der Hauptstätterstraße entfernt, befand sich das humanistische Karls-Gymnasium, für das Carlo Schmid von seinen Eltern angemeldet wurde. Bei dem großen Wert, den Anna und Joseph Schmid auf Bildung legten, war es geradezu selbstverständlich, daß sie ihren Sohn auf ein humanistisches Gymnasium schickten. Damit der erhoffte Schulerfolg nicht ausblieb, schlossen sie ein Abkommen mit der Schule: Wöchentlich sollte von seiten der Schule Auskunft über Carlos Verhalten und seine Mitarbeit im Unterricht gegeben werden‘?. Damit wurde er unter einen permanenten Leistungsdruck gestellt, der begleitet war von der ständigen Angst zu versagen. Carlo Schmid war kein überragender Schüler. In den ersten Jahren am Karls-Gymnasium waren seine Leistungen eher unterdurchschnittlich. Im Schulhalbjahr 1907/8 war sogar seine Versetzung wegen ungenügender
Leistungen im Fach Arithmetik gefährdet”. Man muß allerdings dazu sagen, daß die Schule strenge Maßstäbe setzte. Von 41 Schülern der Sexta erreichten nur 17 die Oberprima. Unter der strengen Obhut der Eltern verbesserten sich seine Leistungen. Er lag nun etwas über dem Durchschnitt, zum Klassenprimus aber reichte es nicht. Sehr gute Zensuren bekam er nur in Französisch. Ansonsten war nur noch sein Betragen mustergültig. Sein „sittliches Verhalten“ wurde stets mit sehr gut bewertet”‘. Die Furcht vor elterlicher Strafe scheint den Knaben völlig eingeschüchtert zu haben, so daß er sich an den üblichen Schülerstreichen nicht beteiligte. Auch das Karls-Gymnasium war eine typische Lernschule, in der der Latein- und Griechischunterricht im Vordergrund stand. Neun Jahre lang lernte Carlo Schmid wöchentlich sechs Stunden Latein und sieben Jahre lang wöchentlich fünf Stunden Griechisch. Die Hausaufgaben für diese Fächer dürften kaum weniger Zeit in Anspruch genommen haben. Aber Carlo Schmid verdankte dieser Schule seine guten Lateinkenntnisse, die später überall Bewunderung fanden. Griechisch gehörte schon in seiner Schulzeit zu seinen Lieblingsfächern, denn sein Griechischlehrer Edwin Mayser hatte nicht nur eine berühmte Papyrusgrammatik verfaßt, die bald zum Standardwerk aller Bibliotheken wurde”, sondern war auch ein musischer Mensch. Wenn er Verse von Aischylos oder Sophokles vorlas, standen ihm die Tränen in den Augen. Carlo Schmid mochte diesen Lehrer und erregte auch schon bald dessen Aufmerksamkeit. Er durfte ihm die Klassenarbeitshefte nach Hause tragen, was er als große Ehre empfand”. Ansonsten scheinen seine Lehrer typische Pauker gewesen zu sein, so daß er sein ganzes Leben lang Lehrern gegenüber sehr kritisch eingestellt war und zuweilen sogar sehr bissige Kommentare über sie abgab. Der deutsche Studienrat habe „zum Geiste ein Verhältnis wie das des Ochsen zum Troge“, schrieb er in den 4oer Jahren seinem Sohn Martin, der sich über seine Lehrer beklagt hatte”*. Aber nicht allein das Pauken machte für Carlo Schmid die Schule, die er später immer mit hochlobenden Worten bedachte”, zur Qual. Das war er ja von frühester Kindheit an von zu Hause gewöhnt. Weitaus größere Schwierigkeiten bereitete ihm die deutsch-nationale Ausrichtung des Unterrichtes, die auch im Karls- Gymnasium die antik-humanistische immer mehr zurückdrängte. Rektor des Karls-Gymnasiums war seit 1895 Gottlob Egelhaaf, ein Verehrer Bismarcks, den er in einer Biographie verherrlicht hatte?°. Aber auch dem Kaiser, obwohl er Bismarck davongejagt hatte, scheint Fgelhaaf gehuldigt zu haben. „Gott segne, Gott schütze, Gott erhalte unseren Kaiser“, soll einer seiner Wahlsprüche gelautet haben?7. Bei den Schülern hatte er den Spitznamen „Napf“?®, Egelhaaf, der nach 1918 Vorsitzender der DVP in Württemberg wurde, erteilte auch in Carlo Schmids Klasse Geschichtsunterricht.
Nicht nur der Geschichtsunterricht war national ausgerichtet. Auch im Deutschunterricht stand der nationale Besinnungsaufsatz an erster Stelle in der Themenliste. Carlo Schmid lebte in zwei sich diametral widersprechenden geistigen Welten. Die nationale Atmosphäre der Schule und die humanistische, weltbürgerlich-liberale des Elternhauses ließen sich nur schwer vereinbaren. Er hatte Schwierigkeiten, die gestellten Aufsatzthemen zu bewältigen. Im November 1912 mußte er sich mit dem Thema „Krieg und Frieden in ihrer Bedeutung für das Völkerleben“ herumschlagen. Schmids Aufsatz war ein wahlloses Sammelsurium von alldeutschen Phrasen und liberal-humanen Positionen. Ganz im nationalen Fahrwasser jener Jahre vertrat er die These: „Im Krieg läßt sich das Nationalgefühl verstärken. Die Parteien versöhnen sich. Man sah das in den Befreiungskriegen von 1870, wo das deutsche Volk sich zu einem Ganzen zusammenschloß.“?? Es folgten noch einige alldeutsche Phrasen über die „Weichlichkeit“ und den „Parteienzwist“, der in Zeiten des Friedens sich breit mache. Am Ende des Aufsatzes plädierte er aber dann schließlich doch für den Frieden: „Nach all dem ist der Friede dem Krieg vorzuziehen, besonders in unseren Tagen. Denn ein moderner Krieg würde ungeheure Opfer von Menschen und Geld fordern.“ 3° Das Resümee war sehr vorsichtig formuliert. Carlo Schmid scheint gefürchtet zu haben, mit der nationalen Gesinnung des Lehrers in Widerstreit zu geraten. Die Beurteilung des Lehrers lautete: „kaum gut, zu oberflächlich“. Politische Machtgesichtspunkte hatte Carlo Schmid bei der Erörterung des Themas völlig außer acht gelassen. Auch bei einem Vergleich der Dichtung Walthers von der Vogelweide mit der Ludwig Uhlands, den er im selben Monat zu schreiben hatte, tat er sich schwer. Die Essenz der „Vaterländischen Gedichte“ Uhlands faßte er so zusammen: „Deutschland ist nach seiner (Uhlands) Ansicht so her- „untergekommen, daß er die Besserung nicht mehr zu erleben glaubt.“? ‚ Über eine solche Ausdrucksweise konnte der Lehrer nur verzweifelt den Kopf schütteln. Das war wirklich eher Gassenjargon als gehobenes Deutsch, wie man es von einem Schüler eines humanistischen Gymnasiums erwartete. Den Grundgedanken der Vaterländischen Dichtung Uhlands hatte Carlo Schmid, weil ihm die nationale Stimmung dieser Dichtung ebenso wie des Kaiserreiches fremd blieb, nicht erfaßt. Ein weiterer Aufsatz, den er im gleichen Jahr ebenfalls über ein vaterländisches Thema zu schreiben hatte, gelang besser. Er hatte zu entscheiden: Wer hat recht: Das lateinische Sprichwort „Ubi bene ibi patria“ – „Wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland“ oder Odysseus, den Homer sagen läßt: „Süßeres gibt es nicht mehr als das Vaterland“. Carlo Schmid entschied sich für den Spruch des Odysseus und nannte als aktuelles Beispiel für die Richtigkeit der Odysseusschen Worte den Kampf der Polen um nationale Selbstbestimmung. Der Aufsatz wurde mit „ganz gut“
bewertet?”. Ein alldeutscher Imperialist war sein Lehrer offensichtlich nicht. Die politisch liberale Einstellung des Elternhauses prägte Carlo Schmids Denken stärker als die nationale Grundstimmung der Schule. Anna und Joseph Schmid scheinen Anhänger eines bildungsaristokratisch untersetzten Sozialliberalismus gewesen zu sein. Carlo Schmid dürfte die Auffassung seiner Eltern wiedergegeben haben, als er 1914 in einem Aufsatz schrieb, daß es Aufgabe der „Gebildeten“ sei, den Arbeitern zu „helfen, Politik zu verstehen“ 33, Dadurch könne die „extreme Linke“ zurückgedrängt werden. Stuttgart war vor 1914 eine Hochburg des radikalen Flügels der Sozialdemokratie3*. Joseph Schmid scheint die Entwicklung des Sozialismus und der Sozialdemokratie aufmerksam verfolgt zu haben. 1907 nahm er seinen elfjährigen Sohn mit zu einem Kongreß der Zweiten Internationale, wo u.a. auch Jean Jaures eine große Rede hielt35. Carlo Schmid bekannte später, nicht viel von dieser Rede verstanden zu haben?®. Seinen Aufsatz kann man als ein Plädoyer für ein Erstarken des sozialreformerisch- liberalen Flügels der SPD lesen. Freilich, eine explizite Auseinandersetzung mit der Politik der SPD enthält der Aufsatz, in dem erörtert werden sollte, ob „Zufriedenheit im Leben der einzelnen und im Volksleben immer eine Tugend“ sei, nicht. Weitaus mehr als die nationalen Besinnungsaufsätze, in denen man sich mit Heldentum und Krieg zu beschäftigen hatte, lagen Carlo Schmid literarische Themen, die aber nur ganz selten gestellt wurden. Für Carlo Schmids Interpretation der Antigone des Sophokles fand sein Lehrer anerkennende Worte, wenngleich er der Meinung war, daß Schmid etwas zu einseitig für Antigone Partei ergriffen habe37. Das Urteil über Kreon, den Verteidiger der Staatsräson, war ihm zu negativ ausgefallen. Vor allem aber monierte er, daß Schmids Ausdrucksweise „zu wenig kultiviert“ sei3®, In der Tat: Wenn man die Schulaufsätze Carlo Schmids liest, mag man kaum glauben, daß sie der Feder des späteren wortgewaltigen Sprachkünstlers entstammen. Seine Ausdrucksweise wirkt hölzern und ungelenk. Man merkt, daß er zuweilen Mühe hat, seine Gedanken in Begriffe zu fassen. Französisch war seine Muttersprache, nicht Deutsch. Oft fehlt den Aufsätzen auch eine klare Disposition. Seine Lehrer hatten durchaus recht, wenn sie die sprunghafte Gedankenführung bemängelten. Um die Aufsätze scheint sich der sonst so strenge Vater nicht gekümmert zu haben. Möglicherweise konnte er mit den Themen selbst nicht viel anfangen. Vermutlich kam es ihm auch viel mehr darauf an, seinem Sohn formales Wissen beizubringen, als seine kreativen Fähigkeiten zu fördern. Ungehalten waren die Lehrer des Karls-Gymnasiums auch über Carlo Schmids Schrift. Nicht selten schrieb ein wegen der vielen Tintenkleckse und Durchstreichungen entsetzter Lehrer an den Heftrand: „Welche Schrift in einem Reinheft.“ Und da man zur Zeit des Kaiserreiches auf
Schönschrift noch achtete, mußte Carlo Schmid zumeist den ganzen Aufsatz noch einmal abschreiben. Doch die Abschrift sah nicht viel besser aus als das Original. Offensichtlich hatte Carlo Schmid Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. In seiner Schrift spiegelt sich seine innere Zerrissenheit wieder. Einem hohen Leistungsdruck waren damals fast alle Schüler der Gymnasien ausgesetzt. Doch nur wenige Jugendliche wurden so in die Isolation getrieben wie Carlo Schmid. Für die „Söhne der honetten Stuttgarter Bürger“ war er der „Franzos“ 3°, was in einer Zeit, in der Frankreich zum Erbfeind erklärt wurde, bedeutete, daß man den Umgang mit ihm mied. Zu Gleichaltrigen fand er kaum Kontakt, schon gar nicht zu den Kindern des Bildungsbürgertums. So trieb er sich manchmal mit den „Straßenkindern“ herum. Zu den „Gänglesdragonern“ soll er gehört haben, einer Gruppe von Jungen, die im „Gängle“, dem Durchgang zwischen Hauptstätter- und Tübingerstraße spielte und manch ehrbaren Stuttgarter Bürger „reichlich ärgerte“*°. Doch der.Vater sah es nicht gern, wenn sein Sohn sich mit den „Schmuddelkindern“ abgab. Manchmal empfing er ihn schon an der Haustüre mit einer Tracht Prügel*‘. Schuldruck, elterliche Strenge und Einsamkeit – das waren die Grunderfahrungen von Carlo Schmids früher Kindheit. Einen Freund, mit dem er sich aussprechen konnte, hatte er nicht. Später bekannte er gegenüber seinem Sohn Hans: „Mein kleiner wackerer Hans, einen Freund wie Dich hätte ich im Leben haben mögen, um wievieles wäre es mir dann nicht besser gegangen.“ ** Diese seelische Konfliktsituation war vermutlich auch der Grund dafür, daß er als Dreizehnjähriger offensichtlich die Absicht hatte, in das katholische Konvikt in Rottweil einzutreten, um sich zum katholischen Geistlichen ausbilden zu lassen*?. Seine Eltern waren laizistisch eingestellt** und waren wohl nicht sehr erfreut darüber, daß ihr Sohn Priester werden wollte. “ Man weiß nicht, wer ihn von diesem Vorhaben wieder abbrachte. Vielleicht waren es die Mitglieder des Stuttgarter Altwandervogels, dem er sich im Jahre 1910 anschloß. Für Carlo Schmid, wie für viele Jugendliche jener Zeit, war das „Nest“ des Wandervogels eine Nische innerhalb der Wilhelminischen Gesellschaft, ein Ort der Zuflucht, an dem man sich gegen die Normen des Elternhauses und der Schule auflehnte und sich ein Stück Freiheit eroberte. Im Gegensatz zum Jung-Wandervogel vertrat der Alt-Wandervogel keine ausgesprochen lebensreformerische oder kulturrevolutionäre Ziele. Auf den Nestabenden beschäftigte man sich nur selten mit literarisch-kulturellen Themen. Weder Nietzsche noch Stefan George wurden dort gelesen*s. Man wanderte bei sehr spartanischer Lebensweise und musizierte. Auch Carlo Schmid, der im Musikunterricht nicht gerade glänzte, lernte das Klampfespielen und ging mit den Kameraden auf „Große Fahrt“. In den Sommerferien 1913 ging die „Große Fahrt“ von Stuttgart nach Lausanne. Zusammen mit drei Kameraden brach Carlo Schmid zu dem Gewaltmarsch auf. Doch auf der Fahrt kam es zu einem Eklat. Schmid beging in den Augen seiner Wandervogelkameraden eine Todsünde: Er aß unterwegs ein Omelette mit Konfitüre, was für zwei seiner mitwandernden Kameraden Anlaß genug war, ihn aus der Wandervogelgruppe auszustoßen. Einer der Kameraden hatte Mitleid und wanderte weiter mit ihm. So mußte er wenigstens die große Wegstrecke nicht alleine zurücklegen*“. Richtig geborgen fühlte sich Carlo Schmid auch im Wandervogel nicht. Es gibt kein Bild von ihm, das ihn mit Wandersandalen und offenem Schillerkragen zeigt. Im Vergleich zu seinen Kameraden war er immer sehr elegant gekleidet. Auf den Gruppenbildern wirkt er zumeist etwas steif und verkrampft. Vermutlich hatte er die strengen Normen des Elternhauses zu sehr internalisiert, um sich ganz unbefangen geben zu können. Immerhin: Er fand Kontakt zu Gleichaltrigen und lernte bei den Wandervögeln sogar seine erste Liebe kennen: Hansy Burkhardt. Das Zusammenwandern von Mädchen und Jungen war zwar strikt verboten, aber an den Gruppenabenden durften auch Mädchen teilnehmen. An einem dieser Abende begegnete der schüchterne Primaner Carlo Hansy. Zwischen beiden entstand eine sehr sublimierte, sehr ins Ideale gesteigerte Zuneigung, über die der ıjährige Carlo Schmid rückblickend schrieb: „Hansy Burkhardt war meine Erste Liebe, doch ist dieses Wort nicht in dem billigen Verstande dieser Zeit zu verstehen: sie war dem.Jüngling das Eine und Alles. Daß es sie auf dieser Welt gab, ließ mich begreifen, daß diese Welt einen Sinn haben müsse. Der Knabe lag vor dem Mädchen auf den Knien seines Herzens und diese Liebe war so zart, daß sie sich nie zu der leisesten Zärtlichkeit verstieg: ein Kuß wäre ihr als eine Entweihung erschiemens Hansys Einstellung scheint etwas prosaischer gewesen zu sein als die ihres Freundes. Sie übernahm die Rolle der mütterlich Mahnenden: „Lerne nur gut, daß Du Dein Abitur sehr gut bestehst. Schon mir zu Liebe, gelt.“*° Auch im Reiten und Tanzen sollte sich der Freund üben. Während Hansy an die gemeinsame Zukunft dachte, hegte ihr Freund „Charlot“, sobald Hansy ihm einmal nicht schrieb, sofort den Verdacht, sie könnte ihm untreu geworden sein. Carlo Schmid bewahrte die Briefe Hansys, die ihm das Band seiner Klampfe bestickte, auf. Die Liebeserklärungen beschränken sich auf ein: „Pense ä moi.“ Doch der Stachel dieser Liebe muß tief gesessen haben. Als Hansy Burkhardt 1968 starb, wurde Carlo Schmid eine Todesanzeige zugesandt, obwohl sich beide seit 1914 nicht mehr gesehen hatten. Eine solche verinnerlichte Form der Liebe war für die Wandervögel nicht atypisch. Auch sexuelle Askese gehörte zu ihren Geboten*. Doch Carlo Schmid scheint noch etwas schüchterner und gehemmter gewesen zu sein als die anderen. Auch im Elternhaus wurde der Bereich
Der Wandervogel mit Klampfe, deren Kordel Hansy Burkhardt bestickte
der Sexualität völlig tabuisiert: „Wenn ich nichts anderes gehört hätte, als meine Eltern mir sagten, wäre ich in dem Bewußtsein aufgewachsen, daß die Kinder irgendwoher kommen, nur nicht von dort, wo sie gezeugt und geboren werden.“ °° Anna und Joseph Schmid hätten wohl kaum eine intimere Beziehung ihres Sohnes geduldet. Die Hansy Burkhardts auch nicht. Ohne Erlaubnis der Mutter Hansys durfte Carlo Schmid seiner Freundin nicht schreiben. Die Eltern erwarteten, daß sich die Kinder auf die Schule konzentrierten. Schließlich stand die Reifeprüfung vor der Tür. Im Juni 1914 bestand Carlo Schmid das Abitur. Die Noten waren überwiegend befriedigend. In Französisch erhielt er selbstverständlich die Note „sehr gut“. Die „Fertigkeit im Turnen“ war „nicht ganz genügend“°‘. Das wundert bei einem Jungen, bei dem von frühester Kindheit an immer nur die intellektuell-kognitiven Fähigkeiten gefördert wurden, nicht. Noch als Achtzigjähriger fluchte er über das „idiotische Stabturnen“, an dem er während seiner Schulzeit hatte teilnehmen müssen°?. Er konnte mit seinem Zeugnis zufrieden sein. Bei der damals strengen Notengebung war ein „Befriedigend“ eine überdurchschnittliche, wenn auch nicht überragende Leistung. Die Noten waren damals ohnehin nicht so wichtig. Es genügte, bestanden zu haben. Jeder war froh, endlich der Penne entronnen zu sein. Daraus machten die Oberprimaner des Karls- Gymnasiums auch gar keinen Hehl. Gleich auf der ersten Seite ihrer Abiturszeitung reimten sie}:
So leb denn wohl Gymnasium! Ich scheide ohne Trauern, Ich trieb mich lang genug herum In Deinen dumpfen Mauern. Du sollst mir stets in Ehren sein. Doch bringt kein Pferd mich mehr herein Tralarum, lirum, larum Hic finis est curarum!
Das Lob, das Carlo Schmid später dem Karls-Gymnasium zollte, entsprang einer nachträglichen Verklärung. Die Reifeprüfung hatte Carlo Schmid bestanden. Aber hatte er auch genügend Reife, um mit den Widrigkeiten des Lebens fertig zu werden? Als „tumben Toren Parzival“, so klagte er später, hätten seine Eltern ihn in die Welt entlassen‘, Sie hatten ihn vor den Gefahren des Lebens bewahren wollen und lieferten ihn so diesen Gefahren gerade erst aus. Er fühlte sich unsicher, als stünden seine Füße auf Flugsands. Weil ihm jede Weltläufigkeit fehlte, richtete er sein eigenes Verhalten an dem der anderen aus’. Gewiß, seine Eltern bemühten sich sehr um seine Bildung. Sie reisten mit ihm durch Italien, Frankreich und Spanien, und zeigten ihm die schönsten Kunstwerke Europas. Schon als Zehnjähriger wurde er von ihnen durch die Pariser Museen geführt”. Zu Hause konnte er auf den großen Bücherschrank seines Vaters zurückgreifen. Die Eltern lasen Tolstoi und hörten Richard Wagner, von dessen den Liebestod verklärenden Tristan auch der junge Carlo Schmid fasziniert war. Sie scheuten auch keine finanziellen Ausgaben, um ihrem Sohn einen Lebensstil zu ermöglichen, der dem der Söhne aus „besseren Kreisen“ entsprach. Er durfte reiten lernen, was damals ein Sport der High Society war. Aber all diese Bildungsgüter, mit denen er in seinem Elternhaus vertraut gemacht wurde, hatten mit der lebenspraktischen Realität wenig zu tun. Ideal und Wirklichkeit klafften weit auseinander. Anna und Joseph Schmid scheinen ihren heranwachsenden Sohn wie ein unmündiges Kind behandelt zu haben. Für die Mutter blieb er der kleine Charlot. Er litt darunter, von seinen Eltern nicht ernst genommen zu werden. 1943 schrieb er seiner Frau: „Wie bitter haben meine Eltern sich da an meiner Erziehung vergriffen, indem sie im besten Glauben mich so weit brachten, daß ich tief davon durchdrungen war, wenn mir etwas gelänge, dann könne das nur aus Zufall so geworden sein.“ 5® Er kam oft auf seine Kindheit und Jugend zu sprechen. Sie lastete wie ein Trauma auf ihm. Wahrscheinlich unterschied sich der Erziehungsstil Anna und Joseph Schmids gar nicht so sehr von der damals üblichen Erziehungspraxis. Viele Jugendliche der damaligen Zeit hatten unter einer autoritär überspannten Erziehung zu leiden. Die Zahl der Schülerselbstmorde war in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts sehr hoch?. Doch als Franzose in Deutschland hatte es Carlo Schmid noch schwerer als die anderen, Anerkennung und geistige Orientierung zu finden. Die Erbfeindschaft zwischen Frankreich _ und Deutschland mußte er in seinem Innern austragen. Die Weltpolitik ließ dem ı7jährigen keine Zeit, um zu sich selbst zu finden. Medizin hatte er studieren wollen. So steht es in seinem Reifezeugnis°°. Das entsprach seinem Drang, anderen zu helfen, und seinem Interesse an Psychologie, mit deren Hilfe er sein Selbst erforschte und zu erkennen versuchte. Aus dem geplanten Studium wurde nichts. Carlo Schmid war gerade einen Monat der Schule entronnen, da erklärte am 1. Augast 1914 Deutschland Rußland den Krieg. Zwei Tage später erfolgte die Kriegserklärung an Frankreich. Der Weltkonflikt wurde für Carlo Schmid zum persönlichen Konflikt. Sollte er sich für sein Vaterland oder für sein Mutterland entscheiden?
Ein „tumber Tor Parzival“ zog in den Krieg
In einem Aufsatz „Was ist Heldentum?“ schrieb der ı6jährige Carlo Schmid, Held sei der, der sich „selbstlos den Interessen der Menschheit opfert“‘. Die Interessen der Menschheit standen für ihn über denen des
Vaterlandes. Kriegsbegeisterung und nationaler Taumel, wie er im August 1914 überall in Europa ausbrach, war es nicht, was den 17jährigen veranlaßte, sich als Kriegsfreiwilliger zu melden. Sein Vater hätte es gern gesehen, wenn er ein Studium in der neutralen Schweiz aufgenommen hätte. Seine Mutter, eine französische Patriotin, mußte es schmerzen, daß ihr Sohn gegen ihr Vaterland in den Krieg ziehen wollte‘. Aber eine Teilnahme am Krieg auf seiten Frankreichs kam für Carlo Schmid ebensowenig in Frage wie ein Ausweichen in die neutrale Schweiz. Er mochte bei seinen Schul- und Wandervogelkameraden weder als Drückeberger. noch als Vaterlandsverräter gelten. Ihnen, die sich fast alle schon bei den Regimentern, bei denen sie ihren einjährigen Freiwilligendienst hatten absolvieren wollen, gemeldet hatten, wollte er es gleichtun, um endlich einmal die Außenseiterrolle, unter der er so litt, loszuwerden. Vermutlich graute ihm vor dem, was auf ihn zukam?. Da sich im Begeisterungstaumel der ersten Augusttage über eine Million Freiwillige gemeldet hatten, war es für ihn nicht leicht, bei irgendeinem Regiment unterzukommen. Am 6. August, fünf Tage nach Ausbruch des Kriegs, erhielt er einen Ausbildungsplatz bei den Ulanen in Ludwigsburg. In seinem Soldbuch mußte der Geburtsort geändert werden, damit er bei einer Gefangennahme durch die Franzosen nicht als Deserteur behandelt werden konnte, der gegen sein Vaterland die Waffen erhoben hatte*. Die Ausbildungszeit dauerte gerade zwei Monate. Am 9. Oktober wurde er bei einer monatlichen Feldbesoldung von 63,- RM an die Westfront beordert°. Es glich Mord, diese im Grunde völlig unausgebildeten Jugendlichen an die Front zu schicken. Nach dem Scheitern der Westoffensive im September 1914 glaubte die Oberste Heeresleitung nur durch den Rückgriff auf die Freiwilligen dem Kriegsverlauf noch eine Wende geben zu können. Die Flandernoffensive scheiterte Mitte November 1914. Der Sturm auf Langemark, bei dem ein hoher Anteil von Kriegsfreiwilligen fiel, wurde bald zum Symbol der Opferbereitschaft der deutschen Jugend verklärt. Carlo Schmid stand bei dieser „Schlacht um Flandern“ nicht an vorderster Front. Seine Gruppe wurde zu Stellungskämpfen in den Argonnen eingesetzt‘. Schlimmer als die ersten Kriegserlebnisse waren für Schmid die Demütigungen, die er durch seine Regimentskameraden erfuhr. Der ungelenke, körperliche Anstrengungen nicht gewohnte Absolvent des humanistischen Gymnasiums machte als Soldat eine schlechte Figur. Sein Idealismus wurde konfrontiert mit den rauhen Umgangsformen der Jugendlichen aus dem Arbeiter- und Bauernmilieu. Als er beim Tragen eines Zweizentner Mehlsackes nach wenigen Schritten zusammenbrach, mußte er sich von seinen Kameraden hämische Bemerkungen über die Kopfarbeiter gefallen lassen. Kurze Zeit später zwangen ihn seine rauhbeinigen Kameraden, die Goldstücke, die ihm seine Mutter beim Abschied mitgegeben hatte, in
Wein umzusetzen’. Carlo Schmid, der nicht gelernt hatte, sich zu wehren, war ihren Angriffen und groben Späßen hilflos ausgeliefert. Die ersten Erlebnisse beim Militär und im Krieg scheinen auf ihn fast lähmend gewirkt zu haben. Er schrieb wochenlang aus dem Felde nicht nach Hause®. Nach dem Scheitern der Flandernoffensive wurde der junge Freiwillige am 20. November von Frankreich abkommandiert. An der Ostfront brauchte man Verstärkung. Nach. der gescheiterten Westoffensive hoffte die deutsche Regierung auf einen Sieg an der Ostfront, den man aber nur zu erreichen glaubte, wenn auf die Ersatzformationen unausgebildeter Jugendlicher zurückgegriffen werden konnte. Sechs Tage nach seiner Abkommandierung aus Frankreich brachte der Zug Schmid nach Osten. Fast ein ganzes Jahr bis zum Oktober ı9ıs nahm er an dem Feldzug gegen Rußland teil®. Noch immer war er unausgebildet, noch immer ein einfacher Rekrut, der im Kreis der weniger gebildeten Kameraden nur wenig Verständnis fand. Carlo Schmid erzählte in seinen Erinnerungen nur wenig über dieses Jahr in Rußland. Die wenigen Anekdoten, die er zum besten gibt, wirken stilisiert. Anscheinend hielt er den zermürbenden Alltag im Feld, den hunderttausende Soldaten in gleicher oder ähnlicher Weise wie er erlebten, für nicht erzählenswert. Zunächst bezog er Quartier in dem nördlich von Lodz gelegenen Städtchen Kutno, das bereits Anfang November von deutschen Truppen erobert worden war. Größere militärische Operationen waren für die Monate Dezember/Januar nicht geplant, so daß Patroullieren und Eskortieren von Kolonnen zu den Hauptbeschäftigungen der jungen Soldaten gehörte. Erst mit der im Februar beginnenden Winterschlacht in den Masuren kam es an der Narev-Linie zu Gefechten, zu denen auch die Reservemannschaften herangezogen wurden. Die Verlustquote bei den Gefechten war gering. Nicht die Gefechte waren das Schlimmste, sondern Schnee, Regen und Schlamm, der mancherorts ein Weiterkommen der Mannschaften unmöglich machte. Die langen Fußmärsche in schlammigem Gelände erschöpften die Soldaten’. Von all diesen Widrigkeiten berichtete Schmid nichts. Nur die Läuse, die ihm stark zu schaffen machten, erwähnte er“. Bei der großen Sommeroffensive der Mittelmächte befand sich Schmids Regiment am Narev, wo der russische Widerstand am heftigsten war. Es läßt sich nicht mehr feststellen, ob er an einem unmittelbaren Gefechtseinsatz beteiligt war. Die heiß umkämpfte Narev-Linie wurde von den deutschen Truppen Ende Juli 1915 überwunden. Eine letzte Offensive gegen Rußland kam im September ı915 zum Erliegen. Im Westen und im Osten lagen die Frontlinien fest. Veränderungen konnte nur noch der Stellungskrieg bringen. Mit unausgebildeten Freiwilligen aber war der Kampf in den Schützengräben nicht zu gewinnen.
Nachdem Schmid anderthalb Jahre lang ohne militärische Ausbildung am Krieg teilgenommen hatte, wurde ihm jetzt im Ersatzpionierbataillon ı3 in Ulm das Pionierhandwerk beigebracht. Zunächst wurde er in die Theorie und Praxis des Brückenbaus und der Stürmung von Festungswerken eingeführt’”, Doch der Stellungskrieg verlangte neue Waffen und Techniken. Ab April 1916 stellten die Pionierbataillone Minenwerferkompanien auf‘?, Schmid kam zur Minenwerferkompanie, wo er für die Schützengrabenkämpfe der großen Menschen- und Materialschlachten ausgebildet wurde. Auch in Ulm stieß er wieder auf die für ihn so fremde Welt der Handwerker und Arbeiter. Während der ersten Wochen seiner Ausbildung mußte er in der Kaserne wohnen und hatte die Gebote der „Stubenkameradschaft“ zu befolgen, die nach einem festen, von ihm folgendermaßen beschriebenen Ritus ablief: „Der Reihe nach holten wir ‘Stubenhocker? einen ‚Stein‘, das heißt einen Steinkrug Bieres aus der Kantine und um diesen herum bildete sich eine Runde, darin die Gespräche nicht ausgingen. Diese waren aber selten in sich selber für mich ergiebig. Doch lernte ich dabei die Art kennen, mit der sich die ‚einfachen Leute‘ die Welt zurechtlegen.“’+* Immer wieder wurde er mit dem kruden Materialismus seiner Kameraden konfrontiert, die mit seinen idealistisch geprägten Moralvorstellungen wenig anfangen konnten. Eine ihrer Redensarten blieb nachdrücklich in seinem Gedächtnis haften: „(I)ch glaube nicht viel, aber ich glaube, daß fünf Pfund Ochsenfleisch eine gute Suppe geben …“’S, Nicht nur Carlo Schmid stand der Denk- und Lebensweise der „ungebildeten“ Kameraden verständnislos gegenüber. Viele aus der Jugendbewegung kommende Freiwillige machten im Krieg ähnliche Erfahrungen und reagierten ähnlich enttäuscht’°. Schmid empfand das Zusammenleben in der Kaserne als einen „Pferch“ ‚7. Er war heilfroh, als er die Erlaubnis erhielt, sich ein Zimmer außerhalb der Kaserne zu nehmen. Er fand Unterschlupf bei einer Familie Walther. Anne Walther bemutterte den „jungen unerfahrenen Kriegsfreiwilligen“, der immer noch recht unselbständig war. Dafür war er ihr später noch dankbar’®. In seiner Freizeit vertiefte er sich in Bücher. Er lebte zurückgezogen und bescheiden. Nur ab und zu gönnte er sich eine Eismeringe‘?. Die relativ schöne Zeit in Ulm ging im Sommer 1916 zu Ende. Am 27. August wurde Carlo Schmid zur württembergischen Minenwerferkompanie 307 ins Feld abkommandiert°. In Frankreich tobte seit Juli die Somme-Schlacht, die, gemessen an der Zahl der Opfer und am Einsatz der Kräfte, gewaltigste Materialschlacht des ı. Weltkriegs. Der „endlose Vernichtungsorkan des Trommelfeuers“ zerrieb spätestens nach zwei Wochen auch die Kraft derer, die überlebten”. Sollte der Angriff nicht zusammenbrechen, mußten ständig neue ausgeruhte Truppen die abgekämpften ersetzen. Die Minenwerferkompanie 307 hatte sich bereitzuhalten.
„…. woraus hervorgeht, daß es im Krieg nicht immer notgedrungen blutig zugehen muß“. Schmid, den schönen Seiten des Lebens schon immer zugetan, vorn rechts
Ende Oktober wurde sie in die Schlacht geworfen. Acht Tage lang Sturmangriff in der vordersten Front der Angriffsartillerie, acht Tage lang Schreie der verwundeten Kameraden, acht Tage lang die direkte Konfrontation mit dem Tod. „Wir erlebten den Alltag der ‚Somme‘, ein Konglomerat aus Feuerregen und Dreck, Tod und Davonkommen“, schrieb Carlo Schmid rückblickend in seinen Erinnerungen??. Mehr als eine Woche in dieser vorweggenommenen Hölle hätten es die jugendlichen Soldaten nicht ausgehalten. Waren doch selbst die erfahrenen Soldaten nach zwei Wochen physisch und psychisch zermürbt. Mitte November begannen die Kämpfe an der Somme abzuflauen, Ende November war die Somme- Schlacht zu Ende. Die Minenwerfer-Kompanie 307 wurde nach Cambrai verlegt. Ende Dezember erhielt Schmid die Order, zum Ersatzbataillon 13 zurückzukehren, das im Elsaß Quartier bezogen hatte. Die Wintermonate verliefen ruhig, die Stimmung der Soldaten aber war gedrückt. Kaum einer glaubte mehr an den von der Obersten Heeresleitung prognostizierten Sieg. Anfang April wurde Schmid zur Minenwerfer-Kompanie 307 zurückbeordert, die in den Stellungskämpfen im Sumpfgebiet am Styr-Stochod eingesetzt werden sollte. Als Vizefeldwebel, zu dem Schmid am 3. April 1917 ernannt worden war”, hatte er nicht mehr nur Befehle entgegenzunehmen, sondern trug nun auch selbst ein Stück Verantwortung. An der Ostfront herrschte seit der Februarrevolution weitgehend Waffenruhe. Größere Angriffe waren von der Obersten Heeresleitung untersagt worden**. An manchen Orten kam es zu Schützengrabenkontakten zwischen deutschen und russischen Soldaten, von denen. auch Carlo Schmid in seinen Erinnerungen erzählte”. Erst im Juli starteten die Russen eine Offensive, die mit einem deutschen Gegenangriff beantwortet wurde. Das Styr-Stochod-Gebiet war kein Hauptangriffsgebiet. Nur gelegentlich kam es hier zu Gefechten. Schmid konnte als Vizefeldwebel nun auch selbst Angriffsziele bestimmen. Eine russische Feldküche schien ihm unter militärischen Gesichtspunkten ein äußerst lohnendes Angriffsobjekt zu sein. Der junge Vizefeldwebel ordnete ihren Beschuß an. Militärisch war der Angriff ein Erfolg, aber Schmid freute sich nur kurze Zeit darüber. Ihm wurde erstmals der Widerstreit zwischen Krieg und Menschlichkeit, zwischen militärischen und moralischen Gesichtspunkten vollauf bewußt. Im nachhinein schilderte er die Gewissensbisse, die ihn schon bald plagten: „Doch nachdem der Rauch der Einschläge sich über den Baumkronen verflüchtigt hatte, war es mit meinem guten Gewissen aus. Sicher, militärisch hatte ich richtig gehandelt, aber war es auch moralisch richtig? Entsprach es auch dem, was man die soldatische Ehre nannte, das Feuer auf Menschen zu eröffnen, die glauben konnten, daß an dieser Stelle und zu dieser Zeit eine Art von unausgesprochenem ‚Gottesfrieden‘ herrschte? Ich habe solche Befehle den ganzen Krieg über nicht mehr gegeben.“ Für einen sensiblen jungen Soldaten wie Carlo Schmid war es schwierig, mit der menschlichmoralischen Seite‘des Krieges fertig zu werden. Noch bis Mitte Oktober kam es an der Ostfront an einzelnen Orten zu Kampfhandlungen. Die im November stattfindende Oktoberrevolution brachte im Osten den Waffenstillstand und nährte bei den kriegsmüden Soldaten die Hoffnung, daß der Krieg nun bald zu Ende sei. Im Westen wurde der Krieg mit unverminderter Härte weitergeführt. Schmids Einheit wurde im Dezember nach Westen verlegt, wo man dringend Verstärkung brauchte. Inzwischen war Carlo Schmid zum Leutnant der Reserve avanciert. Bereits im Mai 1917 war er mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden?”. Weder die militärische Auszeichnung noch der Aufstieg ins Offizierskorps änderten seine Denk- und Lebensweise, die immer noch den Moralvorstellungen der Jugendbewegung verpflichtet war. Wie fremd ihm der Offizierskodex blieb, zeigt eine Episode, die er über die Quartiersuche in einem kleinen russischen Städtchen erzählte: „Ich ging zur Kommandantur, um in der ‚Iransennen-Station‘ eine Unterkunft zu finden. Der Major aber, ein netter alter Herr mit grauen Schläfen, protestierte. Da gehöre ich nicht hin. ‚Wir haben hier ein gemütliches k.u.k.-Etappenfeldfreudenhaus, das ist als Quartier für einen jungen Leutnant eher angebracht, auch aus dem Grund, weil es außer der Kommandantur das einzige steinerne Haus im ganzen Ort ist.‘ Ich tat so, als würde ich seinem Rat folgen, zog es aber vor, auf einer Bank im Bahnhofsgebäude zu übernachten.“? ® Die Geschichte mag sich so, vielleicht auch etwas anders zugetragen haben. Wenn es eine Anekdote ist, ist sie gut erzählt. Sie macht eines deutlich: Der Leutnant Carlo Schmid war noch immer der schüchterne Kriegsfreiwillige des Jahres 1914. ‘An der Front mußte Carlo Schmid Anfang 1918 seinen Mann stehen. Die Oberste Heeresleitung suchte die Entscheidung im Westen und bereitete eine Großoffensive gegen die englischen Truppen an der Frontlinie Cambrai-St. Quentin vor”. Als in den Morgenstunden des 21. März 1918 6600 deutsche Geschütze ein fünfstündiges Feuer gegen die englischen Truppen eröffneten, unterstützte Carlo Schmid als Minenwerfer die Feuerwalze der Angriffsartillerie°. Im Südabschnitt der Front, an dem Schmids Einheit kämpfte, wurde nach drei Tagen der Durchbruch erreicht. Die Freude währte nicht lange. Die deutschen Truppen hatten die Widerstandskraft des Gegners unterschätzt. Die Offensive scheiterte am s. April, die „Große Schlacht in Frankreich“, wie die Offensive bald genannt wurde, war verloren. Die Abberufung Schmids von der Front erfolgte am 6. April?“. Im Mai versuchte die Oberste Heeresleitung durch Zermürbungsoffensiven dem Kriegsverlauf an der Westfront noch eine Wende zu geben.
Schmid wurde Ende Mai verwundet und mußte in ein Feldlazarett gebracht werden3?. Als er wieder genesen war und’ins Feld abkommandiert wurde, befanden sich die deutschen Truppen schon im Zurückweichen. Er hatte den Rückmarsch vorzubereiten und dafür zu sorgen, daß er in geordneten Bahnen verlief, was nicht immer leicht war. Die Soldaten waren erschöpft und demotiviert. Disziplinlosigkeit machte sich breit. Der schüchterne junge Leutnant hatte Mühe, sich durchzusetzen. Später war er stolz darauf, daß es ihm trotz allem gelungen war, den Rückzug zu organisieren. Für seine militärischen Verdienste hatte er am 31. August 1918 das Ritterkreuz 2. Klasse des Friedrichs-Ordens mit Schwertern – ein Orden des Königreichs Württemberg – erhalten?3. Er mag die Ordensverleihung als Auszeichnung empfunden haben. Als ein in den Stahlgewittern der Schützengräben gestählter Held fühlte er sich nicht. Das Erlebnis der Menschen- und Materialschlachten an der Westfront ließ bei ihm nur einen Gedanken aufkommen: Nie wieder Krieg. Er war nach dem Krieg kein anderer als vor dem Krieg. Einzig den „Umgang mit den Menschen“ habe er im Krieg gelernt, stellte er rückblickend fest3+. Weil er während des Krieges die Denk- und Lebensweise der Arbeiter kennengelernt hatte, verfing bei ihm die Propaganda der proletarischen Revolution nicht. Nach all den Erfahrungen, die er gemacht hatte, erschien ihm eine realistische soziale Reformpolitik der einzige Weg in die Zukunft.