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1896-1979 eine Biographie : Ins Abseits gestellt und doch tätig (1961-1963)

Visitenkarte der SPD
Nach der Wahl meinten die meisten Sozialdemokraten, daß die Vernunft in Gestalt ihres Gegenteils aufgetreten war. Sie hatten gehofft, als Sieger aus der Wahl hervorzugehen, waren aber nur auf Platz 2 gelandet. Immerhin: sie konnten ihren Stimmenanteil von 31,8% auf 36,2% verbessern. Die CDU/CSU verlor ihre absolute Mehrheit und war auf einen Koalitionspartner angewiesen. Carlo Schmid verbrachte die Wahlnacht bei den Parteifreunden in der Bonner Baracke an der Friedrich-Ebert-Allee. Seinen Mannheimer Wahlkreis hatte er wieder direkt erobert. 44,4% der Mannheimer hatten ihm das Vertrauen geschenkt. Der Zweitstimmenanteil der SPD lag dort bei 41,8 %‘. Zum Feiern blieb ihm keine Zeit. Am frühen Morgen arbeitete er zusammen mit Brandt und Ollenhauer, später kam auch noch Wehner hinzu, ein erstes Statement zum Wahlausgang aus. Die schon während des Wahlkampfes erhobene Forderung, eine Regierung auf breiterer Grundlage zu bilden, wurde wiederholt. Eine gemeinsame Bestandsaufnahme sollte den Weg zu einer „Regierung der nationalen Konzentration“ ebnen”. Hinter Schmids beredtem Plädoyer für eine Allparteienregierung stand nicht nur der Wunsch, ins Kabinett einzuziehen. Für ihn stand fest, daß ohne einen außenpolitischen Kurswechsel der Berlin-Konflikt nicht zu lösen war. Wuchs nicht auch bei den Westmächten die Überzeugung, daß die Politik der Stärke gescheitert sei? Machte sich nicht bei den westlichen Verbündeten eine Stimmung breit, die darauf ausging, den sogenannten Realitäten Rechnung zu tragen? Sachlich und nüchtern konstatierte Schmid, daß die Politik der Verbündeten auf eine De-facto-Anerkennung der DDR und eine Hinnahme der Oder-Neiße-Grenze hinauslaufe?. Die zukünftige Regierung könne an diesem Tatbestand nicht vorbeigehen. Er hatte die Hoffnung auf Durchsetzung seines außen- und deutschlandpolitischen Programms noch nicht aufgegeben. Nicht ganz zu Unrecht nannte er sich einmal eine Mischung aus Camille Desmoulins und Don Quichottet. Er war sich vollauf darüber im klaren, daß Adenauer nichts unversucht lassen würde, diesen Kurswechsel zu verhindern. Deshalb legte er sich auch keine Zurückhaltung auf und erhob ganz offen die Forderung, daß ein
„anderer Kapitän“ an der Spitze der Regierung stehen müsse’. Sein Wunschkandidat war – das brauchte er gar nicht erst ausdrücklich zu sagen — Eugen Gerstenmaier. Der bisherige Bundestagspräsident bot sich als Kanzler einer Allparteienkoalition geradezu an. Die SPD-Führungsspitze nahm auch schon einen Tag nach der Wahl Kontakt mit Gerstenmaier auf. Es zeigte sich jedoch, daß Gerstenmaier nur wenig Rückhalt in der eigenen Fraktion besaß°. Schmid wollte dies nur ungern wahrhaben. Er beteiligte sich nicht an den Koalitionsverhandlungen. Schon kurz nach der Wahl fuhr er ab nach Straßburg, wo im Europarat über die Berlin- und Deutschlandfrage beratschlagt wurde. Als Erich Ollenhauer, Willy Brandt und Herbert Wehner am 25. September zu einem zweistündigen Gespräch mit Adenauer im Palais Schaumburg zusammentrafen, mühte sich Schmid im Straßburger Parlament darum, eine deutschlandpolitische Entschließung durchzubringen. Zwischendurch unterhielt er sich mit dem FDP-Abgeordneten Achen- ‚bach, um ihn bzw. die FDP für eine Allparteienkoalition zu gewinnen. Doch der wollte ihm nicht glauben, daß er mit den Sozialdemokraten „fertig“ sei, wenn sie eine schwarz-rote Koalition unter Adenauer eingingen’. Dabei hatte er es ganz aufrichtig gemeint. Erst in der Fraktionssitzung am 28. September erfuhr er, daß Wehner mittlerweile erklärt hatte: „Für uns ist Adenauer überhaupt kein Problem.“ ® War dies nur eine taktische Äußerung oder war Wehner allen Ernstes bereit, in eine Koalitionsregierung unter Adenauer einzutreten? Wehner drückte sich in der Fraktionssitzung recht gewunden aus: „Wir sollten (…) nicht bevor alles ausgespielt ist, uns den Schuh anziehen, von dem andere meinen, er sei uns für alle Zeiten zugemessen.“? Als Schmid die Fraktionssitzung verließ, war er sich ziemlich sicher, daß die SPD in keine Regierung eintreten werde, deren Kanzler Adenauer heißt’°. Vielleicht hatte er auch nur vernommen, was er sich wünschte. Er setzte weiter auf seinen Freund Gerstenmaier. Ganz ausgeschlossen war es nicht, daß nicht doch noch eine Allparteienregierung unter Adenauers entschiedenstem innerparteilichen Opponenten zustande kam. Hinter den Kulissen bemühte sich Heinrich Lübke, eine Koalition unter Einbeziehung der SPD zysammenzuzimmern. Doch Gerstenmaier zögerte. Er wollte nicht als Königsmörder in die Geschichte eingehen. Gleichwohl ermunterte Schmid den Bundespräsidenten unter ausdrücklichem Hinweis auf das Grundgesetz, einen Kanzlerkandidaten seiner Wahl vorzuschlagen. Der Bundespräsident dürfe nicht zum Boten degradiert werden“. Während Schmid seinen Appell an den Bundespräsidenten schrieb, gingen Adenauer und Mende eine neue Koalition ein. Mende, der noch am 19. September getönt hatte, eine Koalition unter Adenauer käme nicht in Frage, war einen Monat später umgefallen. Carlo Schmid war enttäuscht und erzürnt über dieses schwarz-gelbe Zweckbündnis, bei dem auf die bedrohliche außenpolitische Lage keiner lei Rücksicht genommen wurde. Am 7. November, kurz nach der Wahl Adenauers zum Bundeskanzler, gab er dem „Mannheimer Morgen“ ein Interview, in dem er seine Verbitterung und Sorge offen artikulierte: „Wir Deutsche leben heute in einer Notsituation: in Berlin schießen Deutsche auf Deutsche und stehen russische und amerikanische Panzer mit geladenen Kanonen einander gegenüber. Die Weltmächte suchen die Hypothek, die ihnen die Nachkriegspolitik auferlegt hat, abzuwerfen. Soll es nicht zu sehr auf unsere Kosten geschehen, muß ihnen eine deutsche Regierung als Verhandlungspartner gegenüberstehen, von der jedermann weiß, daß sie von allen schöpferischen politischen Kräften der Nation getragen ist. Das ‚Ja‘ oder das ‚Nein‘ einer Allparteienregierung hätte ein wesentlich anderes Gewicht als das ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ einer Regierung, die das Produkt eines Kuhhandels ist, wie wir ihn in den letzten Wochen erlebt haben.“ ‚? Er rettete sich in Zweckoptimismus, als er beteuerte, daß die SPD nach gemeinsamer Bestandsaufnahme auch noch zu einem späteren Zeitpunkt in eine Allparteienregierung eintreten werde“. Nicht allein aus Sorge um die zukünftige Außen- und Deutschlandpolitik war Schmid so erbost über den „Kuhhandel“ zwischen FDP und Union. Es war auch für ihn persönlich bitter, nochmals auf den harten Bänken der Opposition Platz nehmen zu müssen. Am 3. Dezember wurde er 65. War es nun an der Zeit, sich als elder statesman aus dem politischen Alltagsgeschäft zurückzuziehen? Das Lob der Parteifreunde war überschwenglich, klang aber schon fast wie ein Nachruf: „Wir sind stolz darauf, daß Du an unserer Spitze die geistige Repräsentanz verkörperst.“ ‚* Die, die ihn besser kannten, sprachen ihm Mut zu. Max Brauer fügte seinen Geburtstagswünschen ein Postskriptum hinzu: „Und dann: auch mit 65 Jahren kein Resignieren, sondern das Leben bejahen. Sehr oft schäumt es ja in diesem Punkt bei Dir über. Auf der anderen Seite sind uns, Deinen Freunden, aber auch die Rückschläge nicht verborgen geblieben. Nun, mit den weiteren Jahren wird die größere Ausgeglichenheit kommen.“ ‚5 Victor Renner, der Freund aus früheren Jahren, erinnerte an die gescheiterten Hoffnungen und Pläne: „Es ist so vieles anders gelaufen, als wir es uns in den Jahren 45 und 46 gedacht haben.“ ‚° Damals hatte Schmid aus der Utopie des Dritten Humanismus, den Plänen der Kreisauer und den Eindrücken und Erfahrungen, die er am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin und als Militärverwaltungsrat in Frankreich gesammelt hatte, ein politisches Programm entwikkelt, das er mit Tatkraft und Energie in die politische Wirklichkeit umzusetzen versucht hatte. Gemessen an der Euphorie der Anfangsjahre, mußte er sich wie ein Gescheiterter vorkommen. Er befand sich in einer Lebenskrise. Zwei Jahre zuvor hatte er sich noch jung genug gefühlt, um den Führerschein zu machen’”. Jetzt fühlte er sich wie altes Eisen. Sein Blutdruck war, wahrscheinlich auch psychisch bedingt, viel zu hoch, so daß er gezwungen war, salzlos zu essen. Später
kam noch eine Thrombose hinzu. Schlaflosigkeit quälte ihn. Das Schreiben mit der rechten Hand fiel ihm manche Tage schwer“. Noch häufiger als die ganzen Jahre dachte er an seinen Sohn Raimund, über dessen Selbstmord er nie ganz hinwegkam. Manchmal kamen ihm dunkle Gedanken. Dann fragte er sich, ob er Raimund vielleicht doch „nicht allein lassen (sollte), wo er jetzt ist“ ‚9, Es sah fast so aus, als ob er den Rückzug aus der Politik vorbereitete. Von Januar 1962 bis Juni 1963 nahm er nur an drei Parteivorstandssitzun- ‚ gen teil. Auch in den Präsidiumssitzungen fehlte er häufig. Er entschloß sich, am.Berghang in Orscheid bei Bad Honnef ein Haus zu bauen. Noch immer wohnte er in seiner kleinen Wohnung in der Renoisstraße, die er 1949 bezogen hatte. Es war ein kleines Häuschen, in das er Anfang 1963 mit Hanne Goebel einzog. Nur 84 qm groß, aber umgeben von einem Garten und der Idylle des Siebengebirges. Bald fand auch noch ein Boxerhund namens Asra in dem Haus Platz. Schmid konnte jetzt wieder der Gartenarbeit, einer seiner Lieblingsbeschäftigungen, nachgehen. An schönen Tagen sah man ihn hacken und Giefßkannen schleppen. Sein Rhododendron fand die Bewunderung der ganzen Nachbarschaft. Seinen Bekannten beschrieb er den idyllischen Ausblick, den er von seiner neuen Behausung aus hatte: „Jeden Morgen kommen Fasanen in den Garten, um das Vogelhaus schwirrt es von Dompfaffen und ab und zu läuft ein Reh den Zaum entlang. Im Sommer weiden schwarz-weiß gefleckte Kühe rings auf den Feldern.“ *° Carlo Schmid – ein Candide? Nein, für das Leben eines Candide, der sich damit begnügt, seinen Garten zu bestellen, war er nun einmal nicht geboren. Er mochte noch so oft darüber klagen, daß die Politik ihm keine Zeit zur Muße lasse und er eine Kröte nach der anderen schlucken mußte, die Politik ließ ihn nicht mehr los. Er wollte weiter im Geschirr bleiben, auch wenn ihm der große politische Erfolg versagt war. Freilich, es schmerzte ihn, feststellen zu müssen, daß die Intelligenz nicht zu den wichtigsten virtutes eines Politikers gehörte, daß das Parlament kein „Areopag der Weisen“ war, sondern ein „Wahlmännerkollegium, das eine Regierung zu wählen hat“ *‘. Die Umarmungsstrategie der SPD trug er aus Vernunft mit, aber dem neuen außenpolitischen Kurs stand er reserviert gegenüber. Je älter er wurde, desto einsamer fühlte er sich. Manchmal waren die menschlichen Beziehungen in der Partei „so kalt“, daß „ihn fror“ *°. – Teils zu Recht, teils zu Unrecht fühlte er sich von den Parteifreunden ins politische Abseits gestellt. Diesmal gelang es ihm nicht wie sonst, seinen Mißmut zu überspielen, im Weinen noch zu lachen. Im Juni 1962 kam es im Parteipräsidium zwischen ihm und Willy Brandt zu einem Zusammenstoß. Um eine engere Verzahnung der politischen Arbeit Brandts mit der der Bonner Baracke zu ermöglichen, sollte Brandt die Leitung einer Planungsgruppe übernehmen, deren Aufgabe es war, eine
langfristige politische Strategie auszuarbeiten. Bereits ein halbes Jahr zuvor hatte Waldemar von Knoeringen die Bildung eines wissenschaftlichen Büros beim Parteivorstand angeregt, das in enger Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung Grundlagenforschung betreiben sollte”. Einige Mitglieder des Parteivorstandes plädierten dafür, daß die von Brandt geleitete Planungsgruppe sich auch der von Knoeringen vorgeschlagenen Grundlagenforschung annehmen möchte. Schmid war überaus skeptisch, ob Brandt neben seiner Berliner Regierungstätigkeit auch noch diese Aufgabe bewältigen könne. Außerdem befürchtete er nicht zu Unrecht, daß ein „riesiger Apparat“ notwendig sei, um die ins Auge gefaßte Planungsaufgabe befriedigend zu lösen**. Brandt scheint die Vorbehalte seines Parteifreundes geahnt zu haben. Er nahm ihn nicht als Mitglied in die Planungsgruppe auf, in der nur Wehner, Erler und Nau als ständige Mitarbeiter vorgesehen waren. Carlo Schmid war zutiefst verletzt, daß man auf seine Mitarbeit keinen Wert legte?°. Er fühlte sich zurückgesetzt, obwohl ihm Brandt sofort versicherte, daß er ihn von den Planungsarbeiten nicht habe ausschließen wollen”. Schmid wurde den Verdacht nicht los, daß er übergangen worden war. Brandt versuchte in einem längeren Brief an Schmid, den er aus seinem norwegischen Urlaubsdomizil schrieb, diesen Verdacht. auszuräumen: „Falls es Dir zeitlich möglich ist, möchte ich ganz gewiß gerade Dich in die vorbereitenden Planungsarbeiten einbezogen wissen. Womit ich Dich nicht belasten zu sollen glaubte (…), sind jene organisatorischen und materialordnenden Aufgaben, die bisher vernachlässigt wurden und um die wir uns jetzt stärker kümmern wollen, also eine Wahlanalyse des vorigen Jahres und der Landtagswahlen dieses Jahres, Vorschläge für die Öffentlichkeitsarbeit der Partei, Arbeitsunterlagen für die vernachlässigten Gemeinschaftsaufgaben usw.“ ?7 Brandt lag nicht daran, Schmid aus der Führungsspitze hinauszudrängen. Er bat sogar Erler, „mitzuhelfen, daß Carlos Mißtrauen und Unzufriedenheit überwunden werden“ 8, Brandt war freilich nicht entgangen, daß Schmid die neue öffentliche Selbstdarstellung der Partei nicht immer sonderlich gefiel. Schmid sah mißmutig mit an, daß man trotz seiner Warnungen Politik einerseits zum Marketing, andererseits zur Expertenwirtschaft verkommen ließ. Im Februar hatte er bei einem Podiumsgespräch in Hamburg erklärt: „Ich will mich als Politiker nicht verkaufen lassen wie ein Massenartikel. Ich kann als Politiker nicht sagen, was die Leute gern von mir hören wollen, sondern ich muß tun, was zum Wohle des Staates notwendig ist.“”° Daß Politiker sich immer mehr auf die Demoskopie statt auf ihren Verstand und ihr Wissen beriefen, hielt er für gefährlich?°., Gewiß, man mußte Politik auch verkaufen können. Das hatte er seiner Partei jahrelang gepredigt. Aber darüber durften die politischen Inhalte nicht vernachlässigt werden. Aus Politik durfte nicht Show-Business werden. Als im November 1962 ein Berlin-Treffen der SPD mit einer Girlparade eröffnet wurde, reagierte Schmid darauf empört wie der prüdeste Puritaner3′, Seine Skepsis gegenüber dem in der SPD-Führung herrschenden Planungseuphorismus erwies sich als berechtigt. Von der Planungsgruppe, zu deren Sitzungen er regelmäßig Einladungen erhielt, gingen keine wegweisenden Ideen aus??. Man erstickte in Kleinarbeit, ohne eine Vision für die Zukunft zu entwickeln. Schmid erhielt mehr Material zur Begutachtung, als ihm lieb sein konnte33. Im Mai 1963 wurde ihm gegen seinen Willen im Zuge einer Rationalisierung der zentralen Parteiverwaltung das Referat Planungsarbeit und Grundlagenforschung übertragen. Das gescheiterte Projekt Planungsgruppe schob man jetzt auf ihn ab. Er protestierte, weil man ihm nicht einmal einen Referatsleiter zur Verfügung stellte3#. Die Abteilung V Planung und Grundlagenforschung wurde dann auch schon bald aufgelöst. Er begrüßte den Dialog zwischen Wissenschaft und Politik, distanzierte sich aber von der Wissenschaftsgläubigkeit einiger seiner Parteifreunde. Er leugnete nicht die Notwendigkeit, sich bei politischen Entscheidungen wissenschaftliche Erkenntnisse zunutze zu machen. Schließlich war er es gewesen, der 1956 die Bildung eines deutschen Forschungsrates vorgeschlagen hatte. Aber Wissenschaft konnte Politik nicht ersetzen: „Alles, was den Staat anbetrifft, ist im letzten viel mehr eine Frage des Gewissens, des Wollens, der Sinngebung als eine Frage der Technizität. Dem Wirken kommt ein höherer Rang zu als dem Werkzeug.“ 3° Wissenschaftliche Politikberatung konnte seines Erachtens nur punktuell geschehen. Sie konnte bestenfalls dem Wollen des Politikers eine „gewisse Inklination“ geben, aber das Wollen nicht ersetzen?®. Schmid hatte seinen Max Weber gelesen. An eine Verwissenschaftlichung der Politik glaubte er nicht. Knoeringen war leicht verärgert. Er hatte gehofft, Schmid als Verbündeten für sein Projekt einer wissenschaftlichen Grundlagenforschung gewinnen zu können?”. ‚ %* Froh war Schmid, daß die Partei nun endlich das „Große Gespräch“ mit den Spitzenverbänden, den Kirchen und der Wissenschaft suchte. Jahrelang hattee r auf die Parteifreunde eingeredet, daß es besser sei, in der Wüste zu predigen als in der Kirche. Jetzt machte die SPD sich seine Maxime zu eigen“ Wissenschaftler und führende Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens sprachen auf Fachtagungen der SPD, Sozialdemokraten hielten Vorträge auf Konferenzen einflußreicher und mitgliederstarker Verbände, erschienen zu Podiumsdiskussionen und trugen in Volkshochschulen zur Erwachsenenbildung bei. Endlich hatte die Partei ihre Berührungsängste überwunden. Das Opfer dieser neuen Strategie war freilich Schmid. Die Partei sandte ihn als bürgerliches Aushängeschild kreuz und quer durch die Bundesrepublik. Er redete auf Tagungen der Einzelhandels- und Sportverbände, vor Arbeitskreisen des Beamtenbundes und der Lehrerverbände, auf Angestelltenkonferenzen, vor dem Deutschen Städtetag, auf Buchmessen, an Universitäten und Volkshochschulen. Er stöhnte über die Fron. Seinem Freund Victor Renner gestand er, daß ihn die Rolle des Lockvogels für bürgerliche Wählerschichten ganz und gar nicht befriedigte: „Die Partei liebt es, mich als Visitenkarte herumzuschicken, wo es darum geht, die sogenannten Außenstehenden zu gewinnen. Das ist auch eine Aufgabe und eine wichtige, darum unterziehe ich mich ihr. Dazu kommt, daß man mich von außerhalb Deutschlands immer häufiger zu Vorträgen und Veranstaltungen bittet, dem Folge zu leisten, ist häufig eine Notwendigkeit, und so leiste ich eben Folge. Freilich bleibt dann für das eigene Leben nicht mehr sehr viel übrig. Ich bin jede Woche einige Male weg und sehr häufig halbe Wochen im Ausland. Wie lange soll das weitergehen? Ich mag eigentlich nicht mehr recht und möchte gerne, wenn auch noch nicht aufs Altenteil, so doch ein Leben führen können, das mir einige Zeit läßt, mich auf mich selber zu besinnen.“ 3° Man drängte ihn in die Rolle des Schönredners, und er ließ sich auch in sie hineindrängen. Selten sagte er nein, wenn er gebeten wurde, eine Festrede zu halten, obwohl je nach Anlaß auch er erst einige dicke Bücher lesen mußte, bevor er etwas Vernünftiges zu Papier brachte?®. Und sprachbewußt, wie er war, feilte er an seinen Manuskripten. Fast selbstverständlich war es schon, daß er, der langjährige Kritiker überholter Parteitraditionen, bei Parteijubiläen die Festreden hielt. Er sprach zum ro. Todestag Kurt Schumachers#°, zur Hundertjahrfeier der SPD, zur Hundertjahrfeier der Sozialistischen Internationale und schließlich konnten die Mannheimer ihn auch dazu überreden, Ludwig Frank anläßlich seines so. Todestages zu würdigen. Die letztere Aufgabe übernahm er gern, denn Ludwig Frank, der humanistisch gebildete Bürgersohn, war eine der wenigen Gestalten der Arbeiterbewegung, mit denen er sich identifizieren konnte*‘, Weil die SPD der öoer Jahre nicht alte Parteitraditionen beschwören, sondern ihren weltoffenen Charakter demonstrieren wollte, mußte Schmid die Partei bei ihren Jubiläen repräsentieren. Ihm gelang es, auf der mit großem Pomp inszenierten Hundertjahrfeier der SPD überzeugend nachzuweisen, daß die SPD seit ihrer Geburtsstunde eine Volkspartei war, deren Gründungsvater Lassalle das Volk von Anfang an auf den Staat hin erzogen hattet”. Das Godesberger Programm war also kein Bruch mit der Parteitradition, sondern nur die programmatische Fixierung einer schon längst geübten Praxis. Dieser Auffassung war Schmid schon immer gewesen. Sie bestimmte jetzt auch das Geschichtsbild der Partei. Versteckt ließ er Kritik an der gegenwärtigen Politik und Programmatik der Partei anklingen. Sein Hinweis, daß die „Vermehrung der materiellen Güter, die Steigerung des Anteils des einzelnen am Sozialprodukt“ nicht die letzten Ziele einer sozialdemokratischen Politik sein könnten, war durchaus als Mahnung gedacht*. Die Parolen „besser“ und „mehr“ stießen ihm auf. Er beklagte die „Politiklosigkeit“ der gegenwärtigen Politik, für die er Regierung und Opposition gleichermaßen verantwortlich machte**. So fortschrittlich und modern, wie die SPD sich jetzt gab, hatte er sie offensichtlich gar nicht haben wollen. Von der alten Parteitradition war nicht mehr viel übriggeblieben. Als Ollenhauer im Dezember 1963 im Alter von 62 Jahren starb, starb ihr letzter lebender Überrest. An Ollenhauers 60. Geburtstag hatte Schmid ihm gedankt: „Du hast Dich mir in vielen schweren – auch für Dich schwierigen – Lagen immerdar als treuer Freund erwiesen. Vielleicht kann ich Dir einmal ein wenig davon vergelten.“ + Ollenhauer hatte einigen Anteil daran, daß Carlo Schmid in den soer Jahren nicht ganz aus der Partei hinausgedrängt wurde. Schmids Pläne zur Parteireform waren ihm zu rigoros gewesen, aber er hatte doch dafür gesorgt, daß die Traditionalisten die Parteireform akzeptierten. In der Außen- und Deutschlandpolitik hatte Ollenhauer auf Wehner gehört, nicht auf Schmid. Bei der Verteilung des Erbes Ollenhauers unter die Diadochen mußte sich Schmid mit der Rolle des Rat gebenden elder statesman begnügen, in die er sich ansonsten nur ungern abdrängen ließ. Schon Ende der fünfziger Jahre hatte er vorgeschlagen, Fritz Erler zum Fraktionsvorsitzenden zu machen*°. Im Sommer 1963 ermunterte er seinen Schützling: „Du weißt, daß ich schon lange glaube, daß Deine Zeit nun gekommen ist.“*7 Das Amt des Oppositionsführers im Bundestag war ein Sprung- ‚brett für die Kanzlerkandidatur. Erler hätte auch ohne Schmids aufmunternde Worte zu politischer Verantwortung gegriffen. Er ließ erkennen, daß er auch am Amt des Parteivorsitzenden interessiert war. Als die gegnerische Presse Ende 1963 Erler gegen Brandt auszuspielen versuchte, stellte sich Schmid eindeutig hinter Brandt. Brandt müsse von Detail- und Organisationsfragen entlastet werden, hielt er dessen Widersachern entgegen, die meinten, der Regierende Berliner Bürgermeister könne unmöglich auch noch die Last des Parteivorsitzes tragen*“. Er verteidigte auch Brandts Berliner brain trust, das sowohl Wehner als auch Erler ein Dorn im Auge war, weil es Initiativen in Gang setzte, die nicht immer mit der Parteiführung abgesprochen waren*?. Alles deutet darauf hin, daß Schmid Brandt als Gegenpol zu Wehner sah und deshalb das Bündnis Brandt- Wehner-Erler auf jeden Fall erhalten wollte. Wäre Brandt aus dem Dreibund ausgeschaltet worden, wäre Wehner der unumschränkte Beherrscher der Parteiorganisation geworden. Wehner bremste in der Deutschlandpolitik, während Brandt eine Politik der kleinen Schritte einleitete. Allein schon deswegen konnte Schmid gar nicht anders, als sich auf die Seite Brandts zu stellen. Väterlich besorgt mahnte er die drei ungleichen Männer zur Freundschaft und Treue5°. Dem gealterten Staatsmann, der selbst keine politische Zukunft mehr hatte, oblag es alte Tugenden zu zitieren, die in der Politik immer seltener wurden. Er hatte den Parteinachwuchs vorzustellen und für ihn zu werben“.
Es blieb ihm nur noch die vage Hoffnung, daß das schwarz-gelbe Bündnis bald platzen und er dann als Minister vielleicht doch noch einiges bewegen konnte. Spekulationen über eine Große Koalition tauchten andauernd auf. Im Sommer 1962 befand sich Erhard wieder einmal mit Adenauer in einer Dauerfehde. Daß der Alte Erhard als Nachfolger ausschalten wollte, war kein Geheimnis. Der Vizekanzler beschwor seinerseits in einem Mitte Juni mit Schmid geführten Gespräch das baldige Ende Adenauers. Schmid gewann bei dem Gespräch den Eindruck, daß Erhard Angst vor der Kanzlerschaft habe und deshalb der Bildung einer Allparteienregierung nicht abgeneigt sei°”. Schmid war voller Optimismus, den Deist, der mit Erhard öfter zusammentraf, allerdings sofort dämpfte: „Erhard macht solche Sprüche häufig.“S? Erhard gehörte zu den Gegnern eines Bündnisses mit den Sozialdemokraten, was aber im Sommer 1962 für die Zeitgenossen noch nicht so eindeutig zu erkennen war. Der Bundespräsident, der sich in einem Neujahrsbrief auffallend herzlich für Schmids „verantwortungsbewußten Rat“ bedankt hattet, drängte weiterhin auf Bildung einer Allparteienregierung unter Eugen Gerstenmaier°°. Im Gegensatz zu Brandt, der im Sommer 1962 einen Regierungswechsel in der laufenden Legislaturperiode mit ziemlicher Sicherheit ausschloß, erwartete Schmid den baldigen Bankrott der Regierung Adenauer. Wenn Gefahr drohe, werde die SPD sich dem Ruf, Mitverantwortung in der Regierung zu übernehmen, nicht verweigern, versicherte er im September einem Rundfunkreporter’®. Die Affären, die im Jahre 1962 die Republik erschütterten, signalisierten den fortschreitenden Verfall der Koalitionsregierung. Im Juni 1962 wies die SPD-Fraktion im Verein mit den Freien Demokraten den Untersuchungsbericht des Fibag-Ausschusses zurück. Der Ausschuß hatte aufzuklären, ob sich Strauß der Vetternwirtschaft und dubioser Finanzierungspraktiken bei dem Bau von Kasernen für die 7. US-Army schuldig gemacht hatte. Die Sache ging aus wie das Hornberger Schießen, weil die Vertreter der CDU/CSU-Fraktion, die im Ausschuß die Mehrheit stellten, an einer Aufklärung der Vorwürfe kein Interesse hatten. Das war verständlich. Schmid empörte sich nicht darüber, sondern schlug eine Änderung der Bildung und des Verfahrens der Untersuchungsausschüsse vor: „So wie die Untersuchungsausschüsse heute sind, sind sie praktisch ein Schild, mit dem man unter dem Anschein eines rechtlich geordneten Verfahrens, das allen Beteiligten die gleichen Möglichkeiten gibt, Gefahren abschirmen kann, die von der öffentlichen Meinung her einer Regierung aus dem Verhalten eines ihrer Mitglieder drohen könnten.“ Er schlug vor, dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts den Vorsitz im Untersuchungsausschuß zu überantworten‘®. Enttäuscht hatte ihn die Reaktion der Öffentlichkeit, die über die Affäre „mehr schmunzelt(e), als die Fäuste ballt(e)“ %,
Das sollte sich bei der Spiegel-Affäre ändern. Für Schmid war die Empörung einer breiten Öffentlichkeit über das unrechtmäßige Vorgehen der Bundesregierung gegen das Hamburger Nachrichtenmagazin ein Markstein auf dem Weg zu einer liberalen Öffentlichkeit, zu einer aufgeklärten Bürgergesellschaft. Die ersten Stellungnahmen der SPD zu der polizeilichen Durchsuchung der Redaktionsräume des „Spiegel“ und der Verhaftung Augsteins und des damaligen Spiegel-Redakteurs Conrad Ahlers wegen Landesverrats am 26./27. Oktober 1962 waren äußerst zurückhaltend. Scheute man den bisherigen Gemeinsamkeitskurs zu verlassen? Das war nur ein Grund und nicht der wichtigste. Die ganze Affäre war für die SPD, wie Wehner sich ausdrückte, „undurchsichtig“ °‘. Strauß hatte zwei Tage vor der Aktion bei einem Empfang auf Schloß Brühl in alkoholisiertem Zustand wilde Drohungen ausgestoßen. Schmid, der Strauß” Tischnachbar war, berichtete in der Präsidiumssitzung am 29. Oktober, daß Strauß von einer „Bombe“ gesprochen habe, die in vier Wochen platze. Die SPD sei „durch und durch verseucht“. Die Namen Jahn, Annemarie Renger und des Leiters des Ostbüros der SPD Stefan Thomas waren gefallen“. Kurz zuvor war der SPD-Abgeordnete Frenzel als Östspion entlarvt worden. Wußte Strauß wirklich etwas? Schmid, der sich mit Strauß gut verstand, sollte nachhaken‘3. Er traf Strauß. Der Bundesverteidigungsminister hatte offensichtlich nichts Konkretes in der Hand. Am 6. November beschloß die SPD-Fraktion, Strauß” Vorgehen gegen den „Spiegel“ in einer Fragestunde des Bundestages kritisch unter die Lupe zu nehmen. Wehner riet zu taktischer Vorsicht‘*, während Schmid noch am selben Tag in einem Artikel für die Münchener „Abendzeitung“ die Verletzung rechtsstaatlicher Garantien bei der Aktion gegen den „Spiegel“ auf schärfste kritisierte. Daß der Bundesjustizminister über die Ermittlungen gegen den „Spiegel“ nicht informiert worden war, ließ sich seines Erachtens nicht mehr als „schlichter Skandal“ abtun. Hier handelte es sich um eine „Krise der Verfassungswirklichkeit“. „Es scheint da etwas faul zu sein im Staate Dänemark.“ °S Strauß versuchte sich durchzuwinden, indem er das Parlament belog. Schmid ging es nicht in erster Linie darum, Strauß abzuschiefßen, sondern um die Wahrung des Rechtsstaates, hinter’ der politisches Kalkül zurückzutreten hatte. Obwohl er sich das . Ende der Regierung Adenauer sehnlich herbeiwünschte, betrachtete er die Spiegel-Krise mehr mit den Augen eines Staatsrechtlers als eines Politikers. Er schlug vor, eine Änderung der Landesverratsbestimmungen zu verlangen, was aber von der SPD-Führung für politisch völlig inopportun gehalten wurde“. Die SPD-Fraktion ersuchte am 13. November den Bundeskanzler, Bundesverteidungsminister Franz-Josef Strauß aus seinem Amt zu entlassen”. Sechs Tage später kündigte die FDP das Regierungsbündnis mit der CDU/CSU auf. In der Presse war die Rede von einer Staatskrise. Schmid mochte von einer Regierungs-, aber nicht mehr von einer Staatskrise sprechen, denn der Proteststurm der öffentlichen Meinung habe die Regierung in die Schranken des Rechts zurückzuweisen vermocht‘®. Schmid war beeindruckt von dem „Aufstand des Bürgersinns“, den die Spiegel-Krise hervorgerufen hatte‘. Erstmals war in der Bundesrepublik die öffentliche Meinung zu einer vierten Gewalt geworden. Die Bundesdeutschen waren kein „Haufe von Untertanen“ mehr”°. Die Spiegel-Krise war Auslöser für eine rapide wachsende Politisierung der Öffentlichkeit. Schmid, der sich einen solchen „Aufstand des Bürgersinns“ immer gewünscht hatte, erfaßte schon Ende 1962, daß die Spiegel-Affäre einen Wendepunkt in der politischen Kultur der Bundesrepublik markierte. Er nahm die ganze Krise mehr als politischer Beobachter denn als politischer Akteur wahr. Während Schmid sich über die Opposition der öffentlichen Meinung erfreute, arbeitete Herbert Wehner daran, die SPD von der Opposition in die Regierung zu manövrieren. Konnte die SPD eine schwarz-rote Koalition unter Adenauer eingehen, der eben noch dem „Spiegel“ einen „Abgrund von Landesverrat“ vorgeworfen hatte? Auch damals vermutete man schon, daß Adenauer von Strauß über die Aktionen gegen den „Spiegel“ unterrichtet war”‘. In der Öffentlichkeit jedenfalls mußte eine Große Koalition ohne Auswechslung des Kapitäns auf Unverständnis stoßen. Mit dieser Auffassung stand Schmid nicht allein. Über den Fortgang von Wehners Geheimverhandlungen mit Lücke und von und zu Guttenberg war er nicht unterrichtet’?. Im kleinen Kreis waren die Koalitionsverhandlungen schon recht weit gediehen. Sogar über die Ressortverteilung hatte man sich schon geeinigt. Wehner entschied, daß weder Brandt noch Schmid, der bei der CDU/CSU großes Vertrauen genoß”°, als Außenminister in Frage kamen. Ollenhauer, auf den Wehner großen Einfluß hatte, sollte in das Auswärtige Amt einziehen. Für das Innenressort war Erler vorgesehen, der aber auch anstelle Ollenhauers als Aspirant für das Auswärtige Amt im Gespräch war. Über die Bildung eines Europaministeriums hatte man sich noch nicht verständigen können”* Möglicherweise hatte man Carlo Schmid im Auge, als man die Bildung dieses neuen Ministeriums in Erwägung zog, denn von den Ressorts, die sonst noch der SPD zufallen sollten, entsprach keines seinem Können und seiner Neigung. Wenn man ihn ganz übergangen hätte, wäre dies in der Öffentlichkeit negativ aufgenommen worden. Als Wehner am ı. Dezember dem Parteivorstand einige knappe Informationen über seine Verhandlungen gab, belehrte Schmid in Frankfurt seine Studenten. Tags darauf flog er in den Senegal, wo er zusammen mit Heinrich Deist an einem Kolloquium über Probleme der Entwicklungspolitik und der Einführung des Sozialismus in Entwicklungsländern teilnahm”. Anscheinend waren die beiden überzeugt, daß in der Woche vom 2.-8. Dezember – solange sollte die Konferenz dauern – keine bedeuten
den Entscheidungen in Bonn anstanden. Drei Tage später informierte Erler die Senegalreisenden, daß die Koalitionsverhandlungen ein konkretes Stadium annahmen’”®. Sofort fragte Schmid telegraphisch in Bonn an, ob eine vorzeitige Rückkehr erforderlich sei. Ollenhauer kabelte am s. Dezember zurück: „Im ersten Stadium der Verhandlungen. Bleibt bei Euren Dispositionen für Rückkehr. “77 Als die beiden am 8. Dezember wieder in Bonn eintrafen, waren die Koalitionsverhandlungen bereits geplatzt. Adenauer hatte seine weitere Kanzlerschaft und die Einführung des Mehrheitswahlrechts bereits bei den nächsten Wahlen zur Voraussetzung von Koalitionsverhandlungen erklärt. Wehner, Brandt und Erler waren bereit, die erste Forderung zu schlucken. Die Fraktion nahm einen ablehnenden Standpunkt ein. Sie war nicht gewillt, sich von Wehner vor vollendete Tatsachen stellen zu lassen”®. In der Parteivorstandssitzung am ı6. Dezember verlangte Schmid eine Dokumentation über die Koalitionsverhandlungen, die in der Öffentlichkeit auf Unverständnis gestoßen seien: „Viele haben SPD gewählt, weil sie gegen Adenauer sind. Diese haben nicht verstanden, warum die SPD nun plötzlich bereit sei, mit Adenauer eine Regierung zu bilden.“ 7° Versteckte sich Schmid hinter den vielen? Verstand auch er nicht, daß die SPD sich: jetzt plötzlich zu einer Koalition unter Adenauer hergab? Er wünschte eine restlose Aufklärung der Rolle Strauß’ in der Spiegel-Affäre°. Vermutlich rechnete er damit, daß dann auch die Rolle Adenauers aufgeklärt würde. In der Öffentlichkeit plädierte er weiterhin für eine Allparteienregierung. Vielleicht war es Don Quichotterie, vielleicht auf Zweckoptimismus. Am 6. Januar 1963 erklärte er im Sender Freies Berlin: „Ich bin davon überzeugt, daß wir in diesem Jahre eine Regierung bekommen werden, die alle verantwortungsbewußten Kräfte der Nation umfaßt. Was dies für die Stärkung der Möglichkeiten einer deutschen Politik nach Westen und nach Osten bedeutet, brauche ich nicht besonders auszuführen.“ ®“ Ein halbes Jahr später schrieb er Brigitte Gerstenmaier: „Den Bundeskanzler Eugen Gerstenmaier würde der Bundestagspräsident Carlo Schmid in seinem schweren Amte gerne parlamentarisch geleiten.“ ®* Eine Hoffnung, die eher einer Illusion glich. Carlo Schmid mochte sich von ihr nicht lossagen, weil seine außenpolitischen Pläne und Vorstellungen eng an sie geknüpft waren.
Berlin, deutsche Nation und Europa
Es herrschte Ratlosigkeit. Der Westen war, wie Schmid treffend feststellte, in die Lage eines Vaters gekommen, „dessen Kind gekidnapt wurde“‘. Was hatten die USA der Salamitaktik der Sowjetunion entgegenzusetzen? Schmid fürchtete, daß die Sowjetunion die Westmächte beim Erkaufen der Freiheit West-Berlins erpressen werde?. Konnte man der Sowjetunion „etwas anbieten oder nur drohen“? Man mußte auf jeden Fall davon ausgehen, daß die Sowjetunion die Anerkennung der DDR als Preis für die Freiheit Berlins verlangen werde. Die SPD wollte die Antwort der Bundesregierung überlassen, was Schmid in der Öffentlichkeit zur Zurückhaltung zwang. So deutete er nur an, was er dachte. Im September 1961 stellte er vor der Beratenden Versammlung des Europarates fest, daß es wohl nicht zu umgehen sei, „mit dem politischen Gebilde östlich der Elbe und Werra in ein Verkehrsverhältnis“ zu kommen*. Entsprechende Schritte unternahm keiner. So war er schon froh, daß auf der Mitte November in Paris stattfindenden Jahreskonferenz der Nato-Parlamentarier Einmütigkeit darüber herrschte, daß eine endgültige Lösung des Berlin-Problems nur im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung gefunden werden könne. Interimslösungen wurden allerdings nicht ausgeschlossen. Im Dezember konnte er den Präsidenten der Westeuropäischen Union Arthur Conte dafür gewinnen, die Tagung so zu gestalten, daß sie zu einer mächtigen Demonstration der Solidarität der westeuropäischen Staaten mit den Menschen in Berlin und der DDR wurde‘. Eine Resolution wurde verabschiedet, in der die Mitgliedsstaaten der WEU ersucht wurden, einem Friedensvertrag zwischen der Sowjetunion und der DDR die Gültigkeit abzusprechen’. Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR lehnten alle Teilnehmer ab. Schmid kommentierte das Ergebnis der Konferenz mit einiger Genugtuung, obwohl er nicht zu denen gehörte, die an die Macht von Resolutionen glaubten. Immerhin ließ sich auf diese Weise die Weltöffentlichkeit mobilisieren. Willy Brandt plädierte schon seit längerer Zeit dafür, die Deutschlandund Berlin-Frage vor die UNO zu bringen. Carlo Schmid war strikt dagegen, weil das Vorhaben seines Erachtens nur mit einer Niederlage enden konnte. Bei einer Anrufung des Sicherheitsrates sei „das sowjetische Njet sicher und damit die Frage vom Tisch’ der UNO gewischt“®. Brächte man die Verletzung der Menschenrechte in der DDR vor die UNO, bestehe die Gefahr, daß sich in der Hauptversammlung der UNO keine Zweidrittelmehrheit fände, die die Unterdrückung der Menschen- und Grundfreiheiten in der DDR verurteile. Es sei zu befürchten, daß das DDR-Regime eher auf- als abgewertet werde. „Alles was dabei herauskommen könnte, wäre die Aufforderung an die beiden deutschen Staaten (…) diese Dinge doch durch Verhandlungen untereinander zu regeln, und damit wäre die DDR anerkannt.“? Vermutlich mußte man dann sogar eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR in Kauf nehmen. Schmids Einwände überzeugten. Seine Neujahrsbotschaft war wenig ermutigend: „Die Krisen werden also weiter dauern, und damit wird die Ungewißheit, in der wir leben,
Am 9. und ı0. Januar 1962 versammelten sich die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion in Berlin. Vıl.n.r.: Bürgermeister Franz Amrehn, Erich Ollenhauer, der Vizepräsident des Berliner Abgeordnetenhauses Wolfram Müllenburg und Carlo Schmid
und die uns quält, uns weiter quälen.“’° Solange niemand den Mut zu umfassenden Lösungen aufbrachte, mußte man sich mit Notlösungen, Aushilfen und der Demonstration des Verteidigungswillens begnügen. Schmid war froh über jede Initiative. Die von Adenauer beargwöhnten Berlin-Sondierungen der USA im Frühjahr 1962 fanden seine volle Zustimmung. Adenauers Lamento über die von den Amerikanern geplante internationale Zugangsbehörde für den Verkehr von und nach Berlin erschien ihm angesichts des drohenden heißen Krieges unverantwortlich. War es wirklich „ein so großes Zugeständnis, in die Kontrollbehörde auch Vertreter des Zonenregimes aufzunehmen, wenn schon 95 Prozent des Berliner Verkehrs ausschließlich von Behörden der Zone kontrolliert“ wurden?“ Im Mai sprach er sich auch im Europarat für eine internationale Kontrolle des Zugangs von und nach Berlin aus‘?. Er hielt es auch nicht für verwerflich, Ulbrichts Forderung nach einem Warenkredit nachzukommen, wenn dafür den Menschen in der DDR geholfen werden konnte’3. Willy Brandts Bemühen, durch eine Politik der kleinen Schritte die Mauer durchlässiger zu machen, hatte seine volle Unterstützung. Ansonsten übte er wie Brandt vorerst einmal Zurückhaltung und verschonte die Bonner Politik mit offener Kritik’*. Wenn er schon politisch nicht tätig werden konnte, so wollte er doch zumindest der schleichenden Gewöhnung an die deutsche Teilung entgegentreten. Er sah die Gefahr, daß Deutschland nicht nur in zwei Staaten, sondern auch in zwei Nationen auseinandergerissen wurde“. Seit Beginn der 60er Jahre bemühte er sich, in zahlreichen Artikeln, Rundfunkbeiträgen und Vorträgen den Deutschen diesseits und jenseits der Mauer ihre nationale Identität bewußt zu machen. Wieder einmal betätigte er sich als politischer Pädagoge. Seine Mahnreden waren nicht überflüssig, denn bei vielen Jugendlichen war der Begriff der Nation durch den Nationalsozialismus diskreditiert worden, so daß sie aus der „deutschen Haut herausschlüpfen“ wollten’. Die Erkenntnis, daß das Selbstbestimmungsrecht eng mit dem Begriff der Nation zusammenhängt, war geschwunden. Schmid erinnerte wieder daran und erläuterte, warum Europa nicht zur Fluchtburg vor der nationalen Identität werden dürfe: „Den Nationalismus überwindet man nicht, indem man an der Nation vorbeilebt, sondern nur, indem man in sie hineintritt, sie auf sich nimmt und durch sie hindurch zum Menschen wird. Freiheit ist etwas – wenn sie mehr sein soll als ein durch Vernunft gedämpftes Epikureertum, eine weise geübte Libertinage – das sich nur in der Nation verwirklichen kann.“ ‚7 Die Bundesrepublik war – er fühlte sich bemüßigt, dies eigens zu betonen – keine Nation, aber sie würde es vielleicht eines Tages werden, wenn die Deutschen kein nationales Identitätsbewußtsein entwickelten. Er schloß nicht aus, daß die Westdeutschen sich in der Bundesrepublik zufrieden einrichteten‘ ®, In Anlehnung an Ernest Renan definierte er die Nation als „plebiscite de tous les jours“’9. Die gemeinsame Geschichte, die gemeinsame Kultur und der gemeinsame Wille zur politischen Selbstbestimmung machten aus einem Volk eine Nation. Die Haftung für das Böse gehörte für Schmid ebenso zur Nation wie der Stolz auf die kulturellen Leistungen”“. Er machte sich die Maxime der Franzosen zu eigen: „Tout ce qui est national, est nötre.“*‘ Weil der Gedanke der Nation für ihn unzertrennbar mit dem Selbstbestimmungsrecht verknüpft war, postulierte er in seinen Reden an die Nation den Mut zur res publica. Wenn er sein Herz sprechen ließ, dann machte er aus seiner Bewunderung für die deutsche Kulturnation keinen Hehl. Sie konnte zu einem Bindeglied werden, das die Deutschen in Ost und West verband, solange sie in zwei Staaten getrennt leben mußten. Entwickelten sich in Ost- und Westdeutschland unterschiedliche Wertesysteme, dann ließ sich eine nationale Spaltung nicht mehr vermeiden?”,
Er mokierte sich über die Auffassung, daß nationales Prestige abhängig sei vom Besitz von Nuklearwaffen”®. Adenauers Sorge, daß die Bundesrepublik ohne eigene Atomwaffen in den Rang einer zweitklassigen Macht absinken könne, war nicht die seine. Ihn bekümmerte vielmehr die Vernachlässigung der auswärtigen Kulturpolitik, in der er eine der tragenden Säulen der Außenpolitik erblickte. Schon 1954 hatte er den Bundeskanzler gemahnt: „Eines der wichtigsten moralischen und politischen Potentiale Frankreichs besteht darin, daß die Oberschichten so vieler mittelmeerischer und mittel- und südamerikanischer Länder eine französische Erziehung genossen haben und darum die konkreten, mit den Zeiten wechselnden Probleme ihres eigenen und fremder Länder mit französischen Denk- und Vorstellungsformen zu erfassen bemüht sind. (…) Mir scheint, daß noch zu wenig Deutschen bewußt geworden ist, daß auch für die politische Geltung und den Rang unseres Vaterlandes im Verein der Nationen das Bild, unter dem es als moralische und geistige Persönlichkeit sichtbar und fruchtbar wird, mehr bedeuten kann als defaitistische Bescheidenheit, die glaubt – nach Stalingrad und nicht nach Auschwitz – in Sack und Asche gehen zu müssen oder gar als die Schlauheit und Herzlosigkeit, als die so viele bei uns die Politik mißverstehen.“ * Die Kultur war für Schmid noch immer ein wichtiger Gradmesser für den Rang einer Nation. Er überschätzte ihre Bedeutung, während Adenauer sie unterschätzte. Der Kanzler legte den Brief beiseite, vielleicht auch, weil er sich durch den letzten Satz getroffen fühlte. Zu Beginn der 60er Jahre startete Schmid abermals eine Offensive für die auswärtige Kulturpolitik, die ein Stiefkind des Auswärtigen Amtes war. Bedenken, daß die Kulturpolitik in die Kompetenz der Länder falle, trat er mit der Feststellung entgegen, daß auswärtige Kulturpolitik Außenpolitik sei”. Im Bundestagsausschuß für Kulturpolitik, wo er ansonsten nie erschien, versuchte er die Ausarbeitung eines Konzeptes für die auswärtige Kulturpolitik voranzutreiben”‘. Talleyrand hatte seinen Diplomaten die Weisung auf den Weg gegeben: „Faites aimer la France.“ ”” Konnte man auf eine solche Maxime nicht auch die deutsche auswärtige Kulturpolitik aufbauen? Er selbst dachte an die großen Leistungen der Deutschen’auf dem Gebiet der Philosophie, der Philologie, der Kunst und vor allem der Dichtung. Hölderlin und Brecht nannte er an erster Stelle. Brecht war damals noch ein Verpönter. Auch Schmid glaubte einen Trennungsstrich zwischen dem großen Dichter und dem Kommunisten Brecht ziehen zu müssen, wobei er jedoch hinzufügte: „Ich möchte sagen, auch in diesen Dingen gibt es weder ein ideologisch gespaltenes noch ein politisch gespaltenes Deutschland, sondern da gibt es eben Deutschland.“ **? Kritiker meinten, daß Schmids Kulturkonzept zu sehr an der Vorstellungswelt des Bildungsbürgertums orientiert sei, und hatten damit nicht ganz unrecht?. An anderer Stelle hatte er selbst eingeräumt, daß in Entwicklungsländern Ausbildungshilfen die wichtigste Form auswärtiger Kulturpolitik seien. Und schließlich zählte er auch den sozialen Wohnungsbau zu den nationalen Prestigeobjekten?”. Schmids Bekenntnis zur deutschen Nation stand nicht im Widerspruch zu seinem Bekenntnis zu einem vereinten Europa, das, wie er zu Beginn der soer Jahre schmerzlich erfahren mußte, nur in Etappen und auf Umwegen zu erreichen war. Seit 1950 war er Mitglied des Europarates, seit 1956 Vizepräsident der Westeuropäischen Union. Der Europarat war schon seit längerer Zeit kaum mehr als eine unverbindliche Demonstration des europäischen Einigungswillens. Nur noch wenige Spitzenpolitiker ließen sich in den Europarat delegieren. Auch Carlo Schmid hatte zu Beginn der 4. Legislaturperiode erwogen, aus dem Straßburger Parlament auszuscheiden. Er war enttäuscht über die Arbeit der Beratenden Versammlung, in der sich die Diskussion oft hinzog „wie der zäheste Kaugummi“ 3 ‚, Seine Kommentare über die Europaratssitzungen klangen oft bissig. Über die Herbstsitzung 1962 berichtete er nach Bonn: „Man hört zu, ohne zu vernehmen, was über die Mikrophone auf die Bankreihen niederweht und geht aus dem Saal mit leeren Taschen. Hier bekommt keiner mehr, als er schon hat. Trotzdem hat es seinen Nutzen hier zu sein: am weißen Tisch läßt sich einiges schaffen, das am grünen nicht gelingen will. So weit so gut – aber für jene, die an diesem weißen Tisch sitzen, ist diese Weise mörderisch. Ich nehme mich darum sehr zusammen, aber in dieser Woche wird kein Tag sein, an dem ich nicht zweimal ‚offiziell‘ essen muß.“ * Er nahm dennoch an allen Sitzungen der Beratenden Versammlung teil. Das Auftreten der Deutschen in Straßburg trug einiges zur „Rehabilitierung des deutschen Volkes“ und zum Verständnis der deutschen Probleme bei. Und gar so mörderisch war das Leben in Straßburg nun auch wieder nicht. Manchmal hielt Schmid in seinem kleinen, direkt neben dem Europaratsgebäude liegenden Appartment „Hof“ und erfreute seine Besucher mit politischen Sarkasmen und seinen nicht immer ganz wahren Geschichten. Der charmante Causeur wurde bewundert3#, aber seine Glaubwürdigkeit als Politiker litt unter solchen Selbstinszenierungen. Seit Beginn der 60er Jahre war die europäische Integration in eine schwere Krise geraten. Der britische Premierminister Macmillan drohte 1960 mit einer Allianz gegen die Bundesrepublik und Frankreich, falls die beiden Staaten die europäische Integration weiter ausbauten’, Die Briten waren ohne das Einverständnis der übrigen EFTA-Staaten Dänemark, Schweden, Norwegen, Schweiz, Österreich und Irland nicht bereit, der EWG beizutreten. Fortschritte in der europäischen Integration waren nur zu erreichen, wenn der Brückenschlag zwischen EWG- und EFTAStaaten gelang. Carlo Schmid machte, wo immer er konnte, Propaganda für die Aufnahme Großbritanniens in die EWG: „Großbritannien muß _
sich neben die Sechs stellen. Denn ohne Großbritannien fehlt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft das innere und äußere Gleichgewicht.“ 3° Die EWG dürfe nicht zu einer „Art Condominium der großen kontinentaleuropäischen Industriestaaten“ werden. Im Europarat trat er zudem für den Anschluß der neutralen Staaten an den gemeinsamen Markt ein. Seines Erachtens war es keineswegs notwendig, daß diese Staaten auch die politischen Verpflichtungen der EWG-Staaten übernahmen?”. Seine Stellungnahme zum britischen EWG-Beitritt wurde von allen Sozialdemokraten und den meisten Christdemokraten geteilt, die den Flirt ihres Parteichefs mit de Gaulle mit Argwohn betrachteten. Mit großem Zeremoniell war Adenauer im Sommer 1962 von de Gaulle empfangen worden. Für de Gaulles Zweibundpläne war der deutsche Bundeskanzler der kongeniale Partner. Der Gegenbesuch des französischen Staatschefs in Bonn Anfang September wurde mit großer Spannung erwartet. Auch Carlo Schmid fand panegyrische Worte für den eintreffenden französischen Staatsgast: „Deutschland grüßt in Verehrung den großen Mann Frankreichs, der sich und eine schwere geschichtliche Vergangenheit überwunden hat, um einer ganz und gar neuen Idee und Zukunft den Weg freizumachen.“ 3° Der General hatte kurz vor seinem Besuch von dem „Wunder der deutsch-französischen Freundschaft“ gesprochen. Schmid bewunderte den französischen Staatschef, der unangefochten von aller Kritik seinen politischen Weg ging. „Man kann nichts Großes zuwege bringen ohne große Männer, und diese sind groß, weil sie groß sein wollten“, hatte de Gaulle in seinem 1932 veröffentlichten Essay „Die Schneide des Schwertes“ geschrieben, den Schmid noch kurz vor seinem Tod übersetzte3?. Die großen Tatmenschen faszinierten ihn, der so oft zum Zuschauen verurteilt war, noch immer. De Gaulle zählte er zu den so Großen des Jahrhunderts, Kennedy nicht**. “Seine Bewunderung für de Gaulle machte ihn nicht blind für dessen politische Fehler. De Gaulles Zweibundpläne lehnte er ab. Einen Artikel über de Gaulles Staatsbesuch schloß er mit den Worten: „Es wird Takt und mühevolle diplomatische Verhandlungen kosten, um die Kräfte und Gegerfkräfte, die durch diese deutsche-französische Begegnung mobilisiert wurden, so zusammenzuführen, daß sie uns einer stabilen politischen Ordnung in Europa näherbringen.“*‘ Die angelsächsische und skandinavische Welt durfte aus Europa nicht ausgeklammert werden*?. Es sei nicht – zu erwarten, daß selbstbewußte Staaten sich in einen Zweibund „eingemeinden lassen“*3. Freilich, die Wogen der Begeisterung, die de Gaulles Staatsbesuch begleiteten, rissen ihn wider Willen doch ein stückweit mit. Der französische Staatschef hatte die Deutschen ein „großes Volk“ genannt. Schmid konnte seine Rührung nicht verbergen**. Er liebte sein Vaterland und vermochte deshalb in de Gaulles Vision eines Europa der Vaterländer auch keinen Anschlag auf ein vereintes Europa zu sehen. Er versicherte, daß auch die Befürworter der europäischen Integration nicht daran dachten, „die Vaterländer auszuradieren“ #. In der SPD-Führungsspitze war nur Brandt einer Meinung mit Schmid. Für die meisten Sozialdemokraten war de Gaulle ein finsterer Reaktionär, der Frankreich zur „innenpolitischen Wüste“ gemacht hatte*°. Brandt und Schmid versuchten die Parteifreunde zu belehren, daß de Gaulle sich nicht in das Links-Rechts-Schema einordnen ließ. Als Erbe des klassischen Jahrhunderts Frankreichs treibe de Gaulle die Modernisierung seines Landes auf seine Weise voran*”. Als de Gaulle sich am 14. Januar 1963 gegen den Beitritt Großbritanniens zum gemeinsamen Markt aussprach, war auch Schmid empört. Zwei Tage später nutzte er die Tribüne des Europarates, um gegen de Gaulles Haltung mit scharfen Worten zu protestieren*°. In Bonn teilte die SPD-Fraktion Erlers Kritik an der „nationalen Eigenbrötelei“ des französischen Staatschefs®. Am ı8. Januar ersuchte sie Adenauer, seinen für 21. Januar geplanten Besuch beim französischen Staatspräsidenten zu verschieben. Der Abschluß eines Regierungsabkommens über die deutschfranzösische Freundschaft mußte unter den gegebenen Umständen als ein Bekenntnis zur Politik de Gaulles mißverstanden werden. Der Kanzler war nicht gewillt, durch eine Verschiebung des Reisetermins, de Gaulle zu brüskieren. Während der Kanzler sich auf den Weg nach Paris machte, mahnte Schmid: „Gegen die isolationistische Europapolitik des Generals müssen wir eine universalistische Europapolitik setzen.“ Das Frankreich de Gaulles werde die „Isolierung“, in die es durch seine politische Haltung gerate, „nicht lange aushalten können“5° , Aus dem beabsichtigten Regierungsabkommen wurde über Nacht ein Vertrag. Nicht einmal Vertragspapier hatten die deutschen Unterhändler mit nach Paris gebracht. Die deutsche Fassung des deutsch-französischen Vertrags wurde auf französische Doppelbögen getippt. Der Vertragstext klang harmlos. Die Förderung des deutsch-französischen Kultur- und Jugendaustausches und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik waren die Kernpunkte des Vertrags. Die Tinte war noch nicht trocken, da brach schon ein Sturm der Entrüstung über die Vertragsunterzeichner los. In den USA wurde der Vertrag einhellig abgelehnt. Vizeaußenminister Ball vermutete in dem Vertrag sogar eine Verschwörung gegen die USA. Adenauers langjähriger Adlatus Blankenhorn, der als deutscher Botschafter in Paris der Vertragsunterzeichnung beigewohnt hatte, fällte ein vernichtendes Urteil über die außenpolitische Kompetenz des greisen Kanzlers: „Die spätere Geschichtsschreibung wird diesen Teil der deutschen Außenpolitik (…) als die mangelhafte Leistung eines Mannes bewerten, der aufgrund seines Alters einfach nicht mehr in der Lage ist, eine komplexe, nuanciert richtige Lage der Bundesrepublik in außen
politischen Fällen zu übersehen, um daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen.“ 5′ Kurz nach der Vertragsunterzeichnung suchte Carlo Schmid Blankenhorn in Paris auf. Er hatte den Kontakt zu Blankenhorn nicht abreißen lassen. Wenn er nach Paris kam, suchte er hin und wieder den ehemaligen Berater Adenauers auf, um ihm die Hand zu drücken und sich über die neuesten Entwicklungen in Frankreich zu informieren. Jetzt traf er einen Botschafter, der seiner Entrüstung freien Lauf ließ: „Adenauer habe keinen Versuch gemacht, auf de Gaulle einzuwirken mit dem Ziel, seine Haltung zu ändern.“ Schmid entnahm dem Gespräch mit Blankenhorn, „daß hinter dem Vertrag mehr stecke als scheine. Man sollte die Ratifizierung solange hinauszögern, bis Adenauer nicht mehr im Amte sei.“ ? Über die politischen Absichten de Gaulles waren sich Blankenhorn und Carlo Schmid weitgehend einig. Schmid vermutete, wie er einem Bekannten am s. März schrieb, daß de Gaulle in die Fußstapfen Napoleons treten wolle: „Was er will, ist in Westeuropa eine de Gaullesche Hegemonie napoleonischer Prägung mit katholischem Untersatz. (Darum ist auch Herr von Guttenberg so sehr dafür.) Er hat dafür zwei Instrumente: Das eine ist der Rheinbund neuer Prägung (…) und die Kontinentalsperre, denn etwas anderes ist der Ausschluß Großbritanniens aus der EWG nicht. Gleichzeitig bemüht er sich darum, das Mittelmeer zu einem ‚mare nostrum‘ zu machen, deswegen die Verhandlungen mit Spanien und morgen sein Besuch in Griechenland. Ich weiß aus sicherer Quelle, daß er sich sehr intensiv um Belgrad bemüht. Hat er das erreicht, wird er den Russen sagen: Ich habe die Amis aus Europa und dem Mittelmeer hinausgeekelt. Das könnt ihr mir honorieren. Schließen wir einen Pakt über die Verteilung der Landmasse zwischen Bordeaux und Wladiwostok. Ich begnüge mich mit dem Teil, der an der Elbe endet.“ °? Im Gegensatz zu Adenauer glaubte Schmid nicht, daß durch den Vertrag der „cauchemar des coalitions“ gebannt sei. Das Gegenteil hielt er für wahrscheinlicher. Er hatte große Hoffnungen auf de Gaulle gesetzt und war nun bitter enttäuscht über die sture antibritische und antiamerikanische Haltung des französischen Staatspräsidenten. Nichts hatte er sich sehnlicher gewünscht als die Besiegelung der deutsch-französischen Freundschaft, aber der Ausschluß Großbritanniens aus der EWG und der mögliche Abzug der USA aus Europa war ein zu hoher Preis dafür. Ein Vierteljahr vor Abschluß des Vertrags hatte er den Delegierten des Europarates versichert, „daß sich im deutschen Parlament keine Mehrheit für irgendeine vertragliche Regelung finden wird, deren Wirkung sein müßte, Großbritannien aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auszuschließen oder fernzuhalten“ 5*. Jetzt rief er die Abgeordneten des Bundestages auf, sich der Politik Adenauers entgegenzustellen. De Gaulle werde es sich überlegen, ob er seine Politik auf einen greisen Kanzler stellen wolle,
dessen Amtszeit demnächst auslaufe°. „Man müßte eine Methode finden, die es General de Gaulle erlaubt, wieder zur Vernunft zu kommen, ohne das Gesicht zu verlieren.“ Unter dieser Überschrift erschien am 2. Februar in der französischen Tageszeitung „Le Monde“ ein Artikel aus der Feder Schmids, der den französischen Staatschef provozieren mußte, ihn aber auch bedenklich stimmen sollteS°. Er mußte zur Kenntnis nehmen, daß Adenauer nicht einmal in seiner eigenen Partei eine Mehrheit für den Vertrag finden werde. Schmid hätte es eigentlich wissen müssen. Große Männer, die Geschichte machen wollen, lassen sich schwerlich zur Räson bringen. De Gaulle ging unbeirrbar seinen Weg. Eine Ablehnung des Vertrags wäre ein Anschlag auf die deutsch-französische Freundschaft gewesen, für die sich Carlo Schmid seit 1945 unermüdlich eingesetzt hatte. Es durfte seines Erachtens nicht die Alternative europäische Integration oder deutsch-französischer Vertrag aufgebaut werden. Ein Sowohl-als-auch mußte gefunden werden”. Zu dieser Erkenntnis hatte man sich mittlerweile auch in der SPD durchgerungen, nachdem der allgemeine Tenor nach der Vertragsunterzeichnung cher ablehnend gewesen war. Erler und Wehner, die beide als Anti-Gaullisten bekannt waren, plädierten dafür durch eine Art Zusatzprotokoll oder durch einen Zusatzvertrag zum Ausdruck zu bringen, daß der Vertrag nicht im Widerspruch zu den internationalen Verpflichtungen der Bundesrepublik und der Partnerschaft mit den USA stehe®. Carlo Schmid gab zu bedenken, daß in dem Vertrag selbst nichts stand, was andere Verträge verletzte?. Er schlug vor, dem Vertrag eine Präambel voranzustellen, die einen Vorbehalt zugunsten der europäischen Integration und der atlantischen Allianz enthalten sollte”. Auf einen Zusatzvertrag hätte sich de Gaulle kaum eingelassen. Schmid hatte einige Mühe, die Parteifreunde von der innerstaatlichen und völkerrechtlichen Bedeutung und Wirkung einer Präambel zu überzeugen“. Die Rechtsverbindlichkeit einer Präambel wurde in Zweifel gezogen. Um die Skeptiker zu beruhigen, regte er an, außer der Präambel einen Schlußartikel in das Ratifikationsgesetz einzufügen, durch den das gesamte Gesetz, einschließlich der Präambel, als staatsrechtlich verbindlich erklärt werden sollte?. Die CDU/CSU-Fraktion widersetzte sich in den Ausschußberatungen der Einfügung eines Schlußartikels, der Präambellösung stimmte sie zu. Adenauer blieb, wenn er den Vertrag nicht scheitern lassen wollte, nichts anderes übrig, als die Präambel zu akzeptieren. Er hatte nicht nur die Opposition, sondern fast das ganze Parlament gegen sich. Am 16. Mai, dem Tag der Ratifizierung des deutsch-französischen Vertrags, unterstrich Schmid im Bundestag noch einmal ausdrücklich, „daß der Vertrag einer jeden deutschen Bundesregierung nur als Instrument einer positiven europäischen Integrationspolitik und atlantischen Verteidigungspolitik dienen“ könne. Er fügte hinzu, daß das zukünftige Europa kein „Europa der Regierungen“ sein dürfe, sondern ein „Europa der Völker“ werden müsse. Die Bemerkung richtete sich gleichermaßen gegen Adenauer und de Gaulle und enthielt doch zugleich ein implizites Bekenntnis zu einem Europa der Vaterländer. Denn was ist ein Europa der Völker anderes als ein Europa der Vaterländer? De Gaulle fühlte sich durch die Einfügung der Präambel zutiefst gekränkt. „Je suis rest& vierge“, soll er Adenauer geklagt haben“*. Der Bundesrepublik fiel eine undankbare Aufgabe zu. Anfang Juli konstatierte Schmid in der Münchener „Abendzeitung“, daß die Bundesrepublik dastehe „wie zwischen zwei Bakken einer Zange“. Sie sei auf Gedeih und Verderb gezwungen, zwischen Kennedy und de Gaulle den Mittler zu spielen°s. Dennoch äußerte er die Hoffnung, daß der Vertrag bei richtiger Anwendung den europäischen Integrationsprozeß vorantreiben werde‘. Er war nicht wie die Mehrzahl seiner Parteifreunde einseitig fixiert auf die Partnerschaft mit den USA. Er bejahte die Sicherheitspartnerschaft mit den USA aus Vernunft, im Herzen trug er aber immer noch die Vision eines Europa als dritter Kraft. Wenn er von Europa sprach, meinte .er nicht ein Europa, das an der Elbe aufhört. Im Europarat hatte er sich auch deshalb für die Aufnahme der neutralen Staaten in den gemeinsamen Markt ausgesprochen, weil dadurch ein „Fenster nach dem Osten“ geöffnet wurde. „(D)urch dieses Fenster könnten wir vielleicht mit Staaten und Völkern des Ostblocks korrespondieren, die auch zu Europa gehören — was wir nicht vergessen wollen — und die wir Europa nicht weiter entfremden sollten, als sie von der anderen Seite her schon entfremdet sind.“ 7 Die von der SPD propagierte Außenpolitik der Gemeinsamkeit hielt ihn nicht davon ab, sich für eine aktive Osteuropapolitik und ein europäisches System kollektiver Sicherheit einzusetzen°®. Letzteres freilich war eine Zukunftsvision, die, wenn überhaupt, nur in einem langwierigen Prozeß zu verwirklichen war. Der Meinung war er schon in den fünfziger Jahren gewesen, er vertrat sie auch jetzt noch. Dennoch wollte er einiges tun, um dieser Vision, die er ungeachtet der außenpolitischen Wende, die die SPD 1960 vollzogen hatte, noch immer für richtig hielt, näherzukommen. Als:.der Direktor des Instituts für internationale Politik und Wirtschaft in Belgrad Janez Stanovnik ihn im Januar 1962 zu einem Vortrag über „Die Integration Westeuropas und die Stellungnahme der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ nach Jugoslawien einlud, zögerte er keinen Moment, die Einladung anzunehmen. Bereits 1958 hatte er eine Einladung erhalten, sie aber aus terminlichen Gründen nicht wahrnehmen können. In seinem Antwortbrief bat er Stanovnik, ihm die Möglichkeit zu Gesprächen zu geben, die der „so notwendigen Besserung“ der Beziehungen zwischen beiden Staaten dienen könnten‘®. Noch immer drängte es ihn, selbst außenpolitisch tätig zu werden.
Als er am ı2. März in Belgrad landete, empfing ihn außer viel Schnee und Wind George F.Kennan, der seit 1961 Botschafter in Jugoslawien war. Allein schon die Möglichkeit sich mit Kennan, dessen politische Phantasie und luzide Analysen über die Entwicklung in der Sowjetunion und Osteuropa er so schätzte, wieder einmal ausgiebig unterhalten zu können, lohnte für ihn die Reise. Mit seinem amerikanischen Freund, der unter der Ost-West-Spaltung genauso litt wie er selbst, war er sich einig, daß alles getan werden müsse, um die europäische Teilung zu überwinden. Kennan bestärkte ihn in der Ansicht, „daß die diplomatische Präsenz der Bundesrepublik in Belgrad ihr allgemein mehr Nutzen bringen werde als sie ihrer Deutschlandpolitik schaden könnte“ 7°. Er brauchte Schmid gar nicht erst zu bitten, dies den Verfechtern der Hallstein-Doktrin mitzuteilen. Dies tat er schon von sich aus. Seine Entrüstung über den Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Jugoslawien hatte sich noch nicht gelegt. Auch der jugoslawische Parlamentspräsident Peter Stambolic und der frühere jugoslawische Botschafter in Bonn Mladen Ivekovic bedauerten die Abwesenheit eines deutschen Botschafters in Belgrad”‘. Die Haltung gegenüber der DDR war kritisch. Wenn auch die Zweistaatentheorie vorbehaltlos bejaht wurde, so wurde die Mauer mitten durch Berlin doch als Diskreditierung des Sozialismus empfunden’”. Die Zollmauern des gemeinsamen Marktes zwangen die Jugoslawen näher an Moskau heranzurücken, da das blockfreie Jugoslawien ansonsten wirtschaftlich isoliert zu werden drohte’?. Einer Assoziierung an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft stand man in Jugoslawien skeptisch gegenüber. Die Belgrader Regierung sah keine Möglichkeit, sich mit dem gemeinsamen Markt „zu arrangieren“, ohne in politische Abhängigkeit von den EWG-Staaten zu geraten”*. Da keine offiziellen Verbindungen zwischen Belgrad und Bonn bestanden, versuchten die Jugoslawen über Carlo Schmid mit der Bundesregietung ins Gespräch zu kommen. Er sollte der Bundesregierung den Wunsch nach einem neuen Handelsvertrag zwischen der Bundesrepublik und Jugoslawien übermitteln. Schmid setzte sich sofort nach seiner Rückkehr am 16. März beim Außenminister mit Nachdruck für die Aufnahme von Handelsvertragsvereinbarungen ein. Er äußerte die Überzeugung, daß es gut wäre, wenn die Bundesrepublik „möglichst viele persönliche Kontakte“ mit Jugoslawien aufnehmen könnte”. Da er mit einer sofortigen Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Jugoslawien nicht rechnete, drückte er sich vorsichtig aus, um nicht ein vorschnelles Nein zu provozieren. Er begnügte sich mit dem Hinweis, daß Kennan bei der Vertretung der Interessen des Westens ein deutscher Botschafter fehle”°. Der Außenminister legte Carlo Schmids Schreiben zu den Akten, die SPD-Fraktion ging über seinen Bericht zur Tagesordnung über. Viele seiner Initiativen versandeten aus Desinteresse oder, weil sie weder der Bundesregierung noch der eigenen Partei in das politische Konzept paßten. Er schwamm gegen den Strom der offiziellen Politik. Über die jugoslawische Wirtschafts- und Staatsordnung berichtete er mit großer Sympathie, ja fast mit Begeisterung. Der jugoslawische Kommunismus sei kein Kommunismus „russischer Prägung“, sondern ein Kommunismus, der „eher anarchistische Züge“ trage”. Wenn man Schmid über die Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien erzählen hörte, merkte man, wie stark er in der geistigen Tradition Proudhons verwurzelt war. In seinen Augen war das Experiment der Arbeiterselbstverwaltung ein erster Schritt zur Aufhebung der menschlichen Selbstentfremdung. Er war erstaunt über die ausgeprägt föderalistischen Elemente der neuen Verfassung, die dort ausgearbeitet wurde. Nach ihrem Inkrafttreten sollte sich der Staat „im wesentlichen auf die Außen- und Militärpolitik beschränken und den allgemeinen Rahmen der Wirtschaftspolitik abstekken“ ”®, Alle anderen Aufgaben überließ der Verfassungsentwurf kleineren Einheiten. Bei aller Begeisterung sah Schmid auch die Schattenseiten und Ungereimtheiten: Die föderal-demokratische Staatsverfassung stand im Gegensatz zu der mächtigen Parteihierarchie, die als Bindeglied fungierte, um die einzelnen Staatsteile zusammenzuhalten”?. Dennoch hielt er Titos Leistung für beachtlich. 1973 schlug er ihn für den Friedensnobelpreis vor®“, Seine Hoffnung, über Jugoslawien eine Tür nach Osten aufzustoßen, war erst einmal dahin. Es schmerzte ihn, zu außenpolitischer Passivität verurteilt zu sein. Im Grunde war er in der letzten Zeit mehr Journalist als Politiker, mehr Beobachter als Akteur. Auf die allgemeine Marschroute der Partei konnte er kaum Einfluß nehmen. Nichtsdestotrotz widersetzte er sich gelegentlich der Parteilinie und versuchte einen außenpolitischen Kurswechsel in Gang zu bringen. Am 9. Februar 1962 rang er in der Sendung „Bayern fragt Bonn“ noch um Worte, als er seine Bedenken gegen die Hallstein-Doktrin zum Ausdruck brachte: „Man soll sie nicht einfach lächerlich machen, diese Doktrin. Da steckt schon ein Gedanke drin, ein politischer Gedanke. Die Frageist, ob er nicht in der Zwischenzeit überholt worden ist durch die Ereignisse.“°‘ Um nicht Ärger mit der eigenen Partei heraufzubeschwören, drückte er sich vorsichtig aus. In Wirklichkeit bekämpfte er die Hallstein- Doktrin, seit es sie gab. Er hielt das bisherige deutschlandpolitische Instrumentarium nur mehr für einen „Fetisch“, um den man dauernd herumlaufe®?. Das galt für die Hallstein-Doktrin ebenso wie für die Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Linie. Es ärgerte ihn, daß das Memorandum der Acht vom 24. Februar 1962, in dem namhafte Persönlichkeiten des protestantischen Bildungsbürgertums die Normalisierung der Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten
und einen Verzicht auf die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie gefordert hatten, auch von seiner Partei mit einigen freundlichen Worten beiseite gelegt wurde’. Wehner hatte in einer Besprechung mit einigen Verfassern des Memorandums deutsche Vorleistungen in der Grenzfrage schroff abgelehnt°*. Der stellvertretende Parteivorsitzende gab die Maxime aus, daß der Schwarze Peter der Verzichtspolitik in den Karten der anderen gefunden werden müsse. Nur keine Angriffsflächen bieten! Schmid konnte sich nicht damit abfinden, daß die politischen Inhalte der parteipolitischen Taktik geopfert wurden. Trotz Wehners Verdikt brachte er sein Konzept einer Europäisierung der deutschen Frage wieder in die Diskussion. In einem Interview mit Gerold Benz im Süddeutschen Rundfunk Anfang 1963 erklärte er ohne Umschweife: „Ich bin immer der Meinung gewesen, daß es einst schade war, daß man nicht im ersten möglichen Zeitpunkt mit allen unseren Nachbarn dauernde diplomatische Beziehungen eingeführt hat.“®S Es sei ein Fehler, „Pankow“ die Berichterstattung über Deutschland bei den osteuropäischen Staaten zu überlassen. Damit habe die Bundesrepublik sich in vielerlei Hinsicht selbst geschadet°“. Außenminister Schröders Politik der Öffnung gegenüber dem Osten, deren erstes Ergebnis im März 1963 ein Handelsabkommen mit Polen war, begrüfste Schmid. Das Tempo der Schröderschen Ostpolitik war ihm aber zu langsam, die Initiativen zu zaghaft. Die Opposition sei der „andere Beweger der Politik“ hatte er in seiner ersten Bundestagsrede im September 1949 erklärt. Als er am 8. Mai 1963 wieder einmal auf der Rednertribüne im Plenarsaal des Deutschen Bundestages stand, nahm er dieses Wort ernst. Seit längerer Zeit hatte die SPD-Fraktion ihn nicht mehr als Redner in außenpolitischen Debatten nominiert. Jetzt sollte er ein kurzes Statement zum Haushalt des Außenministers abgeben. In den soer Jahren gehörte die Debatte über den Etat des Auswärtigen Amtes zu den Höhepunkten der Plenarsitzungen des Bundestages. Seit Beginn der 6oer Jahre seien in der Aussprache über den Haushalt des Außenministers „Überraschungen nicht zu erwarten, auch keine großen Spannungen“ ?7. Mit solchen allgemeinen Betrachtungen leitete Schmid seine Ausführungen ein. Jeder rechnete mit den üblichen Allgemeinplätzen. Auf Widerspruch stieß dann aber schon seine Erklärung, daß eine Wiedervereinigungspolitik „im alten Sinn des Wortes nicht mehr akut“ sei, da die Wiedervereinigung nur als „Teilstück eines großen, weltgeschichtlichen Ordnungsunternehmens“ erfolgen könne°®, Dabei hatte er die Wiedervereinigung keineswegs abgeschrieben, auch nicht einer Politik des Status quo das Wort geredet, sondern sich ausdrücklich zu einer Politik der kleinen Schritte bekannt: „Ich glaube nicht, daß die Mauer einstürzen wird, als hätten die Trompeten von Jericho geblasen. Es gilt aber auch an das Wort vom steten Tropfen zu erinnern, der den Stein zu höhlen vermag.“ „® Lebhafte Oho-Rufe bei der CDU/CSU-Fraktion lösten seine
Ausführungen über die Hallstein-Doktrin aus: „Meine Freunde sind der Meinung, man könnte die Ostpolitik dadurch in Bewegung setzen, daß man normale diplomatische Beziehungen mit den Ostblockstaaten – außer natürlich mit Pankow – einleitet. Gewiß, wir haben die Hallstein- Doktrin. Ich bin überzeugt, daß sie am Anfang ihren Nutzen gehabt hat. Die Frage ist, ob sie diesen Nutzen heute noch hat, ob sie nicht heute mehr Schaden stiftet als Nutzen, ob sie heute sehr viel mehr ist als eine Fessel. Ich glaube, daß das so ist, und ich meine, daß wir resolut über diese Schatten springen und den Versuch machen sollten, über Handelsmissionen, wie wir sie jetzt mit Polen haben, allmählich zu normalen Beziehungen mit den Ostblockstaaten zu kommen, die mit uns welche unterhalten wollen.“ ®° „Proteststürme gegen Schmid-Rede“, meldete einen Tag später dpa?“. Der Vorsitzende des außenpolitischen Arbeitskreises der CDU/CSU-Fraktion Ernst Majonica warf Schmid vor, die neutralen Staaten geradezu eingeladen zu haben, Pankow anzuerkennen. Man müsse sich fragen, „ob die sozialdemokratische Partei jetzt einen radikalen Kurswechsel vorgenommen hat und von der durch Herbert Wehner am 30. Juni 1960 proklamierten Gemeinsamkeit abrücken“ wolle?”. Hermann Bortfeld, Redakteur der Bonner depesche und Mitarbeiter im SPD-Parteivorstand, vermerkte, daß sich die CDU seit 1960 erstmals wieder im „ideologischen Gegenangriff“ befinde”. Schmid war ein Provokateur, der zur Auseinandersetzung aufrief, ohne die Politik steril werden mufstte. Man kann sich den Zornesausbruch Wehners, den Schmid über sich ergehen lassen mußte, gut vorstellen, auch wenn es keine Dokumente darüber gibt. Am nächsten Tag erschien eine Pressemitteilung der SPD-Bundestagsfraktion, in der ausdrücklich unterstrichen wurde, daß die SPD-Fraktion am einstimmigen Beschluß des Bundestages vom 14. Juni 1961 festhalte, in dem die Bundesregierung aufgefordert worden war, „ohne Preisgabe lebenswichtiger deutscher Interessen“ sich für die Normalisierung der Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten einzusetzen?*. Gemeint war der sogenannte Jaksch-Bericht, der im Grunde ein dilatorischer Formelkompromiß war. Die Parteispitze distanzierte sich von Schmid, ohne seinen Nämen zu nennen, und legte den Mantel des Schweigens über die ganze Sache. Weder der Parteivorstand noch die Fraktion kam darauf zurück. Das war die beste Methode, um Schmids Vorstoß abzufangen. Sein Rückhalt in der Partei und Fraktion war zu gering, um einen außenpolitischen Kurswechsel einzuleiten. Die Presse stand vielfach auf seiner Seite. Aber ihm wäre es nie in den Sinn gekommen, die Presse gegen die eigene Partei zu mobilisieren. So konnte er auch hier nur hoffen, daß steter Tropfen mit der Zeit den Stein zu höhlen vermochte. Das ständige Bohren war mühselig und deprimierend, zumal Schmid Niederlagen schlechter verdaute, als er zugab.
So sehr er unter Niederlagen litt, so sehr konnte er sich über politische Erfolge und die Anerkennung, die er auf internationaler Ebene fand, freuen. Er brauchte sie, damit die Selbstzweifel nicht Überhand nahmen. Freude und Stolz empfand er, als er am 4. Juni 1963 zum Präsidenten der Westeuropäischen Union gewählt wurde. Die Einstimmigkeit, mit der man ihm das Präsidentenamt anvertraut hatte, war keine bloße Formsache. Sie zeugte von der großen Beliebtheit, die er im Ausland genoß. In seiner Antrittsrede forderte er mehr Wagemut’. Er selbst wollte „Hebammendienste“ leisten, um Großbritannien auch gegen den Widerstand de Gaulles an das Europa der Sechs heranzuführen?. Jedenfalls war er nicht gewillt, sich damit zu begnügen, „bei Sitzungen Wortmeldungen entgegenzunehmen und das Wort zu erteilen“?’. Aus der Westeuropäischen Union sollte eine „Tribüne für Europa“ werden, so daf niemand mehr an deren raison d’etre zweifeln konnte®®. An guten Vorsätzen fehlte es ihm nicht. Die außenpolitische Situation freilich war am Ende der Ära Adenauer total verfahren. Der Lotse ging von Bord, als die Lösung der außenpolitischen Probleme im Westen wie im Osten so schwierig war wie die Quadratur des Kreises. Schmid mochte hoffen, daß Adenauers Nachfolger den Mut aufbrachte, überständige Positionen aufzugeben. Seine Offensive im Mai war weniger ein Angriff auf Adenauer als eine Mahnung an dessen Nachfolger gewesen. Im Frühjahr hatten die Christdemokraten Adenauers Sturz beschlossen, im Herbst sollte er erfolgen. In der Zwischenzeit versuchte Carlo Schmid im Cure di Ghiffa am Lago Maggiore neue Kräfte zu sammeln. Er hatte die Kur bitter nötig, denn sein Blutdruck war noch immer zu hoch, und er fühlte sich oft ausgelaugt und müde. Zudem hatten die Ärzte ihm wieder einmal eine Abmagerungskur verordnet. Selbst in dem noblen Cure di Ghiffa war die Kur kein Ferienspaß. Er hatte sich mit dem „Schatten eines Mittagessens“ zufrieden zu geben, mußte schon am frühen Morgen Tischtennis spielen und außerdem allerlei medizinische Applikationen über sich ergehen lassen. Obendrein fragte ihn ein bohrender Reporter, ob er seine Tätigkeit in der SPD nicht zu seinen bleibenden Leistungen rechne. Er suchte nach einer Antwort, die aber wie eine Ausflucht klang: „Gewiß, nur möchte ich gerade auf diesem Gebiet alles vermeiden, das wie Ruhmrederei aussieht.“ War es nicht vor allem sein Verdienst, daß die SPD zur Volkspartei geworden war, daß sie zu realistischen außenpolitischen Positionen gefunden hatte? Ja, aber die großen Wegmarken hatten andere gesetzt und nicht immer so gesetzt, wie er es wollte. Es bereitete ihm Unbehagen, daß die SPD nicht nur ihren ideologischen Ballast, sondern auch ihre Visionen über Bord geworfen hatte. Aufbruchstimmung und Resignation vermischten sich. Hatten seine politischen Konzepte noch Zukunft, sein Leben noch Sinn? Übersetzen wollte er nichts mehr. Dem fragenden Reporter erklärte er, daß bei den Wer ken, die er früher übersetzt hatte, er das Gefühl hatte, sie sich „ganz zu eigen machen“ zu müssen’”. Das klang fast so, als ob er mit dem Leben schon abgeschlossen hätte. Doch so schnell gab er nicht auf. Auch diesmal setzte er den „schwarzen Sonnen der Melancholie“ ein Dennoch entgegen. Die Kur war teuer und unmenschlich gewesen, aber sie tat ihm gut. Er hatte 32 Pfund abgenommen. Sein Blutdruck war wieder normal. Er fühlte sich wieder leistungsfähig und war voller Tatendrang’”.