1896-1979 eine Biographie : In der Offensive: Polen, Rapacki-Plan und deutsche Einheit
Im Dezember 1957 stellte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ sieben Fragen an Europäer. Eine davon lautete: „In welchem Land möchten Sie leben, wenn Sie heute 30 Jahre alt wären? Schmids Antwort war kurz und bündig: „In Deutschland“‘. Hinter diesen zwei Worten stand ein Herzensanliegen und ein politisches Programm. Schmid wollte in einem geeinten Deutschland leben, nicht in der Bundesrepublik. Der Europäer Schmid war Patriot. Die Kommentatoren, die nach der Wahlniederlage der SPD im Herbst 1957 meinten, die SPD müsse nun ihr außenpolitisches Programm ändern, erhielten von ihm eine brüske Abfuhr. Die SPD werde ihren außenpolitischen Kurs fortsetzen. Aufgabe einer politischen Partei sei es nicht den Wählern nach dem Mund zu reden. Sie habe die öffentliche Meinung „zu überzeugen“, nicht sie „zu befriedigen“ ?. Carlo Schmid wollte trotz aller Rückschläge nicht resignieren. In Reden und Zeitungsartikeln stellte er sein außenpolitisches Programm vor. Es enthielt drei Komponenten: Kontrollierte Abrüstung, Verhandlungen der vier Mächte und der Deutschen über den Status eines künftigen Gesamtdeutschland, Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten’. Dem letzteren Punkt maß er besondere Bedeutung bei, denn hier konnte die Bundesrepublik initiativ werden. Er sprach nicht nur über deutsch-polnische Aussöhnung – das taten viele – er verlangte, auch die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Gleich in der ersten Fraktionssitzung regte er an, eine öffentliche Diskussion über die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie zu entfachen. Der Vorschlag wurde entsetzt abgelehnt. Carlo Schmid wurde zum Schweigen verurteilt‘. Ollenhauer
wünschte, daß die ehemaligen Mitglieder des Blocks der Heimatvertriebenen und Entrechteten, der an der 5% Hürde gescheitert war, in der SPD eine „politische Heimat“ finden. Schmid versuchte, ihm dies mit sehr deutlichen Worten auszureden: „Der BHE ist erledigt und das ist gut. Wir können keine BHE-Politik beginnen, um etwa BHE-Leute zu gewinnen.“ 5 Die Politik mußte steril werden, wenn man immer nur auf die Wählermassen schielte. Die Fürsprecher der Heimatvertriebenen waren nicht die einzigen, die einer Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Polen skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Einige Parteifreunde, unter ihnen Wehner, warnten, daß ein „intimeres Verhältnis“ zwischen Bonn und Warschau das Mißtrauen Moskaus gegen Polen stärken werde‘. Dieses Argument führte auch der Bundeskanzler ins Feld, um sich vorerst mit dem Problem deutsch-polnische Aussöhnung nicht beschäftigen zu müssen”. Die Ostpolitik der Bundesregierung, sofern man überhaupt von einer solchen sprechen konnte, geriet immer mehr in die Defensive. Die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie durch Jugoslawien und die von Tito angekündigte Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR waren für Adenauer und seine Mitstreiter eine Nagelprobe für die Anwendung der Hallstein-Doktrin. Karl Georg Pfleiderer, seit 1955 Botschafter in Belgrad, riet, um einen Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien zu vermeiden, zu einem offensiven Vorgehen. Die Bundesregierung sollte der bevorstehenden Anerkennung der DDR durch Jugoslawien durch eine Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten entgegentreten®. In der Koblenzer Straße stieß Pfleiderers Plan auf wenig Gegenliebe. Für Außenminister Brentano war die DDR-Anerkennung Jugoslawiens ein klassischer Fall für die Anwendung der Hallstein-Doktrin?. Pfleiderer, einer der entschiedensten ostpolitischen Vorkämpfer, starb, kurz nachdem er sich entschlossen hatte, den Kampf mit dem Auswärtigen Amt aufzunehmen. „Für mich ist es bitter, zu wissen, daß er nun nicht mehr da ist, sehr bitter“, vertraute Carlo Schmid fünf Tage nach Pfleiderers Tod einem Korrespondenten des Süddeutschen Rundfunks an!°,. Er konnte nur mit Mühe seine Tränen unterdrücken. Anfang Oktober war er noch mit Pfleiderer zusammengesessen und hatte ihm Unterstützung für seinen Plan zugesagt‘. Es nutzte nicht viel, daß er sich jetzt öffentlich zu dem Pfleiderer- Vorschlag bekannte. Am 19. Oktober, vier Tage nach der offiziellen Anerkennung der DDR durch Tito, brach die Bundesregierung auf Betreiben Brentanos ihre diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien ab. In seinen öffentlichen Stellungnahmen mäßigte Schmid seine Kritik. Gegenüber Freunden sprach er eine deutliche Sprache. Die Aufkündigung der diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien sei eine „katastrophale Dummheit“, für die die Bundesrepublik „noch sehr teuer werde bezahlen
müssen“‘?. Den einzigen Draht, den die Bundesrepublik jetzt noch nach Osten habe, sei der nach Moskau. Die Franzosen und Briten blieben in Jugoslawien. Sie hätten dadurch ganz andere Möglichkeiten, auf die russische Politik einzuwirken, als die Bundesrepublik. Setze die Bundesregierung ihre starre Politik fort, müßten die sogenannten Satellitenstaaten zwangsläufig immer näher an Moskau heranrücken. Schmid war außer sich über die Verantwortungslosigkeit der Bundesregierung. In seinem Arger bezeichnete er Brentano, Hallstein und Grewe als „Notare westdeutscher Mittelstädte“, die kein „Gespür“ dafür hätten, „was in der Welt der Staaten wirkungsmächtig ist“ 3. Konnte man nach dem Sputnik-Schock noch auf eine Politik der Stärke vertrauen? Schmid forderte die Bundesregierung auf, ihren Hochmut abzulegen, der sie „politisch phantasielos“ gemacht habe’*. Im Verein mit Fritz Erler rief er in einer Pressekonferenz Ende November die USA und die UdSSR dazu auf, bilaterale Abrüstungsverhandlungen über die Köpfe der Verbündeten hinweg aufzunehmen’. Von einer neuen Gipfelkonferenz hielt er nichts. Das war so ziemlich der einzige Punkt, über den er sich mit dem Bundeskanzler einig war, der die von Schmid befürworteten Pläne über die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa mit unverhohlenem Mißtrauen zur Kenntnis nahm, egal ob sie von dem polnischen Außenminister Rapacki oder dem amerikanischen Chefdiplomaten George F. Kennan entwickelt worden waren. Schmid vertrat die Auffassung, daß die beiden Pläne als Verhandlungsgrundlage, als „Modell einer Möglichkeit“ ernst genommen werden mußten’°. Die von Rapacki vorgeschlagene Schaffung eines kontrollierten atomwaffenfreien Raumes in Deutschland, Polen und der Tschechoslowakei bot einen Ansatzpunkt, um aus dem Teufelskreis des Wettrüstens herauszukommen. Kennan war noch einen Schritt weitergegangen. In seinen sonntäglichen im November und Dezember 1957 vom BBC ausgestrahlten Reith Lectures hatte er für einen Rückzug aller fremden Stationierungstruppen aus diesen Gebieten plädiert. Für die drei atomwaffenfreien Länder entwickelte er das Modell eines zivilen Widerstandes. Er selbst sprach von einer „Verteidigung an jeder Straßenkreuzung in den Dörfern“ ‚7. Schmid fand diesen Gedanken „skurril“ und sagte dies auch ganz offen. Aber warum sollte ein so „bedeutender Mann“ wie Kennan nicht auch einmal einen skurrilen Gedanken haben?’® Es war ja nur ein Nebenpunkt, den Kennan beiläufig in sein Disengagementkonzept eingestreut hatte. Schmid sah in dem Auseinanderrücken der Giganten einen ersten Schritt für den Aufbau eines kollektiven Sicherheitssystems. Zunächst würden die beiden Blocksysteme bestehen bleiben. Die Bundesrepublik konnte bis zur Schaffung eines kollektiven Sicherheitssystems weiter ihre Bündnisverpflichtungen innerhalb der Nato erfüllen. Der Bundeswehr kam Schmids Plänen zufolge die Aufgabe eines „wirksamen Grenzschutzes“ zu’®. Schmid sprach sich für die Ausrüstung der Bundeswehr mit Raketen ohne Atomladung aus, soweit sie zur Panzerbekämpfung, zur Flugabwehr und für den artilleristischen Krieg bestimmt waren“. Wieder einmal kämpfte er gegen zwei Fronten: gegen die Bundesregierung, die eine atomare Aufrüstung der Bundeswehr vorbereitete, und gegen die Mehrheit der eigenen Parteifreunde, in deren Köpfen noch viel Illusionäres spukte. Im Parteivorstand spielte man mit dem Gedanken, die NATO durch eine Weltregierung oder durch eine internationale Polizei zu ersetzen”‘. Schmid mahnte zu mehr Realismus. Die SPD könne nicht einfach erklären, daß die Pariser Verträge nur ein „Stück Papier“ seien. Man müsse sich bei Alternativvorschlägen auf „konkrete Dinge“ beschränken”?. Der Rapacki- und Kennan-Plan, die international großes Aufsehen erregt hatten, konnten ein Umdenken einleiten, wodurch die starren Fronten bei den internationalen Verhandlungen beweglicher würden. Selbst der Bundespräsident hatte in seiner Neujahrsansprache eine Lanze für Kennan gebrochen. In Paris sollte Mitte Januar unter der Schirmherrschaft des Kongresses für kulturelle Freiheit ein großes Streitgespräch zwischen Kennan und dem französischen Politologen Raymond Aron stattfinden. Zu Schmids großem Bedauern mußte Kennan aus gesundheitlichen Gründen absagen. Es wurde ohne Kennan über dessen Ideen diskutiert. Schmid nahm zusammen mit seinem Freund Richard Löwenthal, der Kennans Vorschläge entschieden und eloquent verteidigte, an dem Kongreß teil?. In den USA fand Kennan weitaus weniger Resonanz als in Europa. Für die Eisenhower-Dulles-Administration war Kennan ein bete noir. Dean Acheson hatte. eine Propagandakampagne gegen Kennan_ entfacht**. Schmid seufzte: „Mister Dulles“ ist ein „Verhängnis“. „Wieviel weiter wären wir, wenn ein Mann wie Kennan im State Department säße.“ 5 Von Adenauer vernahm man ganz andere Töne: „Wir können Gott danken, daf Herr Dulles da ist.“ ?° Der,Kanzler verband den Kennan- und Rapacki-Plan mit dem Schreckgespenst der Neutralisierung. Den Rapakki- Plan hielt er ohnehin für eine „Falle der Russen“ ?7. „Empört“ war er darüber, daß Carlo Schmid Mitte Januar vor der Beratenden Versammlung des Europarates den Rapacki-Plan verteidigte und der militärischen Entflechtung in Mitteleuropa vor der Wiedervereinigung Vorrang einräumte” ®, Dabei wollte er nicht sehen, daß für Schmid die militärische Entspannung die Voraussetzung für die Wiedervereinigung war. Wo blieben Adenauers eigene deutschlandpolitischen Vorschläge? Als die große außenpolitische Debatte des 23. Januar näherrückte, entdeckte Adenauer plötzlich selbst die kontrollierte Abrüstung als Zaubermittel. Die Debatte wurde zu einem Scherbengericht über Adenauers Deutschlandpolitik. Schmid forderte den Kanzler, der es versäumt habe, einen Weg aufzuzeigen, der aus dem „bösen Zustand“ der deutschen Spaltung
herausführt, zu mehr Wagemut auf?. Der Status quo werde am „härtesten zementiert“, wenn die Dinge so blieben, wie sie waren3°, Die Kritiker eines Disengagement versuchte er aus der Reserve zu locken: „Denken Sie doch an die Freude, die Herr Ulbricht haben würde, wenn die sowjetischen Truppen sich zurückzögen!“ 3! Ohne eine Politik der Entspannung käme man der Wiedervereinigung nicht näher. Ob die Sowjetunion sich darauf einließ, konnte man nicht wissen. Aber war es nicht ratsam, sie auf die Probe zu stellen und ihr gegebenenfalls den „Schwarzen Peter“ zuzuschieben?3* Abermals plädierte er für eine Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Polen. Es sei gut möglich, daß die Bundesrepublik und die Polen gemeinsame außenpolitische Interessen verbänden. Der Bundeskanzler machte in seiner Antwortrede eine denkbar schlechte Figur. Ein Botschafter in einem Satellitenstaat könne nicht mehr als ein „Beobachter“ sein, aber keineswegs dort gegen Moskau „intrigieren“, lautete seine lapidare Antwort. Schmid belehrte den Kanzler, daß dies auch nicht die Aufgabe eines Botschafters sei. Adenauer wich der Diskussion aus und schickte sich an, sein Eintreten für eine kontrollierte Abrüstung wortreich zu begründen’. Als Schmid ihn in mehreren Zwischenfragen darauf aufmerksam machte, daß seine Ausführungen sich mit dem deckten, was er zuvor gesagt hatte, man sich also offensichtlich einig sei, verlor der Alte völlig den roten Faden’*. Gegen eine regional beschränkte Abrüstung hatte er nur ein Argument: Daß Deutschland dann ein zweitklassiger Staat werde®°. Schmid hatte ihn in die Ecke’gedrängt, ihm eine peinliche Niederlage beigebracht, von der aber am nächsten Tag keiner mehr sprechen sollte. Die denkwürdige Nachtsitzung des Bundestages am 23./24. Januar wurde ein so furchtbares Debakel für Adenauer, daß keiner mehr ein Wort über die Diskussion am Nachmittag verlor. Zu später Nachtstunde schleuderten dem Bundeskanzler seine früheren Minister Dehler und Heinemann entgegen, die Wiedervereinigung nie gewollt zu haben. Er sei verantwortlich dafür, daß 1952 die Chance zur Wiedervereinigung versäumt worden sei. Das Hohe Haus verwandelte sich in einen Hexenkessel. Die ganze SPDFraktion jubelte mit einer Ausnahme: Carlo Schmid. Er saß betroffen auf seinem Platz3°. Zwei Wochen später vertraute er Heuss an, daß er seinen Freund Dehler in seiner „Unbeherrschtheit quälend gefunden habe; der Kanzler habe ihm leid getan“ 37. Das war typisch für Schmid. Den Gegner zu erledigen, war nicht seine Sache. Er focht mit Argumenten, nicht mit der Keule. Als ein durch die Erfahrungen der Weimarer Republik gebranntes Kind lebte er in der ständigen Furcht vor einer neuen Dolchstoßlegende. Daß Heinemann so ins Rampenlicht geriet, mochte ihm gar nicht gefallen. Es bestand die Gefahr, daß ein religiös gefärbter Gesinnungspazifismus in der SPD Oberhand gewann’®. Sein Verhältnis zu dem moralischen Asketen Heinemann war und blieb distanziert.
Freilich, am meisten Sorgen bereitete ihm die „immer verantwortungsloser“ werdende Politik der Bundesregierung, die sich mehr um die Atomrüstung der Bundeswehr als um die deutsche Einheit sorgte. Die Atomwaffenpolitik des Bundeskanzlers und seines Verteidigungsministers war ein gefährlicher Irrweg??. Nach der für Adenauer so blamabel verlaufenen Debatte beschlich Schmid die Hoffnung, daß der Alte „am Ende seiner Kräfte“ seit°, Die Presse setzte dem Bundeskanzler ordentlich zu. Mit Genugtuung konnte Schmid feststellen, daß die führenden Tages- und Wochenzeitungen seinen außenpolitischen Standpunkt teilten®‘. Er war nicht gewillt, der außenpolitischen Tatenlosigkeit der Bundesregierung noch länger zuzusehen. So versuchte er selbst, die Dinge in Gang zu bringen. Im Dezember hatte er vom Rektor der Universität Warschau eine Einladung erhalten, an der dortigen Universität einen Vortrag zu halten. Er hatte die Absicht, die Einladung anzunehmen. In der Partei lösten seine Reiseabsichten nicht gerade Freude aus. Die altbekannten Vorbehalte gegen ein engeres Verhältnis zu Polen wurden vorgebracht*”. Schmid war nicht der erste Politiker, der nach Polen reiste. Dehler und Kalbitzer waren schon zwei Jahre vor ihm in Polen gewesen. Sie waren als Privatleute gereist, ohne eine offizielle Einladung von polnischer Seite. Trotzdem war Kalbitzer damals der Parteiausschluß angedroht worden*. Als man sah, daß Carlo Schmid die Reise nicht auszureden war, stimmte die SPD-Führungsspitze zu. Außenminister Brentano riet ab. Für ihn kam eine Verständigung mit Polen nur unterhalb der Ebene diplomatischer Beziehungen in Frage, während Schmid deren Aufnahme anpeilte. Auch in der Sowjetunion und in der DDR wurden Schmids Reiseabsichten beargwöhnt. Gomulka wurde gebeten, vielleicht auch von der Sowjetunion angewiesen, keine Unterredung mit Schmid zu führen‘. Außenminister Rapacki erlitt eine Herzthrombose, so daß Schmid keinen der polnischen Spitzenpolitiker zu Gesicht bekommen sollte. Nichtsdestotrotz: Carlo Schmid nahm sich vor, einen Grundstein zur deutsch-polnischen Verständigung zu legen. Am Samstag, den 8. März fuhr er von Bielefeld aus mit seinem Fahrer Ernst Roller und seiner Mitarbeiterin Mathilde Alt ab in Richtung Warschau. Der Leiter der polnischen Militärmission hatte Durchreisevisa durch die DDR besorgt. So konnte Schmid quer durch die DDR reisen, ohne sie als Staat anerkennen zu müssen. Der Mercedes fiel auf. Von den Kontrollbeamten wurden die Reisenden „mächtig angestaunt“ #5. Die Landschaft erschien trostlos, obwohl sich Schmid dagegen wehrte, sich „durch das Nebelgrau in eine ausgesprochene Anti-Stimmung versetzen zu lassen“ 4°, Die polnischen Grenzstädte boten ein düsteres Bild des Zerfalls. In Posen ging es dagegen lebhaft zu. Schmid fiel mit kennerhaftem Blick sofort auf, daß die Frauen trotz ihrer billigen Kleidung entzückend aussahen. In sein Tagebuch notierte er: „In der ganzen DDR wie in Moskau ist uns nicht ein einziges Exemplar dieses Elegant-sein-Wollens begegnet.“ *7 Sonntag gegen Abend erreichten die drei Polenbesucher Warschau. Schmid wurde vom Rektor der Universität Turski und dem Strafrechtsprofessor Jerzy Sawicki empfangen, beides Kommunisten, die auf „ihren Oktober“ stolz waren*°. Beim nächtlichen Gespräch mit deutschen Journalisten wurde Schmid bestätigt, daß seit dem Oktober 1956 in Polen „sehr viel anders geworden sei“ #. Auf dem Besuchsprogramm des nächsten Tags stand eine Führung durch die Universität und ein Rundgang durch die Stadt. Betroffenheit löste die Besichtigung des Warschauer Ghettos aus. „Eine kahle Stätte des Grauens mit ı0000den von Toten unter dem glattgestampften Trümmerschutt.“° Vier Tage später legte Schmid am Denkmal für die Opfer des Ghettos und am Erinnerungsmal des ehemaligen Gestapo-Gefängnisses Blumen nieder. Erschüttert schrieb er in das dort aufliegende Buch: „Mit tiefer Beschämung an diesem Ort deutscher Schande, im Vertrauen auf eine Zukunft der Menschlichkeit. Carlo Schmid. Vizepräsident des Deutschen Bundestages.“ 5’ Seine Vorlesung am ı1. März über Machiavelli leitete er mit einem Schuldbekenntnis ein, in dem er eingestand: „Wenn es eine Kollektivschuld im strafrechtlichen Sinne des Wortes (…) nicht geben kann, so weiß jeder redliche Deutsche, daß die an Polen begangenen Untaten auch auf seinem Gewissen lasten – auch auf dem Gewissen dessen, der mehr als ein Jahrzehnt seines Lebens damit zugebracht hat, die Herrschaft des Unmenschen zu bekämpfen. Er weiß auch, daß das, was in Ihrem Lande geschehen ist, durch nichts aufgerechnet werden kann.“5? Nach seiner Rückkehr aus Polen mußte er sich sagen lassen, er habe gegen die „nationale Würde“ der Deutschen verstoßen. Über das rege geistige Leben in der polnischen Hauptstadt war er mehr als erstaunt. Seine polnischen Professorenkollegen verfügten über eine beeindruckende humanistische Bildung und eine stupende Kenntnis der westlichen Literatur. Leicht irritiert mußte er feststellen, daß sie über die Besetzung der Lehrstühle an deutschen Universitäten besser Bescheid wußten als er. Ihr Interesse an einem wissenschaftlichen Austausch war ebenso groß wie ihr „Appetit auf neue deutsche wissenschaftliche Literatur“ *. Schmid versorgte sie nach seiner Rückkehr aus Polen mit Bundestagsprotokollen, Literatur und manchmal auch Medikamenten’. Seit 1956 gab es in Polen eine oppositionelle Intelligenz, die dem Sowjetkommunismus kritisch bis ablehnend gegenüberstand. Fast allen Gesprächen mit Journalisten, Wissenschaftlern und Professoren konnte er entnehmen, daß die DDR-Regierung im Grunde wegen ihrer „Servilität“ verachtet wurde°®, Die beiden wichtigsten politischen Gespräche führte er am rı. März mit dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Sejm Morawski und dem stellvertretenden Außenminister Naszkowski. Bei der Unterredung mit Morawski wurde das heiße Thema Oder-Neiße-Linie nicht angesprochen. Anscheinend versuchten beide Gesprächspartner es zu umgehen, damit sie um so inniger ihren Wunsch nach einer Normalisierung des deutschpolnischen Verhältnisses zum Ausdruck bringen konnten. Man bestätigte sich in der Überzeugung, daß durch einen Wahlsieg von Labour und SPD in der Welt einiges verändert würde. Morawski regte an, ein gemeinsames Lesebuch über die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen zu verfassen’. Das Gespräch verlief herzlich, war aber, vom politischen Ergebnis her gesehen, nicht mehr als eine unverbindliche Bezeugung eines Interesses an einer deutsch-polnischen Verständigung. Was Sache ist, erfuhr Schmid bei seinem Meinungsaustausch mit Marian Naszkowski, der direkt und ohne Umschweife das Thema Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Polen anschnitt. Carlo Schmid trug einen Plan des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt van Scherpenberg vor, nach dem zunächst ständige Handelsmissionen eingerichtet werden sollten. Nach etwa einem Jahr konnte dann die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern in Erwägung gezogen werden. Van Scherpenberg bestritt später, Carlo Schmid einen Auftrag erteilt zu haben, diesen Plan als offizielles Verhandlungsangebot der Bundesregierung auszugeben®. Ganz offensichtlich hatte Schmid sich eine Eigenmächtigkeit erlaubt. Der Streit blieb bloße Formsache, denn van Scherpenbergs Plan stieß bei Naszkowski auf „eisige Ablehnung“ °°. Ein „Übergangsstadium“ sei nicht annehmbar. Lieber wolle die polnische Regierung warten, bis die Bundesregierung bereit sei, normale diplomatische Beziehungen aufzunehmen“. Carlo Schmid hatte wohl schon halbwegs mit einer Ablehnung gerechnet. Warum sollten die Polen den Deutschen goldene Brücken bauen? Ein Botschafteraustausch unter irgendwelchen Vorbehalten kam für sie nicht in Frage. Dem Stellvertreter Rapackis lag der Rapacki-Plan mehr am Herzen als die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Er gab zu verstehen, daß nach dem vom deutschen Bundesverteidigungsministerium geplanten Ankauf von Matador-Raketen die deutsche Wiedervereinigung endgültig abgeschrieben werden müsse. Strauß wurde von den Polen gefürchtet. Er galt als „zu bayrisch“°‘, Schmid mokierte sich etwas darüber und meinte, die Polen verstünden darunter „offenbar die Gewohnheit des Spielens mit dem Steckmesser“ %, Eine grobe Taktlosigkeit gegenüber den Polen beging Adenauer. Zur selben Zeit, als Schmid sich um eine deutsch-polnische Aussöhnung bemühte, ließ sich der Bundeskanzler in Sankt Andreas durch den Hochmeister des Deutschen Ritterordens zum Kreuzritter schlagen. Stolz präsentierte er sich den Medien im weißen Mantel mit schwarzem Kreuz, als wolle er zu einer neuen Ostkolonisation aufbrechen. Schmid hatte Mühe,
die ganze Sache herunterzuspielen. Seine polnischen Gesprächspartner sahen in dem Ritterschlag eine „Demonstration gegen Polen“ und fürchteten einen neuen deutschen Revanchismus‘. Er versuchte sie zu beruhigen. Für Adenauer sei der Ritterschlag nichts anderes als eine Art von Doktorhut. Die Polen mußten am Verständigungswillen der politisch Verantwortlichen in der Bundesrepublik zweifeln, von dem Schmid sie gerade hatte überzeugen wollen. Am ı2. März fuhr man nach Krakau. Auch seinen dortigen Vortrag über das Grundgesetz „Der Mensch als das Maß der Verfassung“ leitete er mit einem Schuldbekenntnis ein°*. Die Furcht der Polen vor einem neuen deutschen Revanchismus ließ Schmid immer mehr zu der Überzeugung kommen, daß die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie den Charakter der deutsch-polnischen Beziehungen „um ı80 Grad verändern könnte. Vielleicht käme das dem heutigen Regime gar nicht zu pass!“5 Bei Schmids Hoffnung auf einen Systemwechsel war mehr der Wunsch der Vater des Gedankens als die Realität. Er scheint die Unabhängigkeit Polens gegenüber der Sowjetunion überschätzt zu haben. Auch in der DDR verfolgte man Schmids Verständigungspolitik mit Polen mit Argwohn. Kurz vor seiner geplanten Rückreise ließ man ihn wissen, daß sein Durchreisevisum von den DDR-Grenzbehörden nicht anerkannt werde. Widerwillig entschloß er sich, den Luftweg zu wählen. Am ıs. März flog er über Kopenhagen zurück nach Bonn. Sein Fahrer und seine Sekretärin fuhren mit dem Auto zurück. Sie wurden an der Grenze festgehalten. Erst als in allen Zeitungen zu lesen stand, daß ‚Bundestagsvizepräsident Schmid wohlbehalten in Bonn eingetroffen war, ließ man sie fahren‘. Hatte man Schmid, den das MfS als Kriegsverbrecher denunzierte und für einen der „gefährlichsten Verfechter“ der Politik der „rechten SPDFührung“ hielt‘, zu einer Anerkennung der DDR nötigen oder ihm den Prozeß machen wollen? Die Akten, die vermutlich darüber hätten Auskunft geben können, wurden kurz vor dem Untergang der DDR vernichtet“. | Carlo Schmid hatte sich durch das nicht sonderlich ermutigende Gespräch mit Naszkowski nicht beirren lassen. Noch während seines Aufenthaltes in Polen gab er der polnischen Nachrichtenagentur PAP ein Interview, in dem er sich nachdrücklich für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen aussprach. Er beschwor eine deutsch-polnische Gefahrensolidarität. Die Furcht, daß der Rapacki-Plan eine russische Falle sei, versuchte er auszuräumen. Er habe sich davon überzeugen können, dafß der Rapacki-Plan auf eine polnische Initiative zurückgehe. Die Außenpolitik der Bundesregierung verurteilte er scharf. Die nukleare Ausrüstung der Bundeswehr sei ein „selbstmörderischer Unsinn“ ®. Wieder in Bonn ließ er keine Gelegenheit aus, um die politisch Verantwortlichen und die Bürger der Bundesrepublik von seinem Standpunkt zu
überzeugen. Offensichtlich erhoffte er, mittels Presse und Medien die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Polen erzwingen zu können. Er gab vor, daß ein Botschafteraustausch an keine Vorbedingungen geknüpft sei. Im Bundestag erklärte er, daß Warschau Bonn nicht durch ein „Kaudinisches Joch“ zwingen werde”°. Die politischen und kulturellen Verhältnisse in Polen zeichnete er in einem überaus positiven Licht. Polen sei kein „totalitärer Polizeistaat“. Es gebe dort Ansätze zur Entwicklung eines rechtsstaatlichen Systems. Die Professoren und Dozenten an den Universitäten fühlten sich in Forschung und Lehre frei. Die Kommunisten seien westlich orientiert. Die aus dem sozialdemokratischen Lager kommenden Mitglieder der polnischen KP könnten sich bis in die Führungsspitze hinauf „in ihrer Besonderheit“ behaupten?‘. Manches mag er ganz bewußt etwas beschönigt haben. Aber er war auch tatsächlich beeindruckt von diesem Land. In Polen könne er leben, vertraute er einige Wochen nach seiner Polenreise einem Bekannten an7?. Als dieser die Äußerung mit einigen spöttischen Bemerkungen quittierte, räumte er widerwilig ein, daß die politische Entwicklung Polens seit seinem dortigen Aufenthalt ihm nicht sonderlich gefalle. Trotzig fügte er hinzu: „Es ist schade, denn die Polen sind eine großartige Nation.“73 Offensichtlich erschien ihm die polnische Kulturnation als ein positives Gegenbild zur westlichen Massendemokratie. Er hatte sich bemüht, durch seine Reise eine Tür aufzustoßen, aber keiner wollte durch sie hindurchgehen. Der Außenminister hatte „ernsthafte Bedenken“, die in der Hallstein-Doktrin wurzelten. Er sorgte dafür, daß das Thema deutsch-polnische Beziehungen im Auswärtigen Ausschuß vertagt wurde”*, vermutlich in der nicht unbegründeten Hoffnung, daß das Thema bald aus der öffentlichen Diskussion verschwinden werde. Nicht einmal das Moralische verstand sich von selbst. Das polnische Rote Kreuz hatte Schmid zugesagt, die Zusammenführung der durch die Kriegsereignisse getrennten deutschen, Familien zu unterstützen. Im Gegenzug hatte er versprochen, sich dafür einzusetzen, daß den Frauen und Mädchen, die von den Nationalsozialisten als medizinische Versuchsobjekte mißbraucht worden waren, eine angemessene individuelle Entschädigung gezahlt wird”5. Sein ständiges Bohren beim Bundesfinanzminister blieb erfolglos”. Auch ein entsprechender, von ihm und Heinrich G.Ritzel ausgearbeiteter Antrag, der einstimmig vom Bundestag angenommen wurde, veranlaßte den Bundesfinanzminister nicht, seinen Geldsäckel zu öffnen’. Als Schmid 1969 wieder nach Polen kam, stand eine Regelung dieser schmählichen Angelegenheit noch immer an. Erfolgreicher waren seine Bemühungen, Einladungen für Polen in die Bundesrepublik zu erwirken. Die Deutsche Gesellschaft für auswärtige Politik, deren Präsidium er angehörte, kam seiner Bitte nach und lud polnische Wissenschaftler und Sejm-Abgeordnete zu Vorträgen ein. In Warschau hatte er maßgebliche Leute dazu überreden können, dem Düsseldorfer Kom(m)ödchen ein Gastspiel in der polnischen Hauptstadt zu ermöglichen”®. Den erwarteten Durchbruch zu einer deutsch-polnischen Verständigung hatte die Reise nicht gebracht. Noch in seinen Erinnerungen klingt Carlo Schmids Enttäuschung an: „Mit meinen Artikeln über das in Polen Gesehene und Gehörte habe ich in der deutschen Öffentlichkeit wenig politische Wirkung erzielt.“7° In Polen hatte sein Besuch mehr Wirkung gezeigt. Dort war er eine Zeitlang der „populärste Deutsche“ ®°., In der außenpolitischen Redeschlacht Mitte März im Bundestag war von Carlo Schmids Resignation noch nichts zu spüren. Noch einmal ging er voll in die Offensive. Kampfentschlossen, bereit den Konflikt zu riskieren, trug er sein außen- und deutschlandpolitisches Programm vor. Wenn man die Wiedervereinigung wolle, müsse man den Mut haben, „heiße Eisen“ anzufassen und dürfe sich nicht davor scheuen, „politische Rückstände auszuräumen“°‘. Er sprach nicht von der Oder-Neiße-Linie, aber wer hören konnte, verstand: „(M)an muß dafür sorgen, daß man zu gesicherten Grenzen kommt. Anders bekommen wir weder einen Friedensvertrag noch Garantien irgendwelcher Art noch die Wiedervereinigung.“ Daß Friedensvertragsverhandlungen gesamtdeutschen freien Wahlen vorangehen müßten, hatte er schon oft erklärt. Dann aber sprach er eines der größten deutschlandpolitischen Tabus an: „(M)an spricht, oder richtiger, Sie sprechen gern von der ‚sogenannten‘ Regierung in Pankow. Glauben Sie mir (…), ich liebe sie nicht. Ich halte sie für abscheulich, ich halte sie nicht für legitim. Aber sie ist de facto die Stelle, die über einen Teil unseres Vaterlandes — Gott sei’s geklagt — die Gewalt ausübt. Das Völkerrecht kennt den Begriff der De-facto-Regierung. Auch eine De-facto-Regierung ist eben eine Regierung. Sie ist nicht legitim, sie ist unerwünscht, sie ist unmoralisch, was Sie wollen, aber sie ist eine Regierung.“° 3 Er provozierte mit der Bemerkung, daß eine Hose eine Hose bleibe, auch wenn man sie Beinkleid nenne. Im Parlamentarischen Rat hatte er noch anders argumentiert, weil er sich damals an die Hoffnung klammerte, daß sich die Vier Mächte in absehbarer Zeit über die deutsche Einheit einigen würden. Jetzt schien ihm die Anwendung der von Völkerrechtlern diskutierten „Kalten Bürgerkriegstheorie“ der vielleicht einzige Ausweg, um die erstarrte Deutschlandpolitik wieder in Bewegung zu bringen°*. Nach dieser für den Laien nur schwer verständlichen Theorie hatte die Bundesregierung kraft ihrer demokratischen Legitimation die Befugnis, den Gesamtstaat als dessen De-jure-Regierung völkerrechtlich zu vertreten. Die DDR-Regierung war als eine quasi aufständische lokale De-facto-Regierung anzusehen. So konnte man Verhandlungen mit der DDR führen, ohne sie völkerrechtlich anerkennen zu müssen, und zugleich der durch die Hallstein-Doktrin drohenden Isolierung der Bundesrepublik entgehen®:.
Tete a Tete mit Franz-Josef Strauß. Bundestagsdebatte am 22. März 1958
Schmids Ausführungen erregten überraschend wenig Anstoß, obwohl er damit gerechnet hatte, zur Zielscheibe heftiger Kritik zu werden®“. Es war wohl bekannt, daß Schmids Vorschlag von seiner Partei nicht mitgetragen wurde. Außerdem schlugen die Wellen der Auseinandersetzung über die atomare Aufrüstung der Bundeswehr so hoch, daß andere Probleme und Fragen der Aufmerksamkeit völlig entgingen. Auch Schmid führte noch einmal seine ganzen Argumente für den Rapacki-Plan und eine kontrollierte Abrüstung ins Feld. Am Ende seiner Rede gab er der Hoffnung Ausdruck, „daß es in jeder Partei Leute gibt, die auch eine andere Meinung haben als das, was man die Parteilinie nennt“ 7. War das ein Stichwort für seinen Freund Eugen Gerstenmaier, der sich als hartnäckiger außenpolitischer Opponent des Kanzlers entpuppte? Aufmerksame Zuhörer vernahmen eine große Übereinstimmung in den Reden beider”®. Tabus wie De-facto-Regierung und Grenzregelung waren Gerstenmaier freilich zu heiß. Aber auch er räumte einem Friedensvertrag Vorrang vor freien Wahlen ein und wollte den Rapacki-Plan bei allen Vorbehalten als eine mögliche Verhandlungsgrundlage verstanden wissen’ ®., Die FDP wagte sich weit vor und dachte Gerstenmaier die Rolle des Königsmörders zu”. Eine Große Koalition oder Allparteienregierung unter Gerstenmaier wäre auch Schmids großer Wunsch gewesen, aber er kannte vermutlich seinen Freund gut genug, um sich darüber im klaren zu sein, daß dieser auch aufgrund seiner mangelnden Resonanz innerhalb der CDU/CSU-Fraktion nicht offen gegen den Alten rebellieren würde. Dem aber war es wieder einmal gelungen, seine Mannen hinter sich zu scharen. Schmid hatte ein wohlüberlegtes außen- und deutschlandpolitisches Programm, aber keinerlei Möglichkeit, es durchzusetzen. Als er sich am 25. März noch einmal auf das Rednerpult begab, um seinen Standpunkt darzulegen, stimmte er in einem Mut der Verzweiflung einen emotional kämpferischen Ton an, der bei ihm, der sonst immer auf eine sachliche Auseinandersetzung drängte, ganz ungewohnt war. Für seine in höchster Erregung gesprochenen Schlußworte erhielt er von seiner Fraktion langanhaltenden lebhaften Beifall: „Für uns ist der Kampf mit dieser Debatte nicht zu Ende. Sie werden noch von uns hören. Sie werden sich noch stellen müssen. Wir werden noch mit Ihnen ringen. Und wir werden eine Bresche aufreißen, durch die hindurch der Aufschrei unseres Volkes auch den Weg zu Ihren Ohren finden wird.“ ‚ Für Carlo Schmid war die atomare Aufrüstung eine politische Grundsatzentscheidung, die keinen Kompromiß zuließ. Er war der Überzeugung, daß die Atompolitik der Bundesregierung die deutsche Teilung zementierte und die Gefahr eines Atomkrieges erhöhte. Mit der neuen Nato-Doktrin hatte er sich auch unter militärischen Gesichtspunkten intensiv beschäftigt. Er war sogar bei Brentano vorstellig geworden, damit dieser Henry Kissinger, den geistigen Vater der neuen Strategie der Nato, der übrigens ein glühender Bewunderer Schmids war?”, nach Bonn zu einer Diskussion einlade?. Er mag sich der Hoffnung hingegeben haben, Kissinger durch gezielte Gegenargumente von seiner Doktrin abbringen zu können. Mit dem Bundesverteidigungsminister lieferte er sich Rededuelle, um ihn davon zu überzeugen, daß der Einsatz taktischer Atomwaffen zum Weltbrand führen müsse. Ein Atomkrieg lasse sich nicht begrenzen. Die Bundeswehr könne lediglich in einem sogenannten Buschfeuerkrieg die Grenzsicherung übernehmen. Einige Jahre später betonten auch die militärstrategischen Planer in Washington, daß es besser sei, neben dem nuklearen Schild noch ein nicht-nukleares Schwert zu haben’. Daß die Mehrheit des Bundestages sich hinter die Nuklearpolitik Adenauers und Strauß’ stellte, war für Schmid unbegreiflich und unverantwortlich. Seine Verzweiflung ließ ihn alle bisher geltend gemachten Vorbehalte gegenüber Plebisziten verdrängen. Er, der außerparlamentarischen Aktionen immer mit größter Reserve begegnet war, machte sich zum Wortführer einer Volksbefragungsaktion gegen die Atombewaffnung?®. Noch im Herbst 1957 hatte er davor gewarnt, eine neue Paulskirchenbewegung ins Leben zu rufen. Der Protest der Straße münde allzu leicht in Demagogie. Ein Wissenschaftlerappell erschien ihm seriöser und wirkungsvoller?”. Die SPD-Spitze entschloß sich Anfang 1958 zur Durchführung einer breit angelegten Aufklärungskampagne und zur Konstituierung eines Komitees „Kampf dem Atomtod“. Ein gleichlautender Aufruf wurde am 10. März von namhaften Persönlichkeiten des politischen und öffentlichen Lebens unterschrieben. Auch Carlo Schmid gehörte zu den Unterzeichnern?®. Demoskopischen Umfragen zufolge lehnten 83% der Westdeutschen eine Atombewaffnung ab. Es mußte mit einem Massenprotest gegen den Beschluß des Bundestages zur Atomrüstung gerechnet werden. Sollte die SPD, die zum Widerstand aufgerufen hatte, nun das Fatum einer parlamentarischen Niederlage einfach hinnehmen? Auf Betreiben Schmids brachte die SPD-Fraktion noch am 25. März einen Gesetzentwurf zur Volksbefragung über die Atombewaffnung im Bundestag ein’®, Die Kritiker von rechts sahen in dem Entwurf einen schweren Verstoß gegen den repräsentativen Charakter der politischen Ordnung der Bundesrepublik, die Kritiker von links sprachen von einem Abwürgen des Massenprotestes durch ein „Scheinplebiszit“ ‚°‘, Tatsächlich ging es Carlo Schmid auch darum, ein „Ventil“ zum Ablassen der überhitzten Massenstimmung zu schaffen’®. Der Ausbruch eines Generalstreiks wurde befürchtet. Als er am 18. April im Bundestag den Gesetzentwurf begründete, nannte er Volksbefragungen ein „Ausnahmemittel“ !%3, In einer Ausnahmesituation, in der es „im Bewußtsein von Millionen nun einmal um Leben und Tod der Nation“ gehe, sei es gefährlich, „das Volk vier Jahre lang zum Stummsein zu verurteilen“ ‚%4 Mit seiner Argumentation kam Schmid dem politischen Existentialismus eines Carl Schmitt sehr nahe. Der Souverän, das Volk, entscheidet über den Ausnahmezustand. Als das Grundgesetz geschaffen wurde, hatte er sich dafür eingesetzt, daß alle plebiszitären Elemente daraus verbannt wurden. Sein Wort vom aufgeklärten Absolutismus des Parlaments wurde ihm jetzt entgegengeschleudert’° S, Er verwies auf den konsultativen Charakter einer Volksbefragung. Sie sei „rechtlich unverbindlich, aber moralisch bedeutsam“ !%, Das Verantwortungsbewußtsein der Regierenden und das Gewissen der Abgeordneten würde durch eine Volksbefragung geschärft. Die Argumentation war nicht gerade sehr überzeugend. Die Bundesregierung hätte das Ergebnis einer Volksbefragung, zumindest wenn es sehr eindeutig ausgefallen wäre, nicht einfach ignorieren können. Carlo Schmids einstiger politischer Weggefährte Theodor Eschenburg sprach unverblümt aus, worum es ging: Ein aufßerparlamentarisches Mittel sollte für ein parlamentarisches Ziel eingesetzt werden: den Sturz der Regierung und die damit verbundene Richtungsänderung der Außenpolitik’”. Natürlich hatte Eschenburg mit seiner Kritik recht, aber kann man es Schmid verdenken, daß er nicht immer nur Programme formulieren, sondern die Außenpolitik selbst in die Hand nehmen wollte, zumal von der Bundesregierung keinerlei deutschlandpolitische Initiativen ausgingen? Seine Rechnung freilich ging nicht auf. Die Regierung schreckte nicht davor zurück, sich mit dem Odium zu belasten, in einer Lebensfrage der Nation nicht vor das Volk zu treten. Der Gesetzentwurf wurde abgelehnt. Nach dem Scheitern in Bonn wich die SPD in die Länder aus. Hamburg und Bremen erließen im Mai Volksbefragungsgesetze, was ein verfassungsrechtlich sehr gewagter Schritt war, denn die Außen- und Verteidigungspolitik ist Sache des Bundes. Die Bundesregierung beantragte beim Bundesverfassungsgericht die Feststellung der Nichtigkeit der Volksbefragungsgesetze. Hamburgs Bürgermeister Max Brauer bat Carlo Schmid um rechtlichen Beistand für das bevorstehende Verfahren beim Bundesverfassungsgericht‘ ®, Als Initiator der ganzen Bewegung konnte Schmid die Bitte Brauers schwerlich zurückweisen. Vermutlich war ihm klar, daß er Glatteis betrat. Er mußte aus der Defensive heraus argumentieren. Sein Plädoyer baüte er auf drei Argumente auf. Wenn es Kirchen, Verbänden und Gewerkschaften erlaubt ist, durch Bekanntgabe der Meinungen ihrer Mitglieder Einfluß auf die Willensbildung der Organe der Bundesrepublik zu nehmen, kann es den Ländern nicht verwehrt werden, „ihrerseits den Bundesorganen vor Augen zu führen, welche Meinungen über die verschiedenen Aspekte eines Problems bei dem wahlberechtigten Teil der Bevölkerung ihres Gebietes vorhanden sind“ ‚°. Die in Artikel 21 GG verankerte Mitwirkung der Parteien bei der politischen Willensbildung gebiete es, den Parteien die Möglichkeit zu geben, auf die Meinungsbildung „in einem geordneten Verfahren, das allen die gleiche Chance gibt, einzuwirken“ ““.
Bei den Entscheidungen staatlicher Organe müßten auch Daten berücksichtigt werden, in denen die „Zumutbarkeit bestimmter Maßnahmen“ gegenüber dem Volk zum Ausdruck kommt’‘‘. Der letztere Punkt entsprach Schmids innerer Überzeugung, war politisch auch plausibel, ließ sich aber nicht als Argument verwenden, um das Recht der Länder zu begründen, in auswärtigen Angelegenheiten Volksbefragungen durchzuführen. Schmids Vergleich der politischen Einflußnahme der Verbände mit denen der Länder wollte das Bundesverfassungsgericht nicht gelten lassen. Es trennte strikt zwischen gesellschaftlich-politischer und staatlicher Willensbildung“*. Bei der Volksbefragung handele es sich nicht um eine unverbindliche Meinungsforschung. Sie ziele vielmehr darauf, die Bundesorgane durch „politischen Druck“ zu zwingen, „die von ihnen getroffenen Sachentscheidungen zu ändern““3. Ein durchschlagendes Rechtsargument zur Rechtfertigung einer Volksbefragung in den Ländern gab es nicht. Auch Adolf Arndts Auffassung, die Länder könnten Volksbefragungen zwecks Instruktion ihrer Bundesratsmitglieder durchführen, wurde vom Bundesverfassungsgericht verworfen“*. Schmid nahm das Urteil kommentarlos hin. Das Bundesverfassungsgericht hatte den Kern der Sache getroffen. Schmids Plädoyer für eine Volksbefragung war vom Mut der Verzweiflung über den außenpolitischen Kurs der Bundesregierung diktiert. Er mag schon bald gemerkt haben, daß er einen plebiszitären Sündenfall begangen hatte. In seinen Erinnerungen verschwieg er verschämt, daß er zu den Hauptinitiatoren der Volksbefragungsaktion gehört hatte“S. Die Hoffnung auf eine außerparlamentarische Generalmobilmachung war nach der Wahlniederlage der SPD am 6. Juli in Nordrhein-Westfalen zerronnen. Im Schmollwinkel konnte man nicht bleiben. Brentano versuchte, die SPD zu einer Politik außenpolitischer Gemeinsamkeit zu überreden. Schmid mochte das Angebot nicht von vornherein ausschlagen, wenngleich er Brentano für einen verbohrten Hardliner hielt“°. Im Auswärtigen Ausschuß raufte man sich wohl oder übel langsam zusammen, – ohne freilich in den grundsätzlichen Positionen übereinzukommen. Hinter den Kulissen der Öffentlichkeit wurde ein Antrag ausgearbeitet, in dem man die Bundesregierung bat, sich für die Bildung eines Viermächtegremiums zur Lösung der deutschen Frage einzusetzen. Daß die Behandlung des Antrags sich verzögerte, war nicht allein die Schuld der Bundesregierung. Die Westmächte wünschten, daß die deutsche Wiedervereinigung ausdrücklich als Aufgabe des Viermächtegremiums genannt wurde, was von Moskau erwartungsgemäß abgelehnt wurde“7. Die erstarrten Frontlinien mußten aufgebrochen werden. Der Bundestag erneuerte am ı. Oktober seinen Antrag, und Schmid insistierte nun darauf, daß der Auswärtige Ausschuß an der Ausformulierung der Antwortnote an die Sowjetunion beteiligt werde. Die Aufgabe der Viererkommission sollte seiner Auffassung nach in der Festlegung des militärischen und politischen Status Gesamtdeutschlands durch einen Friedensvertrag bestehen. Beide Teile Deutschlands mußten an der Ausarbeitung des Friedensvertrags beteiligt werden. Wie schon in seiner Bundestagsrede im März betonte er auch jetzt, daß man an einer Anerkennung der „De-facto- Autorität“ der DDR nicht vorbeikomme“®. Darauf wollte freilich niemand eingehen, auch nicht die Kollegen aus der eigenen Fraktion. Daß Friedensvertragsverhandlungen einer Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit vorausgehen mußten, war dagegen im Herbst 1958 schon fast ein Allgemeinplatz. Selbst Brentano schien sich schon halbwegs damit abgefunden zu haben, wurde aber deswegen von den Westmächten zurechtgewiesen, die auf die Priorität des Wiedervereinigungsthemas beharrten. Schmid klammerte sich an die vage Hoffnung auf einen Präsidentschaftswechsel in den USA“?. Den nach der Intervention der Westmächte überarbeiteten Notenentwurf, in dem die Bildung einer gesamtdeutschen Regierung zur Voraussetzung für die Unterzeichnung eines Friedensvertrages gemacht wurde, lehnte er empört ab’”°,. Die Note mußte die Frontlinien verschärfen. Der ausgebrochene Streit wurde durch das Berlin-Ultimatum der Sowjetunion beendet. Das Berlin-Ultimatum brachte auch den Plan der SPD, ein Amt für innerdeutsche Regelungen zu installieren, zu Fall. Das Amt hatte laut Antrag die Arbeit der Dienststellen der Bundesrepublik, die mit innerdeutschen Regelungen betraut waren, zu koordinieren und innerdeutsche Fragen mit allen beteiligten Stellen und Personen zu erörtern’*!. Herbert Wehner, auf den der Antrag zurückging, machte in der Fraktion keinen Hehl daraus, daf% das Amt in Konkurrenz zum Gesamtdeutschen Ministerium treten sollte, das in Wehners Augen seine Hausaufgaben nicht richtig machte. Er wies dem Amt die Aufgabe zu, mit den Machthabern der Sowjetzone zu verhandeln’*”. Als Carlo Schmid am ı. Oktober im Bundestag den ‚Antrag begründete, verschwieg er dies. „Auch wir glauben nicht, daß es richtig wäre, von Regierung zu Regierung zu sprechen.“ ‚* Diesmal ließ er es beim Anerkennungstabu. Das Amt habe Vereinbarungen technischer Art zu treffen. Ein modus vivendi solle geschaffen werden, der den Menschen in der DDR das Leben erleichtere. Die Menschen dort dürften nicht das Gefühl haben, der „dämlichere-DDR-liche-Rest“ zu sein, wenn sie nicht in den Westen gingen’”*. Noch war die Mauer nicht gebaut. . Es war wohl nicht nur taktisches Kalkül gegenüber den Regierungsparteien, das Schmid so vorsichtig argumentieren ließ. Wehner mochte in dem Amt für innerdeutsche Regelungen einen Hebel zur Wiedervereinigung sehen. Für Schmid war es nicht mehr als eine Aushilfe in einer Zeit, in der sich außenpolitisch nichts bewegen ließ. Sein außen- und deutschlandpolitisches Konzept, das er im Frühjahr 1958 entwickelt hatte, baute auf mehreren Komponenten auf: militärische Entspannung, Normalisierung der Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten, insbesondere zu Polen, Grenzgarantien, einschließlich der Anerkennung der Oder-Neiße- Linie, und de-facto-Anerkennung der DDR. Seine Vision hatte eine europäische Dimension. Deutsche Einheit in einem Europa der Dritten Kraft war noch immer sein Leitbild. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob Schmid als Außenminister dieses Konzept hätte durchsetzen können. Geschichte läßt sich nicht im Konjunktiv konjugieren. Das Konzept war ohnehin auf längere Zeit angelegt. Schmid wußte nur zu gut, daß ohne Unterstützung der Westmächte eine aktive Ostpolitik nicht möglich war. Er hielt trotz aller Rückschläge und Widerstände an seinem außenpolitischen Programm fest. Im Sommer hatte er zugesagt, im Wintersemester einen Vortrag an der Universität Prag zu halten’”S, der aber dann wegen des Berlin-Ultimatums auf unbestimmte Zeit vertagt werden mußte. Ein „Teil der Parteifreunde mag aufgeschnauft haben. Die Sudetendeutschen wußten lautstark ihre Interessen innerhalb der Partei zu verteidigen. Und sie waren noch lange nicht bereit, das Münchener Abkommen für null und nichtig zu erklären. Als Schmid in einem Round-Table-Gespräch im Frühjahr 1959 erklärte: „Nun, was das Sudetengebiet anbetrifft, so kann doch wohl nur ein Irrer der Meinung sein, daß das zu Deutschland zurückgeführt werden könnte“ ‚°, brachen die Vertriebenenverbände in einen Sturm der Entrüstung aus. „Millionen von Heimatvertriebenen“ habe er beleidigt, mußte er sich vom Präsidenten des Bundesverbandes der Vertriebenen Krüger sagen lassen‘?”’. Der Vorsitzende der Seliger-Gemeinde Wenzel Jaksch stieß ins gleiche Horn. Er wich nicht zurück. Weiterhin vertrat er den Standpunkt, „daß man das, was man für wahr erkennt, aussprechen sollte, auch wenn man fürchten muß, dadurch Wähler zu verlieren“ ‚?®, Freilich, die Dreckkübel, die deswegen über ihn ausgegossen wurden, und die bösen Worte, die er in der Partei dafür erntete, verletzten ihn mehr, als er zugab’”. Nicht nur für die Vertriebenen war er ein b£te noir. Einigen ehemaligen Nationalsozialisten, die mit kaum geänderter Gesinnung in der Bundes- “ ‚republik wieder Politik betrieben, waren seine Appelle zur Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit und seine Schuldbekenntnisse ein Dorn im Auge. Sie liefßen nichts unversucht, um ihn und damit auch seine Politik der Aussöhnung und Wiedergutmachung zu diskreditieren.„(A)uch in der Politik besteht gelegentlich Klugheit darin, das moralisch Notwendige zu tun; es bringt oft mehr ein als Gewitzheit.“! Die Aussöhnung mit Ländern, die Opfer nationalsozialistischer Verbrechen geworden waren, vor allem aber die Wiedergutmachung gegenüber Israel hätten eine Selbstverständlichkeit sein müssen, und doch sah sich Carlo Schmid immer wieder gezwungen, die moralische Verpflichtung der Deutschen zu betonen. Mit dem 1952 abgeschlossenen Wiedergutmachungsabkommen war für Schmid der Prozeß der Versöhnung mit Israel nicht abgeschlossen. Mit Felix E.Shinnar, dem Leiter der Israel-Mission in Köln, hatte Schmid wiederholt die Möglichkeit einer Normalisierung der Beziehungen zwischen ‚Israel und der Bundesrepublik diskutiert. Im Frühjahr 1958 übermittelte Shinnar ihm eine Einladung zur Teilnahme an der Feier zum ıojährigen Bestehen Israels am 14. Mai 1958°. Die Reise gab Gelegenheit zum politischen Meinungsaustausch und zum Kennenlernen von Land und Leuten. Shinnar arrangierte sogar ein Zusammentreffen mit Ben Gurion, dem 72jährigen Ministerpräsidenten des Landes. Gerne hätte Schmid mit dem jüdischen Patriarchen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik vereinbart, zu der der Bundesregierung, die die Anerkennung der DDR durch die arabischen Staaten befürchtete, der Mut fehlte’. Doch als Parlamentarier waren ihm die Hände gebunden. So blieb es bei einem unverbindlichen Meinungsaustausch, bei dem Schmid dem Ministerpräsidenten Israels versicherte, daß die Deutschen sich von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit getrennt hatten. Er war beeindruckt, daß .Ben Gurion und sein Volk die schrecklichen Verbrechen der Nationalsozialisten „moralisch und human“ verarbeiteten, „ohne sich des schäbigen Vergessens schuldig zu machen“ *. Nach seiner Rückkehr nach Bonn danktee r Ben Gurion noch einmal ausdrücklich dafür. Fasziniert war er vom Pioniergeist der jüdischen Siedler, den er in der Wüste Negev und in den Kibbuzims am See Genezareth bestaunen konnte: „Was diese Menschen, von denen doch kaum einer je mit Spaten und Hacke umgegangen ist, aus der Wüste, den Steinhalden, den Sumpfniederungen gemacht haben, hält jeden Vergleich mit den größten kolonisatorischen Erfolgen in Europa und Übersee aus.“ ° Schmids Bericht über die Eindrücke seiner Israel-Reise war diktiert von der Begeisterung über ein Land, in dem die Menschen aus Hingabe an ein Ideal der „größten Opfer“ fähig waren. Die Utopien des Dritten Humanismus wurden bei ihm wieder wach. Er geriet ins Schwärmen: „Hier kann man die Wahrheit des Wortes erkennen, daß es der Geist ist, der den Körper baut: ich habe kaum je eine schönere Jugend geschen als die Jugend dieses Landes.“® Bald kehrte Schmid wieder auf den nüchternen Boden der Bonner Politik zurück. Selbst die Herstellung kultureller Beziehungen zu Israel war schwierig. Der Öffentlichkeit in beiden Ländern wegen war es besser, wenn Israel die Initiative zu einem geistig-kulturellen Meinungsaustausch ergriff. Schmid gab seine Auffassung an Shinnar und Rudolf Küstermeier, den dpa-Korrespondenten in Jerusalem, weiter”.
Ein Jahr später erhielt er eine Einladung der Universität Jerusalem zu einer Gastvorlesung im Wintersemester 1959/60. Diesmal flog er zur Weihnachtszeit in das biblische Land. Seine Vorlesung hatte die Entwicklung des Menschenbildes in der europäischen Geistesgeschichte zum Thema. Wieder einmal brach er ein Tabu: Er hielt die Vorlesung in deutscher Sprache. In einigen einleitenden Bemerkungen, die er der Vorlesung vorausstellte, führte er aus, daß trotz der Last der Vergangenheit, die auf jedem Deutschen liege, auch die Deutschen ein Recht haben, sich in ihrer Sprache auszudrücken®. Schmid wollte, daß die Deutschen eine normale Nation werden. Er war der festen Überzeugung, daß sie es nur werden konnten, wenn sie nicht vergaßen, was in ihrem Namen Schreckliches geschehen war. | Auf eigenen Wunsch verbrachte er im Anschluß an seine Vorlesung einige Tage in einem Kibbuzim am Fuße des Hermongebirges. Besichtigungen und politische Gespräche folgten. Gar nicht genug loben konnte er die berufsbildenden Schulen der ORT (Organization for Rehabilitation trough Training), die in aller Welt Lehrwerkstätten zur Ausbildung von Facharbeitern unterhielt. Die Schulen waren u.a. auch ein Beitrag Israels zur Entwicklungshilfe. Sofort nach seiner Rückkehr aus Bonn setzte er „Bettelbriefe“ auf, in denen er unter ausdrücklicher Betonung der Pflicht zur Wiedergutmachung die Großindustriellen des Landes zu Spenden für die ORT aufforderte?. Auf diese Weise gelang es Schmid, die ORT-Schulen aktiv zu fördern. Das Gespräch mit Ben Gurion war überschattet durch eine Welle antisemitischer Delikte in der Bundesrepublik. In der Weihnachtszeit 1959 war die neueingeweihte Kölner Synagoge von rechtsextremen Jugendlichen mit Hakenkreuzen beschmiert worden. Im Januar kam es in der ganzen Bundesrepublik zu weiteren antisemitischen Sudeleien. Im Ausland, insbesondere in Israel, wuchs die Besorgnis vor einem Wiederaufleben des Antisemitismus in Deutschland. Carlo Schmid war sich mit Ben Gurion einig, daß der Plan der Bundesregierung, die in der Bundesrepublik lebenden Juden unter Sonderschutz zu stellen, abgelehnt werden mußte. Beide waren der Auffassung, daß ein solches Sondergesetz „nur eine andere Seite des Antisemitismus sei“’°. Am meisten versprach sich Schmid von einer „längere(n) Erziehungsarbeit“ durch eine Aufklärung der öffentlichen Meinung und eine intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Bei der Bestrafung der Täter wollte er die ganze Härte des Gesetzes angewandt wissen. Jugendpsychologisches Verständnis sei in diesem Fall fehl am Platz“. Zweimal ergriff er zu den antisemitischen Vorfällen im Bundestag das Wort: am 20. Januar als amtierender Präsident und am ı8. Februar als Debattenredner der SPD. Er wollte sich nicht damit beruhigen, daß die Täter ungebildete rowdyhafte Halbstarke waren. Seine Zuhörer erinnerte
er an die Karriere eines Sepp Dietrich und gab zu bedenken, daß die meisten der über 17 Millionen NSDAP-Wähler die Judenmorde nicht gewollt hatten, „aber durch das, was sie in ihrer Verblendung taten“, möglich gemacht hatten‘?. Er unterstrich, daß diese Delikte in erster Linie „unter dem Aspekt der Moral“ und nicht „unter dem Gesichtswinkel des möglichen Schadens“, den die Bundesrepublik politisch im Ausland erlitten hatte, betrachtet werden mußten’3, Ihn bewegte die Frage: „Wären diese Dinge geschehen, wenn die Täter nicht geglaubt hätten, es gäbe gewisse Anzeichen dafür, daß das, was sie tun, auf eine gleichartige Resonanz in unserem Volke hoffen lassen könnte?“ ‚* Konnten sich die „Feinde der Demokratie“ nicht dadurch gerechtfertigt fühlen, daß einstige Verfechter der nationalsozialistischen Ideologie auf der Regierungsbank saßen? Schmid appellierte an den Kanzler, Konsequenzen zu ziehen’S. Zugleich forderte er ihn zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel auf. Im Ausland verfolgte man die Debatten sehr genau. Schmids eindringliche Worte fanden sogar im amerikanischen Senat Beachtung‘ ®. Der Kanzler wich dem Thema diplomatische Beziehungen mit Israel aus Furcht vor der Reaktion der arabischen Staaten aus. Die braunen Flecken in den Lebensläufen einiger seiner Mitarbeiter und Minister schienen ihn nicht weiter zu stören, obwohl mittlerweile auch das Ausland an Vertriebenenminister Theodor Oberländer und Staatssekretär Hans Globke Anstoß nahm. Auch Schmid bekam von besorgten ausländischen Politikern Briefe, in denen er um Auskunft über Globke und Oberländer gebeten wurde. Er bemühte sich um ein ausgewogenes Urteil: „Globke ist ein Fall für sich. Er ist weder Nazi noch Antinazi, sondern ein Beamter, der für jedes Regime das vom Regime Geforderte tut. Wenn man es von ihm verlangt hätte, hätte er auch einen philosemitischen Kommentar geschrieben. Umso schlechter für die Regierung, daß der Kanzler solche Berater hat. Oberländer dagegen war ein Nazi, der nach Kräften dazu beigetragen hat, die nazistische Ostraumideologie zu verbreiten. Adenauer will sich aber nicht von ihm trennen, nicht weil er ihn besonders schätzte, sondern weil er an die nächste Wahl denkt und im Falle “einer Loslösung von Oberländer fürchtet, einige hunderttausend Stimmen von Heimatvertriebenen zu verlieren.“ ‚7 Seit seiner Rückkehr aus Polen lag Schmid mit Oberländer, der ihm vorgeworfen hatte, nicht in das Aussiedlerlager nach Friedland gefahren zu sein, wo er mit Menschen hätte sprechen können, die dreizehn Jahre unter dem polnischen System gelitten hatten’*, im Streit. Daß Schmid auf die zahlreichen Anschuldigungen und Unterschiebungen, die aus der rechten Ecke kamen, gereizt reagierte, ist nur zu verständlich. Als er in einem Interview mit der „Neuen Ruhr Zeitung“ auf die Vorwürfe Oberländers angesprochen wurde, fragte er zurück, ob Oberländer denn nicht während des Krieges als Aussiedlungskommissar bei Rosenberg tätig gewesen sei‘?. Das war ein Gerücht, das damals überall kursierte. Jeder schenkte ihm Glauben, weil das Eintreten des ehemaligen Leiters des Bundes Deutscher Osten für die Ostraumideologie nur zu bekannt war. Schmid nahm seine Behauptung zurück, nachdem Oberländer sich gegen diese Unterstellung bei ihm beschwert hatte?“. Schmid mochte gehofft haben, daß damit die Sache erledigt war. Oberländer aber legte es darauf an, den einmal begonnenen Briefwechsel fortzusetzen. Er erging sich in Selbstrechtfertigungen, die Schmid zu Recht noch mißtrauischer gegen Oberländer machten, als er es ohnehin schon war. Hatte dieser Mann sich je vom Nationalsozialismus losgesagt? Schmid bekam erhebliche Zweifel, als er Oberländers Brief vom 31. Januar 1959 las, in dem der Vertriebenenminister u.a. erklärte: „Die Klassifizierung unserer deutschen Mitmenschen nach den Kriterien, wann, in welcher Form, und mit welchen Reaktionen sie dem Nationalsozialismus entgegengetreten sind, scheint mir nicht ausreichend für die Beurteilung eines Menschen, seines Wirkens und seines Wollens zu sein. Ein solcher Standpunkt hilft uns auch nicht, die zwischen Menschen und Gruppen aufgerissenen Gräben zu überbrücken. (…) Auch der Nationalsozialismus hat sich erst unter dem Einfluß kompromißloser Theoretiker und herzloser Machtmenschen im Laufe der Jahre zu einem System entwickelt, von dem wir uns abwenden mußten und dem wir entgegengetreten sind. Ich habe zu keiner Zeit meines Lebens zu einer ‚Alten Garde‘ gehört.“ ?‘ Daß er 1923 mit Hitler zur Feldherrnhalle marschiert war, verschwieg er diskret. Weniger Oberländers Vergangenheit als seine jetzige Haltung fand Schmid beschämend. Bei seinem letzten Israel-Besuch hatte er erklärt, daß er sich mit einem Mann wie Oberländer nicht an einen Tisch setzen könne, egal, ob die gegen den Vertriebenenminister erhobenen Anschuldigen zuträfen oder nicht. Zu den Anschuldigungen wollte er nur so viel sagen: Oberländer habe wohl gewußt, daß die „Nachtigallen“ nicht „nur zum Singen“ nach Lemberg abkommandiert worden waren??. Oberländer stand im Verdacht, als Verbindungsöffizier eines aus Ukrainern zusammengesetzten Bataillons „Nachtigall“ an Massenmorden in Lemberg beteiligt gewesen zu sein. Die Staatsanwaltschaft des Bonner Landgerichts kam bei ihren Ermittlungen zu dem Ergebnis, daß Oberländer keine strafbaren Handlungen nachzuweisen seien. Ein Freispruch aufgrund erwiesener Unschuld war das nicht. Das Landgericht schloß nicht aus, daß Angehörige der 2. Kompanie des Bataillons „Nachtigall“ an den Morden im NKWD-Gefängnis in Lemberg beteiligt waren. Außerdem waren Oberländers Beteuerungen, daß er von den ganzen Bluttaten in Lemberg nichts mitbekommen habe, nicht sehr glaubhaft, da selbst der Stab eines Armeekorps, der sich nicht in Lemberg befand, von den Vorgängen dort erfahren hatte. Jeder, der das Urteil las, mußte sich zumindest die Frage stellen, ob Oberländer die Ausschreitungen in Lemberg nicht völkerrechtswidrig geduldet hatte3. 6 Die Bundesregierung beeilte sich, den mittlerweile auf Druck der SPDFraktion zurückgetretenen Oberländer zu rehabilitieren. Der mit Oberländer befreundete Hermann Raschhofer, Verfasser eines NS-Handbuchs für Recht und Gesetzgebung, wurde vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung finanziell unterstützt, um Oberländer durch eine einseitige Darstellung des Bonner Landgerichtsurteils reinzuwaschen*. Der Ex-Vertriebenenminister sann derweil auf Rache, die zeigte, welch Geistes Kind er war. Im Verein mit Kurt Ziesel, der sich während der NS-Zeit als Schriftleiter mehrerer nationalsozialistischer Zeitungen hervorgetan hatte und seit geraumer Zeit einen Kreuzzug gegen die „Diktatur“ linker Medien unternahm‘, plante er eine Rufmordkampagne gegen seine Kritiker, insbesondere gegen Carlo Schmid. In den Worten Ziesels las sich das so: „Mein Buch beabsichtigt, wie meine früheren (…) Deutschland zu dienen, indem ich seine Selbstbesudler, Kollektivschamprediger und Moralapostel als alte Nazikollaboranten entlarve.“ *° Die zitierten Sätze entstammen einem Brief, den Ziesel an Martin Sandberger schrieb. Ziesel hatte gehofft, daß Sandberger seiner alten Gesinnung treu geblieben sei und ihm Material gegen Carlo Schmid zuspiele. Die Rechnung ging nicht auf. Sandberger ließ durch seinen Anwalt mitteilen, daß Carlo Schmid gegenüber dem NS-Regime „eindeutig illoyal“ eingestellt gewesen war. Es stimme nicht, daß der Tübinger Kreisleiter Rauschnabel ein Freund Schmids gewesen sei. Im Gegenteil: Rauschnabel habe gegenüber vorgesetzten Stellen Schmid mehrfach als „politisch unzuverlässig“ _ bezeichnet””. Die Aussagen Sandbergers hinderten Ziesel nicht daran, in seinem Pamphlet „Der Röte Rufmord“ das genaue Gegenteil zu behaupten. Dort konnte man lesen, daß Schmid freundschaftlichen Umgang mit dem Tübinger Kreisleiter gepflegt habe, als Kriegsverwaltungsrat für die Verhaftung von Geiseln verantwortlich gewesen sei und in „totaler politischer und moralischer Blindheit“ unterstützt hatte, „was zur Vernichtung von Millionen Juden führte“. Obendrein habe der einstige Kriegsverwaltungsrat mit „zynisch-akademischer Ironie“ die „Auspowerung“ Frankreichs durch Hitler-Deutschland gerechtfertigt. Gewandelt zum „Superdemokraten“ habe er sich schließlich 1946 selbst zum ordentlichen Universitäts-. professor ernannt”®. Für die erste und letzte Behauptung berief sich Ziesel auf Joseph Forderer, der bereits ı950 anläßlich eines Streites um die „Schwabenquote“ an der Tübinger Universität versucht hatte, Schmid zu diskreditieren®. Ansonsten hatte er nur ein Beweisstück zur Hand: Schmids Rede vor dem Völkerrechtsausschuß der Akademie für Deutsches Recht aus dem Jahre 1941. Ziesel verstand es, die einzelnen Passagen
der Rede so zu montieren, daß der unbedarfte Leser tatsächlich meinen mußte, Schmid habe eine Endsieg-Rede gehalten. Wie sollte Schmid beweisen, daß nach dieser Rede Helmuth James von Moltke auf ihn zugekommen war, um im Geiste der Humanität mit ihm zusammenzuarbeiten? Es wäre das beste gewesen, Carlo Schmid hätte die von Oberländer angestiftete Schmutzkampagne Ziesels einfach ignoriert. Er hatte es zunächst auch vor?°, stimmte aber dann nach Absprache mit den Kollegen in der Partei doch dafür, gegen Ziesels Machwerk, in dem auch andere Sozialdemokraten verleumdet wurden, vorzugehen?‘. Carlo Schmid beantragte eine einstweilige Verfügung, die ihm nach dem Widerspruch Ziesels das Frankfurter Landgericht nur zu zwei Fünfteln bestätigte. Ziesel durfte nicht mehr behaupten, Schmid trage Verantwortung für die Erschießung von Geiseln und habe sich nach dem Krieg selbst zum Professor ernannt??. Es nutzte Schmid wenig, daß er dem Gericht eine Unmenge von Zeugnissen vorlegte, die seine untadelige Haltung als Kriegsverwaltungsrat bestätigten’?. Auch ein Schreiben des damaligen Direktors der Sürete Nationale Pierre Bertaux aus dem Jahre 1945, in dem der spätere Hölderlin- Forscher versicherte, in Schmids Dossier nichts gefunden zu haben, was ihm als „Verstoß gegen die Ehre, das Gewissen und die Menschlichkeit“ angelastet werden könne°*, konnte die Richter nicht umstimmen. Die Richter des Frankfurter Landgerichts standen ganz offensichtlich Ziesel näher als Schmid. Nach Ansicht des Gerichts waren die moralischen Maßstäbe, die Schmid in seiner Bundestagsrede vom 18. Februar 1960 aufgestellt hatte, mit seiner Tätigkeit als „höherer Militärverwaltungsbeamter“ nicht zu vereinbaren’®. So durfte Ziesel weiterhin behaupten, Schmid habe unterstützt, was zur Vernichtung von Millionen von Juden geführt habe. Das Urteil war skandalös, aber Schmid war nicht ganz schuldlos, daß es so gekommen war. Er hatte den Prozeß völlig falsch angepackt und sich zudem einen Prozeßvertreter gesucht, der der ganzen Sache nicht gewachsen war>°. Ziesels Prozeßvertreter Peter Gast, der 1933 einen handlichen Kommentar zum nationalsozialistischen Schriftleitergesetz verfaßt hatte, verfügte über einschlägige Erfahrungen im Presserecht?” Beide Seiten legten Berufung ein. Bei den Berufungsverhandlungen trat Oberländer als Nebenintervenient Seite an Seite mit Ziesel im Gerichtssaal auf. Kurz nach Erscheinen des Ziesel-Pamphlets hatte der ehemalige Vertriebenenminister in einem Brief an Schmid mit kaum zu überbietendem Zynismus seinen Strohmann Ziesel dafür gelobt, daß er den „Mut“ aufgebracht hatte, den von der SPD gewünschten „Prozeß der Selbstreinigung“ weiterzuführen?®. Oberländer verband sich nun in aller Öffentlichkeit mit einem Mann, den Schmids „wilde Verdammungsedikte“ mit „Abscheu“ erfüllten und dem jede Form der Verleumdung recht war. Den
Ex-Vertriebenenminister störte es auch nicht, daß Ziesel ihn in einem Atemzug mit Veit Harlan, Leonhard Schlüter und Ferdinand Schörner nannte, deren Rehabilitierung er ebenfalls betrieb’?. Und was dachte sich Adenauer, als er Anfang 1962 Oberländer sein Vertrauen aussprach und ihn zurück in die politische Arena bat?*° Carlo Schmid war klar, warum Oberländer nun plötzlich als Nebenintervenient auftrat. Er sollte mittels eines Vergleichs dazu gebracht werden, eine Ehrenerklärung für Oberländer abzugeben, durch die dieser in aller Welt wieder „hoffähig“ gemacht wurde*‘. Beim ersten Zusammentreffen mit Oberländer in der Berufungsverhandlung erlitt Schmid einen Herzanfall und mußte in die Klinik gebracht werden**. Ihn rieb die Sache furchtbar auf. Sein „gutes Gewissen“ schützte ihn nicht davor, von „Verbitterung aufgefressen“ zu werden*?. Hängen blieb immer etwas, selbst wenn er beweisen konnte, daß alle Behauptungen Ziesels nur Verleumdungen waren. Er stand der Sache ziemlich hilflos gegenüber. Er hätte zurückschlagen müssen, indem er die Öffentlichkeit gegen Ziesel und Oberländer mobilisierte. Auf gerichtlichem Wege war den beiden kaum beizukommen. Gustav Heinemann hatte in der Berufungsverhandlung die Prozeßvertretung übernommen. Am 4. April 1962 fällte das Oberlandesgericht Frankfurt sein Urteil: Ziesel wurde untersagt, weiterhin zu behaupten, Carlo Schmid habe unterstützt, was zur Ermordunvgon Millionen Juden führte**. Schmid war bereit, das Urteil zu akzeptieren, wenngleich es ihn schmerzte, daß der Vorwurf stehen blieb, er habe der „Auspowerung“ Frankreichs das Wort geredet. Oberländer und Ziesel legten es darauf an, den Prozeß weiterzuführen. Ziesel bezichtigte Schmid weiterhin, mitverantwortlich für die Vernichtung von Juden gewesen zu sein. Der Prozeß landete vor der 3. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt. Oberländer erreichte, was er wollte: einen Vergleich. Schmid hatte zu erklären, daß er Oberländer nicht vorwerfe, bei der Ermordung von Juden in Lemberg mittelbar oder unmittelbar beteiligt gewesen zu sein. Seine Bemerkung, er könne sich mit Oberländer nicht an einen Tisch setzen, mußte er mit einem Ausdruck des Bedauerns zurücknehmen. Darüber hinaus mußte er sich verpflichten, bei seinem nächsten Israel-Besuch eine entsprechende Ehrenerklärung für Oberländer abzugeben. Ziesel wollte seinerseits nicht länger behaupten, daß Schmid für die Vernichtung von Millionen Juden Mitverantwortung trage*°. Schmid, der Gegner des Nationalsozialismus, und Oberländer, der überzeugte Nationalsozialist, wurden auf eine Stufe gestellt. Schmid konnte seine Verbitterung über diesen Prozeß nie ganz überwinden*. Er mußte freilich einräumen, daß er taktisch nicht besonders klug vorgegangen wart”. Die Auseinandersetzung Schmid — Oberländer war auch eine Auseinandersetzung um die politische Kultur der Bundesrepublik. Oberländer
und Ziesel legten es darauf an, Schmid eine NS-Vergangenheit anzuhängen, um seine Schuldbekenntnisse und seine Appelle, die Vergangenheit nicht zu verdrängen, unglaubhaft zu machen. Schmid widersetzte sich ihrer Schlußstrichmentalität, was ihnen aus persönlichen und politischen Gründen nicht zupaß kam. So wurde er als scheinheiliger Nestbeschmutzer denunziert. „Zerknirschungsmentalität“ ist die neue Vokabel, die Historiker des rechten Spektrums gefunden haben, um die Kritik an der mangelnden Aufarbeitung und geistig-mentalen Verarbeitung der NS-Vergangenheit zurückzuweisen*°. Carlo Schmid hat einer „Zerknirschungsmentalität“ ganz gewiß nicht das Wort geredet. Oft betonte er, daß die Deutschen nicht ewig in Sack und Asche gehen müßten. Zu denen, die darauf beharrten, die deutsche Teilung sei die unvermeidliche Strafe für Auschwitz, gehörte er nicht. Er war noch immer stolz auf die deutsche Kulturnation, auf das Deutschland Goethes, Hölderlins und Stefan Georges. Aber wenn die Deutschen als „normaler“ Partner von den anderen Staaten akzeptiert werden wollten, dann mußten sie die Verantwortung für ihre Vergangenheit übernehmen, dann mußten sie sichtbare Beweise erbringen, daß sie sich von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit losgesagt und mit alten Irrtümern aufgeräumt hatten. Ein wiedervereinigtes Deutschland, das Schmids sehnlicher politischer Wunsch war, brauchte solide demokratische Grundlagen. Bei einem Mann wie Oberländer konnte man, ungeachtet seiner Vergangenheit, erhebliche Zweifel haben, ob er wirklich ein demokratisches Bewußtsein entwickelt hatte. Er war im Grunde der alte geblieben“°, der wie viele Deutsche den Nationalsozialismus für eine gute Sache hielt, die schlecht ausgeführt worden war. Sieben Jahre konnte dieser Mann in der Bundesrepublik Minister sein. Auch Kurt Ziesel machte in der Bundesrepublik Karriere. Er avancierte zum Generalsekretär der Deutschland-Stiftung.
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