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1896-1979 eine Biographie : Als Kriegsverwaltungsrat in Lille (1940-1945)

Okkupation und Humanität
In Köln wurde Carlo Schmid in feldgraue Wehrmachtsuniform gekleidet und erhielt die Anweisung, den Leiter der Rechtsabteilung der Militärverwaltung in Brüssel aufzusuchen, der ihm sein Aufgabengebiet zuzuweisen hatte. Dort erfuhr er, daß er ab sofort das Justizreferat in der Militärverwaltung der Oberfeldkommandantur 670 in Lille zu verwalten hatte. In seinen Verantwortungsbereich fiel die Überwachung der französischen Justizverwaltung und die Beratung des dortigen Oberfeldkommandanten in Fragen des Völkerrechts. Genau umrissen war die Zuständigkeit seiner neuen Stelle nicht. Sie werden die haben, „die Sie sich nehmen werden“, bekam er zu hören, als er um genauere Auskunft bat!. Die Oberfeldkommandantur 670 hatte eines der schönsten Gebäude Lilles für sich beschlagnahmt: die anfangs des 20. Jahrhunderts in neoflandrischem Stil erbaute Handelskammer, in deren das Stadtbild beherrschendem Glockenturm Schmid sein Dienstzimmer bezog – eine altra camera mit großem Tisch und Aktenschrank. Das Zimmer 114 der fünften Etage der ehemaligen Handelskammer wurde für viele Franzosen bald zu einer wichtigen Adresse.
Als Carlo Schmid Ende Juli 1940 in die über 200000 Einwohner zählende Metropole der Region Nord Frankreichs kam, waren dort Plünderung, Raub und wilde Requisitionen durch deutsche Truppen an der Tagesordnung. Die politische Zukunft der nordfranzösischen Region lag im Ungewissen. Schmid hatte die schlimmsten Befürchtungen, als er im September zu prüfen hatte, welche von der französischen Regierung seit dem Waffenstillstandsvertrag mit Deutschland erlassenen Gesetze in den nordfranzösischen Gebieten eingeführt werden konnten. „In Anbetracht des voraussichtlichen Schicksals dieser Gebiete“ gäbe es dabei „vieles zu bedenken oft mehr Hintergründiges als am Tage Liegendes“. Die Verantwortung sei groß, „denn Wiege und Sarg liegen oft nicht sehr weit auseinander“. So beschrieb er am ıs. September seinen Söhnen die prekäre politische Situation, die ihm weit mehr zu tun aufgab, als er ursprünglich gedacht hatte.
Am 13. Juni 1940 waren die beiden Küstendepartements Nord und Pas-de-Calais dem Militärbefehlshaber in Belgien General von Falkenhausen unterstellt worden. Die Somme bildete die Demarkationslinie, die die beiden Norddepartements vom übrigen Frankreich trennte. Sie war bis Frühjahr 1941 eine nahezu undurchlässige Grenze*. Die Militärverwaltung Brüssel/Nordfrankreich war in sechs Oberfeldkommandaturen untergliedert, einschließlich der Oberfeldkommandantur 670 in Lille, deren Stab ungefähr 200 Personen angehörten. Oberfeldkommandant war der 1882 geborene Heinrich Niehoff, ein früherer Polizeigeneral und radikaler Nationalsozialist, der unter Besatzungsherrschaft Gewaltherrschaft verstand
Schmid war nicht weniger als die Franzosen über die Abtrennung der beiden Norddepartements beunruhigt. Niemand wußte, ob die Demarkationslinie nur aus militärischen Gründen gezogen worden war oder ob Annexionsabsichten dahinter standen. Es war zu befürchten, daß die beiden Departements einem „großflämischen“ oder „dietschen“ Satrapenstaat einverleibt würden. Einige der deutschen Besatzer hatten laut verkündet, daß sie gekommen seien, die Flamen zu befreien. In Berlin war eine Entscheidung noch nicht gefallen. Die Befürworter und Gegner hielten sich dort die Waage‘. Im September kam es zu ersten Unterredungen zwischen Angehörigen der Militärverwaltung in Lille und Paris, an denen auch Schmid teilnahm. Es wurde die Unterordnung der Militärverwaltung in Nordfrankreich unter die Militäradministration in Paris verlangt. Zu einem solchen Zugeständnis war Falkenhausen nicht bereit. Aber er sah ein, daß die Besatzungshoheit über die nordfranzösischen Gebiete ohne Absprache mit dem Militärbefehlshaber in Paris nicht ausgeübt werden konnte. So schlug er die Ernennung eines Verbindungsoffiziers vor, der die Brüsseler Militärverwaltung in Paris vertreten sollte‘. Für diesen Botschafterposten hatte Falkenhausen Schmid vorgesehen, der durch seine glänzenden Kenntnisse des französischen Rechts und der französischen Sprache und Kultur für diese Vermittlerrolle geradezu prädestiniert war”. ‘Schmid zögerte, Lille zu verlassen. Die Menschen in Nordfrankreich brauchten ihn. Er sei, so erklärte er seinen Söhnen, zu dem „Mann geworden, bei dem alles zusammenläuft, was von Bedeutung“ ist’. Zumindest Vieles. Schmid verstand es, Niehoffs Gewaltregime zu mildern.
Schmid blieb in Lille, wo um Frankreichs Einheit gerungen werden mußte und wo von Tag zu Tag sich die Ernährungslage verschlechterte. Wenn dort die Dinge so weitergingen wie bisher, war es unausbleiblich, daß die Menschen schwer hungern, wenn nicht gar verhungern mußten?. Die Ernährungslage in der Region Nord war im Herbst 1940 katastrophal. Pferde, Rinder und Schafe waren von den deutschen Truppen nach Deutschland abtransportiert oder abgeschlachtet worden’°. Es mangelte an Fleisch, Fett und vor allem Milch. Die Kindersterblichkeit nahm rapide zu. Zahlreiche Lebensmittel waren nur noch auf dem Schwarzmarkt zu haben, der in Lille blühte, dessen Preise aber so horrent waren, daß nur ein Teil der Bevölkerung sich über den Schwarzmarkt versorgen konnte“. Von seiten der Kirchen wurden Suppenküchen eingerichtet, um die Menschen vor dem Verhungern zu bewahren. Eine Einfuhr von Lebensmitteln war unmöglich, denn der Warenverkehr zwischen Nordfrankreich und dem übrigen Teil Frankreichs war untersagt.
Ende September fuhr Schmid in die Niederlande, um Zucker gegen Butter zu tauschen‘?. Nordfrankreich war ein Zuckerüberschußgebiet. Aber wo sollte er Milch auftreiben? Säuglinge waren vom Hungertod bedroht. Konnte er tatenlos zusehen, wie sie starben? Bei einem der abendlichen Offiziersdiners, an denen er teilzunehmen hatte, überlegte er sich, ob nicht die Wehrmacht einen Teil ihres Milchkontingents zur Verfügung stellen konnte. Doch eine Lösung des Milchproblems war das auch nicht’3. Anfang Oktober kam es in den Kohlerevieren Nordfrankreichs zu kleineren Streiks, denn seit Anfang September hatten „ganze Bergarbeiterstädte nicht ein Gramm Butter und nicht einen Tropfen Milch bekommen“ ‚#. Schmid war verzweifelt. In der Oberfeldkommandantur wuchs die Zahl derer, die die Streiks mit Gewalt unterdrücken wollten. Am 7. Oktober berichtete er der Familie in Tübingen: „Schon sind Leute bei der Hand, die Geiseln festsetzen wollen und Anschläge vorbereiten des Inhalts: Wer nicht binnen 24 Stunden … der wird … – als ob die Leute davon satt werden! Das alles wird mir viel zu tun geben …15“‘
Er mußte handeln, wenn er nicht mitschuldig an den Verbrechen des Besatzungsregimes werden wollte. Doch mit legalen Mitteln ließ sich ebenso wenig ausrichten wie mit Appellen an die Humanität. Wenn er wirklich helfen wollte, durfte er auch den Weg der Illegalität nicht scheuen. Es fiel ihm, dem Juristen, nicht ganz leicht, seine diesbezüglichen Skrupel zu überwinden. Die Betroffenheüibte r das Leiden der nordfranzösischen Bevölkerung war schließlich stärker als alle juristischen Bedenken. Er tat sich mit einer Bande von Schmugglern zusammen, die bereit waren, Kühe über die belgische Grenze zu schmuggeln. Was er seinen Söhnen über diesen Handel schrieb, liest sich wie eine Räubergeschichte. Sie hat sich aber tatsächlich ereignet’°. Hans und Martin erhielten einen detailgenauen Bericht über den Coup mit den Schmugglern: „ich werde sie (die Schmuggler) mit den erforderlichen Geleitscheinen ausstatten und für Eisenbahnwagen sorgen, außerdem werde ich ihnen je Haupt Vieh 5000 frs. (250,- RM) Vorschuß verschaffen. Dafür werden sie jenseits unserer Grenzen 10000 Stück Milchkühe kaufen, sie über die Grenze bringen und in unserem Bezirk den Bauern verkaufen. (…) Das Geld habe ich schon besorgen können, die Verwaltungen der Gruben haben es mir, als ich sie sehr, sehr dringend darum bat, zur Verfügung gestellt, wenigstens die ersten 5 Millionen für die ersten 1000 Stück, mit denen wir die Probe machen wollen. Die Eisenbahnwagen muß ich noch besorgen, vorläufig 100 für die ersten beiden Transporte, das wird nicht leicht sein, denn erstens haben wir kaum welche (170000 davon sind nach Deutschland gebracht worden statt 60000, wie vorgesehen war) und dann ist ja unser Plan gegen alle Bestimmungen! Ich werde es aber schon schaffen, wenngleich ich heute noch nicht recht weiß, wie ich es machen soll (al So werde ich gegen französisches Recht und gegen deutsche Bestimmungen handelnd, den Kindern von Lens und Bethune Milch verschaffen können, 100 000 Liter schöner weißer Milch, wenn alles gut gehen sollte, und manches arme Wesen wird am Leben bleiben, das sonst verhungern müßte.“ ‚7
Das klang abenteuerlich. Aber die geplante Aktion klappte. Mitte November waren die Kühe im Besitz französischer Bauern. Um zu verhindern, daß die Kühe abgeschlachtet werden, ließ Schmid eine Kartei anlegen, in der der An- und Verkauf von Milch an die Molkereien registriert wurde’°. Zumindest verhungern mußte niemand mehr, wenn auch die Menschen weiterhin hungerten und froren. Die Kohle wurde der Hausbrandversorgung entzogen uund fast ausschließlich den Kriegsbedarf produzierenden Fabriken zur Verfügung gestellt‘?.
Schmid zog immer mehr Aufgaben an sich heran. Nur so konnte er zumindest in Teilbereichen die Schwere des Besatzungsregimes abmildern. Die Aufsicht über die französische Justiz und die Gefängnisse, über die er sich Anfang September genaue Unterlagen erbat”°, beanspruchte ihn zunächst weniger als der Kampf gegen Plünderungen, Beschlagnahmun- ‘ gen und den Schwarzmarkt. Er ließ nichts unversucht, daß die beschlagnahmten Universitäts- und Schulgebäude von den Truppen freigemacht und für den Unterricht freigegeben wurden. Den Kampf, den er deswegen mit der örtlichen Feldkommandantur und den örtlichen Truppenbefehlshabern auszufechten hatte, war oft zäh. Manchmal ließen sich nur Kom- .promißlösungen erreichen. So konnte ein Kommandant, der seine Truppe in der Kunstgewerbeschule in Lille einquartiert hatte, dazu überredet wer- . den, mit dem Leiter der Schule eine Abmachung zu treffen, daß Truppen und Schüler die Schule gemeinsam benutzen konnten?‘. Die örtliche Feldkommandantur 569 hatte darauf beharrt, daf% sämtliche Räume beschlagnahmf bleiben mußten. Die Verhandlungen um Freimachung einiger beschlagnahmter Hörsäle der Katholischen Universität Lille dauerten über zwei Jahre”?. Schmid wollte, daß möglichst bald wieder geregelter Unterricht stattfindet. Ende September verlangte er eine detaillierte Übersicht über die Lehrtätigkeit der Hochschulen, Fachschulen, Mittelschulen und Volksschulen. Er wollte vor allem wissen, in welchen Schulen die Lehrtätigkeit nicht wieder aufgenommen worden war und weshalb die Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit unterblieb”?. Viele Lehrer waren im Sommer vor den heranrückenden Truppen ins unbesetzte Frankreich geflohen. Nachdem die Somme zu einer unüberwindlichen Demarkationslinie geworden war, konnten sie nicht zurückkehren. Schmid erreichte, daß sie eine Rückkehrerlaubnis erhielten. Als im Frühjahr 1941 zwei französische Schulinspektoren sich über den Unterrichtsbetrieb in der Region Nord informierten, konnten sie befriedigt feststellen, daß mehr als die Hälfte der Lehrer den Unterrichtsbetrieb wieder aufgenommen hatte?*. Auch um eine Freilassung der sich in Kriegsgefangenschaft befindenden Deutschlehrer bemühte sich Schmid. Er bat den Regionalpräfekten um eine entsprechende Übersicht und Angaben darüber, „wievielen Schülern der einzelne Lehrer im Falle der Freilassung Deutschunterricht erteilen könnte“ 5, Präfekt Carles ließ das Schreiben unbeantwortet, obwohl die Freilassung doch auch in seinem Interesse sein mußte. Schmid sah sich gezwungen, einen Monat später durch einen Mahnbrief seinem Anliegen Nachdruck zu verleihen‘. Die Bewohner der Region Nord hatten sich nur sehr widerwillig zu einer Politik der Kollaboration entschlossen. Sie hatten bereits im Ersten Weltkrieg unter deutscher Besatzung gelitten. Für sie waren die Deutschen, zumindest wenn sie Uniform trugen, „les Boches“ 7. Fernand Carles war der einzige Funktionsträger im Departement Nord gewesen, der nicht in das unbesetzte Frankreich geflohen war”. Bereits seit 1936 bekleidete er das Amt des Regionalpräfekten. Er galt als ein stolzer französischer Patriot. Die Anordnungen der deutschen Besatzungsmacht ließ er erst einmal liegen oder zögerte ihre Bearbeitung hinaus, um Zeit zu gewinnen. Das traf dann auch wohlwollend gemeinte Vorschläge wie die Schmids. Zunächst mißtraute man auch ihm wie allen Deutschen. So mußte er nicht nur in der Oberfeldkommandantur einen Kampf gegen Inhumanität und Brutalität führen, sondern auch noch die französische Verwaltung zu einer Zusammenarbeit mit ihm überreden. Ständiger persönlicher Einsatz war verlangt. Dabei überwand er die letzten Reste von Schüchternheit.
Die Zusammenarbeit zwischen Besatzungsmacht und Landesverwaltung wurde durch Artikel 43 der Haager Landkriegsordnung geregelt. Danach stand der Militärverwaltung eine eigene Regierungs- und Verwaltungshoheit zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung zu, die aber an die Beachtung der bestehenden Landesgesetze gebunden war”. Die französischen Amtsinhaber verwiesen auf diesen Zusatz, um Übergriffe der deutschen Besatzungsmacht abzuwehren. Sie wurden dabei von Schmid unterstützt, der insbesondere dafür sorgte, daß der Unterricht an Hochschulen und Schulen von Eingriffen der Besatzungsmacht verschont blieb?°. Untersagt war der Gebrauch der vom Vichy-Regime untersagten Schulbücher. Gelegentlich erließ Falkenhausen Anordnungen, die Schmid nur kopfschüttelnd weiterleiten konnte. So durfte seit Frühjahr 1941 nicht mehr Erich Kästners „Emil und die Detektive“ als Lektüre im Deutschunterricht benutzt werden?!, Eine Änderung dieser Anordnung ließ sich nicht erreichen. Kästner war nun einmal ein von den Nationalsozialisten verfemter Schriftsteller. Die Kontrolle der Schulenoblag französischen Schulinspektoren und wurde sehr lax gehandhabt. Schmid bemühte sich seinerseits darum, daß kein Scharfmacher zum Schulinspektor ernannt wurde’?. Die Mehrzahl der Lehrer Nordfrankreichs stand der Regierung Petain ablehnend gegenüber und äußerte ihre Kritik gelegentlich auch im Unterricht. Es kam vereinzelt zu Denunziationen, die Schmid, wenn immer es möglich war, abzufangen oder zurückzuweisen versuchte33.
Nicht alle Eingriffe in das französische Recht waren Schikanen. Eine der ersten Arbeiten, die Schmid in Lille in Angriff nahm, war die Ausarbeitung einer Verordnung für eine effiziente Bekämpfung des Schwarzmarkthandels. Wenn sich die ohnehin schlechte Ernährungslage nicht noch mehr verschlechtern sollte, mußten alle Vergehen gegen die seit August verordnete Höchstpreisgesetzgebung mit äußerster Strenge verfolgt werden. Schmid schlug vor, das „Verfolgungsmonopol“ der regionalen Preiskomitees aufzuheben und ein Ordnungsstrafverfahren einzuführen. Die „Begrenzung des Strafrahmens der angedrohten Geldstrafen“ sollte wegfallen. Der Richter sollte „konfiskatorische Geldstrafen“ aussprechen können°*. Als er seinen Vorschlag den französischen Stellen unterbreitete, stieß er dort auf Ablehnung. In der Verordnung sah man einen Eingriff in die französische Legislative’5. Schmid wußte, welche Bedeutung die Legislative für das republikanische Staatsverständnis der Franzosen hatte, und gab nach. Er hätte besser Härte gezeigt und sich durch- “gesetzt. Der Schwarzhandel blieb ein Problem während der ganzen Besatzungszeit. Doch er wollte nicht als Besatzer auftreten und akzeptierte das ihm gegebene Versprechen, daß die französischen Behörden für eine schärfere Strafverfolgung Sorge tragen wollten?°. Die Kooperation mit den Franzosen war alles andere als einfach
In den beiden nordfranzösischen Departements waren die Verordnungen des Militärbefehlshabers in Brüssel und die Gesetze Vichys, die durch die Oberfeldkommandatur bestätigt werden mußten, geltendes Recht. Schmid hatte, wie bereits erwähnt, die undankbare Aufgabe, zu entscheiden, welche Gesetze Vichys in Nordfrankreich eingeführt werden sollten. Er’hatfe sich durch einen Wust von Gesetzen, Verordnungen und Dekreten durchzuarbeiten, die fast alle den Wirtschafts- und Ernährungssektor betrafen. Einfach übernehmen ließen sich die Gesetze und Verordnungen nicht. Dem standen die Verordnungen des Militärbefehlshabers in Brüssel und die im Vergleich zum übrigen Frankreich weitaus ungünstigere Ernährungs- und Versorgungslage entgegen. Die vom Vichy-Regime erlassenen Verfassungsgesetze konnten ohne Einschränkung zugelassen werden, auch ein Teil der Wirtschaftsgesetze, soweit sie nicht die Preisfestsetzung und Rationierung betrafen. Käse, Fette, Milch und Kaffee mußten in Nordfrankreich weitaus strenger rationiert werden als im übrigen Frankreich. Schmid vermied es, die Gesetze und Verordnungen, die nicht übernommen werden konnten, einfach außer Kraft zu setzen. Im Verkündungsblatt der Oberfeldlkommandatur ließ er sie aufführen als „Gesetze, Verordnungen und Dekrete, die nur mit Einschränkungen und mit Auflagen vollzogen werden können“ ?”.
Schmid setzte alles daran, eine wirtschaftliche Zweiteilung Frankreichs zu vermeiden. Nordfrankreich war das Zentrum des Kohlenbergbaus und der Textilindustrie. Eine Abtrennung vom übrigen Frankreich hätte den Zusammenbruch der französischen Wirtschaft bedeutet. Das entsprach durchaus den Intentionen führender Nationalsozialisten, Frankreich in ein Agrarland zu verwandeln3°®. Oberfeldkommandant Niehoff stellte sich nach Rücksprache mit der Brüsseler Militärverwaltung dem Versuch, eine einheitliche französische Wirtschaftsverwaltung zu schaffen, entgegen°”. Er untersagte die Zuständigkeit der vom Vichy-Regime ins Leben gerufenen Organisations- und Warenstellen, die für die Planung und Lenkung der gewerblichen Wirtschaft und die Verteilung der Produktion verantwortlich waren, für die nordfranzösische Wirtschaft. Dort sollten eigene Organisations- und Warenstellen geschaffen werden, deren Leiter von den deutschen Besatzungsbehörden und nicht, wie im übrigen Frankreich, von der französischen Regierung zu ernennen waren. Sie sollten unabhängig von den Organisations- und Warenstellen in Paris und nur der deutschen Besatzungsmacht verantwortlich sein®. War dies der erste Schritt zur wirtschaftlichen Abtrennung Nordfrankreichs?
Schmid fuhr nach Paris, um mit Vertretern der französischen Regierung die Angelegenheit zu besprechen. Er war nicht weniger besorgt als die Franzosen selbst und suchte nach einer praktischen Lösung des Problems, da eine politisch-rechtliche vorläufig nicht durchsetzbar war. Am 8. Januar hatte er eine Unterredung mit dem Staatssekretär im Ministerium für industrielle Produktion, dem späteren Produktionsminister Jean Bichelonne. Man kam überein, daß die von der deutschen Besatzungsmacht ernannten Warenstellenleiter durch die französische Regierung bestätigt werden sollten, wodurch die dortigen Warenstellen den Rang von Filialen der Pariser Warenstellen erhielten. Der Wirtschaftsplan der Pariser Stellen sollte auch für die Warenstellen in Nordfrankreich verbindlich sein. Um die Kommunikation zwischen den Pariser und Liller Stellen zu erleichtern, wollte sich Schmid dafür einsetzen, daß eine Fernsprechleitung zwischen den beiden Stellen geschaffen wurde*‘. Das war eine Notlösung, für die Oberfeldkommandant Niehoff nur schwer zu gewinnen war. Mitte Januar fuhr Schmid noch einmal nach Paris, um noch einige offen gebliebene Fragen zu klären. Während Niehoff das Vichy-Regime völlig ignorierte, war er zu einer Art Botschafter zwischen Lille und Paris geworden. Er hatte einen nicht geringen Anteil daran, daß die wirtschaftliche Spaltung des Landes vermieden wurde*.
Noch immer war die Somme Sperrgebiet, noch immer konnten keine Lebensmittel nach Nordfrankreich eingeführt werden. Auch hier versuchte Schmid zu verhandeln und Notlösungen zu finden. Wenn Einfuhrgenehmigungen auf legalem Wege nicht zu erwirken waren, griff er wie schon im Herbst 1940 auch zu unerlaubten Mitteln. Er stellte selbst Einfuhrgenehmigungen aus. Der Stempel der Oberfeldkommandantur genügte in der Regel, um die Sperren zu durchbrechen. So konnte vor allem das Einfuhrverbot für Vieh, das ein Grund für den Hunger in der Nord- ‚ region war, umgangen werden®*. Gelegentlich, wenn es eilte, fuhr er auch selbst an die Grenzstellen, um das Nötige zu veranlassen*+. Er war ein Mann, der in Ausnahmesituationen Phantasie und Geschick bewies.
Freilich, mit Notlösungen konnte man auf die Dauer nicht leben. Es mußte über kurz oder lang eine rechtliche Regelung des ganzen Problems gefunden werden. So kam es ihm gelegen, daß Victor Bruns ihn im August 1941 zu einem Vortrag auf der Tagung des Völkerrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht und der Gesellschaft für Völkerrecht und Weltpolitik einlud#. Getreu seiner Devise, daß es besser sei, in der Wüste zu predigen als in der Kirche, hatte er auch schon in den dreißiger Jahren auf Tagungen der Akademie für Deutsches Recht gesprochen. Auf der jetzigen Tagung hoffte er, seiner Forderung nach einer einheitlichen Wirtschaftsverwaltung in Frankreich Gehör verschaffen zu können. Am 10. Oktober 1941 stellte er einem überwiegend nationalsozialistisch gesinnten Publikum seine politischen Vorstellungen über die „Wirtschaftsverwal- .tung der besetzten westlichen Gebiete“ vor. Der Vortrag machte in den 6oer Jahren Schlagzeilen. Schmid wurde vorgeworfen, die „Auspowerung“ Frankreichs befürwortet zu haben*°. Es war eine böswillige Verleumdung. Gewiß, er verteidigte seinen Standpunkt nicht mit Appellen an die Humanität, sondern unter Hinweis auf wirtschaftspolitische Gesichtspunkte. Er versuchte seine Zuhörer davon zu überzeugen, „daß man die Henne, die einem goldene Eier legen soll, nicht nur nicht schlachten darf, sondern daß man sie auch füttern muß“. Zudem: „Ein besetztes Gebiet, das hungert, ist eine schwere militärische Gefahr für eine Kriegspartei, die vielleicht auf verschiedenen Kriegsschauplätzen Krieg führen muß.“ #7 Schmid machte sich den Zynismus der Nationalsozialisten zu eigen, weil ihm dies als die einzige Möglichkeit erschien, ihnen die Notwendigkeit einer einheitlichen Wirtschaftsverwaltung zu demonstrieren. Humanitäre Gesichtspunkte oder französische Interessen hätten sie kaum als Argument gelten lassen. Auch die Franzosen gingen mittlerweile dazu über, an deutsche Interessen zu appellieren, um die wirtschaftliche Ausblutung Frankreichs zu verhindern““.
Schmid lobte die Vorbildlichkeit der französischen Wirtschaftsverwaltung. Sie sei gekennzeichnet durch eine „straffe Zusammenfassung aller Kräfte und eine unbedingte Garantie für die Wahrung des öffentlichen Interesses“. Die französische Wirtschaftsorganisation sei vermutlich „deshalb so sehr viel elastischer als die in Deutschland, weil so gut wie jeder Unterbau und jede Tradition eines kollektiven Denkens bei den betroffenen Kreisen fehlten.“* Das war eine deutliche Kritik am NS-Regime. In Belgien und den beiden Departements Nord und Pas-de-Calais erfolge die Lenkung der Wirtschaft aufgrund deutscher Anweisung. Das habe den Nachteil, daß die Verantwortung der deutschen Militärverwaltung für das Funktionieren der Wirtschaft dort „erheblich größer“ sei als im übrigen Frankreich. Die dortige Wirtschaftsverwaltung sei auf die Mitwirkung der Franzosen angewiesen. Man könne sie aber nur zur Mitarbeit bewegen, wenn man ihnen nicht länger zumute, die Selbständigkeit der nordfranzösischen Wirtschaftsverwaltung durch französisches Recht zu sanktionieren. Carlo Schmid schloß seinen Vortrag mit der Feststellung, daß die nordfranzösischen Arbeiter nur für die deutsche Wirtschaft arbeiteten, wenn sie nicht zu hungern brauchten, was nur durch eine einheitliche Wirtschaftsverwaltung zu erreichen sei.
Es dauerte noch fast ein halbes Jahr, bis die nordfranzösischen Warenstellen den Pariser Stellen untergeordnet wurden. Im März 1942 erhielten sie gegen den Willen Niehoffs, der von Schmid und einigen anderen Mitgliedern der Militärverwaltung, die seine Bemühungen unterstützten, einfach übergangen wurde, offiziell den Status von Regionalbüros°, Bereits im Dezember 1941 konnten dank Schmids Diplomatie die Warenstellenleiter von der französischen Regierung ernannt werden. Mit der Besetzung ganz Frankreichs im Herbst 1942 wurde Frankreich zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet erklärt.
Carlo Schmids Vortrag, der ihm später als Bekenntnis zum Nationalsozialismus ausgelegt wurde, wurde von den damaligen Gegnern des Regimes verstanden und begrüßt. Helmuth James von Moltke kam nach dem Vortrag auf ihn zu und lud ihn zu einem Gespräch zu sich nach Hause ein. Für Moltke war Schmid kein Unbekannter. Er hatte schon früher erfahren, daß in der Militärverwaltung in Lille ein Mann arbeitete, der seine Ideen voll und ganz unterstützte’. Möglicherweise hatte Victor Bruns, zu dem Moltke engen Kontakt hatte, von Schmid berichtet, vielleicht auch Karl Hegner, der Chef der Liller Abwehr, dem Schmid manche Warnung vor Aktionen, die der Sicherheitsdienst gegen ihn plante, zu verdanken hatte”. Moltke arbeitete seit Kriegsbeginn als Kriegsverwaltungsrat in der Admiral Canaris angegliederten Abteilung Ausland-Abwehr im OKW.Er war dort als völkerrechtlicher Berater tätig und bemühte sich um eine Neufassung des Kriegsrechts, für das noch immer die Haager Landkriegsordnung von 1907 maßgebend war. Sein Spezialgebiet war der Land- und Wirtschaftskrieg. Sein Ziel war es, die Ausplünderung der von Deutschland besetzten Gebiete zu verhindern. Bald schon befaßte er sich mit der Geiselproblematik und versuchte durch Gutachten den völkerrechtswidrigen Charakter von Geiselerschießungen darzulegen3.
Die zweistündige Unterredung zwischen Schmid und Moltke war für beide Seiten „sehr lohnend“. Schmid machte auf Moltke einen „hervorragenden Eindruck“ + Man vereinbarte, die Gespräche forteirhetzen! um sich gegenseitig über die politische Entwicklung zu informieren und nach Mitteln zu suchen, die Abscheulichkeiten des Regimes einzudämmen. Alle drei bis vier Monate scheint es zu Lagebesprechungen gekommen zu sein.
Moltke war die wichtigste Kontaktperson Schmids zu deutschen Widerstandskreisen. Verbindung hatte er auch zu Oberleutnant Werner von Haeften, der ihn über die politischen Entscheidungen der Führungsspitze in Berlin informierte. Nach seiner schweren Verwundung im Winter 1942 war Haeften ins OKW nach Berlin versetzt worden, wo er zunächst einen Posten beim Generalquartiermeister hatte. 1943 fertigte er ein Gutachten über die Geiselverhaftungen und -erschießungen in Belgien an. Ende 1943 wurde er Ordonnanzoffizier bei Stauffenberg, dessen Attentatspläne er unterstützte. Am 20. Juli wurde er zusammen mit Stauffenberg in der Bendlerstraße festgenommen und erschossen. Haeften war es vermutlich, der Schmid völlig verzweifelt mitteilte, daß Hitler im Führerhauptquartier „eiskalt“ die Meinung vertreten habe: „Wenn das deutsche Volk nicht bereit ist, für seine Selbsterhaltung sich einzusetzen, ganz gut: Dann soll es verschwinden!“ 53 Obwohl der verbrecherische Wahnsinn dieses Kriegs Schmid von Anfang an bewußt war, war er über diese Worte doch sichtlich betroffen und erschrocken. Er haßte das NS-Regime. Er schämte sich, . eine deutsche Uniform zu tragen, so daß er nach Dienstschluß zumeist in Zivil ging, obwohl dies nicht gern gesehen wurde‘°. Aber er war doch ein deutscher Patriot.
Freilich, er war schon immer der Auffassung gewesen, daß auf Hitlers Kriegsführung nicht mäßigend eingewirkt werden könne. Schon im September 1940, als er mit Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg zusammentraf, dessen Sonderstab sich in Lille auf die geplante Invasion und Pets Englands vorbereitete, hatte er keine Hoffnung mehr, daß Hitler Argumenten der Vernunft oder gar der Humanität zugänglich sein würde’. Er glaubte nicht wie Schulenburg in jenen Jahren noch an die Reformierbarkeit des NS-Regimes’?.
Wie hätte er auch daran glauben sollen, wo ihm doch die Brutalität des Besatzungsregimes in Lille täglich vor Augen stand? Noch vor seiner Einberufung nach Lille waren dort Geiseln festgenommen worden, nachdem es in einigen Orten zu Sabotageakten gekommen war und Engländer trotz Verbots Unterschlupf erhalten hatten. Schmid rang um die Freilassung der Geiseln, der Oberfeldkommandant Niehoff im Oktober endlich zustimmte. Doch eine Abkehr von der Praxis der Geiselnahme bedeutete die Freilassung nicht. Niehoff drohte an: „Wo jedoch in einzelnen Ortschaften weiterhin Sabotageakte vorkommen sollten, die nicht aufgeklärt werden können, behalte ich mir weiterhin die Festnahme Wehrfähiger aus den betreffenden Orten und andere geeignete Maßnahmen vor.“ °? Bereits 1940 kam es zu Zwangsdeportationen von Arbeitern nach Deutschland. Im November wurden Jugendliche nach einem Kinobesuch festgenommen und ins „Reich“ abtransportiert°®. Präfekt Carles protestierte und bat Schmid um Hilfe‘. Was sollte Schmid gegen diese Deportationen tun, die von deutschen Werbestellen des Reichsarbeitsministeriums in Lille ausgegangen waren? Er wollte helfen, aber er vermochte oft nur wenig.
Wie belastend und erdrückend das Leben in Lille für ihren Vater war, erfuhren Hans und Martin in einem Brief vom ı. Dezember 1940: „Ich werde auf mein Büro gehen und viele Seiten Papiers schwärzen; ich werde mit wachen und stumpfen Menschen zu verhandeln haben und schon glücklich sein, wenn das Ergebnis nicht zu viel Unheil über die Menschen bringt. Am Abend werde ich dann mit den gleichgültigen Leuten essen, mit denen ich auch sonst die Tafel teile und sehnsüchtig wie immer auf den Augenblick warten, da der General die Tafel aufhebt, wann es geschehen wird, wird auf die Länge seiner Zigarre ankommen.“ Schmid fühlte sich verantwortlich für die Verbrechen, die in deutschem Namen begangen wurden. Wenn er „auch helfe“, so wisse er sich doch „der Mitsünde damit nicht entbunden“ %. Oft war er gezwungen, seine Freizeit mit Niehoff zu verbringen. Wollte er überhaupt etwas erreichen, so durfte er den Umgang mit ihm nicht meiden, so durfte er sich nicht von den abendlichen Geselligkeiten ausschließen. Hätte er seine Abscheu allzu offen gezeigt, hätte er sich überhaupt kein Gehör mehr verschaffen können. So war er zu einer Art Doppelleben gezwungen.
Die deutschfeindliche Stimmung in der nordfranzösischen Bevölkerung nahm 1941 noch weiter zu. „Das Volk beginnt uns zu hassen“, stellte Schmid schon zu Jahresbeginn fest°*. Im Frühjahr 1941 kam es wiederholt zu Sabotageakten und Attentaten gegen Wehrmachtsangehörige. Schmid fürchtete, daß die Menschen Nordfrankreichs nicht länger bereit seien, die Politik der Kollaboration zu unterstützen. „Das Leben“, berichtete er Mitte Mai seinen Söhnen, „wird bei uns schwieriger. Das Volk bäumt sich gegen die Entschlüsse seiner Regierung auf und sucht Zwischenfälle, die uns zu Maßnahmen zwingen, die ein weiteres Verhandeln mit Petain unmöglich machen könnten. Wir fürchten den Ausbruch des Generalstreiks; in den letzten ro Tagen sind in L{ille) 3 deutsche Soldaten nachts erstochen worden, als sie nach Hause gingen (…). Bisher konnte ich den General noch von der Sinnlosigkeit von Gewaltmaßnahmen überzeugen, aber lange werde ich es nicht mehr können und was wird dann geschehen
Der Streik in den Kohlerevieren brach am 27. Mai aus. Die Bergleute forderten eine so%ige Lohnerhöhung und eine bessere Lebensmittelversorgung. Die Streikleitung lag in den Händen der Kommunisten, die den Streik als einen nationalen und sozialen Kampf auffaßten‘. Schmid begab sich in das Streikgebiet und versuchte mit der Streikleitung zu verhandeln.
Er hatte keinen Erfolg”. Bei den Streikenden herrschte das Gefühl „nichts zu verlieren und alles zu gewinnen zu haben“, General Niehoff ließ sich nunmehr von Gewaltmaßnahmen nicht mehr abhalten. Am 3. Juni ordnete er die Festnahme von 11 Streikenden an und ließ ihre Verurteilung zu fünf Jahren Zwangsarbeit öffentlich bekanntgeben. Tags darauf befanden sich 80% aller Bergleute im Streik. Am s. Juni wurden auf Anordnung Niehoffs über 200 Bergleute festgenommen. Am 6. Juni wiederholten die Bergleute ihre Forderungen‘®. Niehoff sprach davon, dem Streik ein Ende setzen zu wollen, koste es, was es wolle?°. Zwei Tage später schrieb Schmid Hans und Martin fast erleichtert: „Der Streik wird wohl morgen zu Ende gehen; der Hunger hat ihn bezwungen. Blut ist trotz des Einsatzes von Truppen nicht geflossen. Vielleicht habe ich daran einiges Verdienst, aber es läßt einen bittren Geschmack zurück, daß man nicht durch den Hinweis auf die Menschlichkeit, sondern auf den Propagandawert eines Verhaltens Erfolg hatte.“”‘ Am 9. Juni nahmen die Bergleute ihre Arbeit wieder auf. Ihre Lohn- und Lebensmittelforderungen waren auf Druck der deutschen Besatzungsmacht von den französischen Bergwerksbesitzern weitgehend erfüllt worden. Die deutsche Besatzungsmacht hatte sich hinter die Arbeiter und gegen die kommunismusfeindlichen Bergwerksbesitzer gestellt, für die immer noch das Prinzip der Werksfeudalität galt”. Für Niehoff, der schon eine Woche nach Beendigung des Streiks bekannt geben ließ, daß er mit Streikenden niemals verhandle, war dies ein Propa- . gandacoup, durch den die nationale Front gegen Deutschland aufgespaltet werden sollte”. Vermutlich hatte Schmid ihn’ zu diesem Coup überredet, weil er Blutvergießen verhindern wollte. Ein Eingreifen der Truppen hätte schreckliche Folgen gehabt: zahlreiche Tote und möglicherweise das Ersaufen der Schächte. Der Haß der Bergleute gegen die Besatzer dauerte unvermindert fort. Nach Beendigung der Streiks wurden die 200 verhafteten Bergleute in das Konzentrationslager nach Sachsenhausen deportiert.
Schmid war schon froh, wenn es nicht zum Schlimmsten kam. Er begnügte sich aber keineswegs damit, auf Niehoff mäßigend einzuwirken. Allzu oft hatte er keinen Erfolg damit. Die meisten Menschen konnte er nur durch sein illegales Wirken retten, durch das er sein eigenes Leben in Gefahr brachte. Sobald er von Aktionen und Gewaltmaßnahmen der Nationalsozialisten erfuhr, warnte er die Franzosen. Jean Lebas, der langjährige sozialistische Bürgermeister Roubaix’ und Arbeitsminister in der Volksfront-Regierung Leon Blums, wäre den Nationalsozialisten nicht in die Hände gefallen, wenn man auf französischer Seite eine Warnung Schmids ernst genommen hätte. Lebas wurde am 21. Mai 1941 verhaftet und zur Zwangsarbeit in einem deutschen Konzentrationslager verurteilt. Im März 1944 erlag er den Mißhandlungen, die er dort über sich hatte ergehen lassen müssen. 48 Stunden vor der Verhaftung hatte Schmid Präfekt Carles von der drohenden Verhaftung unterrichtet. Sein Schreiben hatte er, um weniger Verdacht zu erregen, an die Frau des Präfekten Jacqueline adressiert. Fernand Carles scheint eine Falle vermutet zu haben. Warum sollte ausgerechnet ein Deutscher sein eigenes Leben riskieren, um einen Franzosen zu retten? Er gab die Warnung erst viel zu spät weiter”*. Erst nach Lebas’ Verhaftung traute er Schmid. Als Schmid ihn kurze Zeit später darüber informierte, daß sich ein Polizeispitzel in die Präfektur eingeschlichen hatte, beherzigte er die Mahnung zur Vorsicht’°. Schmids Warnbriefe an Carles existieren nicht mehr. Sie wurden von Alain Carles, dem Sohn des Präfekten, zerstört. So wissen wir nicht, wie vielen Menschen er durch seine Briefe das Leben retten konnte.
Nur noch wenige Zeugnisse von Schmids hilfreichem konspirativen Wirken sind überliefert. Ein Mitglied des „scoutisme catholique“ in Lille kann sich erinnern, von Schmid vor eigener Unachtsamkeit gewarnt worden zu sein. Die katholische Pfadfinderbewegung, die offiziell verboten war, war neben der kommunistischen Rösistance eines der ersten Widerstandszentren in Nordfrankreich”°. Einige Mitglieder der Pfadfinderbewegung waren so unvorsichtig, daß ihre Morselichtzeichen in der Nacht zu sehen waren. Schmid ließ ihnen mitteilen, daß sie in Zukunft besser aufpassen sollten, da einige Militärs schon Verdacht geschöpft hätten’7. Die Vermittlerrolle zwischen Schmid und der französischen Resistance übernahm Marcel Pasche. Schmid selbst hatte keine engeren Kontakte zur Resistance. Das wäre zu gefährlich gewesen. Marcel Pasche war ein junger Geistlicher aus der Schweiz, den die dortige reformierte Kirche zur Betreuung der protestantischen Gemeinde in Roubaix abgesandt hatte. Er hatte 1935/36 bei Karl Barth in Basel studiert und wollte nun in der protestantischen Diaspora Nordfrankreichs im Geiste der Bekennenden Kirche wirken. Schmid unterstützte ihn dabei, so gut er konnte. Er stattete ihn mit Papieren aus, die den Stempel der Oberfeldlkommandantur und seine Unterschrift trugen. Dadurch konnten Grenzkontrollen überwunden und manchem zur Flucht oder auch zur Einreise in die noch immer abgetrennten Norddepartements verholfen werden. Schmid soll sich über die Dummheit der Beamten mokiert haben, wenn er Pasche die Papiere in die Hand drückte”®. Doch die Sache war todernst. Sie hätte Schmid Kopf und Kragen kosten können. Ende 1942 bekam Pasche von Schmid die nötigen Papiere, um zu Karl Barth in die Schweiz zu reisen. Er kehrte mit zwei jungen Geistlichen zurück, die ihn in seiner Widerstandstätigkeit unterstützen sollten. „Der Herr öffnet die Schleusen, man muß das ausnutzen“, schrieb Pasche Anfang Dezember 1942 Barth, der die beiden Geistlichen, die offiziell als „Bergwerkskirchengemeindehilfspfarrer“ fungierten, empfohlen hatte”?. Der Herr, der die Schleusen geöffnet hatte, war Schmid, der die ganze Aktion deckte.
Auch einigen Juden mag Schmid durch das Ausstellen falscher Papiere zur Flucht verholfen haben. In seinen Erinnerungen schrieb er, daß er sich mit Pasche besprochen habe, wie man die Juden vor den drohenden Deportationen bewahren könne. Er habe Pasche aufgetragen, die jüdische Bevölkerung vor den geplanten Maßnahmen zu warnen und ihnen zur Flucht in das unbesetzte Frankreich zu raten“. Helfen konnte man aber vermutlich nur im Einzelfall. Schmid mag es nicht gewußt haben. Nur wenige Juden trugen in Nordfrankreich einen Judenstern. Aber es war keineswegs so, daß sich in Nordfrankreich kaum mehr Juden befanden, als im Spätsommer 1942 die Juden nach Auschwitz deportiert wurden”‘. Nicht mehr ganz zweitausend Juden lebten 1942 in Nordfrankreich. 600 wurden in Güterzüge verfrachtet, die sie direkt in deutsche Konzentrationslager brachten”.
Was er tun konnte, um Menschen zu helfen, tat er. So unterstützte er im Frühjahr 1941 Pasche beim Aufbau eines „secretariat d’assistance judiciaire“, dem die Aufgabe zukam, Franzosen, gegen die ein deutsches Kriegsgericht Anklage erhoben hatte, zu einem französischen Verteidiger zu verhelfen. Auch mittellose Angeklagte blieben dank dieser Einrichtung nicht ohne Rechtsbeistand. Schmid beriet die französischen Rechtsanwälte bei der Abfassung ihrer Plädoyers“’. Die Einrichtung bewährte sich. Fernand Carles legte 1942 allen Unterpräfekten, Bürgermeistern und Stadtverwaltungen nahe, die Bevölkerung auf deren Existenz aufmerksam zu machen**. Schmid war die Anlaufstelle für die Sorgen und Nöte der Menschen Nordfrankreichs. Er war glücklich, wenn er Menschen helfen konnte. Sein . Leben bekam plötzlich einen Sinn. Manchmal freilich überschätzte er seine rettende Rolle. Er verharmloste die Brutalität des Besatzungsregimes, als er Ende Juli 1941 seinen Söhnen schrieb: „Dieses Jahr hat mir (…) auch Fülle gebracht. Es hat mich zu dem Manne werden lassen, dessen bloßes Dasein für das Schicksal von vier Millionen Menschen wichtiger geworden ist als große politische Vereinbarungen es werden könnten.“° 5 In Lille wurde Schmid zum aktiven Politiker, weil er die Untaten des deutschen „Besatzungsregimes nicht hinnehmen konnte und wollte.
Viel öfter als Zuversicht und Selbstvertrauen sprach aus seinen Briefen Verzweiflung. Am s. September 1941 wurden in Lille erstmals fünf Geiseln erschossen. Drei Wochen später, am 26. September, mußten zwanzig Geiseln ihr Leben lassen, nachdem zuvor Angehörige der Resistance Eisenbahnschienen gesprengt hatten. Schmid konnte kaum darüber sprechen. Seinen Söhnen teilte er zwei Tage später nur mit, daß „Schreckliches“ geschehen sei. Alles sei nun „vergiftet“ 7. Niehoff, der die Exekution befohlen hatte, konnte sich auf eine Anordnung Falkenhausens berufen. Nach zahlreichen Sabotagen und Attentaten hatte Falkenhausen am 26. August 1941 die Weisung gegeben, daß nach jedem tätlichen Anschlag gegen einen Angehörigen der Deutschen Wehrmacht eine „der Schwere der Tat entsprechende Anzahl von Geiseln“ zu erschießen sei, „falls die Verbrecher nicht sofort zu ermitteln sind“ °®. Ein Erlaß Keitels vom 16. September 1941 verfügte, daß ein Attentat gegen einen deutschen Soldaten mit der Hinrichtung von so-r0oo Kommunisten gesühnt werden müsse. In einer Weisung an die Oberfeldkommandanturen vom 26. November bemühte sich Falkenhausen um eine einschränkende Interpretation des Keitel-Erlasses: „Die Festnahme von Geiseln soll mit Zurückhaltung als letztes Mittel angewandt werden.“®® Nach der Haager Landkriegsordnung galt Geiselnahme, soweit sie in einem angemessenen Verhältnis zu den verübten Anschlägen stand, nicht als völkerrechtswidrig?. So mag der Erlaß Falkenhausens, der sich in der Geiselfrage wiederholt von Helmuth James von Moltke beraten ließ, nicht gegen noch geltende Grundsätze des Völkerrechts verstoßen haben. Er verstieß jedoch gegen die elementaren Gesetze der Menschlichkeit. Die Geiselnahme sei eine Rückkehr zu „Denkweisen primitiver Rechtsperioden“, stellte Schmid erbittert fest?‘. In der Oberfeldlkommandantur hielt er Referate über die Unvereinbarkeit der Geiselerschießungen mit dem modernen Völkerrecht??,. Doch bei einem General Niehoff war das alles in den Wind gesprochen.
1941 wurden in Lille keine weiteren Geiseln erschossen, nicht aus Humanität, sondern weil die Attentäter immer gleich ausfindig gemacht werden konnten. Aber die Strafjustiz wurde immer schärfer gehandhabt und seit Ende Oktober 1941 wurden in Lille erstmals Todesurteile vollstreckt. Auch ein 18jähriger Abiturient, der bei einem Ferienaufenthalt in Audressel im August 1941 vorsätzlich ein Telefonkabel mit einem Spaten durchschnitten hatte, war zu Tode verurteilt worden und drohte, hingerichtet zu werden. Schmid erfuhr von dem „Fall Jacques Dervaux“. Er konnte nicht hinnehmen, daß der Junge, ein Sohn eines ihm bekannten Liller Professors für Rechtswissenschaften, sterben sollte und versuchte seine Begnadigung zu erreichen. Ein Begnadigungsrecht stand allein dem Militärbefehlshaber in Brüssel zu, bei dem er kein Vortragsrecht hatte. Er fuhr trotzdem nach Brüssel, um bei Falkenhausen zu intervenieren, der es aber ablehnte, ihn zu empfangen. Falkenhausen war schon mehrmals von höherer Stelle zu mehr Härte und Strenge angemahnt worden. Schmid trug den „Fall Dervaux“ Falkenhausens Ordonnanzoffizier vor, der ein hoher Parteigänger war. Bei dem Gespräch war er abermals gezwungen, sein humanitäres Anliegen als politische Zweckerwägung auszugeben: „Der Junge sei der Sohn des angesehenen Professors Dervaux von der Rechtsfakultät der Katholischen Universität Lille. Welche Rolle Sympathie und Antipathie wichtiger Bevölkerungsschichten für die Verwirklichung der Kriegsziele des Führers gerade in diesem nordischen Gebiet Frankreichs spielen könnten, dürfte wohl klar sein. Wäre es da nicht politisch richtig, den Herrn Militärbefehlshaber zu einem Akt der Gnade zu veranlassen?“° 3 Im November 1941 begnadigte Falkenhausen Dervaux zu lebenslangem Zuchthaus. Sein Vater schrieb wenige Tage später Schmid einen bewegten Dankesbrief?*. 1943 erreichte Schmid die Freilassung des an Tuberkulose erkrankten Dervaux, der 1948 in ein Benediktiner-Kloster in Saint-Benoit-sur-Loire eintrat
Dervaux war nicht der einzige, dem Schmid das Leben rettete, wenngleich sein Schicksal ihn am tiefsten bewegt zu haben scheint. Der junge Dervaux war kaum älter als seine eigenen Söhne. Etwa zur selben Zeit verhinderte er, daß das Kriegsgericht in Lille über eine mit ihm befreundete französische Familie ein Todesurteil verhängte, indem er selbst als Zeuge vor dem Kriegsgericht auftrat”. Immer mehr Liller Bürger suchten ihn auf und baten um Hilfe für ihre Angehörigen, die als Geiseln festgenommen oder verurteilt worden waren oder in den Gefängnissen lebensbedrohende Schäden erlitten. Als er Anfang Januar 1942 von einem kurzen Heimaturlaub in Tübingen nach Lille zurückkam, wurde er sofort wieder mit Hiobsbotschaften konfrontiert. Seine Familie in Tübingen bekam nur einen kurzen Brief über seine wohlbehaltene Rückkehr, denn er erwartete Besuch aus Brüssel, mit dem er „einiges Bedeutsame für das Schicksal einiger junger Menschen zu bereden“ hatte. Erklärend fügte er hinzu: „Denn kaum bin ich wieder hier eingetroffen, stürmt schon so viel Not und Jammer auf mich herein und klammert sich wieder so viele gläubige Hoffnung, ich könnte helfen, an mich, daß ich zehnfache Kräfte und hundertfache Möglichkeiten haben müßte – und dabei vermag ich doch so herzlich wenig. Aber das Wenige soll doch bis in die letzten Winkel hinein in Dienst gestellt werden.“ ?7
In der Zeit vom 31. März bis 30. April 1942 wurden in Lille fünfzig Geiseln exekutiert. In der Nacht vom 25. auf 26. März waren in der Region d’Artois-Douai-Lens Sabotageakte an Eisenbahnlinien verübt worden, durch die ein deutscher Soldat das Leben verlor. Einen Tag später ordnete Falkenhausen die Exekution von fünf Geiseln an, falls die Attentäter nicht innerhalb von drei Tagen gefunden sein sollten; ı5 weitere ‚sollten erschossen werden, wenn innerhalb von zehn weiteren Tagen noch „keine Hinweise auf die Attentäter vorhanden seien. Am 14. April wurden neben den fünfzehn angedrohten Geiseln noch zwanzig weitere erschossen, die man nach der Ermordung eines deutschen Wachpostens am ı1ı. Aprilfestgenommen hatte. Am 30. April wurden zehn Menschen als Sühne für die Ermordung eines deutschen Soldaten hingerichtet?*.
Auf Schmids Schreibtisch lagen die Geiselerschießungsbefehle. Er hatte die Geisellisten zusammenzustellen. Eine grausame Aufgabe für einen Mann seiner Sensibilität und Humanität. Er wurde von Schuldgefühlen fast aufgefressen. Kurz vor der Hinrichtungswelle schrieb er seinen Söhnen: „Diese Woche hat wieder sehr viel Mühsal gebracht und heute wird wieder über Leben und Tod vieler Menschen Beschluß gefaßt werden. Könnt Ihr Euch vorstellen, wie es einem zumute sein mag, der aus einer Kartothek einen Pack Blätter zieht, sie vor sich ausbreitet und dann mit einem Bleistift in die obere linke Ecke der einen oder anderen Karte einen Strich macht, der den Tod bedeutet, den er mit dem gleichen Recht auch auf eine der Karten hätte machen können, die weiß geblieben sind? Es ist ein bittres Ding, unter einem Befehl zu stehen, und die Teufelsausrede ‚wenn ich es nicht mache, macht es ein anderer und schlimmer‘ verfängt nicht immer, um das Herz zu trösten. Welche Künste treibt da nicht der suchende Verstand, um Vorsehung zu spielen …“%% Vorsehung – das hieß, daß Schmid auf die Geisellisten nur die Namen der Gefangenen setzte, die zum Tode verurteilt worden waren und ohnehin in Kürze exekutiert worden wären‘, Niehoff durfte davon nichts erfahren. Sonst wäre es wahrscheinlich auch um Schmids Leben geschehen gewesen. In einem Brief an seine Frau beschrieb er, wie nervenzerreißend die Anspannung bei dieser Manipulation der Geisellisten war: „Das bedeutet, daß ich eine Anzahl Karteiblätter, die vor mir liegen auf verschiedene Häufchen verteile, sie dann hin und her vertausche, sie nach einigen Telefongesprächen neu gruppiere, und was dann endgültig rechts liegen bleiben wird, die paar armseligen Namen, wird überantwortet werden. Es ist furchtbar dies mit kaltem Blute tun zu müssen, aber wehe dem, der dabei seine Hand von Bewegungen leiten ließe, deren Herr er nicht ist.“ !°
Carlo Schmid konnte so in vielen Fällen die grausame Praxis der Geiselexekution unterlaufen. Nach dem Krieg warf ihm der französische Sozialist Guy Mollet vor, er habe Resistance-Angehörige der deutschen Justiz ausgeliefert’°”. Im Straßburger Europarat wollte man sich deswegen nicht mit ihm an einen Tisch setzen’®. Daß er nur auf diese Weise das Leben Unschuldiger hatte retten können, wollten seine Ankläger nicht wahrhaben. Schmid selbst quälten Gewissensbisse. Die Abschiedsbriefe der erschossenen Geiseln lagen auf seinem Schreibtisch. Viele der zum Tode Verurteilten waren Angehörige der Resistance, die für das Verteilen von Flugblättern oder die Gewährung von Unterschlupf für englische Soldaten mit dem Tode bestraft worden waren. Doch was hätte er machen sollen? Seinen Dienst quittieren? Er glaubte nicht, daß man durch Distanz sich weniger schuldig mache: „Tun und Nichttun wirken beide gleichermaßen Schicksal, und wer glaubt, durch Abseitstreten sich aus der Verstrickung lösen zu können, der irrt sich in fürchterlicher Weise.“ !% Die „leufelsausrede“’wenn ich es nicht mache, macht es ein anderer und schlimmer’ enthielt mehr als ein Gran Wahrheit. Er mußte weiter versuchen, die Abscheulichkeiten des Regimes zu mildern. Die Anspannung war manche Wochen fast unerträglich. Ein „wenig Nachlässigkeit“, ein „wenig Bequemlichkeit und Müdigkeit mehr“ konnte Menschen Freiheit und Leben kosten’®,. Und dieser Kampf um Menschenleben beschränkte sich nicht auf die Dienstzeit. Er mußte weiterhin geselligen Umgang mit den Nationalsozialisten pflegen. Beim abendlichen Skatspiel konnte man manchen Verurteilten freibekommen!®. Carlo Schmid kam seine Trinkfestigkeit bei diesen abendlichen Geselligkeiten sehr zugute.
Geiseln wurden zunächst keine mehr exekutiert. Seit Mai 1942 ging man dazu über, die Geiseln nicht mehr zu erschießen, sondern in Konzentrationslager nach Deutschland zu deportieren. Schmid wußte, welches Schicksal den Deportierten widerfuhr. Deshalb war er auch sehr erschrocken, als er erfuhr, daß die im Gefängnis in Douai einsitzenden Kommunisten aus Nordfrankreich weggebracht werden sollten. Als Reaktion auf den Streik der Bergarbeiter im Frühjahr 1941 war in Douai ein Sondergericht zur Aburteilung „politischer Terroristen“ geschaffen worden, das der französischen Justiz unterstand’. Es saßen dort fast ausschließlich Kommunisten ein, die zur Ableistung schwerer Zwangsarbeit gezwungen wurden. Das Gefängnis galt als nicht ausbruchsicher. Außerdem war es völlig überfüllt. So verfügte der französische Generalstaatsanwalt die Verbringung der Strafgefangenen in die Zentralgefängnisse in Poissy, Eysses und Clairvaux’°. Schmid erhob sofort Einspruch gegen die Verfügung. Er ließ Präfekt Carles mitteilen, „daß es aus grundsätzlichen Erwägungen unerwünscht scheint, die vom Sondergericht in Douai verurteilten Kommunisten aus dem Dienstbereich der OFK 670 zu verbringen. Das Gefängnis in Douai kann dadurch entlastet werden, daß die Verurteilten des gemeinen Rechts verschubt werden; gegen deren Verbringung außerhalb Nordfrankreichs bestehen nach wie vor keine Bedenken. Im übrigen wird in Einzelfällen mit dem Herrn Generalstaatsanwalt eine Einigung über die Personen herbeigeführt werden, bezüglich derer Aus- . nahmebewilligungen angebracht erscheinen.“ ‚® Schmid setzte gegen den Willen der Franzosen durch, daß die Anweisung zurückgenommen wurde. Er wußte, daß die Verfrachtung der Kommunisten in die Zentralgefängnisse nur eine Zwischenstation auf dem Weg in deutsche Konzentrationslager war“°. Einem Teil der Franzosen scheint dies nicht bekannt gewesen zu sein, ein anderer sah der Verschickung der Kommunisten in Konzentrationslager gleichgültig zu.
Schmid, der die der Besatzungsmacht gezogenen Grenzen verteidigte und in die Tätigkeit der Gerichte so gut wie nie eingriff, sah sich wiederholt gezwungen, der französischen Strafvollzugsverwaltung Anweisungen zugeben und dort auch Personen auszuwechseln. Wenn er autoritär durchgriff und sich nicht mit der ihm überantworteten Aufsicht über das Gefängniswesen begnügte, so geschah das aus humanitären Gründen. In den nordfranzösischen Gefängnissen, insbesondere in dem Gefängnis Lille-Loos herrschten katastrophale Zustände. Das Gefängnis in Lille- Loos, in dem mehr als 2000 Gefangene einsaßen, war total überbelegt. Zum Teil wurden zehn Gefangene in eine Einzelzelle gesperrt. Sie waren ohne ärztliche Versorgung, obwohl sie nicht selten vor ihrer Einlieferung brutal von der Gestapo zusammengeschlagen worden waren, und erhielten nur völlig unzureichende Lebensmittelzuteilungen. Bis Mittag bekamen sie nichts anderes als Wasser und Brot“‘.
Schmid ließ im Sommer 1942 Lebensmittelkontrollen durchführen und mußte feststellen, daß es zu Unterschlagungen durch das Wachpersonal gekommen war“?. Im August gab er Anweisung, den Gefangenen höhere Essensrationen zukommen zu lassen und die Verteilung der Rationen zu kontrollieren. Er setzte sich dafür ein, daß die Gefangenen morgens warmen Kaffee bekamen und ihnen zu Mittag zusätzlich eine Suppe gereicht wurde'“?. Auch um die medizinische Versorgung der Gefangenen kümmerte er sich. Dem Roten Kreuz verschaffte er Einlaß in die Gefängnisse, damit es die medizinische Versorgung übernehmen, die allgemeine Verpflegung überwachen und sich um die Betreuung der Häftlinge kümmern konnte!’#, Daß die Gefangenenbetreuung, insbesondere die straffällig gewordener Jugendlicher, durch die französische Gefängnisverwaltung völlig vernachlässigt wurde, ließ Schmid, der sich um die Zukunft dieser Jugendlichen sorgte, nicht ruhen. Er bat Präfekt Carles eindringlich, „daß unverzüglich ein Beamter oder mehrere Beamte, die im Strafvollzug an Jugendlichen erfahren sind, sowie geeignete Lehrkräfte nach Loos abgestellt werden.“ In der Zwischenzeit sollten karitative Anstalten die Betreuung der Jugendlichen übernehmen“5. Die Zustände im Jugendstrafvollzug waren so katastrophal, daß sofort Abhilfe geschaffen werden mußte. Schmid legte dem Präfekten nahe, zu improvisieren, wenn der amtliche Weg zu langwierig sei. Es waren Ausnahmezeiten, in denen man nicht immer den vorgeschriebenen Weg gehen konnte.
Schmid hatte den Eindruck, daß der Leiter der Strafanstalt Lille-Loos Bonville seiner Aufgabe nicht gewachsen war. Er wollte ihn ersetzen durch eine Persönlichkeit, die sich mehr durchsetzte und sich mehr für die Häftlinge einsetzte“°, Der sonst gegenüber Präfekt Carles eher zurückhaltend auftretende Kriegsverwaltungsrat Schmid machte seine ganze Autorität geltend und verlangte die Absetzung Bonvilles. Im Dezember 1942 erhielt das Gefängnis Lille-Loos einen neuen Leiter‘!7, aber die unteren Stellen waren immer noch mit völlig ungeeignetem Personal besetzt, was Schmid wiederholt kritisierte'“®.
Um Abhilfe gegen die unerträgliche Überbelegung der Zellen in der Strafanstalt Lille-Loos zu schaffen, ordnete er deren Umbau und die Umfunktionierung von Kasernen zu Gefängnissen an. Um die dafür notwendigen Baustoffe wollte er sich kümmern. Ende August konnte er Fernand Carles mitteilen, „daß der Reichsbeauftragte für Eisen und Stahl in den Westgebieten sich damit einverstanden erklärt hat(te), daß zur Instandsetzung des Gefängnisses in Loos 25 to Eisen- und Stahlmaterial (.)kzur Verfügung gestellt werden“ “%. Im übrigen gab er zu erwägen, ob nicht die leicht bestraften Gefangenen zu Waldarbeiten herangezogen werden könnten. Diese Gefangenen könnte man dann in Lagern unterbringen. Wer die Aussagen der in Lille-Loos einsitzenden Häftlinge vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg liest!°, weiß, welche Bedeutung die Anordnungen und Maßnahmen Schmids für das Überleben der dortigen Gefangenen hatte. Gewiß, die Verhältnisse in Lille-Loos waren auch nach Einführung der angeordneten Verbesserungen des Strafvollzugs noch fürchterlich und unmenschlich. Auch nach dem Umbau der Kasernen war das Gefängnis noch überfüllt, und Schuld an der Überfüllung trugen die deutsche Besatzung und die deutschen Kriegsgerichte. Carlo Schmid war sich dessen bewußt und er litt darunter: „(…) ist es nicht ein grauenhafter Gedanke, daß man Menschen nur dadurch helfen kann, daß man neue Verliese einrichtet?“ ‚*‘
Das Besatzungsregime konnte Schmid nicht ändern. Er konnte nur dessen Inhumanität zu mäßigen versuchen. Auch das verlangte den Einsatz seiner ganzen Person und verwickelte ihn in ständige Auseinandersetzungen. An manchen Tagen war er der Resignation nahe: „Da mag man doch manchmal nicht mehr und läßt die Muskeln schlaff werden.“ ‚** Es war ein Zweiseitenkampf: gegen die radikalen Unterdrücker in den eigenen Reihen und gegen die Starrheit und Kooperationsunwilligkeit der französischen Verwaltung. Und doch war die Zeit in Lille für Schmid eine Zeit sinnerfüllten Daseins. Er wurde gebraucht, er vermochte zu helfen.
Im April 1942 war Laval als Regierungschef in die Vichy-Regierung zurückgekehrt. Als Inhaber dreier Ressorts, des Außen-, Innen- und Informationsministeriums war er der mächtigste Mann in der Regierung. .Es drohte der Übergang des „Vichy marechaliste“ in ein „Vichy fasciste“ ‚”3, Laval propagierte die nationale Revolution nach faschistischem Vorbild. Hierfür mußte die Propagandatätigkeit in allen Regionen Frankreichs verstärkt und alle Beamten in den Departements und Kommunen, die dieser Politik feindlich gegenüberstanden, entfernt werden. Laval schickte Delegierte in die Departements, die entsprechend seiner Zielsetzung zu agieren hatten. In den beiden Nordd£partements sollte Emile Boyez, ein ehemaliges Mitglied der Action Frangaise, diese Mission verrichten. Er wurde Leiter des dortigen Propagandabüros und sollte nach offizieller Version Präfekt Carles beraten. In Wirklichkeit hatte er auf dessen-Absetzung zu dringen, denn Fernand Carles, der die Kollaboration als notwendiges Übel auffaßte, war für Laval ein „bete noir“ ‚**,
Nachdem Schmid im Juli 1942 mit Boyez gesprochen hatte, war ihm klar, was dieser im Schilde führte. Er bat noch am gleichen Tag Fernand Carles zu einer Aussprache und unterrichtete ihn davon, daß Boyez eine „Kabale“ gegen ihn vorhatte. Der ahnungslose Carles erfuhr von Schmid, daß Boyez nicht zögern werde, alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel anzuwenden, um ihm, Carles, zu schaden. Er versicherte Carles, nur ihn als Präfekten anzuerkennen und auf die Abberufung Boyez’ zu drängen’”®. Im August 1942 wurde Boyez tatsächlich nach Paris zurückbeordert. Welchen Anteil Schmid an dieser Entscheidung hatte, läßt sich freilich nicht mehr nachweisen. Aber er dürfte einiges dazu beigetragen haben, daß Boyez Lille verlassen mußte. Schmid tat, was in seiner Macht stand, um den Einfluß der Kollaborationisten – so werden die Laval-Anhänger oft genannt – in Schranken zu halten. Im Januar 1943 verhinderte er beispielsweise die Berufung eines Laval ergebenen Akademieinspektors nach Nordfrankreich‘?°. Außerdem bemühte er sich um eine Neuorganisation der Presse, durch die der Propagandatätigkeit der Laval-Leute entgegengewirkt werden sollte‘?7. Er führte deswegen auch Gespräche mit deutschen Stellen in Paris’*®. Doch der Streit um die Zuständigkeit der Presse war dort viel zu groß’”, als daß die Pläne eines relativ einflußlosen Kriegsverwaltungsrates Berücksichtigung gefunden hätten.
Die Rechtsentwicklung innerhalb der französischen Regierung weckte bei Schmid schlimme Befürchtungen, die sich als nicht unbegründet erwiesen. Die bisherige Kollaborationspolitik war gefährdet. Was aber waren die Alternativen? Ein „Vichy fasciste“* oder der Bürgerkrieg, der mit dem Einsatz deutscher Truppen beantwortet worden wäre. Immer mehr drängten die Abgesandten Lavals im Verein mit deutschen Militärbehörden darauf, die Präfekturen und kommunalen Behörden mit Anhängern des Laval-Kurses zu besetzen. Um ihr Ziel zu erreichen, scheuten sie auch vor Denunziationen nicht zurück. In Nordfrankreich war der Druck besonders stark, weil es dort viele sozialistische oder dem Sozialismus nahestehende Kollaborateure gab. Während die Ultras auf der Rechten sie zu vertreiben suchten, wurden sie von den Kommunisten als Handlanger der Nationalsozialisten attackiert’3°. Sie wurden durch Anordnungen des Vichy-Regimes und der deutschen Besatzungsbehörden des öfteren auch in diese Rolle gezwungen. So verlangte man von den Bürgermeistern Nordfrankreichs, daß sie Angehörige ihrer Gemeinden der Organisation Todt zur Verfügung stellten. Die Folge war, daß zahlreiche sozialistische Bürgermeister und Gemeinderäte freiwillig demissionierten.
Carlo Schmid hielt diese Politik des leeren Stuhls für ein Verhängnis. Die Stühle waren frei, damit die Anhänger Lavals, die Befürworter einer Deutschland untergeordneten Marionettenregierung darauf Platz nehmen konnten. So schrieb er Präfekt Carles im November 1942 einen energisch klingenden, im Grunde aber wohl eher verzweifelten Brief: Er könne es nicht zulassen, daß öffentliche Funktionsträger „ohne ausreichenden Grund“ einfach ihren Rücktritt erklärten. Eine Demission könne nur in ganz dringenden Fällen hingenommen werden, z.B. im Falle der Krankheit. Wer sich zurückziehe ohne ausreichenden Grund, verstoße „gegen seine vaterländische Pflicht“ ‚3″, Angesichts deutscher Besatzung und Ausbeutung des Landes klingt die patriotische Mahnrede fast zynisch. Aber Schmid meinte es ehrlich, so wie er es sagte. Es gab wirklich zu der bisherigen Kollaborationspolitik nur die Alternativen: Durchsetzung Lavals oder Bürgerkrieg. Keine der Alternativen war wünschenswert. So versprach Schmid sogar, sich für eine bessere Bezahlung der nordfranzösischen Amtsträger einzusetzen’3?, Er wollte nichts unversucht lassen, um die bisherigen Bürgermeister zum Bleiben zu bewegen. Manch einer von ihnen war geschickt genug gewesen, um die Anordnungen der Militärbehörden zu unterlaufen’3.
Freilich, auch durch finanzielle Anreize wurde die Übernahme politischer Verantwortung nicht attraktiv. Die bisherige Politik der Kollaboration stand vor dem Scheitern. Schon im Sommer 1042, als in Lille die Ausstellung „Der Bolschewismus gegen Europa“ eröffnet wurde, weigerten sich mit Ausnahme Carles alle Amtsträger der beiden Norddepartements dem Ehrenkomitee beizutreten’3+. Die Ausstellung fand schließlich in einer so gespannten Atmosphäre statt, daß Schmid, der wieder einmal als Dolmetscher fungierte, übersetzte, was keiner gesagt hatte, „aber vernünftigerweise hätte sagen sollen“ ’35, Sein Ziel war es, Konflikte zu vermeiden, die eine noch härtere Unterdrückung und noch mehr Blutvergiefen bringen mußten. Er haßte die Nationalsozialisten, sah aber bis zum Sturz des Regimes keine andere Möglichkeit als die Weiterführung der bisherigen Kollaborationspolitik.
In Nordfrankreich konnte man 1942 überall den Ruf hören: „Vive Petain — Vive de Gaulle – Laval au poteau.“’3° Nein, nicht de Gaulle wurde Petain und Laval gegenübergestellt, sondern Petain und de Gaulle, der Kollaborateur und der Anführer der Resistance, galten als Widersacher Lavals. Das sah Schmid kaum anders. Im Rückblick neigte er sogar zu einer ziemlich unkritischen Verklärung des alten Marechal“3”. Wie Petain maß auch Schmid, der seinen pädagogischen Optimismus noch immer nicht verloren hatte, der Jugendpolitik entscheidende Bedeutung bei. Er war schon immer dagegen gewesen, in den Norddepartements alle Jugendorganisationen zu verbieten. Dort hatte man selbst den von Petain ins Leben gerufenen „chantiers de la jeunesse“ die Zulassung verweigert’3®. Bereits Ende 1941 hatte er den Plan gefaßt, eine französische Jugendbewegung zu gründen, „um gegenseitigen Haß auszulöschen“ ‚39%, Wie Petain wollte auch Schmid den alten Frontkämpfern, die‘für ihre deutschfreundliche Haltung bekannt waren, die Führung der Jugendbewegung anvertrauen’*, Es dauerte über ein Jahr bis der Plan — allerdings ohne die alten. Frontkämpfer – in die Realität umgesetzt werden konnte. Nach zähem Kampf wurde Anfang 1943 Marcel Hovaere, der zuvor mit der Resozialisierung der Strafgefangenen betraut war, die Leitung der nordfranzösischen Jugendbewegung übertragen’*‘. Auch zahlreiche Fußballvereine, die 1940 verboten worden waren, wurden auf Schmids Initiative wieder gegründet. Die Grundlage für eine spätere deutsch-französische Freundschaft zu schaffen, war nur noch ein Nebenziel. Hauptaufgabe der von Hovaere geleiteten Jugendorganisationen war es, die Jugendlichen von der Politik abzuhalten, eine Radikalisierung der Jugend zu vermeiden. Darüber hinaus konnten mit Schmids Hilfe die Jugendorganisationen manchen Jugendlichen vor dem Arbeitseinsatz im „Reich“ bewahren’*?.,
Schmid fürchtete nichts so sehr, wie politische Unruhen, die unvermeidlich zu Blutvergießen hätten führen müssen. Die Jugend sollte möglichst apolitisch bleiben, damit sie nicht als Mitglieder der Resistance in Gewalthandlungen hineingezogen oder von Laval politisch mißbraucht wurden. Schmid nahm Kontakt auf zu den Schulleitern und zu den Lehrkräften der Katholischen Universität in Lille. Man kam überein, die Leistungsanforderungen sehr hoch zu stecken, damit Schülern und Studenten kaum Zeit für politische Betätigung blieb’*#. In den Berichten der Oberfeldlkommandantur verstand es Schmid, in deutlicher Anspielung gegen den Lehrbetrieb im NS-Regime die Vorbildlichkeit des Unterrichts an den Schulen und Hochschulen Nordfrankreichs zu loben: „Die Schüler und Studenten traten politisch nicht hervor. (…) Gründe hierfür sind einmal die Erschwerung der Examensbedingungen, die zu intensiver Arbeit zwingen, und dann, daß dem französischen Studenten auch heute noch das Bestehen eines guten Examens wichtiger erscheint als eine zeitraubende politische Betätigung irgendwelcher Art. Typisch hierfür ist der gelegentliche Ausspruch eines Studenten, daß auch nach erfolgter ‚Befreiung‘ noch so große ‚nationale‘ Verdienste den Nachteil eines schlechten Examens nicht aufwiegen würden.“ ‚#* Schmid hatte den Nationalsozialisten wieder einmal sehr deutlich seine Meinung gesagt. Ob die Berichte noch gelesen wurden, ist freilich eine andere Frage.
Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: In Normalzeiten redete Schmid nicht einem unpolitischen Strebertum das Wort. Aber unter den gegebenen Bedingungen schien es das beste, die Jugend von der Politik fernzuhalten. So unterstützte er auch die katholischen Jugendorganisationen und förderte die Herausgabe katholischer Zeitschriften’, Durch sie konnte am besten einer Indoktrination durch die nationalsozialistische Weltanschauung entgegengewirkt werden. Er hatte ein gutes Verhältnis zu der Katholischen Kirche Nordfrankreichs, insbesondere zu Monsignore Lotthe, dem Sekretär Kardinal Lienarts. Lienart war Petainist. Im Volksmund hieß er der „rote Kardinal“, weil er sich 1936 auf die Seite streikender Arbeiter gestellt hatte. Mit Lotthe besprach Schmid kulturelle Fragen und manchmal suchte er mit ihm zusammen auch nach Wegen, um Menschen vor Gewaltmaßnahmen des deutschen Besatzungsregimes zu bewahren’*. Alles, was er damals aushandelte, vereinbarte und organisierte, waren Notlösungen, Übergangslösungen bis zur militärischen Niederlage und dem Sturz des NS-Regimes. Moralischer Rigorismus verbot sich. Man mußte Kompromisse schließen und improvisieren. Freilich, aus seiner Auffassung, daß sich der Nationalsozialismus „mit dem tief eingewurzelten Freiheitsbegriff der Franzosen“ niemals vertrage, machte er selbst in einem Bericht der Oberfeldlkommandantur keinen Hehl“#7,
Nordfrankreichs Zukunft lag auch Ende 1942 noch im Ungewissen. Noch immer kursierten Pläne, Nordfrankreich einem flämischen Satellitenstaat einzuverleiben. Sie wurden vom Vlaamsch Verbond des Abbe Gantois unterstützt, der allerdings in Nordfrankreich kaum über Anhänger verfügte’#°. Auch in der Oberfeldlkommandantur fand die Volkstumspolitik keine Fürsprecher’*#. Schmid nannte Gantois einen „placier en politique“ ‚5°, Zusammen mit Fernand Carles hatte er einen Ausweg gefunden, um die dekretierte Einführung des Flämisch-Unterrichts an französischen Schulen zu umgehen. Man vereinbarte die Ausrede: Volksschullehrer könnten weder flämisch sprechen noch es unterrichten’S’, Das wurde auch akzeptiert. Einstweilen wenigstens noch.
Was in Zukunft geschehen würde, konnte bei der Willkür des NS-Regimes niemand wissen. Auch Schmids eigene Zukunft lag im Ungewissen. Würde das Ganze so weitergehen, daß er zumeist „grimmig“ sein Tagwerk verrichtete, weil er sah, „in was für einem Sumpf“ er wirkte’5?? Wie lange. noch würde er all den Schwachsinn mitmachen müssen, der verordnet wurde? An einem Sonntag Ende August 1942 berichtete er halb spöttisch, halb bitter seinen Söhnen: „Heute ist bei uns Klamauk. Wir üben Alarm … Wie immer wirkt sich diese Veranstaltung im wesentlichen im Herumstehen aus, aber eine Reihe wackrer Männer erhält wieder einmal das Gefühl, ‚im Einsatz zu stehen‘.“’53 Banalität, Angst und Lebensrisiko lagen dicht beieinander. Es gab Tage, da fühlte er sich „wie ein Tier, das schleicht, weil es über sich den Habicht wittert“ ‚5* Wie lange noch würde sein illegales Tun unentdeckt bleiben? Es kam vor, daß er erschrak, wenn er in die Oberfeldlkommandantur gerufen wurde, weil er dachte: Jetzt ist es soweit’’°. Niehoff scheint einige Male nahe daran gewesen zu sein, Schmid zu entlassen’S°. Vermutlich schritt er nur deshalb nicht zur Tat, weil er auf Schmids Kenntnisse angewiesen war. Niehoff kümmerte sich sehr wenig um die tägliche Verwaltungsarbeit. Ende 1942 wurde Niehoff abberufen. Noch wußte man nicht, wer nachkommt. Eigentlich’hätte Schmid die Verzweiflung und die Angst zerreißfen müssen. Doch mit der Zeit wurde auch der Widerstand und das Lebensrisiko zum Alltag. Schmids Leben war trotz allem und vielleicht gerade deshalb sinnerfüllt. Er lebte damals sehr existentiell. Und es gab auch viel Leerlauf, viel Freizeit, in der er in eine andere Welt fliehen konnte, in die Welt der Musen. Die Zeit in Lille war nicht nur die Geburtsstunde des Politikers Schmid, es war auch die Zeit und der Ort, wo er seine künstlerische Begabung entfalten konnte.
Der Künstler und Existentialist
Lille, die Metropole Flanderns, Zentrum der nordfranzösischen Verwaltung und der Textilindustrie, war und ist keine sehr attraktive Stadt. Gelegen in einer Region, die durch den Kohlenbergbau geprägt war, erscheint diese Stadt eher grau als einladend. Die Sehenswürdigkeiten Lilles lassen sich an einer Hand abzählen: Die alte Börse am Grande Place, das Kunstmuseum, das Palais Rihour, die Oper und die von der Oberfeldkommandantur beschlagnahmte Handelskammer. Schmid klagte in seinen Briefen häufig über die Farblosigkeit dieser Stadt, in der er nun gezwungen war, zu leben. Tübingen bot auch nicht viel Abwechslung, aber zumindest provinzielle Wärme.
Zunächst mußte er in einem Hotelzimmer in der im Norden der Stadt gelegenen Rue du Faubourg-d’Arras hausen. Allein, getrennt von der Familie, in der Oberfeldkommandantur umgeben von Menschen, mit denen er nur Kontakt pflegte, weil es sein mußte, wurde bei ihm besonders in den Anfangsmonaten oft ein Gefühl von Leere und Schmerz übermächtig. Die einzige Möglichkeit, sich von einem solchen „Zustande grauer Verdrossenheit“ nicht überwältigen zu lassen, war für ihn, „dieses Grau zu malen“, um sich von ihm zu befreien!. Briefe und Gedichte waren die Leinwand.
Auch der Brief war für Schmid mehr ein Medium der Selbstaussprache als der Kommunikation. Er schrieb seiner Frau täglich, für seine beiden ältesten Söhne Hans und Martin, 1940 fünfzehn und dreizehn Jahre alt, verfaßste er jeden Sonntag eine sogenannte „Lehrepistel“. Auch die beiden Kleinen, die noch im Vorschulalter waren, erhielten ein kleines Briefchen, das ihrer kindlichen Auffassungsgabe angepaßt war. Die Briefe an Lydia Schmid sind nur noch für die Jahre 1943/44 überliefert”, fast 400 Briefe, die Berichte über das politische Geschehen enthalten, – soweit man, ohne sich selbst zu gefährden, darüber schreiben konnte – Reflexionen über Fragen der Philosophie, Religion und Dichtung und zahlreiche Selbstanalysen. Die Briefe scheinen eine Art Tagebuch-Ersatz für Schmid gewesen zu sein. Man gewinnt den Eindruck, daß ein wirklicher Dialog nicht stattfand. Gewiß, der geistige Austausch zwischen Carlo Schmid und seiner Frau war intensiv, aber man vermißt Persönliches, Reminiszensen an gemeinsam Erlebtes oder an das Familienleben‘ in Tübingen. Nur an Weihnachten und Ostern werden Erinnerungen an frühere Zeiten wach. Geburtstage seiner Frau und Hochzeitstage vergaß er nie. Er selbst konnte sehr gekränkt sein, wenn man seinen Geburtstag vergaß — auch in späteren Jahren noch. Lydia Schmid schickte ihrem Mann zum Geburtstag regelmäßig Springerle, die er immer schon lange vor dem Geburtstag aufgegessen hatte. Die Kindererziehung war ein häufiges Thema. Lydia Schmid scheint manchmal recht ratlos gewesen zu sein. Ihr Mann ging auf ihre Sorgen ein, kam dann aber immer sehr schnell auf die leidvollen Erfahrungen seiner eigenen Kindheit zurück und betrieb wieder einmal Innenschau.
Er litt sehr darunter, daß er seinen Kindern kein geistiger Mentor sein konnte. Er hatte es sich so gewünscht, daß seine Kinder eine „bessere Jugend“ haben sollten als er, der von seinen Eltern mit seinen Fragen oft allein gelassen worden war. Nun saß er weitab von Tübingen in Lille und konnte sich um die Erziehung und Bildung seiner Kinder kaum kümmern. 1943 besuchte ihn sein ältester Sohn Hans, der zum Militär einberufen worden war, in Lille. Er war glücklich den Jungen vor dem Militärdienst noch einmal sehen zu können und verwöhnte ihn, wie er nur . konnte*. Weltläufigkeit, die ihm in seiner Jugend so gefehlt hatte, hatte er seinen Söhnen vermitteln wollen. Nun blieben nur die sonntäglichen Briefe, in denen er ihnen einige Lehren für das Leben mitzugeben hoffte, zumindest den beiden Ältesten. Die Kleinen erhielten zwar auch ein Briefchen, aber für Kinder von fünf und sechs Jahren ist der persönliche Kontakt zum Vater wichtig. Briefe sind Schall und Rauch.
„Schulmeistern“ wollte er seine Söhne nicht, sondern ihnen helfen, auf der „Suche nach dem Leben“ sich selbst zu finden’. Die sogenannten „Lehrepisteln“ hatten ganz unterschiedlichen Charakter: Politische Berichte, philosophische und literarische Erörterungen, Kritik an der Schulerziehung, Belehrungen über die Notwendigkeit der Tanzstunde und Mahnungen, der Mutter mehr beizustehen, wechselten sich ab. Sehr gekränkt reagierte er, wenn die Söhne ihm nur selten schrieben‘. Er wünschte sich die Liebe seiner Kinder. Die „Lehrepisteln“ sollten die Schulbildung, deren Dürftigkeit er immer wieder beklagte, ergänzen. Die Kritik seiner Söhne an der Schule und an den Lehrern teilte er vollauf, ermahnte sie aber trotzdem zu lernen, denn die Schule sei der Ort, das Arbeiten zu lernen, und Lernen sei immer Arbeit und nicht Spiel, wie einige „Verführer“ propagiert hätten’. Er wollte ihr Selbstbewußtsein stärken und munterte sie auf, sich von dem „Verdruß nicht lähmen“ zu lassen, den ihre „dürftigen Lehrer“ ihnen bereiteten®. Schmid war noch immer dem „Dritten Humanismus“ verpflichtet. Ihn versuchte er seinen Söhnen nahezubringen. Er mag sie manchmal dabei überfordert haben, wenngleich sie sich sehr über diese Briefe freuten?. Sie sollten die geistigen Grundlagen der europäischen Kultur, die Antike und das Christentum, verstehen lernen. Daß sie in der Schule darüber so wenig hörten, bekümmerte ihn: „Wenn nur Eure Lehrer Mannes genug wären, (…) Euren Sinn hell für die Empfängnis der Schönheit Hellas zu machen, die die erlauchteste ist, die der Mensch zu vergegenwärtigen vermocht hat und die auch vor dem Lichte nicht trübe wird, das zu Bethlehem in die Krippe herabgekommen ist. Die Welten schließen sich nicht aus; sie durchdringen sich wie Leib und Seele (…)*“’°. Häufig flocht Schmid in seine Briefe griechische Zitate ein.
Schmid vermittelte seinen Söhnen ein elitäres Minderheitsbewußstsein, um ihnen die Isolation, in die sie durch den Nationalsozialismus geraten waren, erträglicher zu machen. Er riet ihnen, keiner Organisation beizutreten und machte hierfür grundsätzliche Vorbehalte gegen Organisationen und Verbände geltend: „Überall, wo man durch Einfügung in einen Verband ‚erziehen‘ will, bleibt keine andere Wahl, als auf das Niveau des Zweitdümmsten zu nivellieren.““ Mit solchen Ratschlägen freilich trieb er sie noch weiter in die Einsamkeit. Schmid schrieb seine Briefe selten mit erhobenem Zeigefinger. Die Lehren, die er seinen Söhnen vermittelte, die Literatur, die er ihnen empfahl, waren in erster Linie für seine eigene geistige und seelische Entwicklung von Bedeutung. Er sah und lehrte nur, was er selbst im Herzen trug. So schrieb er die „Lehrepisteln“ nicht nur für seine Söhne, sondern auch zur eigenen Selbstfindung. Nicht selten machte er seine eigenen Probleme und Wünsche zu denen seiner Kinder. Carlo Schmid träumte von einem Leben als Künstler. Die Kunst war ihm das letzte Refugium unentfremdeten Lebens. Er litt darunter, daß seine Eltern seine künstlerischen Fähigkeiten und Begabungen unterdrückt hatten. Seinen Söhnen wollte er den Weg ebnen zu einer künstlerischen Existenz, von der er nur träumen konnte. Er war ein ganz und gar unbürgerlicher Vater, der hoffte, daß seine Kinder keinen Brotberuf ergreifen mußten. Martin, der schon früh künstlerische Begabung zeigte, ermunterte er immer wieder, seiner Berufung zum Künstler zu folgen’?. In Paris führte er nicht nur politische Gespräche, sondern kaufte auch Bildmappen für seinen Sohn. Ernst Jünger berichtete er mit väterlichem Stolz, daß sein vierzehnjähriger Sohn „Briefe über den Unterschied des Stils in Sätzen von Tolstoi und Dostojewski schreibt und ein bedeutender Zeichner ist.“ Jünger wunderte sich, daß Schmid über ein so „wichtiges Verhältnis in seinem Leben“ noch nie gesprochen hatte’3. Es wäre Schmid wohl lieber gewesen, wenn Martin anstatt Maler Dichter geworden wäre’*. Dann hätte sich in seinem Sohn sein eigener Lebenstraum erfüllt. Kunst war für Schmid der einzige Freiraum, den die bürgerliche Gesellschaft dem Menschen ließ. Die Zerrissenheit des modernen Menschen konnte nur in und durch die Kunst überwunden werden. So schrieb er Martin, um ihn in seinem Drang, Künstler zu werden, zu bestärken: „(…) das Musische (ist) der einzige Raum, in dem wir ohne Aufspaltung unseres Selbst in Geist und Seele voll existieren können. Dort liegt dann der Sinn der Kunst, der wir uns dann allerdings nicht als bloße Zuschauer und nicht nur am Feierabend nähern dürfen, sondern die ein Element unseres ganzen Lebens werden muß.“ ‚5
Ihm selbst blieb für die künstlerische Betätigung fast immer nur der Feierabend. In der freien Zeit, die ihm seine Aufgabe als Kriegsverwaltungsrat ließ, gab er sich dann um so intensiver dem künstlerischen Schaffen hin. Er übersetzte Baudelaires „Fleurs du mal“, 161 Gedichte von sublimer Schönheit, von denen Paul Verlaine sagte: „Ich vergleiche diese seltsamen Blumen mit den seltsamen Versen, die ein taktvoller Marquis de Sade schriebe, wenn er die Sprache der Engel beherrschte. “’% Die Sprache der Engel beherrschen mußte auch deren Übersetzer, denn die Metaphorik Baudelaires ließ sich nur durch Verdichtung wiedergeben. Schmid hatte bereits in Tübingen mit der Übertragung der Verse Baudelaires begonnen. 1941 konnte er sie trotz seiner großen Beanspruchung in der Oberfeldlkommandantur abschließen. Ein ungeheure Leistung für jemanden, der Kunst als Nebenbeschäftigung ‚betreiben mußte.
Fast vierzig Jahre zuvor hatte Stefan George eine Nachdichtung der Gedichte Baudelaires vorgelegt“. Schmids Übertragung ist beeinflußt von der Georges, aber er findet andere Worte und andere Begriffe und kommt so zu einer Neuinterpretation der „Fleurs du mal“. Während George die Antithesen und Dissonanzen der Bildersprache Baudelaires abschwächte oder in Esoterik auflöste, unterstrich Schmid das Unvereinbare und Widersprüchliche, das sich jeder formalen Logik entzieht. Das Oxymoron ist das Stilmittel, das er am meisten gebrauchte. Immer wieder ist die Rede von „schwarzen“ und „toten Sonnen“, von „Schneeherzen“, von „düsterer Sehnsucht“ und vom Lachen im Weinen, das bei ihm kein satanisches, zynisches war. Schmid versuchte so zu übersetzen, daß auch noch der Klang der Worte das Dissonante wiedergab“®. In den Oxymora kommt das Paradoxe, die Unvereinbarkeit von Wirklichkeit und Traum, von Geist und Sinnlichkeit zum Ausdruck. Diese Unvereinbarkeit hinterläßt Melancholie und Schmerz. Für Schmid wurde Baudelaire zum „Bruder vor den Peinen“‘?. In Baudelaires „ennui“ erkannte er seine eigene Verdrossenheit wieder. Baudelaires melancholische Verse halfen ihm, sie zu überwinden. Er liebe Baudelaire, den aus den „Tiefen Heraufleuchtenden“, weil er ihn so „heil gemacht“ habe, bekannte er seinen Söhnen”. Baudelaires Melancholie sperrte sich gegen den Pessiinismus, sie setzte ihm ein Trotzdem entgegen. Baudelaire war der Dante der Moderne. Ein Gedicht Baudelaires liebte Schmid ganz besonders: „Elevation“, von ihm mit „Aufschwung“ übersetzt”‘. Die letzten beiden Strophen des Gedichts sind ein Aufruf, der Melancholie ein Dennoch entgegenzustellen:
Glücklich wer hinter Verdrusse und Leid, Die schwer auf das Dunstmeer des Daseins sich schmiegen, Mit kräftigem Flügel kann steigen und fliegen Zu den Gärten des Lichts und der Heiterkeit –
Der, dem Gedanken sich schwerelos schwingen Frei wie Lerchen ins Morgenlicht —- Der hoch überm Leben versteht, was spricht Aus der Blumen Kelch und den schweigenden Dingen!
Über den Menschen Carlo Schmid erfährt man beim Lesen der „Fleurs du mal“ mehr als beim Studium seiner Erinnerungen. Der Mann der Lebensfreude war ein Melancholiker. Er fand sich wieder in der poetischen Welt Villons, Baudelaires, des „guetteur melancolique“ Apollinaire, seines Lieblingsdichters unter den Modernen, und Verlaines, dessen saturnische Verse er damals ebenfalls zu übersetzen begann. Saturn ist der Planet der Melancholiker, die für Verlaine, den Schüler und Nachfolger Baudelaires, Gefangene der Phantasie und des Traums sind.
„Die Phantasie entkräftet und verwirrt sie alle Und macht zunichte, was Vernunft in ihnen tat.“
So übersetzte Schmid die beiden zentralen Verse aus der Einleitung zu Verlaines „Pocmes Saturniens“ *°. Der Traum, der Verheißung verspricht, aber Rausch und Wahnsinn zeugt, war auch das Thema einiger von Carlo Schmid selbst verfaßten Gedichte. Sie handeln vom Leben der Matrosen und vom Meer, der „Mutter, die das Traumkind nährt“, um es dann zu verschlingen®®. Ein Traumkind war auch Schmid. Schon als Schuljunge, als er Robinson Crusoe las, hatte das Meer seine Sehnsucht geweckt. Aber er verlor sich nicht an den Traum, sondern fand immer wieder zur Realität zurück, weil er seine Träume in Dichtung bannte. Mit seinen Kindern wollte er Baudelaire und Verlaine lesen, damit sie nicht „unvorbereitet mit den dunklen Seiten des Daseins“ konfrontiert würden, da ihnen sonst das „Leben vergiftet“ werden könnte”*. Er wollte sie vor dem Schicksal, das ihm widerfuhr, bewahren.
Schmid plante eine Veröffentlichung seiner Übertragung der „Fleurs du mal“ in dem in Dessau ansässigen Karl-Rauch-Verlag. Im Oktober 1942 stellte er bei der Reichsschrifttumskammer einen Antrag auf Erstellung eines Befreiungsscheins”°. Er wollte die Übersetzung publizieren, ohne Mitglied der Reichsschrifttumskammer werden zu müssen. Er fand es schon demütigend, sich um einen Befreiungsschein bemühen zu müssen, was er auch in seinem Antragsschreiben deutlich zu verstehen gab: „Ich stelle diesen Antrag nur vorsorglich, da ich der Meinung bin, daß ich als Hochschullehrer, auch ohne Mitglied der R.S.K. zu sein, die Berechtigung habe, ein Werk der genannten Art herauszugeben“ .?° Der Befreiungsschein wurde ihm erteilt. Die Veröffentlichung scheint an Papiermangel gescheitert zu sein. Politische Gründe waren wohl nicht ausschlaggebend, obwohl sich einige Verse Baudelaires auch als herbe Kritik am NS-Regime lesen lassen. Man denke nur an Baudelaires Vorrede zu den „Fleurs du mal“ 7.
Verirrung, Dummheit, Sünde, Lug erschüttern Im Fleisch uns, legen auf den Geist die Hand Wir päppeln unseres Gewissens Brand Wie Bettelleute Ungeziefer füttern,
Die Bilder des Satanismus, die Baudelaire malte, verweisen auf den Einbruch des Bösen, des Archaischen in die moderne Zivilisation. Das Dämonische wurde von Baudelaire in Sprache gefaßt. So mag Schmid auch aus politischen Gründen auf eine Veröffentlichung seiner Übertragung gedrungen haben, die dann erst nach 1945 erscheinen konnte. Vorerst mußte er sich damit begnügen, sie Freunden vorzulesen. Mit Ernst Jünger, der nach der Besetzung Frankreichs als Offizier im Stab des Militärbefehlshabers in Paris tätig war, besprach er die Übertragungen ausführlich”®. Er hatte Jünger bereits 1934 kennengelernt. Jünger und Schmid verband das Leiden an der modernen Massengesellschaft und der Glaube, daß der Dichter seine letzte Zuflucht bei Dionysos finde. In den Träumen des Dichters werden die Urbilder wieder lebendig??. Vom Nationalsozialismus hatte sich Jünger schon längst abgewandt. Er deutete ihn wie Schmid als eine Form des Caesarismus. Jünger arbeitete damals an seiner Schrift „Der Friede“, in der er den Plan eines vereinten Europa, das in christlicher. Humanität zusammenarbeiten sollte, entwarf?°. Wenn Schmid nach Paris kam, besuchte er zumeist auch Jünger, um mit ihm literarische und politische Themen zu besprechen. In Lille war die Frontbuchhandlung ein Forum, wo Schmid seine Baudelaire-Übertragungen vortragen konnte. Die Frontbuchhandlung hatte ihre Räume an dem drei Minuten von der Oberfeldlkommandantur entfernten Grande Place. Die Buchhandlung war zugleich Bibliothek der in Lille stationierten Truppen. Mit ungefähr 1 400 Bänden. stellte die Bibliothek den Soldaten ein reiches Leseangebot zur Verfügung. Die Palette der angebotenen Literatur war breit. Weltanschauungsliteratur gab es natürlich auch. Aber sie umfaßte nur ein kleines Kontingent der Bände?‘. Schmid und einige andere Besucher der Frontbuchhandlung kümmerten sich darum, daß dort Literatur von hohem Niveau angeboten wurde??. Die Bibliothek scheint eifrig frequentiert worden zu sein. In einem Leseraum der Bibliothek fanden regelmäßig Film- Veranstaltungen, kammermusikalische Abende, kunstgeschichtliche Vorträge und Dichterlesungen statt. Letztere bestritt vor allem Carlo Schmid. Seinen Glauben an eine ästhetische Erziehung des Menschen hatte er auch in Lille nicht verloren. Und die jungen Soldaten scheinen tatsächlich in der Dichtung nach Sinnorientierung gesucht zu haben’. Seine Dichterlesungen waren gut besucht. Oft hatte er mehr als 100 Zuhörer. Auch einige Germanistik-Studenten und -Professoren der Universität Lille gehörten zu seinem Publikum. Schmid bemühte sich, aus der Frontbuchhandlung ein deutsch-französisches Kulturzentrum zu machen?*. Aber da er deutsch las, war die Anzahl der französischen Zuhörer natürlich gering. Seine Gedichtinterpretationen scheinen die Hörer beeindruckt zu haben. Ein besonderes Talent zum Vortragen von Gedichten soll er jedoch nicht besessen haben. Er las die Gedichte offensichtlich zu metrisch nach Art lateinischer Hexameter’.
In tristen Wochen waren die Dichterlesungen für Schmid der einzige Lichtblick. Noch im August 1944, zwei Wochen vor dem Abzug der deutschen Besatzungstruppen aus Lille, interpretierte er in der Frontbuchhandlung Hölderlin, und er las, wenn es sein mußte, auch in einem eiskalten Lesesaal?®. Bei manchen Vorträgen verausgabte er sich so, daß er naßgeschwitzt war, als hätte er „Steine geschleppt“7 . Die Interpretation von Gedichten war für ihn keine Wissenschaft, sondern wie auch für Heidegger Kunst, Poesis. Bei der Vorbereitung seiner Dichterlesungen war ihm dies erstmals ganz bewußt geworden. Seiner Frau schrieb er: „Welch geheimnisvoll schöpferischer Akt ist doch die Interpretation eines Gedichts! Wie ähnelt er dem Wirken des Liturgen (…). Es ist ein erlauchtes Tun und manchmal wird ein Dichter erst durch seinen gültigen Interpreten merken, was seinem Mund zu sagen verstattet worden ist. Es soll dies kein Scherz sein.“3 ®N ein, einen Scherz wollte Schmid nicht machen. Für ihn bedeutete die Interpretation eines Gedichtes Sinnzuwachs, den er einer aufmerksamen Zuhörerschaft zu vermitteln suchte3°. Es gab Abende, an denen er eine Auswahl deutscher Lyrik von Walther von der Vogelweide bis Stefan George vortrug. Die Gedichte wählte er nach einem thematischen Schwerpunkt aus. Melancholie war das Thema, oder wie Schmid es formulierte: „die Polarität zwischen seliger Versponnenheit in das individuelle oder objektivierte Ich und der Verzweiflung über das Auseinanderklaffen von Ideal und Empirie, der Schmerz über die ‚Endlichkeit
Zumeist sprach Schmid nur über einen Dichter und sein Werk. Am häufigsten interpretierte er Goethes „Faust“ und Hölderlins Hymnen. Goethes Faust las er als eine moderne Form der „Divina Commedia“#, Faust war für ihn „der Mensch schlechthin“, der in „proteushafter Wandlung durch alle Formen des Seins“ hindurchmußte*. Fausts Läuterung allerdings mißlingt. Helena vermag es nicht wie Dantes Beatrice Faust in das Paradies, in das Reich des Geistes, zu leiten. Die Verwandlung Fausts durch den Eros scheitert, weil, so Schmid, „das Helena-Erlebnis nur ein Zwischenspiel ist“ #3. Faust verfällt wieder der Welt der „Surrogate“, die eine Welt der Technik, der Quantität und der Massensuggestion ist. Für diese Welt steht Mephisto. In dieser Welt der Surrogate übt der Herrschaft aus, der sich die Massenpsychologie zunutze macht. Faust braucht die drei Gewaltigen Raufbold, Haltefest und Habebald, die Schmid als Massenantriebe begreift, um sich sein Reich zu erhalten. Schmid ließ die Verbindung zwischen Nationalsozialismus und Massenkultur nur anklingen, aber die Zeitgenossen dürften seine politischen Anspielungen verstanden haben. Der „Faust“ ist für ihn freilich kein politisches Lehrbuch, sondern ein existentielles Drama. Seine Faustinterpretation ist bestimmt durch sein platonisch-aristokratisches Menschenbild. Ihm kam es darauf an, den Gegensatz zwischen dem Eros und einer bloß instrumentellen Vernunft deutlich zu machen. In seiner Faustinterpretation wiederholte er die Gedanken seines Dante-Kommentars.
Hölderlin war Anfang des 20. Jahrhunderts von George und Hellingrath wiederentdeckt worden, und als vaterländischer Dichter, als Prophet eines hellenischen Deutschtums gerühmt worden*+. Nach 1933 wurde er als Seher völkischer Zukunft mißbraucht. Der völkische Dichter Hölderlin sollte den Kampfwillen der Soldaten stärken, denen ein Hölderlin- Brevier mit ins Feld gegeben wurde. Weil Schmid der nationalsozialistischen Verfälschung Hölderlins entgegentreten wollte, war „Germanien“ die erste Hymne Hölderlins, die er deutete. Hölderlin habe, so Schmid, nicht die politische Vorherrschaft Deutschlands proklamiert, sondern das genaue Gegenteil: „Indem sie (Germania) sich von der Politik fernhält, erfüllt sie ihre Mission.“ #° Nur wenn die Deutschen sich entpolitisierten, durften sie einen europäischen Führungsanspruch anmelden. Germania ist die Priesterin, die „wehrlos Rat“ gibt „den Königen und den Völkern“*°. Die Nationalsozialisten hatten diesen Satz aus der Hymne gestrichen. Schmid stellte ihn in das Zentrum seiner Interpretation. Glaubte er.noch immer an die Kulturberufung der Deutschen? So wie er die Hymne las, hatte der „Glaube, daß das Göttliche sich nicht im Surrogat der Mechanik des Zeitgeschehens erfüllt“, die „Götter auf Germanien aufmerksam gemacht“ ?”. Nach allem, was geschehen war, hatte er keine große Hoffnung mehr auf Deutschlands Kulturmission, an die er einmal geglaubt hatte, auf die er in seinem Kommentar zu Hölderlins „Germanien“ noch einmal zurückkam. Daß Frankreich nach dem Krieg die dominierende europäische Kulturmacht werden würde, betonte er in den Briefen, die er damals an seine Frau und an seine Söhne schrieb, immer wieder.
Es widerstrebte ihm überhaupt, in Hölderlin einen vaterländischen Dichter zu sehen. Auch als Mystiker wollte er ihn nicht verstanden wissen. Hölderlin sei vielmehr ein „Wirklichkeitskünder“, der wie Baudelaire wisse, daß das „Iraumland des Ideals“, das „Sich-zum-Gottmachen“ Wahnsinn ist. In seinen Hymnen „Patmos“ und „Der Rhein“ habe Hölderlin die Notwendigkeit der Beschränkung und des Verzichts ausgesprochen: „Hölderlin hat bittersten Mut zur bittersten Wirklichkeit. Gottes Wille und Plan offenbart sich in der Geschichte, nicht in unseren Wünschen.“#° Auch Hölderlin war für ihn ein Dichter der Melancholie und des Schmerzes. Aus Hölderlins Hymne „Der Rhein“ las er heraus: „Nicht im Sich-Aufbäumen erfährt der Mensch das Himmlische, sondern in der Erkenntnis seiner Grenze, getränkt von dem Schmerz, daß nur die Grenze erfüllt werden kann.“ Die Lehre vom „Amor fati“ endete nicht in der Resignation, sondern in einem Dennoch. Das Ja-Sagen zum Schicksal ist „kein Ergeben in das Unvermeidliche, sondern Erhebung des Menschen im ihm Zugeordneten zu seinem Selbst.“5° Für Schmid war dies eine existentielle Erkenntnis. Deshalb liebte er Hölderlins Hymnen, deshalb bedeutete ihm Baudelaires Gedicht „Der Aufschwung“ so viel
Carlo Schmids Lieblingsgedicht war Hölderlins Hymne „Brot und Wein“ ‚. Die Hymne handelt vom Einbruch der Nacht nach dem Niedergang der „Hoch-Zeit“ der griechischen Kultur, in der das Göttliche noch unmittelbar gegenwärtig war. Sie mündet in einen Lobpreis des Weingottes Dionysos. Schmid kommentierte: „Dionysos ist der Gott der Nacht, in seinem Rausch öffnet sich alles und Leben strömt ein. Die Nacht gibt nicht nur lösende Weihen, sondern auch Gedächtnis, das Wissen um die Gestalt des Erfüllten.“5? Wie Stefan George pries auch Carlo Schmid Hölderlin als Entdecker des Dionysischen. Der Mensch der Moderne hat am Göttlichen nicht mehr teil, er hat nur noch den Traum davon. Von diesem Traum künden die Dichter, die heiligen Priester des Weingottes Dionysos. Die Dichter bieten die Gewähr dafür, „daß das Ende der Nacht naht“3 . Schmid verstand sich als Dichter, als Künder einer anderen unentfremdeten Welt. Ästhetische Erziehung sollte den Wandel herbeiführen. Eine Utopie, ein Traum, den er nicht mit der Wirklichkeit verwechselte, an dem er aber der Wirklichkeit zum Trotz festhielt. Zwischen Traum und Wirklichkeit klaffte eine tiefe Kluft, an der er litt. Schmid, der humorvolle Causeur, klagte viel und oft. Die „Leidensfähigkeit“ war für ihn eine große Gnade‘#.
In der Frontbuchhandlung knüpfte Schmid Freundschaft zu Erhard Goepel, mit dem er auch nach 1945 noch zusammenkam, um sich über Kunst und Kunstgeschichte zu unterhalten. Der 1906 geborene Goepel hatte über Anton van Dyck promoviert. Seit 1940 war er als Dolmetscher in der deutschen Wehrmacht in Lille tätig. In der Frontbuchhandlung hielt er vor allem Vorträge über die Zeichnungen Raffaels, von denen sich . einige im Museum in Lille befanden’. Später wurde er als Autor über das Leben und Werk Max Beckmanns bekannt, dessen (Euvre er nach dem Krieg sammelte und katalogisierte. Er hatte schon zu Beginn der 4oer Jahre Freundschaft zu Beckmann geschlossen, der damals in Amsterdam lebte und engen Kontakt zu Wolfgang Frommel hatte, der ihn durch den Abkauf von Bildern finanziell unterstützte‘. Auch Carlo Schmid führte er einmal zu Beckmann. Schmid konnte sich nicht entschließen, Beckmann ein Bild abzukaufen, obwohl es in seiner finanziellen Reichweite gelegen hätte. Er befaßte sich mit moderner Kunst, besaß auch die frühesten Handbücher, die es über moderne Kunst gab, aber zu den Käufern moderner Kunst zählte er nicht”. Auch in seinem Kunstgeschmack kam seine Liebe zur Antike und seine melancholische Grundstimmung zum Ausdruck. Zu seinen Lieblingsmalern zählten Nicolas Poussin und Claude Lorrain, deren Bilder die Spannung von sinnlicher Leidenschaft und formender Vernunft, von Schönheit und Vergänglichkeit zum Thema haben.
Ihre Landschaften umgibt eine Aura von Harmonie und Wehmut. Während der Jahre in Lille kaufte er auch öfters Bildmappen oder Bilder Watteaus, auch er ein Maler der Trauer und Melancholie. Gefallen fand er auch an den Bildern Botticellis, Giorgiones und Holbeins. In Paris sammelte er Bücher des Karikaturisten Albert Dubout, der Werke von Rabelais, Cervantes, Balzac und Villon illustriertes®. Auch das Häßliche in der Karikatur, in dem die Verletzungen des modernen Menschen zum Ausdruck kommen, beschäftigte ihn.
Zusammen mit Erhard Goepel bemühte er sich auch um den Schutz wertvoller Kunstwerke vor Requirierung und Verschleppung. Erhard Goepel war 1942 mit der wissenschaftlichen Begutachtung der für das von den Nationalsozialisten geplante Linzer Museum vorgesehenen Kunstwerke betraut worden. In dieser Funktion gelang es ihm, zahlreiche Kunstwerke vor Raub und Verschleppung zu retten®. Vor 1942 hatte sich Schmid wiederholt an Franz Graf Wolff Metternich, der seit Beginn des Westfeldzuges Beauftragter für den Kunstschutz beim Oberbefehlshaber des Heeres war, gewandt, um mit ihm zu besprechen, wie der Abtransport wertvoller Kunstwerke aus Frankreich zu verhindern war“. Nachdem einige Mitglieder der Oberfeldlkommandantur im Frühjahr 1941 damit begannen, ihre Diensträume mit Bildern aus französischen Museen auszuschmücken, versuchte er nach Rücksprache mit Metternich diesem Treiben Einhalt zu gebieten – mit wechselndem Erfolg‘. Mehr als dafür zu sorgen, daß sich die Transporte nach Deutschland in Grenzen hielten, vermochten weder er noch Metternich, der im Sommer 1942 auf Befehl Hitlers entlassen wurde.
Nicht selten mußte die Kunst auch vor dem Verwendungs- und Zerstörungsdrang deutscher Truppen geschützt werden. Carlo Schmid blieb dann oft nichts anderes übrig, als an Ort und Stelle zu fahren, um die dort stationierte Division davon zu überzeugen, daß auch ohne Abriß eines schönen Kirchtums die militärische Aufgabe erfüllt werden konnte ®, Auch mit französischen Behörden hatte Schmid oft einen harten Kampf auszufechten, bis Kunstwerke in Sicherheit gebracht wurden. Auguste Röodins weltberühmte Skulptur „Die Bürger von Calais“ stand 1942 im Kellerraum des Rathauses von Calais, der keinerlei Schutz gegen schwere Bombenangriffe und — dies ließ Schmid unausgesprochen – gegen eine Verschleppung durch die Nationalsozialisten bot. Er verlangte die Verbringung der Plastik „an einen von der Zentralverwaltung der französischen Kunstschätze zu bestimmenden Fluchtort“. Zuvor sollte Rücksprache mit dem zuständigen Konservator Paublan genommen werden. Carlo Schmid mußte mehrere Mahnschreiben verfassen, bis endlich im Herbst 1942 Rodins Meisterwerk in Sicherheit gebracht werden konnte®*.
Auch um den Denkmalschutz kümmerte er sich, obwohl der eigentlich in die Zuständigkeit französischer Behörden fiel. Als er sah, daß sich die Franzosen so gut wie gar nicht um den Wiederaufbau der im Krieg teilweise zerstörten Kirche St. Eloi in Dünkirchen bemühten, nahm er die Sache selbst in die Hand. Die im ı5. Jahrhundert aus Ziegelsteinen erbaute Kirche St. Eloi, in deren Sakristei sich eine Quelle befindet, zählte zu den schönsten Kirchen Nordfrankreichs. Schmid setzte sich mit Baufirmen in Verbindung, damit endlich ein Plan für ein provisorisches Dach der Kirche, das durch Bombenangriffe völlig zerstört worden war, ausgearbeitet wurde°S. Schließlich gelang es ihm sogar, das für die Restauration notwendige Eisen zu beschaffen. Der Kunst- und Denkmalschutz lag ihm sehr am Herzen. Hier ging es um den Erhalt von Werten, die unersetzbar waren. So schmerzte es ihn, daß ein Teil der Kirchen, für deren Restauration er sich eingesetzt hatte, durch amerikanische und englische Luftangriffe zerstört wurde. 1943 erbat er sich eine Aufstellung über die seit dem Waffenstillstand durch Bombenangriffe beschädigten Kirchen‘. Offensichtlich wollte er festgehalten wissen, daß der. Großteil der Zerstörungen nicht auf das Konto der Deutschen ging und schon gar nicht auf das seine. Schließlich war er in der Militärverwaltung mit der Aufsicht über das Schul- und Kulturwesen betraut. Keiner sollte ihm später nachsagen können, daß er nicht alles getan hatte, um die Kunst vor Raub und Zerstörungen zu schützen.
Seiner Fürsprache und -sorge sicher konnte auch das Deutsche Theater in Lille sein. Das Theater wurde am 10. Mai 1941 eröffnet. Zu sehen war Goethes Egmont. Das Liller Fronttheater wurde von Joseph Goebbels protegiert und von der Reichsregierung mit 1,4 Millionen Reichsmark für das Jahr 1941/42 großzügig unterstützt. Für das NS-Regime war das Theater eine Prestigeangelegenheit. Die dort engagierten Schauspieler sollten nicht nur in Lille für die Truppenbetreuung sorgen, sondern auch zahlreiche Gastspiele in nordfranzösischen Städten, in Paris, Brüssel und Antwerpen geben. Intendant wurde ein ‚überzeugter Anhänger des NS-Regimes: Ernst Andreas Ziegler‘. Es war trotzdem kein Gesinnungstheater. Das Niveau der Opern- und Schauspielaufführungen war für ein Fronttheater ausgesprochen hoch. Auch die Auswahl der Stücke folgte nicht nach weltanschaulichen Gesichtspunkten. Gespielt wurden u.a. Goethes „Egmont“, Schillers „Maria Stuart“, Goldonis „Kaffeehaus“, Shaws „Die Häuser des Herrn Sartorius“, Hauptmanns „Biberpelz“, Mozarts „Figaros Hochzeit“, Puccinis „Madame Butterfly“ und Bizets „Carmen“, Mit der Bizet-Oper wollte man offensichtlich dem französischen Publikum entgegenkommen. Untergebracht war das Theater im Gebäude der Liller Oper, das sich direkt neben der Handelskammer, dem Sitz der Oberfeldkommandantur, befand.
Es gab Tage, da gab es in der Oberfeldkommandantur nicht sehr viel zu tun. Dann wechselte Carlo Schmid den Schauplatz, ging in das gegenüberliegende Gebäude und wohnte Theaterproben bei, zunächst mehr der Ablenkung wegen, bald schon aus Begeisterung. Die Regiearbeit faszinierte ihn, so daß er sich gelegentlich an ihr beteiligte. Er war mit Carl Ballhaus, der am Liller Theater ein Engagement als Schauspieler und Regisseur hatte, befreundet, dem er hin und wieder Vorschläge für die Regieführung unterbreitete. Allerdings scheint Ballhaus mit Schmids Vorschlägen nicht immer einverstanden gewesen zu sein®, Seine Herkunft aus der Geisteswelt Stefan Georges konnte Schmid, auch wenn er im Theater saß, nicht ganz verleugnen. Für ihn war die Schauspielkunst Dienerin der Dichtkunst. Die Sprache mußte seiner Ansicht nach das Stück tragen. Das antike Sprechtheater scheint sein Vorbild gewesen zu sein. Insbesondere soll er darauf beharrt haben, daß Stücke der Klassik ‚ im Stil antiker Aufführungen zu spielen seien?°. Schmid konnte Ballhaus, der das Spielmoment viel stärker betonte”‘, anscheinend nur selten dazu bewegen, die Inszenierungen gemäß seinen Vorschlägen zu ändern. Etwas verärgert scheint ihn dies schon zu haben. Nach dem Besuch in einem französischen Theater schrieb er seiner Frau: „Hier trägt wirklich der Schauspieler das Stück und ein Stück trägt sich nur dann, wenn in ihm das Wort mächtig ist. Ich kam ganz glücklich nach Hause, denn ich habe Quellen gespürt, die noch einmal Wüstenland berieseln werden.“ 7? Offensichtlich verglich er das deutsche Theater in Lille mit Wüstenland.
Er blieb trotzdem ein begeisterter Besucher der Theaterproben und er fand sogar Gefallen an der Komödie, obwohl die Komödie als Kunst für das Volk im Stefan-George-Kreis verpönt war. Er setzte sich über die Gebote des Meisters hinweg. Sklavisch an sie gehalten hatte er sich ohnehin nie. Insofern stimmt es schon, daß er nie ein Georgeaner war.
„Krankt ihm das Herz, dann schreibt er was zum Lachen“, dichtete Schmid frei nach Villon in einer seiner Balladen”3. Er übersetzte Komö- _ dien, obwohl ihm mehr zum Weinen als zum Lachen zumute war. Carl Ballhaus hatte die Idee, eine Komödie Calderons am Liller Fronttheater zu spielen. So begann Schmid im Herbst 1941, die Calderon-Komödie „Manana serä otro dia“ – „Morgen kommt ein neuer Tag“ vom Spanischen ins Deutsche zu übertragen. Weil es ihm Spaß machte, übersetzte er auch noch eine zweite Komödie Calderons: „Guärdate del agua mansa“ — „Hüte Dich vor stillen Wassern“ ”*. Die Liebe zur Komödie hatte ihn gepackt. Im Sommer 1942 verbrachte er Nächte mit der Übersetzung von Rostands „Cyrano de Bergerac“, der Komödie mit dem traurigen Schluß. Der Dichter mit der langen Nase, der an die verwandelnde Kraft der Poesie glaubt und sie erlebt, ist am Ende des Stückes ein Gescheiterter. War Cyrano ein alter ego Schmids? Ironisierte Schmid sich in Cyrano selbst? Vielleicht. In erster Linie war die in Alexandrinern geschriebene Verskomödie für ihn eine sprachliche Herausforderung. Er scheint gehofft zu haben, daß das Stück in Berlin herauskommt”°. Daraus wurde nichts. Die Schmidsche Übertragung liest sich schön, ist aber offensichtlich nur schwer aufzuführen”.
Die beiden Calderon-Komödien sind Liebes- und Verwechslungskomödien. Sie gehören in das Genre der für Calderon geradezu typischen, von Liebe und Ehre handelnden Mantel- und Degenstücke, in denen der Gegensatz von Idealismus und Materialismus das humoristische Hauptelement bildet. Schmid verstand es, durch den Wechsel von Pathos, das für seine eigene Rhetorik so kennzeichnend war, und der Sprache des Volkes, die ihm ebenfalls geläufig war, Witz und Humor zu erzeugen. So liest man beispielsweise in „Hüte Dich vor stillen Wassern“: „Auch vom Liebespfeil getroffen, quält uns nichts so sehr wie Hunger.“ Oder an anderer Stelle: „Gegen aufgerittene Hintern hilft nicht mal die schönste Base.“ In „Morgen kommt eine neuer Tag“ macht der Dialog zwischen Fernando, einem schwärmerisch verliebten Hidalgo, und seinem Diener Roque, der sein verlorenes Mantelsäckchen mit Börse sucht, den Witz des Stückes aus. Schmid machte in seiner Übersetzung den witzigen, nie ums Wort verlegenen Roque, der die Rolle des gracioso spielt, zur tragenden Gestalt des Stückes. Damit steigerte er den Witz und die Ironie des Stückes, die vielleicht auch etwas Selbstironie war. Doch man sollte dem Stück nicht allzu viel tiefere Bedeutung beimessen. Schmid hatte einfach Freude am Spiel, getreu dem Wort Schillers, daß der Mensch nur „da ganz Mensch“ ist, „wo er spielt“ 77. So läßt er Roque in einem selbstverfaßten Prolog erklären:
Euren Kummer, eure Sorgen, Die der Tag euch aufgebürdet, Komödianten werden helfen Diese euch vergessen machen. (5 | Seid ihr frei genug, euch freudig Diesem Spiele hinzugeben, Werdet ihr vielleicht was finden Was ihr lang nicht mal gesucht habt: Jenen Punkt, wo, was ihr möchtet, Daß ihr wäret und was ihr nun Einmal seid, zusammenfallen!“ 7°
Zu Goldinis „Kaffeehaus“ verfaßte er Einlagen, in denen er sich auf die Seite der Spieler gegen die bürgerlichen Moralisten stellte. Das barocke Motiv, daß das Leben ein Mummenschanz sei, tauchte bei ihm wieder auf. Die Maske erlaubt die Erfüllung der Wünsche, deren Verzicht die bürgerliche Gesellschaft verlangt. Im Karneval sind die bürgerlichen Moralgesetze außer Kraft gesetzt”°.
Karneval … Karneval …
Karneval du bist das Leben Leben ist ja Mummenschanz Und es kann den schönsten Kranz Dir nur eine Maske geben.
Tanz ich heute mit Zerbinette Lieb ich morgen Colombinen, Und ich frag nicht nach Blondinen Hängt am Arm mir die Brünette
Morgen hat der Tag uns wieder … Leben, Seligkeit sind hin! Wo sind schöne Schäferin Blicke, Küsse, Schwüre, Lieder
Tanz ich heut mit Zerbinette Lieb ich morgen Colombinen, Und ich frag nicht nach Blondinen Hängt am Arm mir die Brünette.
Darum tanzet: darum küsset! Erntet Kränze! Schwingt das Seil! Einmal nur wird euch zuteil Was ihr-jahrlang missen müsset!
Tanzet drum mit Zerbinette Liebet darum Colombine, Doch habt ihr im Arm Blondine Denkt nicht schon an die Brünette …
Schmid begeisterte das Schauspiel so, daß er am liebsten selbst auf der Bühne mitgespielt hätte. Er meinte es wohl ganz ernst, als er erklärte, daß er die Rolle des Fernando in „Morgen kommt ein neuer Tag“ selbst spielen wolle. Doch die Rolle des jugendlichen Degenhelden war dem übergewichtigen Mitvierziger nicht gerade auf den Leib geschnitten. Zudem war er mehr Poseur als Schauspieler, wenngleich er sich später in der. Politik auf das Rollenspiel verstand. Das Stück wurde erst 1946 in Tübingen aufgeführt – ohne Carlo Schmid als Hauptdarsteller. Als Schmid die Komödie übersetzte, hatte er schon an die Hauptdarsteller gedacht – nicht nur an sich, sondern vor allem an die beiden weiblichen Hauptdarstellerinnen: Irmgard Michael und Almut Sandstede, beide Schauspielerinnen am Fronttheater in Lille.
Schmids Begeisterung für das Theater war nicht nur ästhetischer Natur. Ihn fesselten auch persönliche Bande an das Theater. Seit 1941 lebte er mit Irmgard Michael zusammen. Sie hatte die Hauptrolle in „Parkstraße 13“, einem Kriminalstück von Axel Ivers gespielt. Bei den Proben war er auf sie aufmerksam geworden und hatte sich schon bald in sie verliebt. Sie war eine ausgesprochen hübsche Frau und hatte Sinn für das Musische°‘. Carlo Schmids Liebe zu ihr verdanken wir ein Bändchen von Gedichten über die Nacht, die Liebe und den Traum. Es waren keine ausgesprochenen Liebesgedichte. Das Glück wurde immer überschattet vom Schmerz über die Unerfüllbarkeit des Traums. Viele Gedichte waren Hymnen an die Nacht als Ort von Eros und Identität. Man kann sich bei noch so guter Beschreibung schlecht eine Vorstellung von einem Gedicht machen, wenn man es nicht kennt. Lassen wir also den Dichter erst einmal selbst zu Wort kommen”,
O Nacht, der Träume süßer Überfluß Fährt auf der Silberflotte deiner Sterne In meinen Tag. Noch bannt ein trunkener Kuß Verzaubernd Endlichkeit und alle Ferne.
Verwehte Düfte blähten meine Brust Wie Heimkehrwind das Segel der Galeere. Nun weiß ich Dinge, die ich nie gewußt Und ohne die mein Leben Reue wäre.
O Traute, rüste mir im Honigklee Ein neues Bett von samtenen Skabiosen Eh von den Wandelsternen sanft gestoßen Ich trauernd an dem andern Ufer steh …
„Ernte“ nannte Carlo Schmid den Gedichtzyklus, dem auch dieses Gedicht entnommen ist. Träume waren für Schmid keine Schäume. Sie ragen in den Tag hinein, sie sind eine andere Form des Wissens, die sich der Rationalität der Tagwelt verweigert. So hatte Novalis, der große Dichter der Romantik, den Traum schon verstanden. Aber Novalis wünschte sich die Phantasie an die Macht. Er glaubte, daß „vor Einem geheimen Wort“ das „ganze verkehrte Wesen“ fortfliege. Schmid glaubte nicht, daß der Traum einmal Wirklichkeit werden könne, wenngleich die Traumwelt für ihn die Körperhaftigkeit substantieller Erfahrung hatte. Er steht am anderen Ufer und trauert. Sein Gedicht lehrt den Verzicht wie die Hymnen Hölderlins, wie die frühen Gedichte Stefan Georges, die Schmids eigenes dichterisches Schaffen beeinflußt haben. Er spürte einen „unbändigen Drang“, der „Fülle, die ein reiches Leben“ in seine „Brust gelegt hatte“, im Gedicht Ausdruck zu geben®#. Doch ihn trieb immer wieder das gleiche Thema um: Das Leiden an der Tagwelt, der Schmerz über die Unerfüllbarkeit des Traums. In immer neuen Bildern gab er ihm Ausdruck, als wollte er ihn bannen. Sein ganzer Sprachreichtum trat dabei zu Tage. Carlo Schmid war ein Wortkünstler. Seine Sprache war wie die Baudelaires eine Bildersprache. Eines seiner schönsten Gedichte, zu dem er durch Joachim du Bellays Gedicht „Dejä la nuit en son parc amassoit“ angeregt wurde, ist mit „Pein der Dämmerung“ überschrieben®®:
Nun treibt die Nacht durch ihren Schattengarten Ihr weißes Rudel hungriger Gestirne Und küßt mit lindem Atem meine Stirne Die Bilder bleichen und die Träume warten.
Gedanken schlummert ein! o Seele wache! Dies ist Dein Reich, der Mond ist deine Leuchte Die Sonne trifft zu hart, ihr Brand verscheuchte Den Duft von deiner Blüten Zaubersprache.
In goldene Tropfen sickert von den Sternen Das Dunkel und macht fruchtbar deine Krume Vom Monde regnet Tau, die rote Blume Der Sehnsucht trinkt … auf-springt ein Tor zu Fernen …
Auf Silberwellen schaukeln dunkle Flöße Vorbei am Sande blauer Palmenküsten Und Karavanen ziehn durch gelbe Wüsten In Duft und Seide hüllt sich frostige Blöße …
Bleib wach, o Seele! Laß dem Leib den Schlummer! “ Bald schlägt ein roter Speer der Nacht die Wunde Aus der ihr Gold verströmt. In einer Stunde Sengt neuer Tag und brennt dir neue Wunde.
Carlo Schmid war ein Traumkind, das einen wachen Blick für die Realität hatte. Er war ein weltzugewandter, kein weltabgewandter Träumer. Er zerbrach nicht unter den Herausforderungen, die in Lille an ihn gestellt _ wurden, sondern wuchs mit ihnen. Die Liebe zu Irmgard Michael mag ihm einigen inneren Halt gegeben haben, wenn auch das Glück jeweils nur einen „Atemzug“ dauerte®°. Eines der Gedichte, das er ihr schrieb, beginnt mit den Worten: „Ich wandelt irr und keiner gab das Wort“ ?7. Irmgard Michael verstand seine Gedichte. Wer seine Gedichte verstand, verstand auch ihn. Es waren verdichtete Psychogramme. Sie half ihm auch, den prosaischen Alltag zu bewältigen, indem sie Ordnung in seine alltägliche Unordnung brachte®®. 1942 wurde Juliane geboren. Irmgard Michael hatte sich das Kind gewünscht“?. Carlo Schmid freute sich über die Geburt Julianes. Er verfaßte ein Gedicht zu ihrer Geburt, eines der wenigen Gedichte, in dem Glück und Freude zum Ausdruck kam”. Doch es war von vornherein klar, daß es nach Ende des Kriegs kein Zusammenleben zu Dritt geben würde. Nach 1945 ließen Schmid seine politischen Ämter kaum noch Zeit, sich um Juliane zu kümmern. Er hatte auch kaum mehr Zeit für seine eigene Familie. So war er froh, als Juliane Anfang der 60er Jahre den Regisseur Gisli Alfredsson heiratete. Er hoffte, sie sei nun gut aufgehoben und besuchte sie in Reykjavik, um sich etwas um den jungen Haushalt zu kümmern?‘. Die Ehe zerbrach, Juliane geriet in die Drogenszene. Ihr Tod traf ihn hart. Er gehörte zu den vielen persönlichen Tragödien, die er zu erleiden hatte, die er nur schwer überwand.
Auf das große Glück hoffte er schon in den 4oer Jahren nicht mehr. Gelegentlich schrieb er todtraurige Balladen über das Leben. Die Ballade war schon früher von Bänkelsängern und Vaganten dazu benutzt worden, um dem Volk harte Wahrheiten über das Leben zu sagen. Schmid, der elitäre Esoteriker, vermochte auch in der Sprache des Volkeszu dichten, Balladen und Lieder nach Art der Vaganten zu schreiben. Die Liebe zu Stefan George hatte seine Liebe zu Brecht kaum gemindert. Er dichtete Songs und Lieder, die in Brechts „Dreigroschenoper“ hätten stehen können. So z.B. das „Lied vom Leben“, in dem er wohl auch eine Summe seines Lebens zog”:
Ihr wundert euch, daß Gleichungen nie stimmen In denen ihr das Leben rechnen wollt, Und weil ihr Kinder seid, schreibt ihr es schlimmen Gewalten einer Hölle zu, die schmollt.
Ihr meint ja der böse Feind mißgönne Dem Menschen Freude und ein bißchen Glück … Doch tröstet euch; was er auch abgewönne Gäb er nach einem Tage schon zurück!
Die Sache liegt ganz anders mit den Zahlen Der Gleichung, die ihr ansetztI.h r vergeßt Rechts von dem Strich den Minusposten ‚zahlen‘! Drum stimmt die Gleichung nicht und bleibt ein Rest.
Denn jedes Ding, das ihr euch wünschet, kostet Nun einmal seinen regelrechten Preis. Das trifft auch euch, die ihr am Glücksrad lostet, Ihr macht euch nur aus Angst, was andres weis.
Du denkst in Arbeit den Erfolg zu suchen Der deinem Leben die Erfüllung bringt. Doch dafür mußt du auf dem ‚Soll‘ verbuchen Daß dir ein Leben lang kein Vogel singt …
Und du, du willst auf allen Sieg verzichten Und lebst, ein Mönch, in Büchern und Gebet. Doch dafür mußt du dich mit den Gesichten Der Träume plagen, die der Wind herweht …
Ich weiß, da gibts so was wie Mutterliebe Und Liebe überhaupt. Das widerlegt Angeblich meine Weisheit. Doch im Siebe Des klaren Lichts hin und her bewegt
Schaut beides anders aus; ihr werdet sehen Auch da hat jedes seinen Preis: wer liebt Kann seiner Liebe Tod nur überstehen Wenn er sich selber mit in Zahlung gibt.
Vielleicht ist’s anders, wenn wir selbst uns schonen Und schamlos nehmen was uns Liebe beut; Doch damit werden wir aus Menschen Drohnen Und das ist auch ein Preis, ihr liebe Leut …
Es tut mit leid, daß dieses Lied nichts bot Was einem freudig macht; ich möcht es geben. Allein, umsonst ist nicht einmal der Tod! Er kost’ nicht viel, doch immerhin das Leben.
Da wundert euch, daß Gleichungen nicht stimmen, in denen ihr das Leben rechnen wollt? …
Das war der ganz andere Schmid, der alle Lebensträume schonungslos als Illusion entlarvte. Ein todtrauriger Possenreißer, der die Menschen unbarmherzig vor das Nichts stellte. Schmid übersetzte nicht nur Gedichte Villons, er stellte sich als Vagantenlyriker auch in dessen Tradition??. Wie der „poete maudit“ des späten Mittelalters schrieb auch er eine Poesie des Lachens im Weinen. Das Kabarett wäre der geeignete Ort gewesen, um sie vorzutragen. Einige der Chansons waren frech-frivole Provokationen gegen die bürgerliche Moral. Man kann sie auch als ver- _ sfeckten Affront gegen die von den Nationalsozialisten so entschieden verteidigten Sekundärtugenden lesen.
Es.waren zwei verschiedene Welten, die Schmid in seiner Dichtung entwarf: die Welt des Traumes und der Liebe und die Welt derer, die die bürgerlichen Normen nicht erfüllten, die auf der Schattenseite des Lebens standen, die Schuld und Verzweiflung plagte. Melancholie, Leid und Schmerz war die Grundstimmung all seiner Gedichte. Die Verzweiflung _ nahm zu. Das dunkle Nichts verdrängte oft den Traum, zerstörte die Utopie einer besseren Welt. Die vergebliche Suche nach Werten von Dauer und Sinn machte Schmid zum Thema seines „Herbstliedes“, dessen beide letzten Strophen lauten?*:
Nun schleppt mein Sinn sich müde hin, gebeugt Wie einer Greisin Rücken, die den Stab Verlor und sucht die Ackerfurchen ab Nach einem kleinen Korn, das Dauer zeugt.
Und wenn mein Herz von zuviel Peinen schrie, Führt stumm mir ihre Schattenbilder vor Auf einer Wand von Dunst aus faulem Moor Die schwarze Sonne der Melancholie.
Die „schwarzen Sonnen der Melancholie“ sind ein immer wiederkehrender Topos bei Schmid. Sie verbrannten ihn nicht. Er stellte ihnen ein existentialistisches Dennoch entgegen. In seiner Dichtung und in seinen Gedichtinterpretationen warf er existentielle Fragen auf. So wie er die Gedichte Baudelaires und Hölderlins las, waren sie Dokumente des Existentialismus. Er setzte sich damals intensiv mit dem sogenannten religiösen Existentialismus auseinander. Pascal, Jaspers und vor allem Kierkegaard gehörten zu seiner ständigen Lektüre. Von der heroischen Geisteshaltung Stefan Georges begann er sich langsam zu distanzieren. Angesichts einer Wirklichkeit, die Helden nötig hatte, wurde der Heroismus zur existentiellen Herausforderung oder schal. Voller Verbitterung bekannte er 1944 seiner Frau: „Ich mag diesen F.N. nicht mehr.“ „Was war es billig, vom stabilen Zimmer in Sils-Maria aus zu predigen: Lebe gefährlich! So eine richtige verdrängte Tartarenpredigt.“% Obwohl er sich von der Geisteswelt des Dritten Humanismus nie ganz löste, kam er nach 1945 kaum noch auf Nietzsche zurück.
Nietzsche war der große Verächter der christlichen Religion, Kierkegaard hatte sich für Gott entschieden. Ob er .ein Glaubender war, sei dahingestellt?”. Schmids Denken war beeinflußt von der Religionskritik Nietzsches und Kierkegaards. Im Gegensatz zu Nietzsche versuchte er jedoch Antike und Christentum miteinander zu verbinden. Auch in Briefen an seine Frau, die eine gläubige Protestantin war, sparte er nicht mit Kritik am Protestantismus. Luthers Staatskirchentum machte er mitverantwortlich für die politische Entwicklung in Deutschland. Luthers Lehre von der Untertänigkeit des Bürgers gegenüber der politischen Obrigkeit habe sich ebenso verhängnisvoll ausgewirkt wie seine Gnadenlehre, die die Menschen von „ihren wesenhaft böse gebliebenen Akten“ freispäche, ohne ihnen eine Purgatio aufzuerlegen®. Auf Kierkegaard konnte er sich berufen, wenn er dem Protestantismus vorwarf, daß er zur Verspießerung des Lebens beigetragen habe”. „Richtige Protestanten“, so meinte er feststellen zu können, seien „meistens recht leibarm“ 158 verurteilte er den Calvinismus, der den Menschen einen Zwang zur Askese auferlegte, fast noch härter als das Luthertum. Calvin habe die Liebe „mehr gestraft als beschenkt“. Deshalb könne der Calvinismus umschlagen in äußerste Inhumanität: „Eine Liebesreligion für Menschen, die keine eigentümliche in sich tragen, ist eine schlimme Sache; sie er zeugt Inquisitoren und Visitatoren und gibt der Härte ein unendliches Feld für die kalte Bosheit.“ !%!
Weitaus positiver war sein Verhältnis zum Katholizismus. Nicht, daß er ein gläubiger Katholik gewesen wäre, das war er nur dem Taufschein nach, aber der Katholizismus erschien ihm als eine Manifestation existentieller und geistiger Seinsformen. Er interpretierte den Katholizismus existentialistisch um. Seinem Sohn Martin schrieb er: „In Frankreich, aber auch in Deutschland ist alles, was an Seelen- und Geisteskräften aufgeblüht ist, gerade in den Katholizismus eingeströmt und hat ihn so weit, so xadoAov, so „allgemein“ gemacht, daß man hier katholisch sein kann, ohne an Gott zu ‚glauben‘. “ ‚” Edgar Salin hat Stefan George einen „katholischen Nicht-Christen“ genannt’®. So könnte man auch Schmid bezeichnen, falls man ihn überhaupt irgendwie einordnen möchte. Er glaubte nicht an durch die Kirche vermittelte Heilsgüter. Für ihn gab es nur den einzelnen, der sich für das Gute oder das Böse entscheiden mußte. Die .„Vielheit“ sei immer „Natur“. Darin läge die „Aussichtslosigkeit jeder Massenethik“ ‚%#, Das war eine radikale Absage an jede Sozialmoral und jede Form eines ethischen Sozialismus. An die Stelle einer sozial verbindlichen Moral mußte der Ernst des Sich-Entscheidens treten, das Entweder-Oder für oder gegen das Christentum, für das Gute oder das Böse. Carlo Schmid sprach davon, daß der Mensch Stellung zu beziehen habe, wo es um die Bestätigung seines Selbst gehe‘. Das war ein Stück Selbsterfahrung. Kierkegaards Verzweiflung und Melancholie war auch die seine. Kierkegaard kannte Stadien der Verzweiflung, die Dantes Höllenregionen glichen. Erst in der letzten äußersten Stufe der Verzweiflung kann der Aufstieg zum Glauben, gewissermaßen als ein Schrei des Trotzes, erfolgen’®:. „Um aber zur Wahrheit zu kommen, muß man durch jede Negativität hindurch; denn hier gilt es, wovon die Sage erzählt, einen gewissen Zauber aufzuheben: das Stück muß rückwärts ganz durchgespielt werden, sonst wird der Zauber nicht gehoben.“ ‚°” Für Schmid war dies der zentrale Gedanke des Fxistentialismus Kierkegaards. Nach eingehender Kierkegaard-Lektüre schrieb er seiner Frau: „Ohne den Mut zur vollen,Menschlichkeit ist Religion vom Teufel und die echten Lehrer der Askese haben dies gewußt (…). Das Leben vollzieht sich nicht nur physiologisch in Stufen; es ist ein Gang von Erweckung zu Erweckung und nur wenn eine Stufe ganz erledigt ist, ist der Weg zur reichsten frei.“ ‚°® So hatte er auch schon Dantes Divina Commedia verstanden.
Er war ständig auf der verzweifelten Suche nach dem „Glauben an den absoluten Sinn des Daseins in jeder Form“ ‚”, „Wer hat das?“, fragte er. Er stellte sich die Frage selbst. Denn auch er hatte diesen Glauben nicht, um den er rang. Manchmal wäre er gern mit den Menschen, die er liebte, auf eine Insel geflohen. „Aber wo liegt Ikarien?““° Für Stunden konnte er im Theater, beim Spiel mit der Ästhetik ganzer Mensch sein und von einem Leben als Künstler träumen. Aber Lille war kein Ikarien. Es glich eher einer vorweggenommenen Hölle. Das Leben dort stellte ihn fast täglich vor existentielle Entscheidungen.
Im Widerstand
Ende 1942 war ganz Frankreich zum deutschen Besatzungsgebiet erklärt worden. Die Grenze an der Somme wurde durchlässig, wenn man sie auch aus Prestigegründen nie ganz beseitigte. General Niehoff war im November 1942 von der Oberfeldkommandantur in Lille abberufen worden. Möglicherweise hatte Falkenhausen, der Niehoffs Gewaltmethoden ablehnte, darauf gedrungen‘. Neuer Oberfeldkommandant wurde Generalmajor Daser, der aber infolge eines Autounfalls erst Mitte Januar seinen Dienst in Lille antrat”. Wäre Niehoff Anfang Januar 1943 noch in Lille gewesen, wäre dort wahrscheinlich viel Blut geflossen. Ende Dezember und in den ersten Januartagen waren in Belgien und Nordfrankreich zahlreiche Sabotagen und Attentate verübt worden, bei denen mehrere Wehrmachtsangehörige getötet und verletzt wurden. Falkenhausen, der bisher nur selten zu Gewaltmaßnahmen gegriffen hatte, sie auch grundsätzlich nicht befürwortete, reagierte diesmal mit brutaler Härte: Vom 27. November bis zum ı3. Januar 1943 ließ er 68 Geiseln erschießen. Carlo Schmid mißbilligte Falkenhausens Vorgehen, das nur neues „Unheil hecken“ konnte*. Er fürchtete, daß es zu einer Eskalation der Gewalt kommen werde. In Lille war es ihm gelungen, „die Maßnahmen in erträglichen Grenzen zu halten“. Geiseln wurden dort nicht erschossen, obwohl es für Schmid nicht leicht war, „die entscheidenden Personen bei Vernunft zu halten“°. Die Wehrmachtsangehörigen waren zur Zielscheibe von Attentaten geworden. Wer nachts noch aus dem Haus ging, mußte damit rechnen, Opfer eines Attentats zu werden. Wenn Schmid nachts unterwegs war, mied er abgelegene Wege und ging in der Straßenmitte, um nicht aus dem Hinterhalt erschossen zu werden”.
Für den Ausbruch von Haß und Gewalt war vor allem der „Service du Travail Obligatoire“ (STO) verantwortlich, die Zwangseinziehung französischer Arbeitskräfte für den Arbeitseinsatz in Deutschland. Am 4. September 1942 hatte das Vichy-Regime auf Drängen der deutschen Regierung ein Gesetz über den Zwangsarbeitsdienst erlassen, nach dem alle männlichen Franzosen zwischen ı8 und 60 Jahren, die arbeitslos waren oder nicht für eine Familie zu sorgen hatten, zur Zwangsarbeit in Deutschland verpflichtet werden konnten®. Das im Rahmen der sogenannten 1. Sauckel-Aktion verlangte Kontingent von Arbeitern, die nach Deutschland hätten verschickt werden sollen, konnte nicht gestellt werden, weil sich ein Teil der Arbeiter der Zwangsanwerbung durch Untertauchen in der Resistance entzog. Von November 1942 bis Ende Januar 1943 wurden von Nordfrankreich 16000 Arbeitskräfte ins „Reich“ verschubt. Das war eine hohe Zahl, die aber unter dem Soll der Sauckel-Aktion blieb?.
Im Februar 1943 verfügte die französische Regierung, daß alle männlichen Franzosen der Jahrgänge 1920-1922 einen zweijährigen Arbeitsdienst in Deutschland abzuleisten hatten. In der Oberfeldlkommandantur in Lille war man über diese Verfügung nicht glücklich, denn man befürchtete, „daß die Dienstpflichtigen wie bisher sich großenteils dem Arbeitseinsatz in Deutschland zu entziehen versuchen werden“!®, Der deshalb unvermeidlich werdende Polizeieinsatz werde die „Kluft zwischen Regierung und Bevölkerung noch mehr verbreitern“‘!. Man versuchte das von Nordfrankreich zu stellende Kontingent von Zwangsverpflichteten herabzusetzen, indem man darauf verwies, daß dort schon vor dem September 1942 Zwangsanwerbungen von Arbeitern nach Deutschland durchgeführt worden waren.
Die nahezu einhellige Ablehnung der Zwangsverschickung von französischen Arbeitern in der Oberfeldlkommandantur erleichterte Schmid seinen Plan, Holzfällerlager in den Ardennen zu errichten. Die auf seine Anordnung hin errichteten Holzfällerlager retteten Tausende junger Franzosen vor der Zwangsverschickung nach Deutschland. Die Holzfällerlager unterstanden der Militäradministration in Lille, wo Carlo Schmid und Theodor Momm, der in der Militärverwaltung für das Referat Textilwirtschaft zuständig war, die Verantwortung für sie übernahmen. Für die Ardennen war eigentlich die Militäradministration in Paris zuständig. So entstand ein Kompetenzenwirrwarr, innerhalb dessen sich die Holzfällerlager zu einem Zufluchtsort der Arbeitsdienstverweigerer und zu einem Zentrum des Widerstandes entwickeln konnten‘?. Schmid tat, was in seiner Macht stand, um die jungen Franzosen vor der Zwangsverschickung zt bewahren. Da die Liller Universität sich zunächst weigerte, Listen der zum Arbeitsdienst zwangsverpflichteten Studenten zu übergeben“, hatte er etwas Zeit, um nach weiteren Auswegen zu suchen. Als einzige Berufsgruppe war der Bergbau von der Abwerbung ausgenommen. Schmid sucht@ den Leiter des Bergbauwesens auf und konnte ihn zu einer Vereinbarung überreden, durch die ein Teil der zwangsverpflichteten Studenten ihren Arbeitsdienst im nordfranzösischen Bergbau ableisten konnte’*. Auch in den von ihm protegierten Jugendorganisationen fanden einige Unterschlupf und entkamen so der Zwangsverschickung nach Deutschland. Die Auflösung der Jugendlager wurde auf seine Anweisung hin hinausgezögert’®.
Das alles waren nur Notlösungen, die Schmid selbst offensichtlich so unbefriedigend empfand, daß er sie in seinen „Erinnerungen“ mit keinem Wort erwähnte. Es war ja auch nur eine Minderheit, die auf diese Weise
vor der Zwangsverschickung bewahrt werden konnte. Von 1940 bis September 1943 wurden aus Nordfrankreich 70255 Arbeitskräfte zum Arbeitseinsatz in Deutschland „angeworben“. Seit Herbst 1943 erschien der „weitaus größte Teil der zu den Werbestellen Vorgeladenen“ nicht mehr“*. Er ging in den „maquis“, wo die Arbeitsdienstverweigerer den bewaffneten Kampf mit der verhaßten Okkupationsmacht aufnahmen. In einem Anfang 1944 für die Oberfeldlkommandantur verfaßten Bericht bezeichnete Carlo Schmid „die zwangsweise Arbeiterabwerbung nach Deutschland“ als einen „Fehlschlag“. Die Suchaktionen hätten der „Autorität der Besatzungsmacht mehr geschadet als genützt“. „Daraus die richtige Lehre zu ziehen“, sei, wie er in einem couragierten Schlußsatz schrieb, „das Gebot der Stunde“ ‚7. Wer der Verantwortlichen hörte noch auf Argumente? Wer las überhaupt noch solche Berichte? Schmid stellte betroffen fest: „Die Stumpfheit der Seelen und die Desorganisation der Gehirne sind unbeschreiblich.“ ‚?
Im Frühjahr 1943 waren Gerüchte im Umlauf, daß die polnische Bevölkerung deportiert werde. In den beiden Departements Nord und Pas-de- Calais lebten ungefähr 150 000 Polen. Sie waren zumeist im Bergbau beschäftigt‘?. Am 29. Mai traf sich Schmid mit Präfekt Carles zu einer Unterredung in der Oberfeldkommandantur. Er informierte ihn über eine mögliche Ausweisung der Polen. Carles war von einer Arglosigkeit, über die man sich nur wundern kann. Er glaubte nicht an eine Austreibung der Polen, da es doch kein Land gebe, das den Polen Asyl gewähren werde. Carlo Schmid bat ihn inständig, die polnische Bevölkerung darüber zu unterrichten, noch bevor eine entsprechende Anordnung ergangen sei. Den Kreiskommandanten solle er aber um Gottes willen nicht informieren”, Carles begriff überhaupt nicht, daß das Leben von Menschen auf dem Spiel stand. Zum Glück wurden die Polen dann doch nicht deportiert. Wahrscheinlich fürchtete man, daß ohne sie der Bergbau zusammenbrechen werde. Schmid hatte vorsorglich gewarnt, um den Polen die Möglichkeit zur Flucht zu geben. Er war lieber übervorsichtig. Sonst hätte er sich später Vorwürfe gemacht. Wenn die Entscheidung gefallen war, kam jede Rettungsmaßnahme zu spät.
Seit Juni 1943 war Generalleutnant Bertram Oberfeldlkommandant. Er war kein Bluthund wie Niehoff, schreckte aber vor Geiselerschießungen als ultima ratio nicht zurück. Am r. Juli wurden bei einem Attentat 13 deutsche Soldaten getötet. Tags darauf berichtete Schmid seiner Frau von dem Attentat und fügte verzweifelt hinzu: „… du kannst dir denken, was da wieder für Maßnahmen vorgeschlagen worden sind und was mir das alles zu tun aufgibt.“ *‘ Einen Tag später war er völlig niedergeschlagen: „In der Sache, von der ich gestern schrieb, habe ich verloren; es wird also etwas geschehen, was nicht mehr wird rückgängig gemacht werden können, und alles, was ich noch tun kann, ist mich bei der Auswahl einzuschalten.“ *” Wieder einmal mußte er versuchen, auf die Geisellisten die Namen derer zu setzen, die ohnehin zum Tode verurteilt waren. Es war schrecklich. Am Abend mußte er sich mit den Leuten, die für die Geiselerschiefßungen verantwortlich waren, an einen Tisch setzen und roch dazu den „Vergnügten spielen“ 3. Zahlreiche Briefe an seine Frau waren Klagelieder über diese abendlichen Geselligkeiten, die er zum „Kotzen“ fand”*. Manchmal fügte er erklärend hinzu: „(…) ich kann es mir nieht leisten, nicht für einen guten Kumpanen zu gelten; zuviel hängt davon ab, daß man aus Gründen persönlicher Sympathie meine Arbeit unterstützt.“5 Er versuchte, sich in möglichst viele Dinge einzumischen. Zu Besprechungen mit französischen Dienststellen wurde er ohnehin fast immer zugezogen, weil man ihn als Sachverständigen oder als Dolmetscher brauchte. Ab und zu wurde er sogar von der Militäradministration in Paris gebeten, bei schwierigen Verhandlungen zu assistieren?°. Nur wenn er immer und überall präsent war, konnte er das Schlimmste verhindern.
Die Inhumanität des Regimes wuchs ständig. Konnte man noch länger guten Gewissens darauf warten, daß die militärische Niederlage dem NS-Regime eine Ende setzte? Anfang Juni besuchte Helmuth James von Moltke Schmid in Lille. „Es gab viel zu bereden wie immer.“ Schmid hütete sich, seiner Frau Näheres über den Inhalt des Gesprächs zu erzählen’?”. Sie wußte wohl schon aus der kurzen Andeutung, um was es ging. Moltke wurde in einem Brief an seine Frau etwas deutlicher: „Ich hatte Schmid zwei Stunden zu informieren und die Linie mit ihm abzustimmen, habe aber aus seinen Berichten den Eindruck gewonnen, daß er gut vorbereitet und ganz nette Erfolge hat. Dann habe ich auch mit ihm die Geiselsache erörtert.“?® Moltke war zuvor in Brüssel gewesen, wo er Falkenhausen dazu überreden konnte, keine weiteren Geiseln zu deportieren und die noch einsitzenden Geiseln freizulassen”.,
Der zähe Kleinkampf gegen Geiselnahmen war aber ganz offensichtlich nicht das einzige Thema der Unterredung zwischen Schmid und Moltke. Bei der gemeinsamen Linie, die es abzustimmen galt, handelte es sich vermutlich um einen gemeinsamen Plan zum Umsturz des Regimes. Moltke hatte lange Zeit einen Staatsstreich abgelehnt, weil er das Aufkommen einer neuen Dolchstoßlegende fürchtete. Seiner Ansicht nach war ein Neuaufbau nur nach einer sozialen Revolution möglich. Diese aber werde erst eintreten, wenn Deutschland eine eindeutige militärische Niederlage erlitten habe?°. Im Kreisauer Kreis, in dem Moltke die maßgebende Persönlichkeit war, wurden im Sommer 1943 Grundsätze für die sittliche und religiöse Erneuerung und für den „Neuaufbau der europäischen Völkergemeinschaft“ ausgearbeitet?‘. Moltke hoffte auf Vereinbarungen zwischen den oppositionellen Kräften in Deutschland und den westlichen Alliierten, durch die für Deutschland annehmbare Friedensbedingungen und eine politische und militärische Zusammenarbeit mit den Westmächten erreicht werden sollte. Auf einer Reise in die Türkei im Juli 1943 konnte er einige wichtige Auslandsverbindungen herstellen.
Mit Carlo Schmid hatte er sich mehrmals über seine Pläne zur Neuordnung Deutschlands unterhalten. Im Zentrum der Gespräche scheint die Suche nach einer „geistigen und moralischen Elite“ gestanden zu haben, der man den Neuaufbau anvertrauen konnte3?, Auch das Konzept der Kreisauer war elitär, wenngleich man die Auffassung vertrat, daß die neue Elite sich aus allen Schichten des Volkes zusammensetzen müsse. Die Integration der Arbeiter in Staat und Wirtschaft war ein erklärtes Ziel. Man hing der Vision eines dritten Wegs zwischen Kapitalismus und Kommunismus an. Die Zukunftspläne der Kreisauer dürften Schmids eigenen weitgehend entsprochen haben: Auch er war für eine Aussöhnung mit Frankreich und Polen, für ein vereinigtes Europa auf der Grundlage des Humanismus und des Christentums, auch er maß der Erziehung und Bildung eine wichtige Bedeutung für den Neuaufbau zu, auch er glaubte, daß den Auswüchsen der Massendemokratie am ehesten durch die Einübung der Demokratie in kleinen Gemeinschaften entgegengewirkt werden könne??, Typisch deutschen Denktraditionen waren Moltke wie Schmid verhaftet.
Die Kreisauer arbeiteten im Sommer 1943 nicht nur langfristige Pläne für die Neuorganisation Deutschlands aus, sondern auch eine „Erste Weisung an die Landesverweser“ die organisatorische Richtlinien für eine Übergangsregierung nach dem Umsturz des Hitler-Regimes enthielt’. General Falkenhausen hätte die Leitung der Übergangsregierung übernehmen sollen. Moltke suchte Kontakt zur französischen Resistance. Schmid konnte ihn aber, da er selbst keine Verbindung zur Resistance hatte, nur an Pasche verweisen’. Man bereitete den Staatsstreich vor. Der Sturz Mussolinis am 25. Juli 1943 wirkte fast wie ein Fanal, nun auch in Deutschland mit dem verhaßten Regime aufzuräumen. Schulenburg, der auf eine rasche Aktion drängte, knüpfte die Fäden zu den einzelnen Widerstandszentren. Die Hauptbeteiligten an dem geplanten Attentat auf Hitler waren Beck, Goerdeler, Hermann Kaiser, Olbricht, Tresckow, wahrscheinlich auch Stauffenberg. In Paris konnte Schulenburg den dortigen Militärbefehlshaber Stülpnagel für die Mitarbeit am Staatsstreich gewinnen.
Moltke, der seine Vorbehalte gegen einen Staatsstreich zurückstellte, und Schmid waren in die Attentatspläne eingeweiht. Am 8. August schrieb Carlo Schmid seinen Söhnen Hans und Martin: „Ich bin, wenn auch nur in zweiter Hand, an wichtigen Dingen beteiligt, von denen man sich große Wirkungen erwartet und dies kostet mich meine ganze Zeit. (…) Um was es sich handelt, kann ich euch nicht schreiben.“3 ” Nein, im Grunde hatte er schon viel zuviel geschrieben. Es war grausam, über die Pläne und Vorbereitungen mit niemandem sprechen zu können. Auch die Freunde in Lille erfuhren nichts3®. Der Historiker freilich hat Schwierigkeiten, anhand der wenigen Andeutungen die Ereignisse nachzuzeichnen. Soviel dürfte sicher sein: Schmid hatte am Tage X in Lille die notwendigen Maßnahmen durchzuführen. Es genügte ja nicht, dem Regime den Kopf abzuschlagen. An jedem größeren Ort mußte dafür gesorgt werden, daß die SS nicht zum Gegenschlag ausholen konnte. Moltkes Feststellung, daß Schmid ganz „nette Erfolge“ habe, heißt wohl, daß es Schmid nach und nach gelang, die Wehrmacht auf seine Seite zu ziehen°®.
Die letzten zehn Augusttage scheinen die für den Umsturz entscheidenden Tage gewesen zu sein. Am 20. August berichtete Schmid seiner Frau: „Was ich heute früh von sieben Uhr ab getan habe z.B. sind Dinge, an die ich bisher noch nicht einmal gedacht habe und für das Gelingen dieser Dinge habe ich mit meinem Kopfe einzustehen. Da ich den nun nicht verlieren möchte, strenge ich ihn eben an, aber da ich das sowieso schon genug tun muß, wird seine Belastung ein wenig groß.“ *° Drei Tage später klagte er in einem Brief an seine Söhne über die „ständige Inanspruchnahme“, über die er aber jetzt nichts sagen könne. Später sollten sie erfahren, „worum es sich bei diesen Dingen gehandelt hat“ *‘. Er mußte sich sehr zusammenreißen, damit er nicht schon jetzt alles erzählte. Tags darauf schickte er für seinen Sohn Hans eine Hölderlin-Auswahl nach Hause und fügte scheinbar beiläufig, aber andeutungsvoll hinzu: „man kann nicht wissen, wie man einmal von hier wird aufbrechen müssen.“ * Er scheint täglich mit dem Vollzug des Attentats auf Hitler gerechnet zu haben. Zwei Tage später teilte er seiner Frau mit, daß er Kanäle abfahre, um sich „einiges für einen bestimmten Fall einzuprägen“*. Er hat sich wohl nach Fluchtmöglichkeiten umgeschaut für den Fall, daß das Attentat scheiterte. Am 29. August war er ziemlich niedergeschlagen. Die ganze Woche über war schönes Wetter. „(W)enn der Himmel klar war, war die Luft voll von Fliegern. Leider haben sie etwas zusammengeworfen, an das ich in den letzten Wochen viel Arbeit gewandt habe.“ ** Wollte man darüber rätseln, um was es sich handelte, ließ man sich auf pure Spekulationen ein. Schmid war völlig erschöpft. Am 30. August erlitt er einen Kollaps*:
Zu diesem Zeitpunkt bestand wahrscheinlich keine Hoffnung mehr auf die Ausführung des Attentatsplans. Warum trotz getroffener Vorbereitungen kein Umsturzversuch unternommen wurde, läßt sich im einzelnen nicht mehr rekonstruieren. Walter Bargatzky erzählte in seinen Erinnerungen von zwei gescheiterten Attentatsversuchen, die aber offensichtlich nur in loser Verbindung zu der geplanten Umsturzaktion standen“. Einiges deutet darauf hin, daß der Staatsstreich vor allem deshalb ausblieb, weil der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte von Kluge und der Militärbefehlshaber in Paris Stülpnagel sich scheuten, die Initiative zu ergreifen*”. Aber letztendlich ist man auch hier auf Spekulationen angewiesen.
Schmid war deprimiert und entmutigt. Am 31. August hatte er Besuch aus Berlin. Moltke dürfte der Besucher gewesen sein. Carlo Schmid schrieb immer, wenn Moltke nach Lille kam, vom „Besuch aus Berlin“. Es wäre viel zu gefährlich gewesen, Namen zu nennen. Bei dem Gespräch malte man sich offensichtlich die verheerenden Auswirkungen eines Kriegs, der bis zum bittren Ende geführt wurde, aus. Schmid schrieb noch am gleichen Tag an seine Frau: „Dieses Europa wird nach diesem Krieg schlimmer aussehen als Italien im sechsten Jahrhundert, aber für die Cassiodore und Benedicte wird es immer noch zu dicht bevölkert sein …“4$ Er hatte keine Hoffnung mehr, daß der Krieg durch einen Umsturz im Innern vorzeitig beendet werden könne. Die gescheiterten Staatsstreichpläne bestärkten ihn in seiner Auffassung, daß die Feldmarschälle und Generäle unfähig zu einem Putsch seien. Zornig und resigniert erklärte ‚er, daß er nie an die „professionelle Tätigkeitseuphorie“ der Militärs geglaubt habe. Er werde „recht behalten“ +. Moltke soll bei einem der Gespräche gesagt haben, daß man in die Generäle kein Vertrauen setzen könne, „denn sie hätten das Fach ‚Verschwörung‘ nie im Sandkasten geübt“°. Doch konnte man angesichts der Abscheulichkeiten des Regimes es wirklich verantworten, bis zur militärischen Katastrophe abzuwarten? 1946 äußerte Schmid gegenüber Wolf von Wrangel, der ihn im Sommer 1940 mit Schulenburg bekannt gemacht hatte: „Ich glaube, daß wir damals alle Schuld auf uns geladen haben, da wir, was wir wußten, nicht mutiger und entschlossener in Taten verwandelt haben.“ Ss! Wenn wenigstens die militärische Niederlage durch eine Zusammenarbeit mit den Alliierten hätte beschleunigt werden können, wie dies Moltke beabsichtigte. Nach einer Reihe sehr gezielter Bombenangriffe Anfang September hatte Schmid die leise Hoffnung, daß es vielleicht doch geheime Kontakte zu alliierten Stellen gebe. Aber wirklich daran glauben mochte er nicht”,
Moltke und Schmid wußten, daß sie Kopf und Kragen wagten. Sie sprachen ganz offen über ihr wahrscheinliches Ende. „Sie können sicher sein, die werden uns kriegen“, soll Moltke prophezeit haben’. Am 24. November mußte Schmid glauben, daß es nun so weit sei. Am 9. November hatte Wolf Domke, der in der Brüsseler Militärverwaltung für die Wirtschaftsüberwachung zuständig war, Selbstmord begangen’*. Carlo Schmid hatte sich einige Male mit Domke getroffen, nachdem Moltke ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, daß Domke ihre Ideen und Ziele unterstützte. Bei den Gesprächen hatte man sich darüber zu verständigen gesucht, auf welche Angehörige der Militärverwaltung ınan im Falle eines politischen Umsturzes vertrauen konnte’. Domke, der sich einer drohenden Verhaftung durch die geheime Feldpolizei durch Selbstmord entzogen hatte, hatte sich Schmids Namen notiert. Am 24. November erhielt Schmid eine Vorladung vor das Brüsseler Kriegsgericht. Die Vernehmung sollte bereits am nächsten Tag stattfinden. Seiner Frau teilte er nur mit, daf® er vernommen werden sollte, nicht worum es sich handelte. Daß ıhr ‚ Mann Schlimmes befürchtete, konnte Lydia Schmid ahnen, denn ihm gingen furchtbare Gedanken durch den Kopf: „Was mag heute Nacht in Berlin wieder Schreckliches geschehen sein! Der Gedanke daran ist kaum zu ertragen, und gar zu denken, daß die Menschen, die dies angerichtet haberr‘- gute Jungen sicherlich in ‚Zivil‘ – jetzt in ihren Kasinos sitzen mögen und fröhlich ihre ‚gutgemachte Arbeit‘ feiern, als seien sie vom Schützenfest heimgekommen. Und keiner wird dasein, der aufsteht und ihnen ins Gewissen redet und sie weinen heißt, daf% man sie solches Böse zu tun zwingt, als ob das ‚c’est la guerre‘ den Menschen der Besinnung darüber, was gerade er getan hat, enthöbe.“ 5°
Schmid konnte nach der Vernehmung wieder nach Lille zurückkehren. Es scheint ihm gelungen zu sein, den Selbstmord Domkes als einen Anfall manischer Depression darzustellen. Marcel Pasche war betroffen über Schmids drohende Verhaftung und beriet mit der Resistance, wie man ihn in Zukunft vor Zugriffen des NS-Gewaltapparates schützen könne. Als Schmid nach seiner Vernehmung in Brüssel nach Lille zurückkam, teilte ihm Pasche mit, daß die Resistance bereit wäre, ihn erforderlichenfalls zu seinem Schutz zu kidnappen’”.
Schmids Furcht, in die Hände der Gestapo oder des SD zu fallen, blieb, ‚und sie war mehr als begründet. Bis jetzt war er immer rechtzeitig gewarnt worden. Eine Sekretärin in der SD-Dienststelle, die auch seine Hölderlin- Lesungen besuchte, sorgte dafür, daß er von den geplanten Aktionen des SD gegen ihn erfuhr”. Der SD drängte schon seit längerer Zeit beim Militärverwaltungschef in Brüssel Eggert Reeder auf seine Abberufung als Kriegsverwaltungsrat°”. Moltkes Verhaftung am 19. Januar 1944 erfuhr Schmid anscheinend schon kurze Zeit später. Jedenfalls deuten einige Briefe an seine Frau darauf hin. Am 21. Januar schrieb er ihr: „Ich habe die feste Zuversicht, daß das Gewitter über mich wegbrausen wird, so bitter es auch sein mag.“ Einige Tage später schickte er eine Kiste mit den wichtigsten Sachen nach Tübingen, um in Lille „langsam zu liquidieren“! Ein schneller Abzug der Okkupationstruppen aus Nordfrankreich war nicht zu erwarten. Schmid scheint vielmehr gefürchtet zu haben, daß nach der Verhaftung Moltkes seine Beziehung zu ihm aufgedeckt würde. In Lille ging der alltägliche Kampf um Recht und Humanität weiter. Er wurde immer schwieriger. Die Bevölkerung Nordfrankreichs war nicht länger gewillt, mit der deutschen Besatzungsmacht zusammenzuarbeiten. Im Oktober 1943 kam es erstmals seit 1941 wieder zu einem groß angelegten Streik in den Kohlenbergbaurevieren. Der Streik begann am 10. Oktober und erreichte am ı4. Oktober seinen Höhepunkt, als fast 40000 Bergarbeiter in den Streik traten. Carlo Schmid befand sich während des Streiks nicht in Lille. Er hatte Heimaturlaub und war zu seiner Familie nach Tübingen gefahren. So hatten die Hardliner in der Militärverwaltung das Sagen. so8 Arbeiter wurden festgenommen, 75 deportiert. Am 22. Oktober brach der Streik zusammen“, Als Schmid drei Tage später wieder in Lille eintraf, war er betroffen über die Art, wie man den Streik zum Erliegen gebracht hatte. Er fürchtete, daß sie „böse Krume für morgen“ berge‘3. Er sollte mit seiner Befürchtung recht behalten. Anfang November brachen in den Bergbaugebieten erneut Streiks aus. Solange ihre Lebensmittelversorgung sich nicht verbesserte, wollten die Bergarbeiter keine weiteren Sonntagsschichten fahren. In der Oberfeldkommandantur herrschte die Ansicht vor, daf man den Streiks nur noch mit brutalen Gewaltmaßnahmen Herr werden könne. Carlo Schmid wollte es nicht so weit kommen lassen. Am Sonntag, den 6. November fuhr er bereits fünf Uhr morgens nach Douai, „um auf alle Fälle in nächster Nähe des Gefahrengebietes auf dem Posten zu sein“ %, Sollte Blutvergiefen vermieden werden, mußte er die Arbeiter dazu überreden, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. In aller Frühe ließ er sich in den Schacht einfahren.
Was sich dort zutrug, berichtete er, von dem Erlebnis noch ganz überwältigt, seinem Sohn Martin: „Da hockten an den Wänden des Füllraumes hunderte halbnackter Gestalten, aus deren schwarzen Gesichtern weise Augen leuchteten, schweigend da und im fahlen Lichte ihrer Grubenlampen wuchs die Erbitterung in diesen Antlitzen zu einer tragischen Maske auf. Ich spürte gleich, daß hier nur Alles oder Nichts gespielt werden konnte und hub darum gleich zu reden an, zu reden als ein Mensch, der den Schmerz der Existenz von sich aus kennt und den Leidenden als seinen Bruder grüßt. Wahrscheinlich hat noch nie einer in einer Uniform so zu Menschen geredet, gegen die er einen Gewaltbefehl in der Tasche hatte. Lange, lange kam kein Echo, bis endlich, als ich von meinem Leiden an der Trennung von euch, die ihr so jung im Waffenrocke steht, sprach, ein alter Knappe aufstand und mir die Hand gab. Ich nahm seinen Arm und schritt mit ihm allein in die Nacht des Querschlages hinein, die Männer guten Willens auffordernd, mir und ihm zu folgen. Lange gingen wir allein, doch langsam lockerte sich der Haufe und schließlich sah ich, mich umwendend, einige Lämpchen hinter uns herzittern und bald war es eine ganze Prozession. Alle gingen an ihren Ort zur Arbeit, der Streik war gebrochen.“ 5
Schmid hatte Mitleid gezeigt und zu verstehen gegeben, daß er diesen verbrecherischen Krieg verabscheute. Mitleid war eine zentrale Triebfeder seines politischen Handelns. Er wußte in Ausnahmesituationen auf Menschen zuzugehen, weil er ihr Leiden nachempfinden konnte. In der Oberfeldkommandantur mußte er die Dinge anders darstellen, als sie sich ereignet hatten. Dort wären seine Worte als Defaitismus aufgefaßt worden. Drei Monate später gelang es ihm, gegen den Willen der Bergwerksbesitzer Bergarbeitervertretungen einzurichten”. Er hoffte, daß dadurch die Streikgefahr zumindest etwas eingedämmt werden könne. Auch das war nur eine Notlösung, ein Palliativ gegen die kommunistische Agita- _ tion. Aber in dieser Zeit ließ sich überhaupt nur mit Notlösungen und Improvisationen leben.
Politisch verschärfte sich die Situation durch die Ende Dezember von Laval eingeleitete Regierungsumbildung, die eine Niederlage Petains gegenüber den Kollaborationisten bedeutete. Schließlich setzte Laval sogar gegen den zähen Widerstand Petains durch, daß Marcel Deat, der Wortführer des faschistischen „Rassemblement National Populaire“, zum Arbeitsminister ernannt wurde‘®. Carlo Schmid betrachtete die Regierungsumbildung mit Sorge und verhehlte auch in einem Vierteljahresbericht der Oberfeldlkommandantur nicht, daß er diese Regierungsumbildung, die auf deutschen Druck hin erfolgt war, für einen Fehler hielt. Die Franzosen hätten die Regierungsumbildung als „ein weiteres Nachgeben Lavals und ein Zeichen der fortschreitenden Minderung der französischen Liberalität gewertet“. Die Mehrzahl der Franzosen habe P£tains Pläne einer Parlamentarisierung des Vichy-Regimes begrüßt. In dieser Parlamentarisierung habe man ein „System für die künftige politische Gestaltung des Landes und damit eine Prognose für den Kriegsausgang erblickt“. Schmid hatte ganz ungeschminkt die Wahrheit geschrieben.
Er fürchtete, daß weitere Zugeständnisse an Laval, das latente Bürgerkriegsklima noch verschärften. In Nordfrankreich gab es im Winter 1943/44 eine ganze Welle von Anschlägen, Sabotagen und Attentaten. Es kam wiederholt zu Streiks, vor allem in der Metallindustrie. In der Oberfeldkommandantur ergriffen immer häufiger die Scharfmacher das Wort. Man schreckte auch vor Strafmaßnahmen gegen die Bevölkerung ganzer Ortschaften nicht mehr zurück. Ausgehverbote wurden verhängt, Geiseln mußten Zugtransporte begleiten, um Saboteure vor Anschlägen abzuschrecken. In einigen Fällen wurden die Einwohner einer ganzen Ortschaft in Kollektivhaft genommen”®. Es war grausam.
Schmid mußte in der Oberfeldkommandantur die gleichen Kämpfe immer von neuem durchfechten. „Es ist zum Weinen“, schrieb er Mitte Dezember seiner Frau, „daß man bei jedem dieser Fälle aufs Neue um das Grundgesetz der Vernunft kämpfen muß, daß man diesen Akten begrenzter Aktionsgruppen nicht durch Maßnahmen gegen die Gesamtbevölkerung beikommen kann, sondern nur durch individuelle Aktionen gegen den bekannten Täterkreis, was zwar Zeit erfordert und weniger Gelegenheit zur Manifestation von ‚Energie‘ bietet, aber das Einzige ist, das Erfolg schafft.“7”‘ Es war ein zermürbender täglicher Kleinkampf. Die französische Bevölkerung wußte, was er für sie tat. An seinem Geburtstag hatten einige Franzosen den 40 km langen Weg von Arras nach Lille nicht gescheut, um ihm zu gratulieren. Er war glücklich und auch ein wenig stolz7?. Solche Dankbarkeit gab ihm Mut, weiterzukämpfen, und nicht zu resignieren.
Lange konnte der Krieg nicht mehr dauern. Den Neujahrsbrief an seine Frau begann er mit der Feststellung, daß er eine Fünf im Jahresdatum wohl nicht mehr schreiben müsse. Er rechnete damit, daß es noch 1944 zur bedingungslosen Kapitulation Deutschlands kommen werde. Für Hitlers angebliche Wunderwaffe, von der viele in der Oberfeldlkommandantur meinten, sie gebe dem Krieg noch eine Wende, hatte er nur Spott übrig??. Seit Herbst 1943 litt Nordfrankreich nicht nur unter deutscher Besatzung, sondern auch unter den Bombenangriffen der Alliierten. Die Einwohner Nordfrankreichs knüpften an die Bombardierungen die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Besatzungsregimes. Sie waren aber auch Opfer der Bombenangriffe. Schmid half mit bei der Bergung der Verwundeten. Immer wieder wurde er mit den gleichen Bildern des Schreckens konfrontiert: „zerschmetterte Häuser armer Leute; Greisinnen, die ärmlichste Reste ärmlichen Hausrats aus den Trümmern zogen. Gruppen wichtiger Leute, die eifrig und ungeschickt das Verkehrteste taten, um an die Verschütteten heran zu können. Schreie und Tränen und eine rührende Dankbarkeit, daß man sich um das fremde Unglück kümmerte.“ +
Er wußte, daß es in Deutschland nicht anders aussah. Zum Glück wurde Tübingen weitgehend von Bombenangriffen verschont. Das war beruhigend. Aber fast überall sonst war Deutschland ein Trümmerfeld. Er machte sich keine Illusionen über das Leben nach dem Krieg. Das Leben würde „hart und bitter werden“ 75, Seit 1943 schickte er seiner Frau Mehl und Zucker zur Vorrathaltung für die Zeit kommenden Hungers. Eindringlich mahnte er sie, das Gartenobst einzuwecken”°. Im Februar 1944 wollte sie ihm eine Freude machen und schickte ihm Springerle und Anisstangen. Doch diesmal bekam sie als Antwort eine Rüge. Sie solle die Vorräte aufbewahren und davon ausschließlich für sich und die Kinder etwas entnehmen’?’. Es war ihm klar, daß Deutschland nach dem Krieg Hunger leiden würde, vermutlich noch schlimmer, als ihn die Bevölkerung Nordfrankreichs jetzt litt.
Anfang 1944 war die Ernährungs- und Versorgungslage in Nordfrankreich fast so katastrophal wie zu Beginn der Besatzungsherrschaft. Die Bergleute waren unterernährt. Die Fördermenge im Kohlenbergbau sank ständig. Völlig unzureichend war die Versorgung mit Fetten. Die Menschen Nordfrankreichs mußten mit drei Gramm Fett pro Tag auskommen. Ende Januar fuhr Schmid für einige Tage nach Paris, um mit dem dortigen Landwirtschaftsministerium über die Lieferung von Fetten nach Nordfrankreich zu verhandeln. Das erzielte Ergebnis war mager, aber besser als nichts: In Zukunft sollte die Tagesration sieben anstatt drei Gramm Fett betragen”.
Sorgen machte sich Schmid auch wieder wegen der Strafgefangenen. Immer mehr Häftlinge, die physisch dazu überhaupt nicht in der Lage waren, wurden zur Zwangsarbeit in der Organisation Todt verpflichtet. Er ordnete medizinische Untersuchungen an, um zu verhindern, daß sich nicht noch mehr Gefangene im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode arbeiteten”?. Überhaupt hatte er die größten Bedenken gegen die Zwangsverpflichtung der Gefangenen zur Organisation Todt. Zwar konnten dadufch die völlig überfüllten Gefängnisse etwas entlastet werden, aber die Zwangsverpflichtung war ohne Zweifel völkerrechtswidrig. Schmid äußerte seine Bedenken auch in einem Vierteljahresbericht der Oberfeldkommandantur, wobei er, um seinen Argumenten mehr Durchschlagskraft zu verleihen, darauf hinwies, daß viele der Zwangsverpflichteten entkamen und sich der Resistance anschlossen”. Mahnungen, die niemand mehr zur Kenntnis nahm.
Die Gewalt eskalierte. Die Okkupation wurde immer brutaler, weil der Willkür der Angehörigen der SS und des SD kaum mehr Schranken gesetzt wurden. Am 3. Februar 1944 hatte der zeitweilige Vertreter des Oberbefehlshabers West Sperrle den Befehl gegeben, daß bei Sabotagen und Überfällen auf Truppen der jeweilige Truppenführer zu „sofortiger Selbsthilfe“ zu greifen habe®‘. Zwei Monate später wurde unter Berufung auf den sogenannten Sperrle-Befehl in Nordfrankreich ein grausames Kriegsverbrechen begangen. Am Palmsonntag, den 2. April wurde Schmid schon früh morgens aus dem Bett geklingelt. Er sollte sofort in das unweit von Lille gelegene Ascq kommen. Als er dort ankam, bot sich ihm ein Bild des Schreckens. 86 Tote lagen dort am Bahndamm, umgekommen durch den Feuerhagel von Maschinengewehren. Was war passiert? Infolge einer Schienensprengung war in der Nacht zum 2. April nahe dem Bahnhof von Ascq ein Transportzug der SS-Panzerdivision „Hitlerjugend“ entgleist. Keiner der Zuginsassen wurde verletzt. Trotzdem ließ der verantwortliche Transport-Offizier, SS-Obergruppenführer Hauck, die Ortschaft durchkämmen und die gesamte männliche Bevölkerung an die Unfallstelle bringen, wo die Männer von 17- bis ısjährigen auf Befehl ihres vorgesetzten SS-Führer kaltblütig ermordet wurden°”.
Schmid stellte sofort Ermittlungen über den Tathergang an. Die Darstellungen darüber widersprachen sich, denn von deutscher Seite bekam er eine Lügengeschichte aufgetischt: die Männer seien bei einem „Fluchtversuch“ erschossen worden®?. Er war nicht gewillt, sich mit dieser Version zufrieden zu geben. Dieser „Blutsonntag“ hatte ihn schrecklich mitgenommen. Abends versuchte er bei der Lektüre Baudelaires auf andere Gedanken zu kommen, was ihm aber nicht gelang°*. Als Kardinal Lienart einige Tage später in der Oberfeldlkommandantur gegen das Verbrechen protestierte und dabei betonte, „daß lange Zeit werde vergehen müssen, bis sich der Abgrund wieder werde schließen können“, stimmte Schmid ihm zu®S. War nach allem, was geschehen war, eine spätere deutsch-französische Zusammenarbeit überhaupt noch möglich? Seine Ermittlungen hatte er inzwischen abgeschlossen. Der Tathergang war so, wie ihn die Franzosen geschildert hatten. In der Oberfeldkommandantur freilich wollte man die Wahrheit nicht hören’ und versuchte sie zu vertuschen®“. Schmid erinnerte an alte Ehrbegriffe des Militärs, um der Wahrheit zum Recht zu verhelfen. Das klang schon fast etwas weltfremd. Seine Kollegen in der Oberfeldlkommandantur hatten beschlossen, den Franzosen die Schuld an dem Verbrechen zu geben. Man beeilte sich, die Saboteure vor das Kriegsgericht zu stellen. Sieben der Beteiligten wurden zu Tode verurteilt”. Schmid nahm die Akten über die Vorgänge in Ascq an sich, um zu einem späteren Zeitpunkt die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft ziehen zu können. 1950 unterstützte er die französischen Gerichte bei der Aburteilung der Verbrecher von Ascgq, und achtete zugleich darauf, daß in een Klima aufgeheizter Emotionen keine Unschuldigen bestraft wurden”.
Es fiel ihm schwer, nach der Entsetzlichkeit des Geschehenen wieder zur Routine des Alltags zurückzukehren. Die Bilder von Ascq standen ihm noch immer vor Augen. Vierzehn Tage nach den Morden von Ascq schrieb er seiner Frau: „Für das Grauen dieser Zeit gibt es keine Worte und für die Bezeichnung der Menschen, die dies alles auf dem Gewissen haben, auch nicht.“ °°
Am Östermontag, eine Woche nach der entsetzlichen Tat in Ascq, wurde Lille bombardiert. Wieder bot sich Schmid, der die Hilfs- und Bergungsmaßnahmen organisierte, ein grauenhafter Anblick: „Ich sah eine Mutter, die ihre drei toten Kinder fand. ‚Maintenant je suis toute seule‘, wimmerte sie; das war alles, was aus ihr herauskam. Keine Träne, kein Schrei, keine Geste – nichts. Entsetzlich in seiner herausfordernden Dürftigkeit der Anblick der Menschen, die die Fetzen ihrer Habe aus den Trümmern klauben: zerbrochene Teller wurden wie Schätze geborgen.“ ” Auch in seiner unmittelbaren Umgebung ereignete sich einiges, was Furcht und Entsetzen bei ihm hervorrufen mußte. Ende März wurde sein Sekretär Inspektor Pohl verhaftet und zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Pohl hatte Schmids Arbeit unterstützt und ihm bei der Ausstellung falscher Papiere geholfen?‘. Er war denunziert worden. Zum Glück wurde nur wenig aufgedeckt. Bei der Verhaftung Pohls mußte Schmid feststellen, daß dieser oft sehr leichtfertig gehandelt hatte. Er war erschrocken darüber: „es hätte eines Tages eine Katastrophe werden können.“ Kurze Zeit später wurde Friedrich Günther, ein junger Pastor und Mitglied der Bekennenden Kirche, das Opfer nationalsozialistischer Selbst- und Willkürjustiz. Günther, der als Unteroffizier der Landesschützen in der Empfangshalle der Oberfeldkommandantur Dienst tat und dort vor allem die Eingänge kontrollierte, hatte eng mit Carlo Schmid zusammengearbeitet. Seine Stelle hatte es ihm ermöglicht, unauffällig Hinweise und Warnungen weiterzugeben. Er wurde von einem radikalen Nazi, der sich zur Selbstjustiz aufgerufen fühlte, brutal ermordert”?. Schmid mußte sich sagen, daß . es schon fast einem Wunder glich, daß er noch lebte und auf freiem Fuß war. Der SD sammelte Material über ihn. Im Frühjahr wurde der Sekretärin des SD, die immer seine Hölderlin-Vorlesungen besucht und ihn dabei unauffällig vor Aktionen des SD gewarnt hatte, der Kontakt mit ihm urftersagt’*. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis er in die Hände der Gestapo oder des SD geriet.
Am 6. Juni landeten die Alliierten in der Normandie. Die Landung gab Hoffnung auf ein schnelles Ende des Krieges. In Lille wurde zunächst einmal der Ausnahmezustand noch weiter verschärft. Carlo Schmid beschrieb die Maßnahmen mit dem ihm eigenen Sarkasmus: „Man hat nun unsere ‚Stufe‘, um eine Drehung höher geschraubt und alles ist auf dem besten Wege, verrückt zu werden. Wenn man Männer meines Alters mit Helm und Donnerbüchsen durch die Städte streifen läßt, müssen die Franzosen ja glauben, wir seien beim letzten Aufgebot angelangt.“ ?°
In Widerstandskreisen hatte man die Landung der Alliierten erwartet, wenn auch erst im August. Im Frühjahr 1944 hatten Rommel und Stülpnagel sich über einen Plan zum Sturz des Regimes verständigt. Hitler sollte beim nächsten Frankreich-Aufenthalt durch verläßliche Truppen festgenommen werden. Mit den westlichen Alliierten hoffte man, eine Vereinbarung über die Beendigung des Kriegs an der Westfront treffen zu können. In Deutschland sollten Männer des zivilen und des militärischen Widerstands unter der Leitung Becks, Goerdelers und Leuschners die Regierung übernehmen. Am ı. Juni traf Falkenhausen im Schloß La Roche-Gyon Rommel. Er erklärte sich bereit, den Umsturzplan zu unterstützen?“
Was wußte Schmid von den Umsturzplänen? Hatte Stülpnagel oder Falkenhausen ihn informiert? Im April hatte Falkenhausen ihm das Kriegsverdienstkreuz Erster Klasse mit Schwertern verliehen?”. Das kann als Zeichen dafür gewertet werden, daß er Schmids oppositionelle Haltung achtete und den Kontakt mit ihm suchte. Paul Beyer, dem Leiter der Wirtschaftsabteilung in der Oberfeldkommandantur war bekannt, daß sein Kollege Schmid „mit der Widerstandsgruppe, die sich um General Stülpnagel in Paris gebildet hatte, Fühlung hielt“ °. Schmid scheint in die Umsturzpläne eingeweiht gewesen zu sein. Am 7. Juni, einen Tag nach der Landung der Alliierten, berichtete er seiner Frau: „Der Charakter meiner Tätigkeit hat natürlich völlig gewechselt; sie ist enger an die akuten militärischen Ereignisse angeschlossen als sonst. Meinen eigentlichen Operationsposten habe ich noch nicht bezogen.“ Die Formulierung ist vieldeutig, gewiß. Doch es mußte sich um eine Angelegenheit handeln, über die er nichts schreiben durfte. Sonst wäre er ausführlicher geworden. Vermutlich war es ein versteckter Hinweis auf den bevorstehenden Umsturz.
Hitler kam Mitte Juni nach Frankreich. Seine vorzeitige Wiederabreise vereitelte die Ausführung des geplanten Attentats. Als am 20. Juli 1944 die Verschwörer endlich zur Tat schritten, herrschte in Lille ein großes politisches Chaos. Am 13. Juli war Falkenhausen als Militärbefehlshaber abgesetzt worden. Fünf Tage später wurde der Gauleiter Josef Grohe, ein Nationalsozialist der ersten Stunde, als Reichskommissar für die besetzten Gebiete von Belgien und Nordfrankreich eingesetzt. Die Militärverwaltung wurde durch eine Zivilverwaltung ersetzt und die Einsetzung eines Höheren SS- und Polizeiführers verfügt’°. Schmid erfuhr von dieser Umorganisation erst einige Tage nach ihrer Durchführung. Natürlich fragte er sich, welche Konsequenzen diese Maßnahme für die Militärverwaltungsbeamten haben werde. Würde er seine Stelle verlieren? Gar nicht denken mochte er an die Auswirkungen dieser Umorganisation auf die Besatzungspolitik, denn er erkannte sofort, daß sie die Übergabe Nordfrankreichs an die SS bedeutete“,
Eine Klärung des Kompetenzenwirrwarrs zwischen Militärverwaltung und SS war auch am 20. Juli noch nicht erfolgt. Wäre das Attentat erfolgreich gewesen, hätte Schmid vermutlich nur mit großer Mühe ein gezieltes Vorgehen gegen die SS zu organisieren vermocht. Das Scheitern des Attentats scheint er noch vor der um ı Uhr nachts erfolgten Bekanntgabe im Radio erfahren zu haben, denn er schrieb noch am 20. Juli einen Brief an seine Frau, der mit den Worten begann: „Welche sichtbare Fügung der Vorsehung! Entsetzlich zu denken, daß der ruchlose Anschlag auf den Führer hätte gelingen können …“’”. Er scheint eine Verhaftung gefürchtet zu haben und versuchte durch den Brief, den Verdacht von sich abzulenken. Ob ihm dieser Brief viel genutzt hätte, wo er doch als Regimegegner hinlänglich bekannt war? Es glich wirklich einem Wunder, daß er von der nun beginnenden Verhaftungswelle nicht erfaßt wurde. Walter Kolb, der spätere Oberbürgermeister von Frankfurt, wurde kurz nach dem 2o. Juli festgenommen. Er war seit 1943 Kommandant von Bethune und hatte eng mit Carlo Schmid zusammengearbeitet!®%. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihre gemeinsame oppositionelle Aktivität aufgedeckt würde.
Das Attentat war gescheitert, und die SS, die in Nordfrankreich nun ungehindert ihre Macht entfalten konnte, plante in Lille ein scheußliches Verbrechen. Mitte Juli erfuhr Carlo Schmid, daß die in Lille-Loos einsitzenden Häftlinge nach Deutschland deportiert werden sollten, wo man sie als politische Geiseln festhalten wollte. Er setzte sofort Marcel Pasche davon in Kenntnis und beauftragte ihn, der R&sistance einen Vorschlag zur Befreiung der Häftlinge in Lille-Loos zu übermitteln. In der Oberfeldkommandantur werde man so schnell wie möglich die Befreiung der Häftlinge veranlassen unter der Bedingung, daß die Resistance sich verpflichte, die Angehörigen der Wehrmacht und der Militäradministration beim Rückzug nicht anzugreifen’°*. Die Befreiung der Gefangenen hätte mit Sicherheit Gegenmaßnahmen der SS und des SD provoziert, die nur durch den Einsatz der Wehrmacht hätten abgewehrt werden können. Die in Lille stationierte Wehrmacht scheint zum Kampf gegen die SS bereit gewesen zu sein, falls sie nicht ihrerseits fürchten mußte, von der Rösistance angegriffen zu werden. Auch das deutet im übrigen darauf hin, daß Schmid in Lille die für den Umsturz notwendigen Vorbereitungen getroffen hatte. Die Gefangenenbefreiung wäre im Grunde nichts anderes gewesen als ein Umsturz auf lokaler Ebene. Ein riskantes Vorhaben! Es konnte, wenn überhaupt nur Erfolg haben, wenn die Alliierten immer näher an Lille heranrückten.
Wie Schmids Plan im einzelnen aussah, läßt sich nicht mehr rekonstruieren. Erst in den achtziger Jahren berichtete Henri Duprez, ein ehemaliges Mitglied der nordfranzösischen Resistance, über diese Vorgänge, die schwer auf ihm lasteten, denn er war es gewesen, der Schmids Vorschlag ausgeschlagen hatte. Im nachhinein bezeichnete er dies als großen Fehler’°. Er nannte Schmid später einen „heroique defenseur des valeurs humaines“ ‚°, Die Resistance lehnte es ab, mit Deutschen zu verhandeln. Sie wollte die Gefangenen selbst befreien, was fehlschlug u.a. deshalb, weil das französische Wachpersonal im Gefängnis Lille-Loos durch französische Miliz, die der Kontrolle der SS unterstand, ersetzt wurde.
Seit Mitte August geriet die Wehrmacht immer mehr in Auflösung, so daß an einen bewaffneten Kampf zwischen Wehrmacht und SS nicht mehr zu denken war. Am 23. August legte Carlo Schmid Präfekt Carles nahe, aufgrund eines vom Vichy-Regime 1944 erlassenen Gesetzes über die Räumung von Strafanstalten im Falle außßergewöhnlicher Ereignisse alle Gefangenen, die weniger als sechs Monate Haft zu verbüßen hatten, freizulassen’°”. Trotz Schmids eindringlicher Bitte, diesen Vorschlag schnellstens zu prüfen, ließ sich Carles Zeit. Der Tenor des Briefes war so, daß Carles hätte merken müssen, daß hier auf der Stelle gehandelt werden mußte. Er setzte wohl alle Hoffnung auf die Befreiung durch die Alliierten. Auf Weisung Schmids ordnete Carles am ı. September die Befreiung aller Gefangenen an’”. Schmid hatte unmittelbar zuvor erfahren, daß die Gefangenen an diesem Tag deportiert werden sollten. Er mußte jetzt alles riskieren. Da er befürchtete, daß die Anordnung nicht mehr rechtzeitig befolgt werde, suchte er Pasche und den Schweizer Konsul Huber auf, um mit ihnen zu beratschlagen, auf welchem Wege eine sofortige Freilassung der Gefangenen zu erreichen war. Nach Verhandlungen mit dem Leiter der Strafanstalt gelang es, etwa die Hälfte aller Gefangenen zu befreien’®®. Sie wurden panikartig aus dem Gefängnis getrieben“°, Für 1250 Gefangene kam jede Rettung zu spät. Sie- wurden wie Vieh in den „Irain de Loos“ verfrachtet und nach Deutschland deportiert. Einige wenige Gefangene konnte die belgische Resistance in Brüssel befreien. Mehr als 1000 der Deportierten sollten nicht wieder nach Nordfrankreich zurückkommen'“!,
Die letzten Augustwochen vor dem Abzug der deutschen Besatzungsmacht aus Lille verliefen dramatisch. Was im einzelnen sich ereignete, läßt sich kaum mehr nachzeichnen, denn es steht in keinen Akten. Schmid hatte guten Grund zu warnen: „Wehe dem, der aus den Akten erfahren will, wie es denn.eigentlich zugegangen ist. “‘!2 Verbindliche Anordnungen gab es nicht mehr, denn noch immer gab es keine Abgrenzung der Kompetenzen zwischen SS und Militärverwaltung. Die SS riß immer mehr das Gesetz des Handelns an sich. Je näher die alliierten Truppen heranrückten, um so weniger war die französische Bevölkerung gewillt, den Anordnungen der Besatzungsmacht zu folgen. Am 22. August traten die Bergarbeiter in Streik. Einen Tag später drohte die Oberfeldlkommandantur den Streikenden mit dem Abtransport nach Deutschland, wo sie zum Arbeitseinsatz im Ruhrbergbau gezwungen werden sollten“3, Am 25. August stand Nordfrankreich kurz vor dem Generalstreik. „Mars regiert“, erfuhr Lydia Schmid in einem der letzten Briefe, den ihr Mann ihr schickte. „Viel zerschlagenes Porzellan“ werde später „aufzuräumen sein und viel Blut wegzuwischen“!’# Es konnte sich nur noch um Tage handeln, bis das Besatzungsregime würde abziehen müssen. Er schickte eine Kiste mit seinen Sachen nach Haus. Für den Rückzug mußte ihm ein Rucksack genügen. Es war zu befürchten, daß es in den letzten Tagen der Besatzungsherrschaft und beim Rückzug zu blutigen Zwischenfällen kommen würde. Die Resistance rief am 27. August die Liller Bevölkerung zum Aufstand auf. „Wer zuerst schießt“, so beschrieb Schmid die Lage, „hat länger etwas vom Leben. Auf diese Sätze reduziert sich unsere Ethik.“ „5 Am Schluß scheute man auch vor Cato-Befehlen nicht zurück. Der Leiter der Gruppe Bergbau bei der Oberfeldkommandantur in Lille Max Schensky hatte Weisung, einen Plan zur Zerstörung der wichtigen Betriebsanlagen des Minengebietes auszuarbeiten, um die Kohlenförderung lahmzulegen, was den Zusammenbruch der nordfranzösischen Industrie bedeutet hätte“°. Am ı. September kam Max Schensky in die Oberfeldkommandanturz, um einen Sprengbefehl zu erwirken. Dort gelang es, seinen Zerstörungsdrang zu zügeln. Allein das Kraftwerk in Lens sollte gesprengt werden. Als Schensky mit seinem Sprengkommando dort eintraf, wurde er von der Resistance mit „wütendem Feuer“ empfangen‘!7. Vermutlich hatte Schmid der Resistance eine Information zukommen lassen. Er war es wohl auch, der Schensky zur Räson gebracht hatte“?. Die meisten Angehörigen der Militärverwaltung waren bereits am 31. August aus Lille abgezogen. Schmid gehörte zu den letzten, die Lille verließen. Er hatte bis zum Schluß dort ausgeharrt, um das Schlimmste zu verhüten. Noch einmal wie am Anfang der Besatzungszeit hatte er das Gefühl, gebraucht zu werden“?. Daseinserfüllung am Rande des Abgrunds. Es soll einen Gestapo-Befehl gegeben haben, ihn auf der Stelle zu liquidie- I20
Am späten Nachmittag des 1. September trat auch Carlo Schmid den Rückmarsch an. Er konnte erreichen, daß die Resistance keine Anschläge auf die Rückzugstruppen verübte, so daß der Abzug der Truppen aus Lille ohrie blutige Zwischenfälle erfolgte. In Lille feierte man am 2. September das Ende der Besatzungszeit. Mit einem Lastwagen, den Schmid in letzter Minute organisieren konnte, machte sich der kleine Reststab der Oberfeldlkommandantur auf den Weg von Lille nach Verviers, wo sich der Stab auflöste. In Verviers traf er einige Mitglieder des Fronttheater-Ensemble, die dort festsaßen, weil sie keine Passierscheine hatten. Er half ihnen, durch die Passierstelle zu kommen‘?‘. Am 6. September, neunundvierzig Monate nach seiner Einberufung als Kriegsverwaltungsrat nach Lille, war er wieder in Tübingen. Noch war Krieg. Wie das Leben in Tübingen weitergehen sollte, zu welcher Tätigkeit man ihn nun heranziehen würde, wußste er nicht’””.
Kriegsende in Tübingen
Nach seiner Rückkehr nach Tübingen hatte sich Schmid beim dortigen Wehrbezirkskommando zu melden. Er erhielt den Auftrag, bei der Erstellung eines Schlußberichts über die Militärverwaltung in Belgien und Nordfrankreich mitzuarbeiten. Das war eine überaus heikle Aufgabe, wenn man ohne jede apologetische Absicht die Dinge beim Namen nennen wollte. Im September begann er mit der Abfertigung des Berichts, den er zum Glück nie abgeben mußte, weil sich zum Schluß niemand mehr für ihn interessierte‘. So konnte wenigstens dieser Bericht ihn nicht mehr in Konflikt mit NS-Stellen bringen. Ohnehin mußte er fürchten, in den Schlußwirren verhaftet und „liquidiert“ zu werden, wie der Mord an Regimegegnern in der Terminologie der Nationalsozialisten hieß. Er übernachtete fast jeden Tag an einem anderen Ort”. Für kurze Zeit hielt er sich in Bad Zwischenahn auf, wo Irmgard Michael lebte’. Schließlich fand er in dem von Theodor Dobler betreuten Tübinger Garnisonslazarett Unterschlupf. Seine Tätigkeit als Landgerichtsrat und als Privatdozent nahm er nicht wieder auf. Die meisten Studenten waren eingezogen worden, so daß er vermutlich keine Hörer gehabt hätte. Außerdem konnte jetzt auch schon die leiseste Kritik gefährlich werden.
Seine persönliche Zukunft lag ebenso im Ungewissen wie die Deutschlands. Gewiß, seine Stelle als Landgerichtsrat würde er wahrscheinlich wiederbekommen. Er konnte sich sogar Hoffnung auf eine Professur machen, denn an der Universität würde es sicherlich zu Säuberungen kommen. Doch Lille war ein zu tiefer Einschnitt in seinem Leben gewesen, als daß er einfach an die Zeit vor 1940 wieder hätte anknüpfen können. Ein beschauliches Leben als Landgerichtsrat oder als Tübinger Ordinarius hätte ihn kaum mehr befriedigen können. Lille war für ihn eine schreckliche Zeit gewesen, aber auch eine Zeit existentieller Herausforderung, in der er zum Politiker wurde und auch als Künstler zu sich selbst fand. Von einem Leben als Künstler träumte er. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, nach dem Krieg ein Kabarett zu gründen*. Ringelnatz faszinierte ihn immer noch. Außerdem war er davon überzeugt, daß das Kabarett ein wichtiges Medium zur Ausbildung einer demokratisch-politischen Kultur in Deutschland sei. Doch im Grunde war der Wunsch, Kabarettist zu werden, eine Flause. Das wußte er auch. Wer eine große Familie zu ernähren hat, kann sich nicht auf das Risiko eines Künstlerlebens einlassen. Kabarettist wurde er nicht, aber ein begeisterter Kabarettbesucher. Enge Freundschaft verband ihn mit Werner Finck, dessen „Partei der Radikalen Mitte“ er sich anschloß°, und Kay und Lore Lorentz, in deren Düsseldorfer Kom(m)ödchen er ein gern gesehener Gast wurde.
In Lille war Carlo Schmid zum Politiker geworden, noch bevor er sich entschlossen hatte, in die Politik zu gehen. Er mußte dort handeln, wenn er nicht schuldig werden wollte. Ein unpolitischer „Hieronymus im Gehäuse“ war er ohnehin nie gewesen. Sein Bekenntnis zum Dritten Humanismus war auch ein Bekenntnis zur Verantwortung einer neuen Elite für die res publica gewesen. Nein, der Weg in die Politik war für ihn kein Opfergang. Ihn reizte die Politik trotz seiner Neigung zur Kontemplation, trotz und vielleicht gerade, weil er ein Traumkind war. 1943 schrieb er seiner Frau: „Manchmal beneide ich die Leute, die ungestört in ihrem Studierzimmer sitzen und dort ihre Bücher lesen können, ab und zu die Wimper zum Horizonte hebend und einem Worte nachsinnend — aber dann denke ich an den Reiz, der darin liegt, auf der Zinne zu stehen und jedem Winde, der da weht, die Brust zu bieten und ihn im Anprall dorthin zu lenken, wo er Mühlen treiben kann.“®
Schmid wollte den Neuanfang, und er glaubte, daß dazu eine neue Elite notwendig sei, zu der er sich zählte. Die von den Kreisauern ausgearbeitete Erste Weisung an die Landesverweser dürfte ihm bekannt gewesen sein-und er dürfte sie als Verpflichtung aufgefaßt haben. In ihr wurden „verantwortlich führende Persönlichkeiten“ aufgefordert, nach dem Umsturz und der Besetzung Deutschlands durch die Alliierten aufgrund einer „festgeschlossenen Anschauung“ die „innere Zusammengehörigkeit der deutschen Länder als Kulturnation (zu) erhalten und (zu) erhärten“”. Er selbst sprach von einem „Auftrag“, den er habe®. Das klingt geheimnisvoll. Es war vermutlich die Mitarbeit am Neuaufbau Deutschlands gemeint. Weil ihn die Politik lockte und weil es kein neues 1933 mehr geben sollte, nahm er sich selbst in die Pflicht. Er fühlte sich noch immer als deutscher Patriot, wenngleich er an die deutsche Kulturmission nicht mehr glaubte. Frankreich würde die führende Kulturmacht der Nachkriegszeit sein. In Lille war er immer wieder von der universalen Bildung seiner französischen Gesprächspartner beeindruckt gewesen. Sogar einen Schwarzmarkt für Bücher hatte es dort gegeben’. Er selbst hatte sich in Frankreich eine ganze Bibliothek französischer Literatur zusammengesammelt. Bei Kriegsende kannte er die Literatur der französischen Moderne” besser als die deutsche’°, Er vertiefte sich in Sartre, liebte Pierre Mac Orlans „Le Quai des Brumes“ und ließ sich fesseln durch das Leid und die Verzweiflung der großen einsamen Tatmenschen und Einzelkämpfer bei Henry de Montherlant. Noch bevor er in den 60er Jahren Malraux’ Anti-Memoiren übersetzte, war er ergriffen von dessen Roman „La Condition Humaine“, in dem die Vergeblichkeit des einzelnen, der Sinnlosigkeit des Lebens zu entrinnen, thematisiert wurde. In diesen Romanen wurde seine existentielle Grundbefindlichkeit zur Sprache gebracht. So las er, als er von Lille zurückkehrte, mehr die französische Literatur als die deutsche.
In Lille hatte er auch begonnen, sich Gedanken über eine spätere deutsch-französische Freundschaft zu machen, die der Angelpunkt eines vereinten Europa werden sollte“. Freilich, nach all dem, was geschehen war, war er sich nicht sicher, ob es jemals noch zu einer deutsch-französischen Aussöhnung kommen würde.
Seit April 1945 war abzusehen, daß Südwürttemberg von den Franzosen besetzt wurde, wenngleich Amerikaner und Franzosen sich immer noch nicht auf eine verbindliche Festlegung ihrer Besatzungszonen hatten einigen können. Charles de Gaulle, der am ı. Oktober 1944 feierlich in seiner Geburtsstadt Lille empfangen worden war, wollte die Zerstückelung Deutschlands und, wenn möglich, die Annexion der linksrheinischen Gebiete an Frankreich’*. Für die weitere Zukunft Südwürttembergs verhießen de Gaulles Pläne nichts Gutes. Schmid fürchtete u.a. eine längere oder gar endgültige Schließung der Universität Tübingen. Um dies zu verhindern, traf er bereits vor dem Einmarsch der Franzosen Vorbereitungen für einen Rektoratswechsel an der Universität“. Der 1939 zum Rektor ernannte Otto Stickl war zwar kein radikaler Nationalsozialist, aber unhaltbar beim Neuaufbau der Universität. Auch die Furcht vor wilden Säuberungen mag Schmid bewegt haben, nach einem unbelasteten Ordinarius zu suchen, dem das Rektorat, sobald die Franzosen Tübingen erreichten, überantwortet werden konnte. Der Rektoratswechsel erfolgte erst zwei Wochen nach der Besetzung Tübingens. Die Sondierungsgespräche waren für Schmid trotzdem von großer Wichtigkeit gewesen. Er hatte erfahren, daß sich die politische Einstellung einiger Dozenten seit 1940 erheblich gewandelt hatte’*. Das mußte man wissen, wenn man bei der notwendig werdenden politischen Säuberung der Universität nicht einfach schematisch nach dem Kriterium der Parteizugehörigkeit verfahren wollte.
Die Stimmung an der Universität unterschied sich kaum von der der Bevölkerung: Man wollte an die Niederlage Deutschlands nicht glauben. Noch am 18. April, einem Tag vor dem Einmarsch der Franzosen in Tübingen, erzählte man sich dort den „neuesten Kriegsklatsch“ ‚5. Gauleiter Murr gab am selben Tag den Befehl, Tübingen bis zum letzten Mann zu verteidigen. Carlo Schmid konnte nur kopfschüttelnd feststellen: „Die merken nichts“. Er selbst grub seinen Garten um und steckte Kartoffeln. Er hoffte, sie zusammen mit seinen Kindern ernten zu können‘,