Skip to main content

1896-1979 eine Biographie : Die große Politik lockt (1947-1948)

Kometenhafter Aufstieg

Schmid sei ein „brillanter Politiker“, aber auch ein „Improvisator“, bei dem man nie sicher sein könne, welchen Standpunkt er am nächsten Tag vertritt. So gab ein amerikanischer Intelligence-Bericht vom Oktober 1947 das On dit über den führenden Politiker Württemberg-Hohenzollerns wieder‘. Das Bild, das man sich über ihn machte, war nicht unzutreffend. Schmid war ein Schlitzohr, der in einer Zeit, in der die Zukunft Deutschlands noch offen war, jede voreilige politische Festlegung zu vermeiden suchte. Wer Einfluß auf die politische Entwicklung nehmen wollte, mußte flexibel und geschmeidig sein. Jedes vorschnelle Statemant über den zukünftigen Reichsaufbau konnte diskreditierend wirken. Hoegner war durch sein Eintreten für einen Staatenbund in der SPD zur persona non grata geworden, Kurt Schumacher war durch sein Eintreten für einen zentralistischen Staatsaufbau bei der amerikanischen und französischen Besatzungsmacht in Ungnade gefallen.

Bei den Franzosen galt Schmid als Föderalist, als Antipode Kurt Schumachers. Doch auch ihnen war nicht verborgen geblieben, daß Schmids Föderalismusbegriff ziemlich vage war”. Was verstand Schmid unter Föderalismus? Wußte er es selbst ganz genau? Solange die Franzosen und Amerikaner im Föderalismus ein Allheilmittel gegen das Wiederaufleben des deutschen Nationalismus sahen, hielt Schmid sich lieber bedeckt, denn sein Konzept und das der Besatzungsmächte ließ sich nicht ohne weiteres vereinbaren. Seit Schmid sich auf dem Landesparteitag der SPD in Reutlingen gegen den Berliner Zentralismus ausgesprochen und seine grundsätzliche Übereinstimmung mit dem Genossen Hoegner bekundet hatte‘, stand er im Ruf, ein Verbündeter Hoegners im Kampf gegen Schumachers Zentralismus zu sein. Auch Hoegner selbst glaubte, in Schmid einen Gesinnungsgenossen gefunden zu haben.

Der Parteifreund aus Tübingen war aber alles andere als ein Anhänger eines Staatenbundes. In den Beratungen über die Verfassung Württemberg- Badens gab er ein „uneingeschränktes Bekenntnis zum Reichsgedanken“ und dem Grundsatz ab, daß Reichsrecht Landesrecht bricht. Er befürwortete einen „föderativen“, aber keinen „föderalistischen“ Staatsaufbau. Seiner Auffassung nach war das Deutsche Reich als Staat nicht untergegangen, sondern wurde lediglich vorübergehend durch die Besatzungsmächte treuhänderisch verwaltet. Nicht die Länder, das Reich war Souverän. Gouverneur Widmer war in den zahlreichen Gesprächen, die er mit Schmid führte, recht bald klar geworden, daß dessen Pläne für den zukünftigen Staatsaufbau im Widerspruch zu dem Staatenbundkonzept der französischen Besatzungsmacht standen. Auf einer Anfang Januar 1947 am Quai d’Orsay stattfindenden Konferenz teilte er den Regierungsvertretern mit einem Unterton des Bedauerns mit, daß der einflußreiche Präsident der provisorischen Regierung Südwürttembergs für einen starken Bundesstaat (etat federal fort) eintrete und sogar dafür plädiere, die Polizei einem zukünftigen Reichsinnenminister zu unterstellen‘. Als Vorkämpfer französischer Staatenbundpläne war Schmid nicht zu gebrauchen.

Der Optimismus der Anfangsmonate hatte mittlerweile auch bei Schmid einer eher pessimistischen Grundstimmung Platz gemacht. Er hielt es für höchst unwahrscheinlich, daß man den Deutschen in absehbarer Zeit gestatten werde, sich eine Reichsverfassung zu geben’. Vorerst würde man mit Provisorien auskommen müssen. Wie die meisten anderen Ministerpräsidenten war auch er der Ansicht, daß bis zur Bildung einer gesamtdeutschen Regierung die Länderchefs ein Mandat hatten, in gesamtdeutschen Fragen konstitutiv tätig zu werden. Er ließ keine Möglichkeit zu überzonaler Zusammenarbeit aus. Nur wer überall präsent war, konnte beim politischen Neuaufbau ein Wort mitsprechen.

Da Reinhold Maier ihn zum Staatsrat gemacht hatte, konnte er ohne Mühe den seidenen Vorhang, der die französische von der amerikanischen Zone trennte, durchbrechen und sich darüber informieren, was in der amerikanischen Zone vor sich ging. Dort hatten die Regierungschefs von Bayern, Württemberg-Baden, Großhessen und Bremen auf Geheiß der amerikanischen Besatzungsmacht ein innerzonales Kontaktzentrum zur Koordinierung von Verwaltungsaufgaben, den sogenannten Länderrat, er- _ richtet. Soweit es seine Zeit zuließ, nahm Schmid an den Beratungen des Länderrats teil’. Obwohl er kein alter Hase in der Politik war, wußte er um die Notwendigkeit von guten Kontakten. Für ihn hatte nie ein Zweifel darüber bestanden, daß das Schicksal Deutschlands letztendlich in den Händen der Amerikaner lag. Ohne gute Verbindungen zu den Amerikanern war ein politisches Vorwärtskommen auf überzonaler Ebene kaum möglich. Deshalb erschien er regelmäßig zu den Sitzungen des Länderrates, deren Verlauf ihn eher langweilte als begeisterte. 1949 äußerte er sich vor dem Landtag in Bebenhausen geradezu abschätzig über den von den Amerikanern mit hohem Lob bedachten Länderrat: „Ich habe den Stuttgarter Länderrat ganz aus der Nähe zu beobachten Gelegenheit gehabt, und ich habe dort gesehen, daß in den meisten Fällen die Einigung der drei Ministerpräsidenten im wesentlichen deswegen hergestellt werden konnte, weil _ ein General Clay dahinterstand und sagte, wie man es zu machen habe.“

Im Frühjahr 1947 wurde von den Ministerpräsidenten in Stuttgart als Vorstufe eines späteren Auswärtigen Amtes das Deutsche Büro für Friedensfragen gegründet, in dem nicht nur Bedingungen und Möglichkeiten eines zukünftigen Friedensvertrages ausgelotet werden sollten, sondern auch schon bald eine intensive Diskussion über Verfassungsfragen entstand. Neben dem bayrischen Staatsminister Anton Pfeiffer war der Staatssekretär im hessischen Staatsministerium Hermann Louis Brill, Sozialdemokrat und Mitverfasser des Buchenwalder Manifests, zunächst der führende Kopf im Friedensbüro, dessen Tätigkeit sich anfangs auf die amerikanische Zone beschränkte’°. Brill legte dem Friedensbüro schon kurz nach seiner Eröffnung ein detailliertes verfassungspolitisches Konzept vor, das sowohl Vorschläge für eine endgültige Bundesverfassung als auch einen Vertragsentwurf über die Bildung einer deutschen Staatengemeinschaft enthielt, durch den die praktische Zusammenarbeit der Länder bis zur Verabschiedung einer endgültigen Verfassung geregelt werden sollte“. Der Ländervertrag war als eine Alternative zu dem bestehenden zonalen Provisorien gedacht, die mehr schlecht als recht funktionierten. Ob sich die Konzepte in praktische Politik umsetzen ließen, war noch nicht abzusehen. Carlo Schmid jedenfalls wollte nicht fehlen, wenn über die zukünftige Verfassung Deutschlands diskutiert wurde. Hatte er doch seinen Entwurf für die Verfassung Württemberg-Badens immer als einen Baustein für die künftige Reichsverfassung verstanden. Zusammen mit Theodor Eschenburg, der damals stellvertretender Chef im Tübinger Innenministerium war, versuchte er die im Friedensbüro begonnene Verfassungsdiskussion in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken. Da die Franzosen allen überzonalen Initiativen mit Mißtrauen begegneten, führte Eschenburg, der die Protokolle schrieb, weder sich noch Schmid als Gesprächsteilnehmer auf. So konnte ein offizielles Veto der französischen Besatzungsmacht umgangen werden.

Am 8. Mai trat der Arbeitskreis für Verfassungsfragen des Friedensbüros zu seiner ersten Sitzung im Stuttgarter Ruit zusammen, nachdem Brill seinen Entwurf zuvor den Ministerpräsidenten der amerikanischen Zone vorgestellt hatte. Sie hatten auf Brills Entwurf sehr zurückhaltend reagiert und ihn als privates Diskussionspapier herunterzuspielen versucht‘?, Der Arbeitskreis stellte die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Bund und Ländern in das Zentrum seiner Beratung. Carlo Schmid war von Anfang an darauf bedacht, zu verhindern, daß die Bayern das Friedensbüro als Plattform für ihre extrem föderalistische Politik benutzten. Hoegner hatte einen Verfassungsentwurf vorgelegt, nach dem den Ländern eine eigene Staatsgewalt zukommen sollte. Das lief im Endeffekt auf einen Staatenbund hinaus. Auf Schmids Drängen einigte man sich darauf, daß die Länder alle die Rechte ausüben konnten, die in einer zukünftigen Bundesverfassung „nicht ausdrücklich der Bundesrepublik vorbehalten sind“’3, Damit wurde der bundesstaatliche Charakter des Staatsaufbaus unterstrichen. Der Begriff Bundesrepublik war auf Initiative Gebhard Müllers in die Verfassung Württemberg-Hohenzollerns aufgenommen worden’*. Durch Schmid wurde er nun in die gesamtstaatliche Verfassungsdiskussion eingebracht.

Was die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern betraf, wichen Hoegners Vorschläge nur minimal von den in der Weimarer Verfassung getroffenen Regelungen über ausschließliche und konkurrierende Gesetzgebung ab, so daß Schmid hier keine Einwände erhob. Er nahm auch keinen Anstoß daran, daß Hoegner die Kompetenz-Kompetenz, die Vermutung für die Zuständigkeit der Gesetzgebung, den Ländern zugesprochen hatte, weil für ihn letztendlich die aufgezählten Zuständigkeiten von Bund und Ländern entscheidend waren’°. Protest erhob er gegen die in Hoegners Entwurf vorgesehene Finanzverfassung, nach der der Bund wieder wie zu Zeiten des Kaiserreichs zum Kostgänger der Länder geworden wäre. Er führte „eindringlich“ vor Augen, „daß zwei Orkane die Verhältnisse vor 1914 hinweggefegt hätten und daß man die frühere Biedermeierzeit mit Mätzchen nicht wiederherstellen könne. Den Krieg verloren habe das Reich, dieses werde als Schuldner vom Ausland herangezogen, und man werde ihm dafür die erforderlichen Mittel zur Verfügung stellen müssen. Da das Reich den Krieg verloren habe, sei der Wiederaufbau seine Sache. Nur das Reich könne Geber der für den Wiederaufbau benötigten ungeheuren Kapitalien sein.“ ‚° Mit dem früheren preußischen Finanzminister Höpker-Aschoff wußte er sich einig, daß dem „Reich“ auf jeden Fall die Einkommensteuer zu überlassen war. Durch die Ausführungen Schmids und Höpker-Aschoffs geriet Hoegner „in Harnisch“. Die beiden Gegner einer föderalistisch ausgerichteten Finanzverfassung bekamen zu hören: „Solange die bayrischen Berge ständen, werde Bayern die Einkommensteuer für sich beanspruchen, ein abweichender Standpunkt ‚ werde auf Granit beißen.“ ‚7

Schmid war wirklich kein Föderalist & la Hoegner. In der Frage der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Bund und Ländern gab es keine unüberwindlichen Gegensätze zwischen Schmid und dem Verfassungsexperten der SPD Walter Menzel, der fast zur selben Zeit die für die Verfassungspolitik der SPD maßgebenden „Richtlinien über den Aufbau der deutschen Republik“ ausarbeitete’*. Die Meinungsverschiedenheiten in der Kompetenz-Kompetenz-Frage dürfen nicht überschätzt werden. Gewiß, Menzel wollte den politischen Einfluß der Länder noch mehr einschränken als Schmid, aber grundsätzlich lag der Unterschied in der Betonung. Menzel betonte in Übereinstimmung mit Kurt Schumacher die Notwendigkeit der Zentralisation, Schmid trug den Erwartungen der Besatzungsmächte Rechnung und gab sich als Föderalist.

Anfang Juni 1947 kam es dennoch zum Konflikt zwischen Carlo Schmid und Kurt Schumacher, der sich an einem im Stuttgarter Friedensbüro ausgearbeiteten Verfassungsentwurf entzündete. Am 20. Mai trafen sich die Verfassungsexperten des Friedensbüros, unter ihnen Schmid, um den von Brill vorgelegten Vertragsentwurf über die Bildung einer deutschen Staatengemeinschaft zu diskutieren. Die Diskussion erfolgte aus aktuellem Anlaß: Der bayrische Ministerpräsident Hans Ehard hatte für Anfang Juni eine Ministerpräsidentenkonferenz nach München einberufen, auf der Vereinbarungen für eine gesamtdeutsche politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit getroffen werden sollten. Brill plädierte in seinem Entwurf für die Errichtung einer „Realunion“ der Länder, durch die auf den Gebieten der Wirtschaft, des Verkehrs, der Finanzen und der Arbeit „gemeinsame Regelungen“ geschaffen werden sollten. Als gesetzgebendes Organ war ein Volksrat vorgesehen, dessen Mitglieder von den Vertretern der Landtage zu wählen waren. Die Exekutive oblag einem Staatenrat, der sich aus Vertretern der Landesregierungen zusammensetzte‘?. Um den Provisoriumscharakter der geplanten Staatengemeinschaft zu unterstreichen und der „russischen Zone“ nicht von vornherein den Beitritt zu verbauen, setzte Schmid durch, daß die Staatengemeinschaft als ein „Zweckverband öffentlichen Rechts“ bezeichnet wurde?°. Es sollte dadurch zum Ausdruck kommen, daß die Länder sich lediglich zu einer Verwaltungsgemeinschaft und nicht zu einer politischen Gemeinschaft zusammenschlossen. Man kam überein, den Vertragsentwurf, der nunmehr Vertrag über die Bildung eines Verbandes deutscher Länder hieß, über die bayrische Staatskanzlei der Münchener Ministerpräsidentenkonferenz zuzuleiten.

Carlo Schmid war mit dem Beratungsergebnis zufrieden. Gegen einen föderativen Zweckverband der Länder konnten auch die Franzosen keine Einwände haben. Am 29. Mai gab er in einem Telegramm an Hans Ehard der Hoffnung Ausdruck, daß auf der Ministerpräsidentenkonferenz „eine Vereinbarung der verantwortlichen Ländervertreter zustandekommen wird, die es ermöglichen kann, für den Zeitraum bis zur Regelung der Verfassungsfrage einen Verband der deutschen Länder zur gemeinsamen Überwindung der gegenwärtigen Schwierigkeiten zu schaffen“ *‘, Sechs Tage später schrieb er Kurt Schumacher einen völlig zerknirschten Brief, in dem er sich zum Gegner des Vertragsentwurfes stilisierte. Er sei es gewesen, der dem Entwurf die „gefährlichsten Elemente“ genommen habe, indem er die Terminologie Zweckverband des öffentlichen Rechts eingeführt habe. Im übrigen gelobte er schon fast devot Schumacher seine Treue: „Ich möchte Ihnen darüber hinaus sagen, daß auch dann, wenn ich zu irgend einem Problem eine andere Meinung hatte und haben werde als Sie, ich mit der gleichen Treue, wie die Genossen, die in diesen Fällen das Glück haben sollten, ihre eigene Meinung mit der Ihrigen in Übereinstimmung zu finden, mich bemühte und bemühen werde, an Ihrer Seite der großen Sache zu dienen, der Sie sich verschrieben haben.“ ?? Schmid schwankte zwischen Konflikt- und Anpassungsbereitschaft. Als er den Brief schrieb, mag ihm das Schicksal Hoegners vor Augen gestanden haben. Er versuchte lieber durch eine Geste der Unterwürfigkeit das schon verloren geglaubte Wohlwollen des Parteivorsitzenden wiederzugewinnen als ihm offen zu widersprechen. Der Weg des geringsten Widerstandes schien auch hier der aussichtsreichste zu sein, um doch noch einiges von den eigenen Vorstellungen verwirklichen zu können.

Der SPD-Parteivorsitzende hatte erst nachträglich von dem Vertragsentwurf, an dessen Ausarbeitung sich Sozialdemokraten maßgebend beteiligt hatten, erfahren. Er fühlte sich übergangen und untersagte auf einer am 31. Mai in Frankfurt abgehaltenen SPD-Konferenz die Vorlage des Entwurfs auf der Münchener Ministerpräsidentenkonferenz”. Brill, der Urheber des Entwurfs mußte sich sagen lassen, daß er gegen die verfassungspolitischen Richtlinien der Partei verstoßen habe. Brill war ein unerschrockener Mann, der seinen Entwurf auch gegenüber Kurt Schumacher verteidigte?*. Seine Unerschrockenheit bezahlte er freilich mit politischer Einflußlosigkeit innerhalb der Partei.

Kurt Schumacher lehnte den Vertragsentwurf aus dem gleichen Grund ab, aus dem er sich gegen die Einberufung der Münchener Ministerpräsidentenkonferenz aussprach: Die Regierungschefs der Länder und nicht die Parteien wurden dort zu legitimen Vertretern des deutschen Volkes erklärt”. Im Vorfeld der Münchener Konferenz spielte sich ein Kampf der Rivalen ab. Schumacher redete das Scheitern der Konferenz förmlich herbei. Am ıı1. Mai erklärte er: „Es hat schon einmal eine Einladung zu einer Ministerpräsidentenkonferenz gegeben, die auch am Einspruch einer Besatzungsmacht gescheitert ist. Wir nehmen an, daß auch die jetzt vorgeschlagene Ministerpräsidentenkonferenz nicht zustande kommen wird. Sie würde nicht repräsentativ für Deutschland sein, denn die Ministerpräsidenten sind Sprecher ihrer Länder, während die Parteien Sprecher für Deutschland sind. Die Ministerpräsidentenkonferenz könnte schon deshalb nicht repräsentativ für Deutschland sein, weil darin fünf Ministerpräsidenten aus der Ostzone wären, die nur einen ganz kleinen Teil der dort vorhandenen 17 Millionen Menschen vertreten.“ ?° Schumacher spielte auf die gescheiterte Bremer Interzonenkonferenz vom Oktober 1946 an, zu der weder die Vertreter der französischen Zone noch der SBZ eine Ausreisegenehmigung erhalten hatten.

Carlo Schmid hatte es damals sehr bedauert, daß die französische Militärregierung ihm die Teilnahme an der Konferenz untersagt hatte’. Um so mehr begrüßte er Ehards Initiative, die Ministerpräsidenten in München zu versammeln. War ihm von Anfang an bekannt, daß Schumacher so negativ auf die Einberufung der Konferenz reagiert hatte? Wenn ja, nahm er davon wenig Notiz. Er fürchtete das Veto der Franzosen und suchte nach Argumenten, um ihre Widerstände gegen seine Teilnahme an der Konferenz zu überwinden. So machte er den Franzosen weis, daß bei einem Nichterscheinen der Regierungschefs der französischen Zone die Fürsprecher „zentralistischer Tendenzen“ die Oberhand gewinnen würden” ®. Nachdem auch der bayrische Ministerpräsident versichert hatte, daß die Konferenz unter einem föderalistischen Vorzeichen stehen werde, lenkte die französische Militärregierung ein. Unter der Bedingung, daß die Konferenz sich ausschließlich mit wirtschaftlichen Themen befasse, wurde den Regierungschefs der französischen Zone erlaubt, daran teilzunehmen. So lautete die offizielle Version. Schmid war ziemlich sicher, daß die französische Militärregierung „gegen eine allgemeine Resolution über ein Zweckverbandsstatut für die Zeit, da die Verfassung noch nicht geregelt ist, kein Veto einlegen“ werde”. Das tat dann Kurt Schumacher auf der bereits erwähnten SPD-Konferenz in Frankfurt, an der Schmid nicht teilnehmen konnte, weil die Franzosen ihm die Ausreise verweigert hatten. Ein Glück für ihn. In Frankfurt hätte er sich entweder wider bessere Einsicht auf die Seite Schumachers schlagen oder den Kampf mit ihm aufnehmen müssen. Schumacher forderte die „kluge Selbstbeschränkung auf die Erörterung der Nöte des Tages und ihre Überwindung mit konkreten und möglichen Mitteln“. Keiner der Teilnehmer der Münchener Konferenz sei „dazu legitimiert, die Möglichkeiten einer zukünftigen Reichsverfassung auch nur in der Tendenz vorwegzunehmen“3° , Hätten sich die sozialdemokratischen Teilnehmer der Münchener Konferenz an Schumachers Diktat gehalten, wenn nicht die Amerikaner und Engländer am 2. Juni 1947 die Schaffung eines Wirtschaftsrates angeordnet hätten? Reinhold Maier sprach von einer „Schockwirkung“ auf die Konferenz?‘. Das Provisoriumskonzept war nun nur noch für die Vertreter der französischen Zone interessant, die aber keine große Chance mehr sahen, sich damit durchzusetzen. Die Annahme des Vertragsentwurfes durch die Teilnehmer aus der SBZ war von Anfang an skeptisch beurteilt worden.

Carlo Schmid dachte gar nicht daran, auf der Konferenz völlig auf die Erörterung politischer Themen zu verzichten. Die Schaffung eines Besatzungsstatutes lag ihm am Herzen. Die Gültigkeit der Haager Landkriegsordnung, die seit 1907 die Rechtsgrundlage für die Besetzung eines Landes war, wurde von der französischen und amerikanischen Militärregierung bestritten. Von den Siegermächten wurde Deutschland behandelt, als ob es ein Kondominium wäre. Das hieß: die Deutschen hatten keinerlei Rechte gegenüber der Besatzungsmacht?. Schmid war der Auffassung, daß erst durch die rechtliche Normierung des Besatzungsverhältnisses das Rechtsstaatsgebot der Länderverfassungen zum Tragen kommen könne. Für die Vertreter der SBZ war dieses Thema von geringem Interesse. Die Sowjetunion war voraussichtlich nicht gewillt, ein Besatzungsstatut zu akzeptieren. Trotzdem wurde Schmids Wunsch entsprochen und das Thema auf die Tagesordnung der Konferenz gesetzt.

Schmid scheint von Anfang an den Konflikt mit den ostdeutschen Konferenzteilnehmern eingeplant zu haben, denen er – hier war er sich mit Kurt Schumacher einig – absprach, Repräsentanten des ostdeutschen Volkes zu sein?®. Obwohl er alles andere als ein Befürworter eines Weststaatskonzeptes war, sah er in der Münchener Konferenz in erster Linie den Auftakt zu einer westzonalen Einigung. Er hoffte, daß die Konferenz zu einer Dauereinrichtung werde, denn nach dem bizonalen Zusammenschluß drohte die französische Zone immer mehr, zur vergessenen Zone zu werden°*.

Am 5. Juni um die Mittagszeit kam er in Begleitung Gebhard Müllers in München an. Theodor Eschenburg war schon vorgereist, um an der Vorbesprechung teilzunehmen, in der die Tagesordnung der Konferenz festgelegt wurde. Bayerns Ministerpräsident Ehard versammelte die sozialdemokratischen Regierungschefs zu einer Sonderbesprechung, aus der Schmid „zufrieden und optimistisch“ zurückkam. Man war sich einig, den ostzonalen Antrag abzulehnen, als ersten Tagesordnungspunkt die „Bildung einer deutschen Zentralverwaltung durch Verständigung der demokratischen deutschen Parteien und Gewerkschaften zur Schaffung eines deutschen Einheitsstaates“ zu behandeln. Der allgemeine Tenor war, daß es sich bei dem Antrag um einen Agitationsantrag handelte3S. Bei dem gemeinsamen Abendessen, an dem die Ministerpräsidenten der SBZ nicht teilnahmen, vermochte sich kaum einer der Rührung zu erwehren. Auch Carlo Schmid, bei dem die Tränen ohnehin locker saßen, mußte seine Tischrede mehrmals unterbrechen, um die Tränen hinunterzuschlukken3 ®.

Noch am gleichen Abend kam es zur Auseinandersetzung über den Antrag der ostzonalen Delegation. Außer Reinhold Maier plädierte niemand für dessen Annahme. Maiers Versuche, zwischen den ost- und westdeutschen Regierungschefs zu vermitteln, wurden nur von dem Bremer ‚Senatspräsidenten Kaisen unterstützt. Schmid attackierte Maier heftig, so daß dieser später behauptete, sein Kollege aus Tübingen sei wohl durch Schumacher „vorher stark geimpft“ worden, sonst hätte er sich bei den „sehr guten Beziehungen“ die zwischen ihnen bestanden, nicht so verhalten können”. Für Schmids barsches Verhalten gegenüber Maier war nicht die „Fernlenkung“ aus Hannover verantwortlich. Am Morgen nach der Abreise der ostdeutschen Delegation erklärte Schmid gegenüber Eschenburg, daß auch in den Kompromißvorschlägen ein „kommunistischer Pferdefuß“ gesteckt habe?*. Heute weiß man, daß die ostdeutschen Ministerpräsidenten das Scheitern der Konferenz eingeplant hatten und deshalb so demonstrativ die Konferenz verließen. Schmid war wohl eher froh als betrübt darüber. Die Konferenz konnte nun zu einer Plattform der westdeutschen Ministerpräsidenten werden, die gegenüber einer westdeutschen und internationalen Öffentlichkeit und gegenüber den Militärregierungen als Sprecher in nationalen Fragen auftreten konnten.

Am Vormittag des ersten Konferenztages meldete er sich zur Überraschung aller Teilnehmer zu Punkt 2 der Tagesordnung „Die deutsche Ernährungsnot“ zu Wort. Zuvor hatten Vertreter der britischen und amerikanischen Zone über die Ernährungslage in ihren Zonen referiert. Ein Referat über die Ernährungslage in der französischen Zone war nicht vorgesehen gewesen. Schmid war aber nicht unvorbereitet, wenn er auch nur einen kleinen Notizzettel zur Hand hatte. Er beherrschte ausgezeichnet Stolze-Schrey-Kurzschrift. Als er seine Rede begann, war er mit umfangreichem Zahlenmaterial bewaffnet. Einleitend betonte er, daß er auch in Namen seiner Kollegen aus den beiden anderen französisch besetzten Gebieten Südbaden und Rheinland-Pfalz spreche*°. Die hatte er freilich mehr oder weniger überrumpelt. Erst kurz vor seinem Referat hatte er ihr Einverständnis eingeholt, einige Worte über die Situation in der französischen Zone sagen zu dürfen. Leo Wohleb, der badische Regierungschef, wurde während Schmids Referat immer unruhiger. Er war bestürzt darüber, mit welcher Offenheit sein Kollege aus Tübingen die französische Besatzungsmacht attackierte®‘.

Schmids Bericht war für die französische Besatzungsmacht mehr als peinlich. Er verstand es, anhand plastischer Beispiele die katastrophale Ernährungssituation in der französischen Zone zu veranschaulichen. Das Bild des Mangels, das er zeichnete, war eindringlich. Es konnte nur Empörung hervorrufen. Mangel an Nahrungsmitteln, weil „ein gewisser, nicht unerheblicher Teil für die Ernährung der Besatzungstruppen abgegeben werden muß“; Mangel an Arbeitskräften, weil zahlreiche Männer sich noch in französischer Kriegsgefangenschaft befinden; Mangel an Zugtieren, die „in besonderem Umfange“ von der Besatzungsmacht abtransportiert wurden; Mangel an Düngemitteln, Arbeitsgeräten und Arbeitsschuhen durch deren Export nach Frankreich. Telefonkabel dienen als Pferdehalfter, Greisinnen und Kinder verrichten die Arbeit. „Das alles muß geändert werden, wenn die französische Zone nicht verhungern soll.5#

Er hatte auch einen Vorschlag zur Abhilfe parat: „Wir können uns keinen anderen Weg der Besserung vorstellen als den, daß man das Export- Import-Geschäft in deutsche Hände legt. Mit’dem bisherigen System der Monopole der alliierten Außenhandelsstellen wird es jedenfalls in unserer Zone eine Besserung nicht geben können.“ #3 Das war eine offene Herausforderung der französischen Besatzungsmacht, die bisher durch geschickte Devisenmanipulationen und eine einseitige Orientierung des Exports an den Bedürfnissen Frankreichs erhebliche Handelsüberschüsse und Devisengewinne erzielt hatte. Nicht zu Unrecht hegte man in Frankreich die Befürchtung, daß bei Übergabe des Außenhandels an die Deutschen die Handelsbilanz ein Defizit aufweisen werde**.

Ein Großteil der Ausführungen Schmids war eine Wiederholung dessen, was er ein halbes Jahr zuvor vor dem Bebenhausener Landtag gesagt hatte. Er war nach wie vor der Meinung, daß nur internationaler Druck die Franzosen zu einer Änderung ihrer Besatzungspolitik bewegen konnte. Die Konferenz war eine ausgezeichnete Gelegenheit, die Amerikaner auf die Probleme der französisch besetzten Zone aufmerksam zu machen. Die der Konferenz beiwohnenden französischen Beobachter waren natürlich entrüstet und stellten ihn zur Rede. Es ging sogar das Gerücht um, er werde verhaftet werden. Schmid berichtet, man habe einen hohen Beamten aus Paris einfliegen lassen, der die Weisung hatte, ihn nach Paris zu bringen*‘. Eine Verhaftung drohte ihm nicht. Die Franzosen konnten es nicht wagen, ihn auf amerikanischem Besatzungsgebiet festzunehmen. Er verstand es, ihre Empörung zu beschwichtigen. Das Argument, er habe den auf der Konferenz gegen ihn erhobenen Bezichtigungen, er stehe im Solde der französischen Besatzungsmacht, entgegentreten müssen, wurde akzeptiert*°. Die ganze Aufregung schien ihn kalt zu lassen. Die Franzosen hatten ein halbes Jahr zuvor nichts gegen ihn unternommen, sie würden es auch diesmal nicht tun.

Schmid, der im persönlichen Gespräch eher schüchtern war, sich dort zumeist dem Gesprächspartner anpaßte, scheute in öffentlichen Reden mutige Worte nicht. Am nächsten Tag referierte er, wie vorgesehen, über das nicht weniger brisante Thema Besatzungsrecht, das er kurz zuvor noch mit seinem Lehrer Frich Kaufmann, auf dessen Rat und Unterstützung er viel gab, besprochen hatte. Seinen Zuhörern mußte er erst noch erklären, warum er so beredt für ein Besatzungsstatut focht. Drei Gründe gebe es: ı. Nur ein Staat, der in das Völkerrecht eingebettet ist, kann „das Leben seiner Bürger ganz auf das Recht (…) stellen“. 2. Ohne eine Abgfenzung der Organe der Besatzungsmacht gegenüber den landeseigenen Stellen ist eine planmäßige und selbstverantwortliche Verwaltung nicht möglich. 3. Eine zuverlässige Haushaltsführung erfordert eine genaue Festlegung der zu erbringenden Besatzungsleistungen*”. Um dies zu erreichen, müßten die Kompetenzen und Reservatrechte der Besatzungsmacht auf den Besatzungszweck beschränkt werden. Besatzungszweck sei: „Militärische, wirtschaftliche und moralische Demilitarisierung Deutschlands, Sicherung und Reparationsleistungen, Denazifizierung, Demokratisierung.“ #

Was bedeutete dies konkret? Wo beispielsweise sollte die Besatzungsmacht weiterhin legislativ tätig bleiben und wo nicht? Sie sollte es, wo „1. bei Vorliegen eines alle vier Zonen betreffenden deutschen Bedürfnisses der Mangel einer zentralen deutschen Legislative die treuhänderische Gesetzgebung des Kontrollrates erforderlich macht; 2. eine Gesetzgebung durch die Besatzungsmächte für Zwecke der Sicherheit und des Unterhaltes der Besatzungstruppen erforderlich ist; 3. die Verwirklichung des Besatzungszweckes deutschen Gesetzgebern entweder nicht anvertraut oder nicht zugemutet werden kann.“ # Er präzisierte seine Vorstellungen auch für die Gebiete Verwaltung und Rechtsprechung. Die Besatzungslasten, so führte er weiter aus, müßten in Relation zur Finanzkraft der Länder stehen.

Mit Erich Kaufmann war Schmid der Auffassung, daß die Alliierten die deutsche Staatsgewalt nur treuhänderisch wahrnahmen’“. Trotz der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands sei eine Intervention die über den Besatzungszweck und die Verantwortung für Deutschland als Ganzes hinausgehe, völkerrechtswidrig. Das von Schmid geforderte Besatzungsstatut wäre ohne Zweifel ein großer Schritt auf dem Weg zur deutschen Selbstbestimmung gewesen. Er wagte freilich selbst kaum daran zu glauben, daß die Besatzungsmächte sich auf diese Forderung einlassen werden°‘. Der Beifall für Schmids Referat war geteilt. Es gab enthusiastische Bravo-Rufe. Aber nicht alle verstanden die Tragweite der komplizierten völkerrechtlichen Ausführungen Schmids. Reinhold Maier meinte, Schmid habe bei seinem Plädoyer für ein Besatzungsstatut die zurückgebliebenen Verhältnisse in der französischen Zone im Auge gehabt. Mehr aus „persönlicher Konvenienz“ als aus „sachlicher Überzeugung“ sei Schmids Forderung nach einem Besatzungsstatut unterstützt worden. Die von der Konferenz verabschiedete Entschließung über die Regelung des Besatzungsrechts war auffallend kurz‘3. Schmids Referat wurde, auch wenn die Ministerpräsidenten in München ihm nur halbherzig zugestimmt haben sollten, richtungsweisend für die spätere Ausformulierung des Besatzungsstatuts. Das Thema blieb in der öffentlichen Diskussion, nicht zuletzt deshalb weil Schmid keine Gelegenheit ausließ, seine Forderung nach einem Besatzungsstatut zu wiederholen.

Seine beiden Reden machten ihn zum Star der Münchener Konferenz. Die Presse war auf ihn aufmerksam geworden. Das war ihm nicht unlieb, denn hundertprozentig sicher war er nicht, ob ihn in Tübingen nicht doch Sanktionen wegen seiner Kritik an der französischen Besatzungspolitik erwarteten. Bei der Pressekonferenz am 8. Juni gab er sich souverän. Als ein bayrischer Journalist ihn fragte, ob er nicht mit schlimmen Befürchtungen die Rückreise nach Tübingen antrete, entgegnete er selbstsicher und gelassen: „Ich habe den Eindruck, als ob bei manchen Leuten seltsame Vorstellungen herrschen über die Zustände in der französischen Zone. Es sieht so aus, als ob dort Räubergeschichten erzählt würden. Ich rsojelknieh: morgen gelassenen Mutes nach Tübingen zurückreisen.“ Seine Selbstsicherheit beeindruckte die Journalisten. Er konnte sicher sein, dafs sie Alarm schlagen würden, wenn ihm auch nur ein Haar gekrümmt würde. Er nutzte die gebotene Chance, sich vor einem internationalen Pressepublikum zu profilieren und mittels Presse Politik zu machen. Auf die Frage eines Journalisten, ob er den Anschluß der französischen Zone an die Bizone befürworte, antwortete er, ohne zu zögern: „Ich persönlich würde es begrüßen. Ich glaube, daß jetzt schon gesagt werden kann, daß je mehr der Wirtschaftsraum vergrößert werden kann, um so ergiebiger wird das Sozialprodukt werden.“S5 Die französische Militärregierung lehnte den Anschluß an die Bizone entschieden ab. Schmids Freiburger Kollege Leo Wohleb stotterte nur, als er mit dieser heiklen Frage konfrontiert wurde, was von den Journalisten mit schallendem Gelächter quittiert wurde‘. Durch sein zur Schau gestelltes Selbstbewußtsein eroberte Schmid auf einen Schlag die Sympathie der Journalisten, deren Liebling er wurde und blieb

Aus dem Provinzpolitiker war über Nacht eine überragende politische Persönlichkeit geworden. Für ihn war die Münchener Ministerpräsidentenkonferenz ein Erfolg, auch in der Sache, nicht nur weil er sich persönlich hatte profilieren können. Ministerpräsident Ehard dankte er noch einmal für die Einladung. Dem Dank schloß er den Wunsch an, daß die Ergebnisse der Konferenz überall „rechte Beachtung finden“ möchten. „Es würde nicht nur Deutschland, sondern der Welt zum Segen gereichen.“ 7 Seine Kabinettskollegen in Tübingen empfingen ihn so warmherzig wie noch nie. Man dankte ihm, daß er sich zum Advokaten der französischen Zone gemacht hatte°®,

Drei Tage nach seiner Rückkehr berichtete er in der Landesversammlung in Bebenhausen über die Münchener Konferenz. Die Abreise der ostdeutschen Ministerpräsidenten sei zwar „bedauerlich“, aber von einem ‚Scheitern der Konferenz könne keine Rede sein: „Es ist nämlich schon etwas, daß in einer deutschen Stadt alle für die Verwaltung und Regierung der Länder verantwortlichen Männer sich um einen Tisch haben setzen und so haben deutlich machen können, daß es trotz der Zonengrenzen etwas wie ein gesamtes Deutschland doch noch gibt. Und schließlich hat man in den Besprechungen dieser Konferenz und auch in den Verhandlungen der Ausschüsse wertvolle Erkenntnisse gewonnen, hat wertvolle Afregüungen erhalten und geben können, nicht nur Deutsche den Deutschen, sondern diesmal auch Deutsche, die für den größten Teil Deutschlands sprechen durften, Anregungen an die Alliierten.“5 ? Der größste Erfolg der Konferenz sei gewesen, „daß ganz sichtbar zwischen einer Reihe wertvoller Menschen die Parteischranken um einige Zoll sich gesenkt haben.“ Das Protokoll verzeichnet Bravorufe. Hätte Kurt Schumacher in der Bebenhausener Landesversammlung gesessen, hätte er Schmids Ausführungen als einen Affront auffassen müssen. Schumacher sprach selbstverständlich von einem Scheitern der Konferenz und verhehlte seine Freude darüber nicht°‘. Schmid meinte wohl vor allem den SPD-Parteivorsitzenden, als er ziemlich verächtlich von „diesen Herren“ sprach, die glaubten, „eine deutsche Gesamtrepräsentation käme ausschließlich den deutschen politischen Parteien zu.“

Für Amerikaner und Franzosen war Schmid zum Rivalen Schumachers geworden. Sie hofften darauf, daß er der SPD eine „weniger nationalistische und mehr europäische Orientierung“ geben könne”. Am Quai d’Orsay allerdings war man über die scharfe Kritik Schmids an der französischen Besatzungsmacht und sein eloquentes Eintreten für ein Besatzungsstatut noch immer leicht verärgert. Aber die Verärgerung legte sich schnell. Am 4. Juni hatte Schmid noch sichtlich resigniert den Parteivorstand der SPD gebeten, ihn von dem kulturpolitischen Referat zu entbinden, das er auf dem Parteitag Ende Juni hatte halten wollen. Die Militärregierung hatte ihm die Teilnahme am Parteitag verboten. Das Verbot rühre von höchster Regierungsstelle her. Er habe nicht verfehlt, „den Herrn Gouverneur auf das Bedauerliche und eventuelle Rückwirkungen dieses Verbots hinzuweisen“ °%, Nach der Münchener Konferenz hielt man es für angebracht, von dem Verbot abzurücken. Ein Fernbleiben Schmids wäre eine Stärkung Kurt Schumachers gewesen, der in den Augen der Franzosen ein „Apostel des integralen Nationalismus“ war“.

Schmid durfte nach Nürnberg reisen. Das kulturpolitische Referat allerdings konnte er jetzt nicht mehr halten. Für die Kulturpolitik war nur noch eine Viertelstunde vorgesehen, in der der kulturpolitische Referent der Parteizentrale Arno Hennig einen Kurzbericht über die kulturpolitischen Initiativen der Partei gab. Schmid mißfiel die Vernachlässigung der Kulturpolitik durch den Parteivorstand. In einer vor dem Parteitag stattfindenden Parteiausschußsitzung regte er an, auch einen Kulturpolitiker in den besoldeten Parteivorstand zu entsenden‘. Ollenhauer widersprach. Die Gewerkschaftspolitik sei wichtiger als die Kulturpolitik.

Schmid gehörte nicht zu den Referenten des Parteitages. Das Grundsatzreferat über „Deutschland und Europa“ hielt Kurt Schumacher. Menzel stellte die verfassungspolitischen Richtlinien der SPD zur Diskussion. Schmid, der sich nach Menzels Referat als erster zu Wort meldete, hielt es für zu früh, sich jetzt schon über die Einzelheiten einer zukünftigen Reichsverfassung zu streiten. Er umging auch diesmal eine eindeutige Stellungnahme zum Problem Föderalismus-Zentralismus. Über die zukünftige Reichsverfassung wollte er nur so viel sagen: „Sie wird keinen Staatenbund vorsehen und sicher auch nicht den zentralistischen Ausbeutungstrust, den die SEP in ihren ferngesteuerten Gehirnen ausgebrütet hans?

Wichtiger als die Verfassung war ihm das Besatzungsstatut, dessen Erlaß der Verfassunggebung vorausgehen müsse. „Denn wie sollen wir unter der Taucherglocke einer absolutistischen Besatzungsverfassung einen demokratischen Rechtsstaat aufrichten können?“%® In etwas einfacheren Worten wiederholte er noch einmal, was er auf der Münchener Ministerpräsidentenkonferenz schon ausgeführt hatte. Die SPD, so schloß er seinen Beitrag, habe die „Pflicht“, „laut und vernehmlich“ ihre Stimme zu dem Problem Besatzungsstatut zu erheben. Auf dem Parteitag betonte nun auch er, daß nur die Parteien dazu legitimiert seien, für Deutschland als Ganzes zu sprechen. Wußte er doch, daß es Schumacher keinem nachsah, wenn er sich den Richtlinien des Parteivorsitzenden nicht unterordnete’”, Außerdem konnte er die Partei nur so davon überzeugen, daß sie seine Forderung nach einem Besatzungsstatut zu einem zentralen Thema machen mußte.

Nachdem der von der Münchener Ministerpräsidentenkonferenz zur Ausarbeitung eines Besatzungsstatuts eingesetzte Sachverständigenausschuß trotz prominenter Besetzung zu keinem brauchbaren Ergebnis kam’”‘, brauchte er die Unterstützung der SPD um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. In Walter Menzel fand er einen Mitstreiter. Er sorgte dafür, daß auch der Hamburger Zonenbeirat sich mit dem Thema befaßte und Schmid dort als Sachverständiger referieren konnte. Bei der englischen Besatzungsmacht stieß er mit seinen Ausführungen auf wohlwollendes Interesse’”. Am 20. Dezember 1947 verabschiedete der Parteivorstand „Richtlinien für ein Besatzungsstatut für Deutschland“, die Schmid und Gustav von Schmoller, der seit Oktober 1947 Leiter des Referates für Besatzungsfragen in der Tübinger Staatskanzlei war, verfaßt hatten”. Zwei Tage später sandte der Parteivorstand die Richtlinien zusammen mit einer Note, deren Autor’ebenfalls Schmid war, an den Alliierten Kontrollrat in Berlin. Die Aktion richtete sich jetzt auch gegen alliierte Planungen, einen Weststaat zu errichten und dadurch die deutsche Teilung zu zementieren. Schmid war „gespannt“ auf die Reaktion des Kontrollrates’*. Er rief alle Parteistellen dazu auf, Propaganda für das Besatzungsstatut zu machen, dessen Erlaß ein „großer Erfolg für die Partei“ wäre’’. Mag sein, daß er die politische Bedeutung des Besatzungsstatutes, zumindest im Hinblick auf den politischen Einfluß- und Imagegewinn für die SPD, überbewertete. Aber er konnte nun einmal nicht verleugnen, daß er von Beruf Völkerrechtler war. Die Alliierten ließen sich Zeit. Erst mit den sogenännten „Frankfurter Dokumenten“ vom 1. Juli 1948 rückte das Thema Besatzungsstatut ins Zentrum der Diskussion”“.

Weniger seine Ausführungen über das Besatzungsstatut als der Nachhall der Münchener Ministerpräsidentenkonferenz ließ Schmid auf dem Nürnberger Parteitag in der Parteihierarchie ganz nach oben steigen. Der elitäre Professor, gegen den man einiges Mifßtrauen gehegt hatte, war zum populären Mitstreiter gegen die Ausbeutung der deutschen Arbeiter durch die Besatzungsmächte geworden. Bei der Parteivorstandswahl erhielt er 335 von 344 Stimmen. Nur die beiden Parteivorsitzenden Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer erreichten ein noch besseres Ergebnis’”.

In den Berichten der französischen Militärregierung war von Schmid nur noch die Rede als von dem „Star“(vedette) der Sozialdemokratie”°. Er wurde als zukünftiger Vorsitzender der SPD, als „dauphin“ gehandelt, dessen politischen Aufstieg auf überzonaler Ebene man fördern wollte. Schmid versuchte die Gunst der Stunde zu nutzen. Er bestärkte die Franzosen in der Hoffnung, daß Schumachers Tage als Parteivorsitzender gezählt seien. Schumacher sei krank und müsse sich wahrscheinlich bald aus der Politik zurückziehen. Reuter und Knoeringen seien beachtenswerte Persönlichkeiten, mit denen man gut zusammenarbeiten könne”. Nebenbei ließ er einfließen, daß er die französische Zone möglicherweise bald verlassen werde. Die Amerikaner hätten ihn für einen hohen Posten in der Bizonenverwaltung vorgeschlagen°°. Saint-Hardouin vernahm dies vermutlich mit einigem Schrecken. Mit dem neuen Staatpräsidenten Bock kamen die Franzosen nämlich überhaupt nicht zurecht°‘. So suchten sie weiter den Kontakt zu Schmid.

Die Amerikaner schätzten Schmid als einen überaus fähigen Politiker, mit dem sie gern zusammenarbeiteten. Sie hielten ihn für die geeignete Persönlichkeit, um die als notwendig erachteten Beziehungen zwischen den süddeutschen Ländern herzustellen®?. Ob sie ihn wirklich für einen hohen Posten in der Bizonenverwaltung vorgeschlagen hatten, ist fraglich. Es kann gut sein, daß Schmid dies lancierte, um seinen Wert bei den Franzosen zu steigern. Seine Delegation in den Exekutivrat der Frankfurter Bizonenverwaltung wurde jedenfalls von den Amerikanern nicht nachhaltig unterstützt. Schmid war am 24. Juni offiziell von den sozialdemokratischen Mitgliedern des Stuttgarter Kabinetts für den Posten des Landesvertreters Württemberg-Badens im Frankfurter Exekutivrat vorgeschlagen worden. Weil sein Wohnsitz außerhalb der Bizone lag, hatten die Amerikaner seine Kandidatur zunächst abgelehnt. Schmid hatte sich daraufhin in Stuttgart ein Zimmer gemietet und sich dort polizeilich gemeldet”. Seine Mühe war umsonst. Im Stuttgarter Kabinett wurden parteipolitische Gesichtspunkte geltend gemacht. Da bereits sechs Mitglieder des achtköpfigen Exekutivrates Sozialdemokraten waren, sollten die beiden noch freien Sitze nicht auch an die SPD fallen. Vergeblich wies Innenminister Ulrich darauf hin, daß Schmid „kein sturer Parteimann“ sei und er durch einen Sitz im Exekutivrat die Verbindung zwischen Bizone und französischer Zone herstellen könne®*. Die CDU nominierte den chemaligen badischen Staatspräsidenten und Reichsfinanzminister der Weimarer Republik Heinrich Köhler. Auch Reinhold Maier entschied sich für Köhler. Wenn es keine faule Ausrede Maiers war, dann stand der amerikanische Militärgouverneur Lucius D. Clay Schmids Kandidatur ablehnend gegenüber®s.

Für Schmid muß das eine bittre Enttäuschung gewesen sein. Da man sich in München nicht dazu entschließen konnte, die Ministerpräsidentenkonferenz zu einer Dauereinrichtung zu machen, fehlte ihm eine Plattform, um auf überzonaler Ebene Einfluß auf die politischen Entscheidungen nehmen zu können. Zudem mußte er fürchten, daß in der Bizone der Grundstein für einen zukünftigen deutschen Staat gelegt wurde, von dem die französische Zone ausgeschlossen blieb. Anfang August versuchte er im SPD-Parteivorstand Stimmen gegen das „Frankfurter System“ zu mobilisieren. Die SPD müsse alles tun, „daß dieser Apparat schneller stürzt. Den Franzosen gefalle das Frankfurter System sehr gut, da es stark in Richtung ‚Staatenbund‘ segelt.“ Außerdem könne die Frankfurter Einrichtung, so wie sie konzipiert sei, überhaupt nicht funktionieren®®, Was den letzteren Punkt anbetraf, hatte er recht. Da die Zuständigkeiten der bizonalen Organe nicht klar definiert waren, funktionierte der Frankfurter Wirtschaftsrat bis zu seiner Umorganisation Anfang 1948 mehr schlecht als recht”. Trotzdem dachte kaum einer in der SPD daran, die Arbeit des Frankfurter Wirtschaftsrates lahmzulegen.

Kurt Schumacher begrüfte den bizonalen Zusammenschluß als einen ersten Schritt zur Vereinigung aller Zonen, denn er hoffte, daß die Bizone ökonomisch so stark werde, „daß von ihr ein unwiderstehlicher Magnetismus auf andere Zonen ausgeht“°® . Carlo Schmid hat sich die Magnettheorie Schumachers nicht zu eigen gemacht, wenn er auch gelegentlich davon sprach, daß die ökonomischen Zwänge ein Schrittmacher auf dem Weg zur deutschen Einheit seien. Für Schumacher war der Wirtschaftsrat ein Widerpart gegen die Macht der Ministerpräsidenten und eine Plattform, um seinen politischen Kurs durchzusetzen. Er war es, der die SPDFraktion im Wirtschaftsrat in die Opposition zwang und ihr einen scharfen Konfrontationskurs gegen den „Bürgerblock“ aufdiktierte”®. Auch deshalb mag Schmid, dem an einer Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien gelegen war, auf die Auflösung des Wirtschaftsrates gedrungen haben. Während Schumacher sich zu heftigen Attacken gegen die Politik des „Bürgerblocks“ hinreißen ließ, rechtfertigte Schmid in seinen offiziellen Stellungnahmen die Oppositionsrolle der SPD damit, daß es in Frankfurt nicht möglich sei, eine „gemeinsame reichseinheitliche Politik“ zu treiben?°. Auch hier kam seine Furcht zum Ausdruck, daß sich aus der Bizone ein separater westdeutscher Staat unter Ausschluß der französisch besetzten Zone bilden könnte.

Schmid hatte sich gerade erst auf der Münchener Konferenz als zukünftiger Bundespolitiker profiliert, da mußte er auch schon wieder um seine Karriere bangen. Wenn die französische Zone vollends ins Abseits geriet, blieb ihm nur noch der politische Aufstieg über die Partei, in der Kurt Schumacher noch immer den Ton angab. Um auf die politische Entwicklung Einfluß nehmen zu können, mußte er wissen, was auf den verschiedenen Ebenen geplant, vorbereitet und hintertrieben wurde. Er versuchte überall präsent zu sein, selbst wenn er sich mit der Rolle des Zuhörers begnügen mußte. Die Verhandlungen des Länderrates und des Wirtschaftsrates beobachtete er aus nächster Nähe, im Hamburger Zonenbeirat referierte er, in den Ausschüssen des deutschen Friedensbüros arbeitete er mit, denn hier entwickelten sich die ersten Ansätze für ein späteres Auswärtiges Amt. Er engagierte sich in der Europabewegung und nahm an ausländischen Kongressen teil, denn wer die zukünftige Außenpolitik gestalten wollte, mußte gute internationale Kontakte haben?‘. In den Ausschüssen des Parteivorstandes bemühte er sich um Unterstützung seiner politischen Linie. Keine Konferenz gab es, auf der man ihn nicht antraf. An der von Alfred Weber, Karl Geiler und Dolf Sternberger geleiteten Heidelberger Aktionsgruppe beteiligte er sich, weil diese Gruppe im Ausland ein großes Feedback gefunden hatte, so daßß man damit rechnen mußte, daß sie Einfluß auf die alliierten Planungen gewinnen würde. Besonders begeistert war er von deren Arbeit nicht. Die Gruppe schien ihm in erster Linie deshalb gegründet worden zu sein, „um einigen sterbensunwilligen Greisen ein Vorwand zum Weiterleben zu verschaffen“ ”. Wer ihm einen Hang zur M£disance nachsagte, hatte nicht ganz Unrecht. Auch mittels Presse konnte man Politik machen. Schmid schrieb zahlreiche Aufsätze und Zeitungsartikel. In einigen dachte er über den Tag hinaus, in anderen versuchte er die aktuelle Politik zu verkaufen. Als Journalist mahnte er die Politiker, nicht die „Lauterkeit des Wegs“ für das „Linsengericht der beglückenden Teilerfolge“ zu verraten. Er schwankte selbst immer zwischen den beiden Möglichkeiten.

Das Jahr 1947 war ein Jahr hektischer Aktivität. Im Grunde war er immer auf Achse. Schmid „stürzte sich“, so erzählt sein Schüler Ulrich Holländer alias Michael Thomas, „in einen verzehrenden Einsatz, ohne sich Hemmungen des Verzehrs aufzuerlegen, in keinerlei Hinsicht (ok Mit seinem Faktotum und Chauffeur Roller jagte er landauf, landab, von Rede zu Rede, von Konferenz zu Konferenz, von einem Abenteuer zum anderen.“°* Trotz der Abenteuer waren die Reisen alles andere als ein Vergnügen, insbesondere nicht im Winter. Sein alter Maybach mit Holzvergaser hatte keine Heizung. Die Straßen waren schlecht und Autopannen an der Tagesordnung. Er selbst stöhnte, daß er allmählich nicht mehr wisse, wie er seinen Obliegenheiten nachkommen solle. Die dauernden auswärtigen Konferenzen seien „eine kaum mehr zu tragende Belastung“ ®,

Im August wollte er zum ersten Mal nach zwei Jahren zwei Wochen Urlaub machen, um sich endlich einmal ausschlafen zu können, Das Vorhaben blieb ein frommer Wunsch. Mitte Juli fand er auf seinem Schreibtisch einen Brief Arno Hennigs, der die dringende Bitte enthielt, die Diskussionsleitung auf der für 21.23. August geplanten kulturpolitischen Konferenz der SPD in Ziegenhain zu übernehmen. Zielsetzung der Konferenz sei die „geistige Neufundierung“ der sozialdemokratischen Bewegung. Die Konferenz werde wahrscheinlich im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen. Es sei daher notwendig, daß eine „qualifizierte“ Persönlichkeit für den erfolgreichen Verlauf der Konferenz sorge?’. Schweren Herzens sagte Schmid zu. Er hoffte, daß Ziegenhain ein programmatischer Neubeginn werden könne. Außerdem teilte er Hennigs Meinung, daß die Kulturpolitik nicht das „fünfte Rad am Wagen der SPD“ bleiben dürfe?®. Bereits im Juni hatte er an der kulturpolitischen Tagung der SPD in Erlangen teilgenommen, allerdings nur am letzten Tag, weil die Franzosen ihm Ausreiseschwierigkeiten gemacht hatten. In Erlangen hatte er ein Referat über die geistigen Wurzeln des Totalitarismus gehalten, in dem er sich vor allem mit der Mißinterpretation der Marxschen Theorie durch dessen Epigonen, einschließlich der deutschen Sozialdemokratie, auseinandergesetzt hatte”.

Auch in Ziegenhain war eine Grundsatzdiskussion über den Marxismus zu erwarten. Um den Verlauf der Konferenz etwas vorzuprogrammieren, hatte er Dieter Roser, der ihn auf die Konferenz begleitete, einen Resolutionsentwurf verfassen lassen, in dem allen marxistischen Dogmatismen abgeschworen wurde’, Sie wurde den Ziegenhainern Delegierten in Form einer Entschließung des SPD-Bezirks Süd-Württemberg vorgelegt. In dem nordhessischen Städtchen Ziegenhain versammelten sich am >. August ungefähr 8o Delegierte, unter ihnen auch Erich Ollenhauer. Es ging sparsam zu. Die Delegierten waren aufgefordert worden, Lebensmittelmarken für sog Fleisch, soo g Brot und 10 g Fett mitzubringen. Eine Wildschweinjagd der Ziegenhainer Sozialdemokraten war erfolglos verlaufen, so daß Schmalhans Küchenmeister war’°. Trotzdem arbeitete Carlo Schmid engagiert mit. Im Zentrum der Diskussion stand die Frage nach Freiheit und Determination menschlichen Handelns. Der materialistischen Geschichtsauffassung wurde fast einhellig eine Absage erteilt. Carlo Schmid leitete die Redaktionskommission, die auf der Grundlage der von Dieter Roser verfaßten Resolution des SPD-Bezirks Süd-Württemberg eine grundsatzpolitische Entschließung ausarbeitete. Rosers Formulierungen, die den geistigen Mentor Carlo Schmid verrieten, wurden zum Teil fast wörtlich übernommen. Man stellte fest, daß die Ergebnisse der marxistischen Methode eine „unverzichtbare Quelle politischer Einsicht““ sind, jedoch nicht „alleinige und absolute Grundlage aller Erkenntnis“. Die Sozialdemokratie anerkenne die „geistige Freiheit des Menschen und seine sittliche Verantwortlichkeit als gestaltende Faktoren auch des geschichtlichen Prozesses“. Ein humanistisches Sozialismusverständnis sollte weiten Kreisen der Bevölkerung einen Zugang zur Partei öffnen. In der Entschließung hieß es: „Kämpferisches Bewußtsein der unterdrückten Klassen, Willen zur Menschlichkeit, religiöse und sittliche Verpflichtung vereinigen sich in der Sozialdemokratie zu einer gemeinsamen Kraft, die Welt zu verändern, zu einem gemeinsamen Willen, der Idee des Menschen in der politischen und ökonomischen Wirklichkeit des ganzen Menschengeschlechts Gestalt zu verleihen.“ ‚”

Dies war auch ein Gesprächsangebot an die beiden großen christlichen Kirchen. Im Juli hatte Schmid an dem ersten größeren Treffen zwischen Vertretern der Bekennenden Kirche und der SPD im Diakonissenhaus in Detmold teilgenommen’‘. Er wollte seinen Beitrag dazu leisten, um das Spannungsverhältnis zwischen SPD und den beiden christlichen Kirchen zu überwinden. Lydia Schmid hatte schon gleich nach dem Krieg eine Brücke zwischen SPD und evangelischer Kirche zu schlagen versucht.

Die Ziegenhainer Kulturkonferenz fand in der Öffentlichkeit ein großes Echo. Sie galt als ein erster Schritt zur programmatischen Neuorientierung der SPD. Der Berater General Koenigs Saint-Hardouin wertete das Ergebnis der Konferenz als einen Beweis für Schmids wachsenden Einfluß innerhalb der Partei. Dem „Einsatz seiner Persönlichkeit und seines Talents“ maß man große Bedeutung bei der Bewältigung des Anpassungsprozesses, dem die Sozialdemokratie ausgesetzt war, bei’°*. Die Hoffnung, daß Schmid bald Schumacher als Parteivorsitzenden ablösen werde, bekam neue Nahrung. Kurt Schumacher tat alles, um die Bedeutung der Ziegenhainer Tagung herunterzuspielen. Bei der Konferenz habe es sich um eine Tagung des kulturpolitischen Ausschusses gehandelt und nicht um die einer „Programmkommission“. Die „veröffentlichte Entschliefung“ sei „nicht als eine Verlautbarung der gewählten Parteiinstanzen zu werten“ ‚®®, Schumacher dürfte nicht entgangen sein, daß Schmid der spiritus rector der Entschließung war. Die harschen Worte Schumachers gegen die Ziegenhainer Konferenz waren wohl mehr gegen den neuen Rivalen gerichtet als gegen das Ergebnis der Konferenz an sich

Obwohl ihm die Konferenz als Erfolg angerechnet wurde, war auch Carlo Schmid nicht ganz glücklich über deren Verlauf. Gegenüber dem in Paris weilenden SPD-Korrespondenten Alfred Frisch äußerte er zwar recht überschwenglich, daß von der Tagung „etwas ausgehen könnte, das einmal Epoche machen wird“. Es sei erfreulich gewesen, daß alle Teilnehmer „ohne sogenannte ‚Ausrichtung‘ waren und man von den verschiedensten Ausgangspunkten voranschreitend sich nicht auf dem goldenen Mittelweg, sondern in der wirklichen sichtbaren Mitte getroffen hat“ ‚%, Arno Hennig jedoch ließ er durch Gerhard Weisser mitteilen, daß er dringend vor einer Drucklegung der Protokolle der Ziegenhainer Konferenz abrate. Ziegenhain sei nicht mehr gewesen als eine „erste Aussprache“ ‚°7, Er hielt es nicht für sinnvoll, in absehbarer Zeit eine neue Konferenz einzuberufen. Es sei zu befürchten, daß man auch dort wieder die „Philosophisch völlig überholte Antithese Idealismus-Materialismus“ zu hören bekomme, „mit der man allmählich keinen Hund mehr hinterm Ofen vorholen sollte“ ‚%®, Auf diese Antithese hatte insbesondere Eichler sein Referat in Ziegenhain aufgebaut.

Nein, auf der Höhe der europäischen Philosophie war man in Ziegenhain nicht gewesen. In einem Artikel des in Tübingen erscheinenden SPDParteiblattes „Der Württemberger“ wurde als Fazit der Ziegenhainer Tagung festgehalten, daß „ohne eine gründliche Auseinandersetzung mit der jüngsten Philosophie, dem Existentialismus“ ein „klares und allgemein wirksames geistiges Programm“ der SPD nicht formuliert werden könne’°, Obwohl der Artikel nicht aus der Feder Schmids stammt, dürfte er sich weitgehend mit seiner Meinung gedeckt haben. Auch Schmid war der Auffassung, daß nur vom Existentialismus eine geistige Neuorientierung ausgehen konnte. Ziegenhain war ein erfreulicher Auftakt zur Programmdiskussion — mehr aber auch nicht. Es fiel Schmid schwer zu begreifen, daß politische Konferenzen keine philosophischen Gesellschaften sind. Er hatte wenig Geduld, sich mit Menschen auseinanderzusetzen, die unter seinem geistigen Niveau waren.

Seine Berufung in den kulturpolitischen Ausschuß des SPD-Parteivorstandes nahm er zwar mit Freuden an!’°, erschien aber dort nur selten. Gewiß, seine Belastung war außerordentlich groß. Die Mitarbeit im verfassungs- und außenpolitischen Ausschuß hatte Priorität gegenüber der Teilnahme an den Sitzungen des kulturpolitischen Ausschusses, der ohnehin nur ein Schattendasein in der Partei führte. Der Widerstand Schumachers und des Parteiapparates gegen die „Kulturpolitiker“, die zur programmatischen Erneuerung der Partei aufriefen, war zäh und hart. Auch der niedersächsische Kultusminister Adolf Grimme und Arno Hennig, der seit 1948 den kulturpolitischen Ausschuß leitete, klagten“‘. Schmid machte sich keine Illusionen. Es würde schwer werden, den „Apparat zu ändern“. Man müsse es trotzdem versuchen, mahnte er Hennig, der schon fast resigniert hatte“?. Die Details des Parteilebens waren für den humanistischen Gelehrten alles andere als erfreulich. Politik war hier wirklich das Bohren harter dicker Bretter. Die euphorische Aufbruchstimmung wich schon etwas der Melancholie. Obwohl das Jahr 1947 ein Jahr des Erfolgs für ihn war, in dem er zum führenden Politiker der Westzonen avancierte, blickte Schmid mit nicht allzu großer Hoffnung in die Zukunft. Dem mit ihm befreundeten Ministerpräsidenten Schleswig-Holsteins Hermann Lüdemann schrieb er zum Jahresausklang: „Zum Neuen Jahr wv ünsche ich Dir alles Gute und die Kraft zu bestehen, was keinem von uns erspart wird: die Verdrossenheit.“ ‚“

Landespolitik im Schatten der „großen“ Politik

Trotz aller Umtriebigkeit kümmerte sich Schmid auch weiterhin um die politischen Belange Württemberg-Hohenzollerns, das er zuweilen nicht ohne Stolz als „sein Geschöpf“ bezeichnete‘. Obwohl er alles andere als ein typischer Schabe war, hing er doch an seiner schwäbischen Heimat. Noch als Bundestagsabgeordneter konnte er sich darüber empören, wenn jemand Schildbürger- und Schwabenstreiche verwechselte®. Daß er mehr unterwegs als daheim war, lag u.a. auch daran, daß er als eine Art Außenminister Württemberg-Hohenzollerns fungierte. Lorenz Bock, der dem Amt des Staatspräsidenten nicht immer gewachsen war, hatte ihm die „außenpolitische“ Vertretung Württemberg-Hohenzollerns überlassen. Da Gebhard Müller das Justizressort weitgehend allein managte, blieb ihm Zeit zu reisen.

Auch nach Bocks Amtsübernahme saß er noch als Staatsrat am Stuttgarter Kabinettstisch und sorgte dafür, daß das kleine Land hinter dem seidenen Vorhang bei interzonalen Beratungen nicht vergessen wurde. Bei Verhandlungen mit der Militärregierung stand er Bock, der deren Absichten nicht immer durchschaute?, mit Rat und Tat beiseite. Auch als stellvertretender Staatspräsident versuchte er die Fäden der Politik in der Hand zu halten, was ihm freilich nicht immer gelang. Die Christdemokraten im Kabinett drängten auf einen innen- und vor allem kulturpolitischen Kurswechsel und setzten sich damit zum Teil auch durch. Schon Anfang September klagte Schmid, daß sich das „Klima“ im Kabinett „wesentlich verändert“ habe und eigentlich nicht mehr das seine sei. Aber die Gegensätze waren nicht unüberwindbar und nahmen, wie Bock Gouverneur Widmer versicherte, niemals scharfe Formen an’. Auch Schmid meinte, daß man mit Bock, der „konziliant“ sei und allen Konflikten aus dem Wege gehe, auskommen könne°. An einem Platzen der Koalition hatte niemand Interesse, schon gar nicht Schmid, der von sozialistischer Prinzipienpolitik nichts hielt und immer wieder an den Machtsinn der Linken appellierte.

Die Aufkündigung der Koalition in Bayern Mitte September 1947, für die Hoegner einen „Befehl aus Hannover“ verantwortlich machte, war in den Augen Schmids ein Fehler”. Mußte er nicht fürchten, daß Schumacher, der mit zunehmender Vehemenz einen fundamentalistischen Oppositionskurs einschlug, auch auf ihn Druck ausüben würde, die Koalition zu verlassen? Für den Fall baute er schon einmal vor. In einer zwei Tage nach dem Bruch der Koalition in Bayern stattfindenden Parteivorstandssitzung versuchte er die Genossen davon zu überzeugen, daß es notwendig sei, „daf® mindestens immer in einem Lande der französischen Zone die SPD an der Regierung beteiligt ist, da sonst der Wachhund fehle“®, In Hannover hätte man das Platzen der Koalition lieber heute als morgen gesehen. Im Jahrbuch der SPD wurde das Auseinanderbrechen der Koalition in Württemberg-Hohenzollern geradezu herbeigerufen?. Nachdem Schumacher bei einem Besuch in Tübingen Anfang 1948 ihn offensichtlich zur Aufkündigung der Koalition gedrängt hatte, legte er im Parteivorstand noch einmal die Gründe für sein Festhalten an der Koalition dar: „In der französischen Zone würde ein Austritt der Sozialdemokraten aus der Regierung bedeuten, daß der letzte Hemmschuh für die Durchziehung der französischen Besatzungspolitik beseitigt wäre.“ ‚° Das war keine reine Zweckargumentation. Bock war tatsächlich überaus nachgiebig gegenüber der französischen Besatzungsmacht.

Für Schmid wurde es immer schwieriger, sich Schumachers Direktiven zu entziehen und die Gegensätze nicht offen an den Tag treten zu lassen. Für den SPD-Parteivorsitzenden war die CDU nichts anderes als eine „Warenhauspartei“, der er nur eine geringe Lebensdauer prophezeite, da er den Konservatismus grundsätzlich für diskreditiert hielt‘!. Der Sozialismus war für ihn eine Naherwartung. Mit einem Unterton der Geringschätzung sprach er von den „liberalistischen“ und „humanistischen“ Strömungen der süddeutschen SPD, die er der „Klassenkraft“ der norddeutschen SPD gegenüberstellte’”. Das war auch ein indirekter Angriff auf Schmid, der täglich erleben mußte, wie fest der Konservatismus in den Köpfen und Herzen seiner süddeutschen Landsleute verankert war, wie wenig dort mit Klassenkampfparolen zu erreichen war. Die SPD war in Württemberg-Hohenzollern in einer Minderheitsposition. Wenn sie sich nicht völlig ins Abseits stellen wollte, mußte sie Kompromisse mit den konservativen Parteien eingehen. Selbst bei Forderungen, die zu den Grundanliegen sozialdemokratischer Politik gehörten, wie die der Sozialisierung der Schlüsselindustrien und der Bodenreform, konnte man keine Politik des Alles oder Nichts betreiben.

In Südwürttemberg, wo es nur wenig Großbetriebe gab, stritt man sich hauptsächlich um die Bodenreform, die 1947 immer mehr zu einem Hauptthema der politischen Auseinandersetzung wurde. Carlo Schmid hatte bereits Anfang 1947 das Justizressort mit der Ausarbeitung einer Rechtsanordnung über die Bodenreform beauftragt und das Thema auch im Kabinett zur Sprache gebracht‘. Er war bestrebt, die heftig umstrittene Forderung nach einer Bodenreform zu entpolitisieren, damit sie nicht zu einem Reizthema der Parteien und zu einem Schreckgespenst der größtenteils konservativ eingestellten Bevölkerung wurde. Die Leitgedanken der von der Tübinger Staatskanzlei geplanten Bodenreform stellte er im Februar 1947 den versammelten Landräten vor, die er bat, „beruhigend“ auf die Bevölkerung einzuwirken. Bei der Bodenreform gehe es nicht in erster Linie um die Zerschlagung des Grundbesitzes, sondern darum, die teilweise unergiebige Landwirtschaft Südwürttembergs zu rationalisieren. Von drei Grundsätzen habe man sich leiten lassen: „ı. Eine gesetzliche Möglichkeit zur Beschaffung neuen Bauernlandes für die Siedlung zu schaffen. 2. Die Möglichkeit zu geben, dort, wo unser Grundbesitz zu sehr parzelliert ist, im Weg der Bildung von Bebauungsgenossenschaften die gesamte Dorfflur zu bearbeiten, als handle es sich um zusammengehöriges Land. 3. Eine Möglichkeit, für die Schaffung von Heimgärten für die Flüchtlinge zu geben, die wir zu erwarten haben.“ ‚* Die Erprobung alternativer genossenschaftlicher Bewirtschaftungsformen lag ihm ganz besonders am Herzen, stieß aber auf wenig Gegenliebe bei den schwäbischen Bauern, die einen Kollektivismus ä la Sowjetunion befürchteten. Durchsetzungsfähig war viel eher der Gedanke der Siedlung.

Durch Carlo Schmids hektische Aktivitäten im Frühjahr und Sommer und durch den Streit um die Verfassung und die Regierungsbildung blieb der Entwurf zunächst in der Aktenablage liegen. Im Herbst holte Schmid ihn wohl absichtlich nicht hervor. In Baden drohte die Koalition an dem Konflikt über die Bodenreform zu zerplatzen. Fritz Erler, der sozialisti- .‚schem Traditionsgut viel enger verbunden war als der SPD-Landesvoprsitzende, mißfiel dieses konfliktscheue Verhalten. Im November mahnte er Schmid, eine Initiative der Landtagsfraktion zur Bodenreform in Gang zu bringen, die den „Koalitionspartner zu einer klaren Stellungnahme für oder wider zwingt“ ‚5. Erler machte sich daran, selbst einen Entwurf auszuarbeiten, während Schmid im Kabinett auf die Verabschiedung einer vernünftigen gemeinsamen Vorlage drängte. Er hielt nichts davon, einen sozialdemokratischen Propagandaantrag, der sich nicht durchsetzen ließ, im Landtag einzubringen. Wenn man die Bodenreform „übers Knie brach“, riskierte man ihr Scheitern’*.

Ende 1947 lag ein Entwurf vor, über den man sich im Januar in mehreren Kabinettssitzungen die Köpfe heiß redete. Carlo Schmid hatte den Entwurf zuvor schon redigiert und die dort vorgesehene Abgabepflicht ab 150 Hektar auf 100 Hektar herabgesetzt’7. In den Sitzungen des Kabinetts sprach er sich dafür aus, dem Entwurf eine Präambel voranzustellen, in der die „sittlichen und moralischen Grundsätze“ der Bodenreform dargelegt werden sollten’®. Er hoffte anscheinend, so die Vorbehalte und Ängste der bäuerlichen Bevölkerung gegen die Bodenreform ausräumen zu können. Denn nicht nur der landbesitzende Adel wehrte sich gegen die Bodenreform, wenn auch von ihm der heftigste Widerstand ausging. Einige der adligen Großgrundbesitzer schrieben Schmid bittre Klagebriefe und unterstellten ihm sogar eine Abneigung gegen den oberschwäbischen Adel‘?, was nun ganz und gar nicht zutraf. Er, der Geistesaristokrat, verkehrte ganz gern in adligen Kreisen, deren großzügiger Lebensstil ihm mehr zusagte als die sozialdemokratische Bescheidenheitsmoral. Trotzdem drängte er jetzt auf die Verabschiedung des Bodenreformgesetzes. Die von ihm vorgeschlagene Präambel wurde akzeptiert. Nach ihr sollte die Bodenreform durchgeführt werden, „um eine gerechtere Verteilung des landwirtschaftlichen Grundeigentums herbeizuführen, die Lösung des Flüchtlingsproblems zu erleichtern sowie um die Voraussetzungen für eine Steigerung der land- und forstwirtschaftlichen Erzeugung zu schaffen“ °, Auf die Propagierung landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften war in Rücksicht auf die Ängste der Landbevölkerung vor einer Kollektivierung verzichtet worden. Vergeblich bemühte sich Schmid um die Einbeziehung des Waldbesitzes in die Bodenreform. In der Auseinandersetzung um diese Frage wies er erstmals auch auf die politischen Gesichtspunkte der Bodenreform hin. Zweck des Gesetzes sei es, die „Zusammenballung wirtschaftlicher Macht in der Hand weniger für die Zukunft. aufzuheben“ *‘. Schon deshalb dürfe der Waldbesitz aus der Bodenreform nicht ausgeklammert werden. Der stellvertretende Staatspräsident wurde überstimmt. Sichtlich verärgert ließ er zu Protokoll geben, daß er trotz gegenteiligen Kabinettsbeschlusses die Einbeziehung des Waldbesitzes in die Bodenreform weiterhin befürworte”*,

Im Februar und März entbrannte im Bebenhausener Landtag eine heiße Schlacht um die Bodenreform. Am s. Februar ergriff er selbst das Wort, nicht um mit den bereits zigmal geäußerten Argumenten auf den Gegner einzuhauen, sondern um einige grundsätzliche Ausführungen zu machen, die vor allem ein Ziel hatten: die streitenden Parteien zu besänftigen. Nachdem man sich gegenseitig die Gutachten von Fachleuten um die Ohren geschlagen hatte, begann er mit einer für ihn typischen Polemik gegen die Experten: „Der Fachmann ist immer notwendig der Konservative, nicht immer in dem guten Sinne dessen, der die Kräfte erhalten will, die einst das Gute schufen, sondern einer der die produktiven Kräfte und damit die Gegenwart und Zukunft sterilisiert, indem er die fossile Wirklichkeit von einst erhalten will.“”3 Die Polemik sollte vor allem seinen Vorredner Gebhard Müller treffen, der Schmid gern des Dilettantismus bezichtigte und sich später zugute hielt, die Tübinger Verwaltung mit „Fachbeamten“ besetzt zu haben”. Durch seine längeren philosophischen, historischen und literarischen Exkurse, in denen er die Notwendigkeit der Bodenreform begründete, gelang es ihm, die erhitzten Gemüter zu beruhigen und die Debatte vorerst einmal in vernünftigere Bahnen zu lenken. Unterdessen verfaßte er für den Abend, an dem man sich noch zu einem gemütlichen Beisammensein treffen wollte, eine Elegie auf die ‚„Gigantenschlacht bei Bebenhausen“, in der er nicht nur über seine Vorredner liebevollen Spott ergoß, sondern auch über sich selbst. Der Schlachtensänger erwähnt sich selbst ganz am Schluß?®:

Einen vergaß ich. Er wälzte, ein Klotz, sich die Treppe zur Bühne Keuchend hinan und ergoß plätschernd gelehrsames Nafßs Hin über alle die Helden, erbarmungslos redend und redend. Schweige, o schweige doch! so fleht der Leidenden Aug. Doch er versandte die Worte – er kann ja das Reden nicht lassen — Eins um das andere wie einst Odysseus den Köcher gelehrt.

Schmid hatte trotz seines Pathos die Fähigkeit zur Selbstironie. Er war sich darüber im klaren, daß ihm einige seiner Kollegen ankreideten, daß er im Landtag statt Reden Vorlesungen hielt. Manchmal stand Absicht dahinter wie bei seiner Rede am 5. Februar. Vorlesungen waren das beste Mittel, um Konflikte zu entschärfen und ein drohendes Platzen der Koalition zu verhindern. Dazu waren auch die parlamentarischen Abende da, an denen man über die Parteigrenzen hinweg ins Gespräch kam. Schmid hielt sie für das Salz der Politik. Mit seinen Spottversen, die er zur Erheiterung aller zum besten gab, trug er zum Gelingen der Abende bei. Er war übrigens nicht der einzige Dichter im Bebenhausener Landtag. Der CDU-Abgeordnete Josef Lutz aus Leutkirch schrieb Filser-Briefe, in denen er sich über seine Parlamentskollegen ausließ. Über seinen Kollegen Schmid wußte er seiner Frau Anna zu berichten: „Er ist sehr gscheid ond kann gut Reden halten, das man meint man sege ihn auf einem Schimmel reiden ond mit der Müllerin bussieren, als ob er ein Fürst wäre. Es ist ihm oft langweilig und dann gibt ihm der Renner Zeidongen, aber er schaut bloß die Bilder an, ob saubere Madl drinn sind. Sonst ist er ganz einfach ond dut wie daheim.“ *°

Der gelungene parlamentarische Abend war nicht der ausschlaggebende Grund für die fast einstimmige Verabschiedung des Bodenreformgesetzes. Aber er entgiftete doch etwas das politische Klima. Carlo Schmid hätte es gern gesehen, wenn man auch in Bonn parlamentarische Abende veranstaltet hätte. Aber die beiden unversöhnlichen Rivalen Adenauer und Schumacher waren nicht im geringsten bereit, sich abends zu einem geselligen Beisammensein zu treffen.

Das am 23. März verabschiedete Bodenreformgesetz war ein Kompromiß, bei dem die SPD große Zugeständnisse hatte machen müssen. Der Waldbesitz blieb von der Bodenreform verschont, die Höchstgrenze für landwirtschaftliches Eigentum wurde auf 200 Hektar festgelegt, für Landbesitz von über 100 Hektar bestand eirie prozentuale Abgabepflicht?”. Die SPD-Fraktion hatte eine Höchstgrenze von 100 Hektar gefordert. Eine schlechte Bodenreform war aber besser als keine. Entscheidend war ohnehin nicht das Gesetz, sondern die Durchführung der Reform.

Carlo Schmid veranschlagte den Koalitionsfrieden deshalb so hoch, weil er erkannt hatte, daß die SPD mit ihrem Stimmenanteil von etwas über 20% in der Opposition zu einer bloßen Agitationspartei verkommen wäre. An einen Machtwechsel in Südwürttemberg war nicht zu denken. Zudem hatte man dort mit einer Besatzungsmacht zu kämpfen, die nach über zweijähriger Besetzung des Landes noch immer eine penible Kontrolle ausübte und die französische Zone von der Bizone und der dort betriebenen Politik des Wiederaufbaus abschnürte. Eine Allparteienkoalition konnte noch am ehesten die Interessen der einheimischen Bevölkerung gegenüber der Besatzungsmacht verteidigen.

Schmid beobachtete aufmerksam die internationale Entwicklung, weil ihm schon seit einiger Zeit klar geworden war, daß die Zukunft Württemberg- Hohenzollerns von Vereinbarungen, die auf internationaler Ebene getroffen wurden, abhing. Anfang 1948 riet er im Parteivorstand davon ab, die Franzosen zu einem Anschluß an die Bizone zu drängen, den sie sich momentan noch teuer bezahlen ließen. Man müsse Frankreich zu verstehen geben, daß man nicht bereit sei, „jeden Preis für den Anschluß zu zahlen“ ®°. Er war offensichtlich bestens über den Verlauf der Deutschlandbesprechungen der Dreimächte informiert. Die Franzosen versuchten sich für die Zustimmung zur Zonenfusion von den angelsächsischen Mächten Zugeständnisse zu erkaufen. Internationalisierung des Ruhrgebietes und Dezentralisierung des westdeutschen Staatsaufbaus waren der Preis, den die Franzosen für den Anschluß an die Bizone forderten”. Schmid, der die Dinge ziemlich schwarz sah, fürchtete, daß die an einer schnellen Weststaatsgründung interessierten Amerikaner den Forderungen der Franzosen nachgeben könnten. Clay, der die in Washington praktizierte Rücksichtnahme auf Frankreich ebenfalls nicht guthieß, ließ nichts unversucht, um dies zu verhindern?°.

Als man im Karneval 1948 landauf, landab „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“ trällerte, lebten die Einwohner der französischen Zone noch immer in äußerster Abgeschiedenheit von dem bizonalen Provisorium. Weiterhin brauchte man einen Passierschein, wollte man von Tübingen nach Stuttgart reisen. General Koenig warnte wiederholt die Ministerpräsidenten der französischen Zone vor den „Sirenenklängen“ der Bizone. Der Apparat dort sei so kompliziert, daß sie froh sein könnten, nur mit einer Besatzungsmacht verhandeln zu müssen?‘. Die rechtlichen und ökonomischen Strukturen in den beiden Zonen unterschieden sich grundlegend. Der geschulte Jurist Schmid hatte schnell erkannt, daß ohne eine Rechtsangleichung eine Zonenverschmelzung nicht durchführbar war. Bereits im September 1947 hatte er in der Tübinger Staatskanzlei zwei Referate einrichten lassen, die sich mit dem Verhältnis der deutschen Stellen zu der Militärregierung des Landes und den staats- und völkerrechtlichen Problemen der Zonenangleichung und des Besatzungsstatutes beschäftigen sollten. Thierfelder und Schmoller wurden mit den Referaten betraut, aus denen das Tübinger Institut für Besatzungsfragen hervorgehen sollte??.

Schmid, der durch seine allseitige Präsenz wohl einer der bestinformiertesten Politiker der damaligen Zeit war, betrachtete die Entwicklung nüchtern und realistisch. Interventionen deutscher Stellen bei der französischen Besatzungsmacht nutzten wenig. Nur die Integration Deutschlands in eine europäische Staatengemeinschaft und ökonomische Zwänge konnten Frankreich in der Frage Anschluß an die Bizone zum Einlenken bringen. Im Frühjahr 1948 erklärte er im Parteivorstand: „78 % des Staatshaushaltes der Länder der französischen Zone sind Besatzungskosten. Allein dieser Umstand wird die Franzosen zum Anschluß an die Bizone bewegen.“? 3 Schmid war alles andere als ein weltfremder Schöngeist. Er unterschätzte die Bedeutung ökonomischer Entwicklungen nicht.

Die Einbeziehung der französischen Zone in die Marshallplanhilfe, der Frankreich im März 1948 trotz anfänglicher Vorbehalte zugestimmt hatte, mußte über kurz oder lang zur wirtschaftlichen Verschmelzung der Zonen führen. Schmid hatte das Europäische Wiederaufbauprogramm der Amerikaner mit lobenden Worten bedacht. Der Marshallplan sei eine „der größten Taten politischer Einsicht und das stärkste Zeichen helfender Solidarität“, „das die neuere Geschichte kennt“3* . Er sah in dem Plan einen Schrittmacher für die wirtschaftliche Einheit Deutschlands. Als er dies Ende 1947 schrieb, mag er noch an ganz Deutschland gedacht haben. Nach der kommunistischen Machtergreifung in der Tschechoslowakei konnte nur noch die wirtschaftliche Einheit der Westzonen gemeint sein.

Den Marshallplan hatte auch Kurt Schumacher begrüßt, was ihn aber nicht davon abhielt, den westlichen Kapitalismus aufs Schärfste anzugreifen. Gegenüber dem Parteivorstand und der Wirtschaftsratsfraktion formulierte er einen Standpunkt, der vollkommen von dem Schmids abwich: „Frankfurt muß unter dem Gesichtspunkt des Anschlusses der französischen Zone betrachtet werden. Eine Koalition würde die SPD zum Komplizen des durch die kapitalistischen Kreise der CDU (Adenauer) vertretenen kooperierenden Dollargangster machen.“3 ° Mit Dollargangstern konnten eigentlich nur die USA gemeint sein.

Schmid ließ sich durch den Parteivorsitzenden nicht beirren. Allein die Amerikaner konnten die Franzosen zur Vernunft bringen. Das galt insbesondere für die Demontagefrage. Wie oft hatte er selbst in Verhandlungen mit der französischen Militärregierung auf die verheerenden wirtschaftlichen Folgen der französischen Besatzungs- und Demontagepolitik hingewiesen. Generaladministrator Laffon hatte jede Kritik entschieden zurückgewiesen?”. Die französische Zone war von der Demontage ungleich härter betroffen als die Bizone. Die Demontageliste vom 30. Oktober 1947 hatte bei allen Parteien gleichermaßen Empörung hervorgerufen. Nach den dort vorgesehenen Demontagen hätte das Industrieniveau Württemberg- Hohenzollerns fast 40% unter dem des Jahres 1936 gelegen®. Unter den politisch Verantwortlichen war man sich einig, daß öffentlich gegen die Demontageliste protestiert werden mußte. Die Militärregierung versuchte mit dem Argument, daß die Demontage zu den ihr vorbehaltenen Zuständigkeiten gehörte, eine Diskussion des für sie unangenehmen Themas abzublocken. Bock sollte eine von ihr zensierte Erklärung zur Demontage abgeben. Das Kabinett war in seiner Sitzung am ı1. November einstimmig dagegen. Schmid riet Bock, eine Erklärung abzugeben, in der er den Standpunkt der Regierung in „völliger Offenheit“ darlegen und dabei zum Ausdruck bringen solle, daß die Regierung sich alle weiteren Schritte vorbehalte. Es müsse der Besatzungsmacht klar gemacht werden, daß sie durch ihre Haltung die demokratische Staatsordnung unglaubwürdig mache®?. Der konfliktscheue Lorenz Bock schreckte vor einem solchen Vorgehen zurück. Schmid mag im stillen bedauert haben, nicht mehr Regierungschef zu sein. Er hätte auch diesmal ein mutiges Wort, in der Hoffnung, daß es weit über die Zonengrenze hinaus gehört werde, gewagt.

Am gleichen Tag, an dem das Kabinett sich zu keiner konkreten Maßnahme entscheiden konnte, veröffentlichte er im „Schwäbischen Tagblatt“ einen Artikel gegen die Demontage, den er bereits drei Tage vorher verfaßt hatte. Sachlich, ohne unnötige Schärfe legte er die Dinge dar, wie sie waren: „Das Ausmaß der nunmehr angeordneten Demontagen geht weit über alle Befürchtungen hinaus, zumal die Annahme begründet schien, daß der Beitrag unseres Landes zu den von ganz Deutschland geschuldeten Reparationen durch die im letzten und in diesem Jahr erfolgten Maschinenentnahmen weitgehend schon geleistet sei. Württemberg- Hohenzollern ist nunmehr weit schwerer betroffen als Württemberg- Baden (…). Wir hoffen, daß die französische Militärregierung dem Beispiel anderer Militärregierungen folgend, mit der Landesregierung verhandeln und wenigstens die unerträglichen Härten beseitigen wird.“ *° Tags zuvor hatte er auf einer SPD-Versammlung in Mannheim die Arbeiter zur Demontageverweigerung aufgerufen und die Besatzungsmächte vor einem „Verelendungsnationalismus“ gewarnt*‘. Das Ende Weimars mußte eine Mahnung sein – auch für die Alliierten, die nichts mehr fürchteten als ein Wiederaufleben des deutschen Nationalismus. Schon Ende Oktober war im Parteivorstand der SPD eine von ihm mitverfaßte Resolution gegen die Demontage verabschiedet worden, in der der Widersinn von Demontage und Marshallplanhilfe herausgestellt worden war. Deutschland werde „zum dauernden Kostgänger der Welt erniedrigt, ‚weil ihm nicht die Kraft bleibt, sich selbst zu erhalten“ **. Einer internationalen Öffentlichkeit sollte immer wieder vor Augen geführt werden, daß sie die Kosten der Demontage im Endeffekt selbst zu tragen hatte.

Die Franzosen blieben in der Demontagefrage zunächst hart und bestanden obendrein weiterhin auf die Abgabe einer frisierten Regierungserklärung. Trotz gegenteiligen Beschlusses des Kabinetts verlas Lorenz Bock die verlangte Erklärung im Landtag. Seine Kabinettskollegen, einschließlich Schmid, mißbilligten das Verhalten und sparten nicht mit Kritik am Staatspräsidenten*. Schmid warf Bock vor, die Gelegenheit nicht genutzt zu haben, um von den Franzosen das Zugeständnis zu erreichen, Regierungserklärungen ohne vorherige Genehmigung der Militärregierung abgeben zu können. Man hätte aus der ganzen Angelegenheit einen Präzedenzfall machen sollen, um die weitreichende und engmaschige Kontrolle der Militärregierung einzuschränken**. Noch immer beanspruchte die Besatzungsmacht alle wichtigen Bereiche der Gesetzgebung, insbesondere das ganze Feld der Wirtschaftspolitik, für sich. Noch immer war die Diskussionsfreiheit des Landtags beschränkt. Die Tagesordnung bedurfte der Genehmigung durch die Militärregierung. Noch immer griff die Militärregierung in die Verwaltung durch eine Fülle von Einzelanweisungen ein.

Schmid ließ keine Gelegenheit aus, um auf die Unhaltbarkeit dieser Zustände hinzuweisen. Im April sprach er in Paris mit Pierre Schneiter, bei dem er viel Verständnis für seine Position fand*°. Schneiter hatte schon im Januar General Koenig gemahnt, die Zuständigkeit der Militärregierung auf die Ausübung der Kontrolle zu beschränken*°. Koenig war zu Zugeständnissen nur bereit, wenn die Deutschen auf die Zonenfusion verzichteten.

Als Schmid von seiner Parisreise zurückkehrte, war es in Württemberg- Hohenzollern zu einem Eklat gekommen. Im Bebenhausener Landtag hatte man sich zu einer Kraftprobe mit der Militärregierung entschlossen. Trotz Verbots war dort am 28. April eine Große Anfrage über die fortschreitende Abholzung der Wälder auf die Tagesordnung gesetzt worden. Nach Aufruf der Tagesordnung war die Behandlung der Anfrage auf den 29. April vertagt worden. Die französische Besatzungsmacht, die eine öffentliche Diskussion über die von ihr betriebene Abholzung der Wälder tunlichst vermeiden wollte, sah in dem Vorgehen des Landtags einen „Affront“ #7. In äußerster Erregung suchte Oberst de Mangoux am frühen Morgen des 29. April den gerade erst aus Paris zurückgekehrten Schmid auf und setzte ihn ins Bild über den Konflikt und die drohende Reaktion der Militärregierung. Falls der Landtag bei seinem Entschluß bleibe, müsse die Bevölkerung mit Verschlechterungen im Bereich der Wirtschaft und Ernährung rechnen. Er versprach, daß „binnen kurzer Zeit“ alle Einschränkungen der Diskussionsfreiheit aufgehoben würden. Bis dahin sollte der Landtag die Behandlung der Anfrage vertagen. Schmid hielt dies für einen noch tragbaren Kompromiß und plädierte trotz einiger Bedenken in der darauffolgenden Ältestenratssitzung für dessen Annahme*, Unterstützt wurde er von Lorenz Bock, dem Gouverneur Widmer ein ähnliches Vorgehen nahegelegt hatte. Die Fraktionsvorsitzenden wollten sich nicht länger mit „vagen Hoffnungen abspeisen“ lassen. Die Große Anfrage und der Bescheid der Militärregierung wurden verlesen. Nach Verabschiedung einer Resolution vertagte sich der Landtag auf unbestimmte Zeit*.,

Diesmal war Schmid nachgiebiger als die anderen gewesen. Er fürchtete offensichtlich eine momentane Verhärtung der französischen Deutschlandpolitik. In London tagte die Sechsmächtekonferenz, auf der die angelsächsischen Mächte mit Frankreich um eine Einigung über die Gründung eines westdeutschen Staates rangen. Vor dieser Kulisse wurde der regionale Konflikt zu einer internationalen Prestigefrage. Eine Demütigung durch den Bebenhausener Landtag konnte die französische Besatzungsmacht nicht einfach hinnehmen, wollte sie auf der Londoner Konferenz nicht ganz das Gesicht verlieren. Entsprechend heftig war die Reaktion von Widmer und de Mangoux, der bei einer noch am gleichen Abend stattfindenden Besprechung mit Bock und Schmid die Aktion des Landtages ein „vorbereitetes Manöver“ nannteS°. Schmid widersprach. Er riet den Franzosen, „nicht den starken Mann zu spielen und keine Maßnahmen spektakulärer Art im Hinblick auf das Prestige der Besatzungsmacht zu ergreifen“ ‚. Eine Lösung des Konflikts war nur möglich, wenn die Prestigefrage aus dem Spiel blieb. Schmid wuchs die Rolle des Krisenmanagers zu. Während Bock der Angelegenheit völlig ratlos gegenüberstand, bemühte er sich um einen für alle Seiten akzeptablen Kompromiß. Er schlug vor, die Franzosen sollten die Sache vorläufig auf sich beruhen lassen und nach einiger Zeit dem Landtag entgegenkommen. Oberst de Mangoux fand diesen Vorschlag „vernünftig“ ?. Auch das Kabinett, das einen Tag später zusammentrat, unterstützte Schmids Schlichtungsvorschlag. Mit Zustimmung des Kabinetts ließ er eine Note ausarbeiten, in der der Militärregierung mitgeteilt wurde, daß ohne eine Übertragung erweiterter Zuständigkeiten an deutsche Stellen der Konflikt nicht endgültig beigelegt werden könne. Als der Bebenhausener Landtag am ır. Juni wieder zusammentrat, waren der Diskussionsfreiheit keine Schranken mehr gesetzt.

Im Juli, nachdem auf der Londoner Konferenz bereits der Beschluß zur ‚Gründung eines Weststaates gefaßt worden war, war die Militärregierung endlich bereit, die Befugnisse deutscher Stellen zu erweitern und die eigenen Kontrollrechte einzuschränken’. Mehr als einen Anfang wollte Schmid in dieser Revision des Besatzungsrechts nicht sehen. Die Trizone, schrieb er in einem Artikel für das „Schwäbische Tagblatt“, sei damit noch nicht geschaffen. Aber die „administrative Isolierung“, in der sich die französische Zone befunden habe, sei ein stückweit aufgehoben worden’*. Die Franzosen sollten nicht glauben, daß die Revision des Besatzungsrechts die Zonenfusion überflüssig gemacht habe.

In der Demontagefrage blieben sie weiterhin unnachgiebig. General Koenig erklärte allen Ernstes, daß die Demontage die Garantie für die Anwendung des Marshallplanes sei’. Wie sollte man auf deutscher Seite auf das hartnäckige Festhalten der Franzosen an ihrem Demontageplan reagieren? Kaum war ein Konflikt beendet, brach schon der neue aus. Allein schon die Stimmung in der Bevölkerung ließ eine Hinnahme der Demontage nicht zu. „Die Betroffenen werden Steine auf uns werfen“, konstatierte Schmid in einer Besprechung der Regierungsmitglieder mit Vertretern der Verbände am 29. Juli, zwei Tage vor Bekanntgabe der offiziellen Demontageliste°. Er glaubte, daß nur noch die Zuflucht zu radikalen Mitteln helfe. Wenn die Liste, wie nicht anders zu erwarten, schlecht ausfalle, müsse man bis zum äußersten gehen: „Gehorsamsverweigerung in r. und 2. Garnitur. Wenn keine völlig geschlossene Front besteht, dann ist auch dieses Mittel sehr bald aufgebraucht, auch die Arbeiterschaft muß mitgehen, Betriebe besetzen, DPs hinauswerfen. Wenn wir uns zum Widerstand entschließen, dann aktiver Widerstand mit allen Konsequenzen für Person und Zukunft.“ 3” Mit „starken Worten“ gegenüber der Besatzungsmacht sei es nicht getan. Schmid hatte seinen Machiavelli gelesen. Mit halbherzigen Aktionen verschlimmerte man die Situation nur. Schmid stand das Ende von Weimar wie ein Trauma vor Augen, so daß er ganz gegen seine sonstige Überzeugung einem politischen Existentialismus das Wort redete. Die übrigen Beteiligten waren über die Radikalität des sonst doch eher auf Konsens bedachten stellvertretenden Staatspräsidenten erschrocken und rieten zu mehr Mäßigung. Die Vertreter der Gewerkschaften gaben offen zu, daß ein längerer Generalstreik nicht durchzuhalten war”. Einig war man sich lediglich darüber, daß das Problem Demontage nicht auf dem Weg diplomatischen Verhandelns gelöst werden könne.

In einer außerordentlichen Sitzung am 2. August erwog das Kabinett den Rücktritt der Regierung. Man setzte den Beschluß aus, weil weder Bock noch Schmid, der auf einer Parteivorstandssitzung in Hannover für sein Provisoriumskonzept stritt, anwesend waren. Gouverneur Widmer irrte sich, als er Koenig schrieb, die Reaktion des Kabinetts auf die Demontage sei nur wegen der Abwesenheit Bocks und Schmids so radikal ausgefallen, wodurch „unerbittliche Elemente“ wie Renner die Oberhand gewonnen hätten?, Schmid stimmte in der Kabinettssitzung am 4. August dem Regierungsrücktritt zu. Die Demontage müsse im Gesamtzusammenhang mit der Besatzungspolitik gesehen werden. Die Regierung könne die Verantwortung nicht mehr länger tragen“.

Die Kabinettssitzung war überschattet durch den plötzlichen Tod Lorenz Bocks. Schmid mußte in einer Situation äußerster politischer Zuspitzung die Regierungsgeschäfte übernehmen. Krisensituationen schreckten ‚den unkonventionellen stellvertretenden Staatspräsidenten nicht. Ihm lag viel mehr die Bewältigung von Krisensituationen als die Erledigung politischer Routinegeschäfte. Am Nachmittag des 6. August erklärte Schmid im Landtag den Rücktritt der Regierung. In der Rücktrittserklärung führte er aus, daß die Regierung sich einer „Verfassungsverletzung“ schuldig machen würde, wenn sie an Maßnahmen mitwirke, „die den Lebensstandard unseres Volkes zwangsläufig unter jedes erträgliche Maß herabdrükFe üssen und deren Folgen auf lange Jahre nicht wiedergutzumachen sind.

Auf der Landesvorstandssitzung der SPD gab er bekannt, was das eigentliche Ziel dieser spektakulären Aktion war: „Die Beteiligten waren sich klar darüber, daß dieser Schritt auf örtlicher Stufe keinerlei Auswirkungen haben würde, sondern hofften lediglich, daß dieser Akt auf der Weltstufe (…) das Problem der Demontage überhaupt wieder in die Diskussion bringen würde. Das ist auch der Fall. Die Weltzeitungen haben viel mehr darüber geschrieben als die deutschen.“ Man habe erkannt, daß durch die Demontagebefehle „die ganze Bevölkerung ihre nackte Existenz verliere. Zwar könne man noch nicht sagen, was daraus würde, aber es bestehe gewisse Aussicht, daß die Beurteilung des Problems unter diesem Gesichtspunkt von diesen Leuten auf internationaler Ebene Eingriffe in die Demontageliste zur Folge hat.“ Schmid war kein schwäbischer Provinzpolitiker. Er wußte, wo die politischen Entscheidungen getroffen wurden.

Die französische Militärregierung war selbstverständlich äußerst erbost über ‚diesen Schritt und versuchte zurückzuschlagen. Den Regierungsmitgliedern wurde die Teilnahme an den Verfassungsberatungen der Ministerpräsidenten und den Besprechungen über die Bildung des Südweststaates untersagt. Schmid teilte umgehend mit, daß bis zur Wahl des neuen Staatspräsidenten am 13. August keine überzonalen politischen Konferenzen geplant seien. Die Teilnahme an technischen Konferenzen – er dachte an den für 10. August einberufenen Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, an dem er teilnehmen wollte – könne die Militärregierung nicht verbieten“. Im Grunde gab er in höflicher Form der Militärregierung zu verstehen, daß ihre Drohung eine leere Drohung war. Nachdem auf internationaler Ebene die Entscheidung für die Gründung eines westdeutschen Staates gefallen war, konnten die Vertreter Württemberg- Hohenzollerns nicht von den Verfassungsberatungen ausgeschlossen werden.

Am ı3. August wurde Gebhard Müller zum Staatspräsidenten gewählt, Müller rechnete es sich später als großes Verdienst an, daß er im Gegensatz zu seinen beiden Amtsvorgängern Schmid und Bock den Kampf gegen die Besatzungsmacht in der Demontagefrage mit durchschlagendem Erfolg geführt habe°*. Da schrieb der sonst so bescheidene Schwabe seiner Hartnäckigkeit etwas zugute, was viel mehr das Ergebnis der internationalen Entwicklung und des Wandels der französischen Deutschlandpolitik war. Nachdem Müllers erste Unterredung als Staatspräsident mit Gouverneur Widmer vollständig gescheitert wars, riet Schmid, die ganze Demontagefrage vor die internationale Öffentlichkeit zu bringen. Ein Appell an den US-Kongreß sei das richtige, denn die USA bezahlten im Endeffekt die ganze Demontage mit dem Marshallplan selbst. Man müsse deutlich machen, daß es sich bei der Demontage um eine „Ausplünderung“ und nicht um „Reparationsleistungen“ handle, Die nationale Aufheizung des Themas Reparationen in der Weimarer Republik war für Schmid lebendige Erfahrung, die wie ein Schreckgespenst vor seinen Augen stand. Die demokratischen Politiker mußten sich diesmal von Anfang an gegen untragbare Zumutungen der Siegermächte wehren und durften nicht wieder das Feld den Rechten überlassen. Auf der Rüdesheimer Ministerpräsidentenkonferenz Ende August vereinbarten die Regierungschefs der Länder, in der Demontagefrage zu intervenieren. Schmid verfaßte eine Demontage-Denkschrift, die als Eingabe der ıı Ministerpräsidenten Ende Oktober den alliierten Verbindungsoffizieren in Frankfurt überreicht wurde”. Der französische Verbindungsoffizier Laloy nahm die Denkschrift mit „deutlich erkennbarer Ablehnung“ in Empfang°®. Auch Gebhard Müller war nicht untätig. Er folgte der Strategie, die sein früherer Chef vorgeschlagen hatte. Unterstützt von Gustav von Schmoller und Theodor Eschenburg startete er im In- und Ausland eine umfassende Aufklärungsaktion über den Rücktritt der Landesregierung und die verheerenden Folgen der Demontage für Württemberg-Hohenzollern‘®.

Mit Carlo Schmid war sich Gebhard Müller einig, daß dem Drängen der Militärregierung, eine neue Landesregierung zu bilden, nicht nachgegeben werden durfte, bevor nicht die Demontagefrage gelöst war”. Schmid, um Notlösungen nie verlegen, hatte sich auch einen verfassungsrechtlich vertretbaren Modus vivendi für die Fortführung der Regierungsgeschäfte überlegt. Der Staatspräsident sollte den Vorsitz in der zurückgetretenen Regierung übernehmen und diese betrachten, als ob sie die seine sei‘. Ab Herbst wurde Schmid von der Arbeit des Parlamentarischen Rates in Bonn völlig in Anspruch genommen und konnte sich nicht mehr um die Regierungsgeschäfte in Württemberg-Hohenzollern kümmern. Ministerialrat Möbus mußte das verwaiste Justizressort leiten. Auf der Washingtoner Außenministerkonferenz Anfang April 1949 einigten sich die drei Westalliierten auf eine revidierte Demontageliste, die am a1. April der Tübinger Regierung übermittelt wurde. Am 24. Juni 1949 stellte Gebhard Müller. sein neues Kabinett vor, in dem auch Carlo Schmid wieder als Justizminister vertreten war. Mit einem Fuß wollte er weiter in seinem Stammland Württemberg-Hohenzollern bleiben. Man konnte ja nicht wissen, was kam.

Im Frühjahr 1949 konnten die Franzosen ihre Zustimmung zur Zonenfusion nicht mehr länger hinauszögern. Realität wurde die Trizone erst mit der Gründung der Bundesrepublik. Trizonesien war eine Erfindung des Karnevals. Carlo Schmid hatte die Zusammenhänge zwischen internationaler Politik und Landespolitik früh erkannt. Der Visionär war ein Realist, der die Entwicklung des internationalen Koordinatensystems aufs genaueste beobachtete. Alle Koordinaten wiesen in Richtung Europa. Auch Schmid meinte, daß die politischen Weichen in diese Richtung gestellt werden müßten.