1896-1979 eine Biographie : Unterm Hakenkreuz (1933-1940)
Unterm Hakenkreuz (1933-1940)
Dritter Humanismus statt Drittes Reich
Die Geschichte des Nationalsozialismus ist die Geschichte seiner Unterschätzung. Die Nachricht von der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde von der Mehrheit der Tübinger Bürger mit Gelassenheit aufgenommen. Als im Februar 1933 der Tübinger Gemeinderat zusammentrat, war der Machtwechsel kein Thema. Nicht über den Untergang der Weimarer Republik war man erschüttert, sondern über das „furchtbare Unglück, das infolge der Explosion eines Großgasbehälters so jäh über die Stadt Neunkirchen im Saargebiet hereingebrochen“ war‘. Auch für Schmid bedeutete das Jahr 1933 zunächst weniger wegen der Machtübernahme der Nationalsozialisten als wegen der Freundschaft, die er mit Woldemar Graf von Uxküll schloß, einen tiefen Lebenseinschnitt. Der 1898 in Bogliasco bei Genua geborene Uxküll war ein Cousin der Brüder Schenk von Stauffenberg. Wie diese fand auch Uxküll zusammen mit seinem Bruder Bernhard schon früh Anschluß an den Kreis um Stefan George, dem er noch als Schüler seine ersten dichterischen Versuche zusandte. Dem früh verstorbenen Bernhard gedachte George durch eines seiner bekanntesten Gedichte: „Der Dichter in Zeiten der Wirren“. Woldemar gehörte zum innersten Zirkel des Kreises. Pfingsten 1919 nahm er an dem auf der Heidelberger Schloßhöhe veranstalteten „Seelenfest“ des Kreises teil. Bald schon überhöhte er George zum „Gestalter großer Weltzeiten“ vergleichbar Dante und Homer. 1925 hatte er sich mit einer ganz dem Georgeschen Ideal der Größe verpflichtenden Arbeit über „Plutarch und die griechische Biographie“ habilitiert. Seit 1932 lehrte er in Tübingen Alte Geschichte. Sein Aussehen, seine stilisierte Lebens- und Sprechweise beeindruckten zahlreiche seiner Zeitgenossen. George allerdings distanzierte sich in späteren Jahren von seinem einstigen Jünger und sprach gelegentlich sogar mit leisem Hohn über ihn. Wissenschaftlichen Ehrgeiz entwickelte Uxküll nicht. Er galt als lebensfroh. Seinen Beruf betrachtete er als eine Art Liebhaberei. An das „Dritte Reich“ knüpfte er zunächst die Hoffnung, daß es die Vorstufe zu dem von Stefan George prophezeiten „Neuen Reich“ sein könnte. Seine Hoffnung schlug schon nach kurzer Zeit in Ablehnung des Nationalsozialismus um. Carlo Schmid und Woldemar von Uxküll verband schon bald eine
unzertrennliche Freundschaft. Uxküll führte Schmid in die Gedankenwelt Stefan Georges ein und wies ihm, wie er es pathetisch formulierte, den „Weg zu den unmittelbarsten Trägern“ von dessen „Idee“, die ein „gemeinsames Schicksal“ binde, „das zu leben höchstes Glück sein kann aber auch Untergang“?. Schmid zog die Geisteswelt Stefan Georges in den Bann. Er war wie gefangen von dessen Denken und dessen Dichtung. Begriffe und Sprachschöpfungen Georges durchziehen seine Reden und Aufsätze. Noch 1959 stritt er mit Peter Suhrkamp um den Begriff „Denkbild“, den George als deutsches Wort für die griechische Idee, die Wiedererinnerung als Schau des Urbildes, geprägt hatte. Suhrkamp konnte ihn nicht dazu überreden, den antiquierten Begriff „Denkbild“ aus seiner Valery-Übersetzung zu streichen*. Schmid begann, in Bildern zu denken. Seine Sprache erhielt einen epideiktischen Charakter. Seine Gedichte schrieb er in Antiqua-Schrift. Auch die spärliche Interpunktion, die Stefan George eingeführt hatte, machte er sich zu eigen. Selbst in seinen Briefen an Freunde und Verehrer Georges setzte er kaum mehr Komma, was schon etwas naiv anmutet’. Wie konnte ein politisch denkender und handelnder Mann sich für den Ästhetizismus Georges begeistern? Wie konnte jemand, der Villon und den frühen Brecht liebte, an der Esoterik Georges Gefallen finden? Wie konnte ein schüchterner, Mitleid empfindender Mensch heroische Größenideale preisen? Schmid war ein Suchender, der noch nicht zu sich selbst gefunden hatte. Stefan George versprach geistige Orientierung in einer Zeit, in der „alles sagbar (ward)/drusch auf leeres stroh“°. Er forderte den Menschen heraus. Schmid brauchte die Herausforderung, um sein Selbst entfalten zu können. Der Außenseiter Schmid litt unter der Massengesellschaft, die George verachtete. Der Dichterprophet sprach ein Strafgericht über die bürgerliche Gesellschaftsordnung, die nur den „trieb“ des „trogs“ kenne”. . Es war vor allem die Kulturkritik Georges, die Schmid wie viele Intellektuelle seiner Zeit gefangennahm. „Der Franklinsche Mensch wird zu überwinden sein, wenn die Welt wieder ein würdiger Schauplatz für den Menschen werden soll. Nietzsche hat dazu aufgerufen und sein Anathema ist roch immer gültig, wenngleich seine Wege ziellose Labyrinthe sind“, schrieb er 1943 seiner Frau®. Der Vitalismus Villons und Brechts war vom. Nihilismus bedroht. George predigte eine Vergöttlichung des Leibes und eine Verleibung Gottes. Sein Ideal war eine Vergeistigung des triebhaft Sinnlichen?. In der Dichtung wurde das Dionysische in apollinische Form – gebannt. Für Schmid gewann die Dichtung existentielle Bedeutung. Das war keine Flucht vor der widrigen Realität in einen esoterischen Ästhetizismus. Durch ästhetische Erziehung sollten die Menschen, vor allem die Jugend verwandelt werden, nachdem die volksbildnerischen Konzepte gescheitert waren. Freilich, Walter Benjamin hatte ganz zu Recht kritisiert, daß George
„die Erneuerung des menschlichen Lebens erstrebte, ohne die des öffentlichen zu bedenken“’°. Unter dem Pseudonym Lothar Helbing hatte Wolfgang Frommel in seiner 1932 erschienenen Schrift „Der Dritte Humanismus“ eine Brücke von der Dichtung Georges zur Politik zu schlagen versucht“. Carlo Schmid war beeindruckt von dieser Arbeit und brannte darauf, den Verfasser persönlich kennenzulernen, nachdem sein Freund Uxküll ihm das Geheimnis des Pseudonyms gelüftet hatte‘?. Wer war dieser Wolfgang Frommel? Was verhieß seine Schrift, die bei zahlreichen Angehörigen des Bildungsbürgertums auf so große Resonanz stieß? Wolfgang Frommel, Sohn eines Heidelberger Theologieprofessors, 1902 in Karlsruhe geboren, war gerade dreißig Jahre alt, als sein unerwartet erfolgreiches kleines Buch erschien. Er hatte in Heidelberg Theologie studiert, wo er zusammen mit Theodor Haubach eine sozialistische Studentengruppe ins Leben gerufen hatte. Percy Gothein, Renaissanceforscher und Jünger Georges, den er 1923 kennenlernte, brachte ihm Dichtung und Denken Georges nahe. Um beide bildete sich ein Freundeskreis,der sich : dem Geist Georges verpflichtet fühlte. 1930 gründete Frommel den Verlag „Die Runde“, wo auch sein 80 Seiten umfassendes Büchlein „Der Dritte Humanismus“ erschien, dessen Faszinationskraft auf die damals Lebenden heute kaum mehr nachvollziehbar ist. Die Schrift erschien in drei Auflagen. 1935 waren 8000 Exemplare verkauft. 1936 wurde sie von den Nationalsozialisten verboten ’3. Das Buch beginnt mit einer Nietzsche entlehnten Philippika gegen das humanistische Gymnasium, in dem nur noch „Büchergelehrsamkeit“ verbreitet werde’*. Humanismus werde dort mit Philanthropie verwechselt, obwohl er in Wirklichkeit die lateinische Umschreibung von „paideia“ sei: „Erziehung zur Herrschaft über sich und die Welt (…), Fähigkeit zur Stilisierung, zur Ordnung des andrängenden Chaos (…), Strenge der Auswahl, Härte der Skepsis“’5. Als Auslesestätte für eine politische Elite hätten die Gymnasien völlig versagt. Die Deutschen müßten in der Antike ihre „wahre Ahnenschaft“ erkennen’‘. Anders als der Humanismus des 16. Jahrhunderts, der vor allem ein wissenschaftlicher, und der Humananismus der Deutschen Klassik, der vor allem ein ästhetischer war, müsse der Dritte Humanismus ein politischer sein, in dessen Zentrum die Rezeption des antiken Staatsgefühls, die Erziehung des Menschen zum zoon politikon zu stehen habe. Der zukünftige Staat müsse von Menschen getragen werden, die sich zurückbesinnen auf die Antike und zugleich ganz durchströmt sind vom „dichterischen Wort“ ‚7, Die Utopie des Dritten Humanismus war ausgesprochen antiliberal, erteilte aber auch dem Nationalsozialismus eine eindeutige Abfuhr. Frommel stellte sich „mit aller Schroffheit gegen gewisse Entartungen, wo der verantwortungslose Machtwille sogenannter Führer Bereitschaft und Glut einer Jugend, die noch keine Maßstäbe besitzt, für eigene Zwecke mißbraucht“ ‚®, Der
Nationalsozialismus wurde vor allem als Rattenfänger der Jugend verstanden. Der Erziehung wurde daher eine herausragende Bedeutung zugemessen. Zwei Aufgaben mußten vordringlich in Angriff genommen werden: die Bildung einer politischen Elite im Geiste des Humanismus und der Kampf gegen die Vermassung. Der Staat müsse „die unter dem schon recht vieldeutig gewordenen Wort ‚Sozialismus‘ zum Ausdruck kommenden Lebensrechte der Besitzlosen durch eine straffere und großzügigere Ordnung der Wirtschaft zu erfüllen wissen, vor allem aber muß er Mittel und Wege finden, der Vermassung Einhalt zu gebieten (…)“ „9, Der Dritte Humanismus sollte Grundlage für eine neue geistige Ordnung Europas, für ein neues Sacrum Imperium sein”, Die Schrift wandte sich an die „Gebildeten der Nation“, also an ein zumeist konservatives Publikum. Es gibt Überschneidungen mit dem Vokabular der „Konservativen Revolution“. Man wird jedoch Frommel kaum zu deren Autoren zählen können”. Der Dritte Humanismus war die gesellschaftsferne Utopie eines Dichterstaates. Konkrete politische Vorschläge sucht man in der Schrift vergeblich. Das elitär-aristokratische Weltbild des Dritten Humanismus war unzeitgemäß. Heinrich V. denkwürdige Worte vor der Schlacht bei Agincourt „We few, we happy few, we band of brothers“ wurde zum Treueschwur der Anhänger des Dritten Humanismus. Noch im Jahre 1972 beendete Carlo Schmid einen Brief an Wolfgang Frommel mit diesen Worten??, Es fällt heute schwer zu verstehen, daß ein solch vages und der politischen Praxis fernes Konzept einen solchen Anklang finden konnte. Man muß sich jedoch vergegenwärtigen, daß es damals fast keine Universität gab, an der nicht Dozenten unterrichteten, die von Stefan George beeinflußt waren oder ihm nahestanden. An Stefan George schieden sich die Geister. Und es waren durchaus namhafte Professoren, die sich George ‚ verpflichtet fühlten: Friedrich Gundolf, Max Kommerell, Ernst Kantorowicz, Edgar Salin. Arnold Bergstraesser, der bei Wolters studiert hatte, war ein Bewunderer Georges. Adorno und Benjamin waren zwar keine Georgeaner, lebten aber in ständiger kritischer Auseinandersetzung mit der‘Gedankenwelt Georges. Adorno vertonte Gedichte Georges”? Carlo Schmid bekam im November 1934 endlich die Gelegenheit, Wolfgang Frommel in Berlin kennenzulernen. Uxküll hatte Frommel auf seinen Tübinger Freund aufmerksam gemacht und ihm vorgeschlagen, ihn an den von Frommel geleiteten Mitternachtssendungen zu beteiligen. Frommel war einverstanden. Im September 1934 schrieb er Schmid, daß er es sich „zur Ehre und zum besonderen Vergnügen“ anrechne, mit ihm „ins Gespräch zu kommen“, denn man sei durch „eine weitgehende Übereinstimmung der politischen Haltung“ miteinander verbunden. Er freue sich, daß Schmid durch eigene Beiträge das Programm der Mitternachtssendungen bereichern wolle, in denen die „Besten der Nation“ die Möglichkeit erhielten, „ohne jeden nivellierenden oder einschränkenden Zwang“ über „wichtige Probleme der Kultur, des Lebens, der Weltanschauung“ zu sprechen. Schmids „kühnem und eigenwilligem Denken“ böte der Rundfunk einen wichtigen Resonanzboden. Gehöre er doch zu den wenigen, die in einer Zeit „kollektiven Drucks“ nicht auf ihre „geistige Freiheit“ und eine eigenständige „souveräne Betrachtungsweise“ verzichtet haben**. Unter der Ägide Frommels war ab Herbst 1933 wöchentlich freitags nach 24 Uhr beim Südwestfunk in Frankfurt eine Sendereihe mit dem Titel „Vom Schicksal des deutschen Geistes“ ausgestrahlt worden”. Die Verfasser der Beiträge waren anerkannte Gelehrte. Fast alle standen dem Denken Georges nahe. An den Sendungen, die allein schon wegen des späten Sendetermins sich nur an das Bildungsbürgertum richteten, beteiligten sich u.a.: Arnold Bergstraesser, Wilhelm Fränger, Ernst Kantorowicz, Fritz Klatt, Max Kommerell, Rene Koenig, Walter F. Otto, Kurt Riezler, Rudolf Stadelmann, Hans Joachim Schoeps. Literarische, philosophische und historische Themen waren ein bevorzugtes Medium, um Kritik am Nationalsozialismus zu tarnen. Es war ein „Kampf unter Masken“ ?°, bei dem es auf die Zwischentöne und die versteckten Botschaften ankam, die „allen Stillen und Bemühten im Lande zur Erbauung“ dienen sollten?”. Die Mehrzahl der Autoren waren entschiedene Gegner des Nationalsozialismus. Es gab aber auch einige, die Sympathien für das „Dritte Reich“ äußerten. Sie fungierten als Aushängeschild, um die Sendereihe vor dem Zugriff der NS-Zensoren zu bewahren. Selbst um Mitternacht mußte man mit kritischen Äußerungen überaus vorsichtig sein. Nachdem ab Frühjahr 1934 die Sendereihe vom Reichsfunk in Berlin ausgestrahlt wurde, mußte die Kunst der Camouflage noch verfeinert werden, denn das Berliner Rundfunkhaus wurde von den Nationalsozialisten weitaus strenger kontrolliert als das Frankfurter”®. Carlo Schmid erklärte sich trotz seiner „abgrundtiefe(n) Abneigung gegen den Rundfunk“ bereit, sich an den Mitternachtssendungen zu beteiligen – vor allem weil es ihn drängte, Frommel zu sprechen, und für ihn in „absehbarer Zeit keine Möglichkeit“ bestand, nach Berlin zu kommen „als auf Diäten“ 9. Frommel hatte angeregt, daß Schmid einen Vortrag über das Thema „Friedrich der Große und Rousseau“ halten solle. Uxküll hatte Frommel von den geistvollen und hochaktuellen Ausführungen seines Freundes zu diesem Thema berichtet, Carlo Schmid hätte es vorgezogen, über das Thema „Reichsidee und Völkerbundideologie an der Wende von Mittelalter und Neuer Zeit“ zu sprechen, mit dem er sich damals intensiv beschäftigte3°. Er hätte dann das Ideal des „Neuen Reichs“ der Wirklichkeit des „Dritten Reichs“ gegenüberstellen und zeigen können, daß die Reichsidee von den Nationalsozialisten pervertiert worden war. Frommel überredete ihn zu einem Vortrag über Friedrich
und Rousseau. Der andere Beitrag, der ihm so sehr am Herzen lag, sollte zu einem späteren Termin gesendet werden?“, Ende September mußte ihm Frommel zunächst eine bittere Enttäuschung bereiten. Er sollte zwar ein Vortragshonorar erhalten, aber die Fahrt nach Berlin könne vom Rundfunkhaus nicht bezahlt werden. Falls er für die Fahrtkosten nicht selber aufkommen könne, müsse er vom Rundfunkhaus in Stuttgart aus sprechen??. Schmid hatte sich so auf die Begegnung mit Frommel gefreut. Seine Mittel aber waren zu „beschränkt“, als daß er sich die „teure Reise“ hätte leisten können. „Ließen sich die Mittel für die Reisekosten nicht doch frei machen?“ 33 Sie ließen sich freimachen, und so konnte Schmid sich Freitag, den 16. November auf den Weg nach Berlin machen. Aufgeregt war er vor seinem ersten Rundfunkvortrag schon. Fünf Tage vor dem Vortrag bat er Frommel noch einmal um Auskunft, wie die ganze Sache denn ablaufen solle: „Wollen Sie mir schreiben, ob wir uns vor dem Vortrag sehen werden? Wo werden wir uns dann treffen? Und wenn Sie anders verfügt haben: wo und wie erfahre ich die Dinge, die man wissen muß, wenn man sich in der großen Maschine die Sie mitverwalten, zurechtfinden soll?“ 3+,. Frommel beruhigte ihn. Schon früher hatte er ihn gemahnt, das Niveau des Vortrags nicht zu hoch anzusetzen: „Denken Sie bei den Hörern immer an Abiturienten eines heutigen Gymnasiums oder Studenten eines ersten Semesters; und vergessen Sie nicht, daß dem Aufnehmenden nur Ihre Stimme, nicht einmal Ihre Gebärde oder Ihr Antlitz – geschweige denn ein Manuskript, gegeben ist. Der nicht verstandene Satz ist also völlig verloren, ein nicht faßbarer Begriff verwirrt das Ganze.“ 5 Alles klappte. Am 16. November zur Geisterstunde hielt er seinen Vortrag über „Friedrich und Rousseau oder Kunst und Natürlichkeit als staatsbauende Wirksamkeiten“ 3°. Was waren die Lehren des Vortrags? Welche versteckte Kritik am NS- ‚ Regime enthielt er? Schmid ergriff Partei für Friedrich den Großen gegen Rousseau, den er als Vorläufer völkischen Denkens verstanden wissen wollte. Rousseaus Denken interpretierte er als eine Absage an den Prozeß der Aufklärung, als einen Archaismus. Rousseau wolle das „Ur“ wiederherstellen und nehme dem Menschen und Staat alles, was „Geschichte und Geist ihm hinzugefügt haben“3 ”. „Das Volk Rousseaus findet sich. zusammen wie die Herde, es wird als natürliche Vergemeinschaftung durch Gleichheit der Sprache und Abstammung und willkürlichen Zulauf.“ 3® Aus einer solchen Vergemeinschaftung könne aber niemals eine Wertordnung hervorgehen. Der von Rousseau postulierte Allgemeinwille könne allenfalls in einer Schweizer Landgemeinde verwirklicht werden. In Großstaaten müsse er zu einem „gleichmachenden Kulturimperialismus“ führen. Friedrich den Großen dagegen pries er als roi philosophe, „der das Volk durch die Kultur für die Kultur erzogen hat“ °?. Die Aufklärung von oben durch ein absolutistisches Regime wurde von ihm idealisiert. Im Preußenstaat Friedrichs werde der Mensch nicht „determiniert“, sondern „geformt“, und so habe sich dort eine „schöpferische Toleranz“ entwickeln können. Recht offen trug er seine Kritik an der 1933 von den Nationalsozialisten verfügten Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vor. Friedrich habe ein Berufsbeamtentum geschaffen, „dessen innerer und äußerer Rang und Wert nicht durch Rechtgläubigkeit bestimmt werden, sondern durch die Haltung und das Können“*. Um diesen Seitenhieb zu verstehen, brauchte man kein besonders feines Gehör entwickelt zu haben. Die Botschaft des Vortrags war eindeutig: Ecrasez ’infäme! Man konnte sie nur mißverstehen, wenn man sich vom Preußenkult des NS-Regimes blenden ließ. Schmid zerbrach die Kontinuitätslinien zwischen preußischem Staat und NS-Regime, auf die sich die neuen Machthaber beriefen. Schmids Beitrag dokumentiert nicht nur seine oppositionelle Haltung gegenüber dem NS-Regime, sondern auch sein Verständnis des Nationalsozialismus als plebiszitäre Führerdemokratie. Seine Sympathie für den aufgeklärten Absolutismus, bei dem Geist und Macht noch eine Einheit bilden, äußerte er ganz unverhohlen. Eine Biographie über Richelieu hatte er schreiben wollen, aber unter dem NS-Regime war dies nicht möglich, und später hatte er keine Zeit mehr dazu. Aber zeit seines Lebens bewunderte er Richelieu als Begründer des französischen Nationalstaates und französischer Zivilisation, wobei er verschwieg, daß der Minister Ludwig XII. vor einem blutigen Staatsterrorismus nicht zurückschreckte, um seine Ziele zu erreichen®#. Schmids Idealisierung des aufgeklärten Absolutismus war Ausdruck seines Geistesaristokratismus, seiner Ablehnung der Massendemokratie, in der er die Hauptursache für das Aufkommen des Nationalsozialismus sah. Einen Teil der Beiträge zu den Mitternachtssendungen publizierte Frommel unter dem Titel „Vom Schicksal des deutschen Geistes“ in einem im Dezember 1934 erschienenen Auswahlband, in den er auch Schmids Beitrag aufnahm. Daß die getarnten Botschaften der Mitternachtssendungen verstanden wurden, beweist der reißende Absatz, den dieser Sammelband fand. Innerhalb von zehn Tagen nach dem Erscheinen waren 7000 Exemplare verkauft*. In Berlin war Schmid nicht nur Wolfgang Frommel begegnet, sondern auch Ernst Morwitz, der lange Jahre im engsten Umkreis um Stefan George gelebt hatte, später durch die Kommentierung und Interpretation von dessen Werk bekannt wurde®, und Ernst Kantorowicz, Kaiser-Friedrich- Biograph und enger Freund Woldemar von Uxkülls, dem die Biographie gewidmet war“. Morwitz und Kantorowicz waren Opfer der NSRassegesetzgebung. Kantorowicz hatte bereits im Frühjahr 1934 bei der Frankfurter Universität, an der er einen Lehrstuhl für Geschichte innehatte, ein Gesuch um Beurlaubung eingereicht, weil er es mit der „Würde
eines Hochschullehrers“ für unvereinbar hielt, daß er als „national gesinnter Jude“ seine „nationale Gesinnung“ schamhaft verbergen sollte#7. Schmid schätzte den geistigen Austausch mit Kantorowiez und Morwitz. Insbesondere sein Verhältnis zu Morwitz scheint sehr vertrauensvoll und offen gewesen zu sein#. Mit Kantorowicz teilte er die Verehrung für Dante, den Ahnherr des Neuen Reichs. Der um Frommel versammelte Kreis war ein Zentrum deutsch-jüdischer kultureller Zusammenarbeit in einer Zeit, als Juden rassisch verfemt und verfolgt wurden. Frommel ermöglichte es, daß Juden unter Decknamen sich an den Mitternachtssendungen beteiligen konnten. Das Honorar für diese Sendungen war für viele eine wichtige finanzielle Hilfe*. Zu Neujahr bedankte sich Frommel noch einmal bei Carlo Schmid. Es sei für ihn ein „beglückendes Erlebnis“ gewesen, „einem Menschen zu begegnen, der die gleiche Sprache spricht und in gleichen Verehrungen gebunden sein Leben so leidenschaftlich in den Dienst der neuen geistigen Ordnung gestellt hat“ 5°. Er müsse bald wieder nach Berlin kommen und in der Mitternachtssendung sprechen, denn nach dem unverhofften Verkaufserfolg der Beiträge sei ein neuer Band bereits in Vorbereitung. Frommel war voller Pläne. Er wollte eine weitere Sendereihe starten, die das breite Publikum erreichen sollte. Sie sollte wöchentlich, dienstags von 9.00 Uhr bis 9.15 Uhr ausgestrahlt werden. Konkrete Vorstellungen, wie diese „politische Pädagogik“ für „Ungebildete“ aussehen sollte, hatte er noch nicht. Schmid wurde um Vorschläge gebeten“. Obwohl Schmid durch eine schwere Rippenfellentzündung ans Bett gefesselt war, antwortete er geradezu begeistert eine Woche später in einem Handschreiben: „Ich finde Ihre Idee, politische Pädagogik in der beschriebenen Weise zu treiben, entzückend. Sie sind ein Springquell von Einfällen, lieber Freund! Was meinen Sie zu dem Gedanken, daß die klassische Eorm der Pädagogik seit Äsop die Fabel ist? Wir müssen darüber noch sehr viel reden und einander schreiben. Jetzt erlauben mir meine Kräfte noch nichts.“5? Zwei Monate später, als seine Kräfte wiederhergestellt waren, kam er nochmals auf seine Idee, die Fabel als Mittel politischer Aufklärung ztı benutzen, zurück. Sie sei für die politische Erziehung am geeignetesten, denn in ihr werde die „Norm des moralischen Menschen“ ausgesprochen. Auf die Fabeln La Fontaines könne man zurückgreifen, es sei allerdings möglich, daß das angesprochene Publikum nicht über genügend „esprit de finesse“ verfüge, um die Lehren zu verstehen. Auch Königsfabeln seien geeignet, er habe sich schon einige ausgedacht. Vermutlich müsse man aber nach der Erzählung der Geschichte die „gedanklichen Bezüge aussprechen und deuten“ °3. Carlo Schmid scheint sich nicht darüber im klaren gewesen zu sein, daß ein solches Aussprechen und Deuten die nationalsozialistische Zensur auf den Plan gerufen hätte. Die Äsopsche Sprache taugte kaum dazu, ein breites Publikum zu erreichen. Fabeln, die
jedermann verstehen konnte, verstanden auch die Zensoren des NS-Regimes. Gewiß, auch in der Frankfurter Zeitung bediente man sich der Fabel, um Kritik am NS-Regime zu äußern. Aber diese Zeitung wurde fast nur vom Bildungsbürgertum gelesen*. Kritik, die sich tarnen mußte, erreichte zumeist nur die Gleichgesinnten. Frommel und Schmid überschätzten die Leistungskraft politischer Pädagogik unter den Bedingungen eines totalitären Regimes, dem alle Mittel der Presse- und Rundfunklenkung zur Verfügung standen. Vermutlich kamen sie selbst zu dieser Einsicht. Die Sendung kam nicht zustande. Hellsicht und Verblendung über den Charakter des Nationalsozialismus lagen bei Schmid sehr nahe beieinander. Während er seinen Studenten gegenüber keinen Hehl daraus machte, daß Hitlers außenpolitisches Programm die europäische Staatengemeinschaft zerstören mußte’, hatte er andererseits die Hoffnung auf das „Neue Reich“ noch nicht aufgegeben. Als Frommel im April 1935 erkrankte, beeilte er sich, ihn zu ermahnen, seine Kräfte zu schonen, denn er sei einer der „wirkungsmächtigsten Hüter und Schürer der Flamme, Werkmeister, ohne den das Neue Reich nicht wird vollkommen erbaut werden können.“ 56 Gewiß, das „Neue Reich“ war kein politisches Imperium, sondern eine kulturelle und geistige Ordnung, auf deren Fundament Europa errichtet werden sollte. Aber woher nahm Schmid den Glauben an die Macht des Geistes in einer Zeit, in der der Ungeist bereits feste politische Wurzeln geschlagen hatte? In seinem nächsten Beitrag für die Mitternachtssendungen wollte Schmid sich eingehend mit der Reichsidee befassen, um ihren Mißbrauch durch die Nationalsozialisten aufzuzeigen und sie der „Völkerbundideologie“ gegenüberzustellen, die Anfang des 14. Jahrhunderts in Frankreich gegen die Reichsidee entwickelt worden sei. Dante, der Sänger des „Hohen Lieds“ der Weltmonarchie und Pierre Dubois, der erste „Berufspolitiker“ und „Völkerbundideologe“ wurden zu Antipoden aufgebaut”. Wie konnte ein Mann, der ein Verteidiger des Völkerbundes war, von „Völkerbundideologie“ sprechen? Wurde da nicht das nationalsozialistische Vorurteil genährt, daß Frankreich der ewige Verhinderer der Reichseinheit sei? In der Tat, wer bei diesem Vortrag nicht genau zuhörte, konnte meinen, Schmid sei zu einem Apologeten des nationalsozialistischen Geschichtsbildes geworden. Pierre Dubois’ zu Beginn des 14. Jahrhunderts entwickeltem Plan, die in Europa herrschende Anarchie durch einen Völker- bzw. Fürstenbund zu überwinden, erteilte Schmid eine radikale Abfuhr. Dubois’ Völkerbund sei nichts anderes als „die politische Form einer völligen Säkularisation des Daseins, ein Apparat zur Erweiterung des Anteils der Europäer an den Konsumgütern der Erde, ein Reich ungestörten genießenden Behagens (…) und ein Instrument zur Aufrichtung der Sachen und geistigen Vorherrschaft Frankreichs über das Abendland“ 5°, Schmid verurteilte den säkularen Machtstaat und den nationalen Imperialismus. Er sprach von Frankreich und meinte in erster Linie Deutschland. Ideologie, so führte er weiter aus, lebe „unter dem Banne der Vorstellung, daß die Verschiedenheit der Völker, die Andersläufigkeit ihres Schicksals und die Trennung schaffende Mannigfaltigkeit der Art sich darzustellen ein Fehler im Gefüge des Weltbaues“ sei?. Die Reichsidee dagegen gehe davon aus, „daß die Völker in ihrer Verschiedenheit notwendig seien, um den Reichtum des Menschenbildes vollkommen zur Darstellung kommen zu lassen (…).“ Schmid ging es darum, die rassisch und imperialistisch gewendete Reichsidee der Nationalsozialisten und deren Herrschaftsansprüche über Europa zu widerlegen. Das konnte er nur, wenn er bewies, daß der Ursprung des mittelalterlichen Kaisertums nicht germanisch war, wie die Nationalsozialisten behaupteten. Er zeigte, daß die mittelalterlichen Kaiser sich als „römische Kaiser“, als Erneuerer des Römischen Reichs verstanden, die ihre Macht direkt von Gott ableiteten. Als „vicarii Christi“ sei ihnen das Ziel aufgegeben gewesen, pax et justitia, Friede und Gerechtigkeit, zu verwirklichen. Sie hatten keine nationalistische, sondern eine heilsgeschichtliche Mission. Ihre Aufgabe war es, den „Weltplan Gottes“ zu erfüllen°‘. Bei seinen Ausführungen konnte er sich auf Percy Ernst Schramms Arbeit über Kaiser Otto III. „Kaiser, Rom und Renovatio“ und die Kaiser-Friedrich-Biographie Kantorowicz’ stützen. Beide hatten in ihren Studien ausführlich nachgewiesen, daß das mittelalterliche Reichsverständnis ein römisch-christliches und kein germanisches war. Daran anschließend versuchte Schmid deutlich zu machen, wie grundlegend verschieden Dantes Vision der Weltmonarchie von den nationalsozialistischen Bestrebungen einer Neuordnung Europas unter deutscher Vorherrschaft war. Bei Dante sei der Kaiser zum Philosophenkönig, zum „Philosophus Basileus“ geworden, der die „humanitas“ repräsentiere, das ‚ Menschengeschlecht und die dem Menschen aufgegebene Norm. Der Weltmonarch Dantes übe „die Herrschaft in der Welt nicht allein aus; er ist kein zentralisierender Tyrann, der die Völker nivelliert. Die Billigkeit und,die von Gott gewollte geschichtliche Verschiedenheit der Völker nach Art und geschichtlichem Werden fordern, daß die diese Verschiedenheit ausmachenden Eigentümlichkeiten der Nationen durch besondere Obrigkeiten und Fürsten herrschaftlich geordnet werden. Aber was jenseits aller partikulären Verschiedenheit und Eigenart der Gattung Mensch gemeinsam ist, und das ist für Dante alles, was den Rang des Menschen als Menschen bestimmt, ordnet des Kaisers Majestät, aus deren Hand die Fürsten das Leitgebot erhalten.“ % Dante war für Schmid der Prophet des „Neuen Reichs“, in dem ein europäischer Humanismus verwirklicht werden sollte. Mit der „Vision eines größeren, mächtigeren Deutschland“ 64 hatte die Utopie des „Neuen Reichs“ nichts zu tun. Deutschlands Mission war eine europäische.
Es hatte die Aufgabe, einem europäischen Humanismus zum Durchbruch zu verhelfen. Auch Schmid glaubte an die deutsche Kulturberufung. Wer den Gang der Geschichte kennt, mag diese Auffassung für politisch naiv halten. Schmid selbst betonte, daß Dantes Vision eines europäischen Humanismus wohl vorerst Utopie bleiben müsse. Doch er fügte hinzu: „Man hat gesagt, wie überlegen das realpolitische Denken des Dubois (…) der Utopie Dantes sei. Wir sind nicht davon überzeugt, daß, auch im Bereiche des Politischen, derjenige, der den Weg zum Erfolge weist, notwendig an geschichtlichem Range dem überlegen sei, der die Norm des Menschen bestimmt und sein Bild aufrichtet, fordernd, leitend, verdichtend.“°S Das konnte nur heißen: Laßt Euch von Hitlers Erfolgen nicht blenden. Der Beitrag wurde am ıı. Oktober 1935 gesendet. Die Hörer mußten schon genau zuhören, um Carlo Schmids Verherrlichung Dantes, den er 1931 noch als einen Apologeten des bereits untergegangenen mittelalterlichen Reichs bezeichnet hatte, und seine Verteufelung Dubois’ nicht als Apologie des NS-Geschichtsbildes mißzuverstehen. Aber die Hörer dieser Sendungen dürften ein sehr sensibles Gehör für Zwischentöne gehabt haben. Wer die Zwischentöne verstand, empfand Schmids Beiträge als „sehr mutig“ 67. Gewiß, das waren in der Regel Gleichgesinnte, die bereits in Opposition zum NS-Regime standen. Frommel plante, die Beiträge wieder in Buchform zu publizieren. Auch Schmids Beitrag sollte in den Auswahlband aufgenommen werden, von dem Frommel hoffte, daß er ähnlich reißenden Absatz finden werde wie der erste. Die Nationalsozialisten verboten das Erscheinen®®. Schmids Beitrag erschien 1937 in dem Sammelband „Aufsätze zur Geschichte der Antike und des Christentums“° und noch einmal 1938 als Separatdruck”°, Offensichtlich waren seine Äußerungen zu subtil, um von den Nationalsozialisten als Kritik am Regime erkannt zu werden. Schon zwei Monate nach seinem Vortrag über Dante und Pierre Dubois verfaßte er einen neuen Beitrag: Augustinus und Karl der Große. Wieder ging es um die Reichsidee und diesmal auch um den Begriff der Nation. Anhand des augustinischen Staatsverständnisses ließ sich der ethnische Nationsbegriff des NS-Regimes kritisieren. Hatte doch Augustinus den Staat nicht mehr als eine Stammesgemeinschaft verstanden, sondern als eine Personengemeinschaft, als eine „Gemeinschaft von Menschen, die durch gemeinsames Wertstreben verbunden sind“7′. Das sei, so Schmid, ein ganz neues Verständnis von Nation gewesen. Denn erstmals wurde der „Rang eines Volkes“ nicht mehr durch die „fatalistische Scheidung der Völker in Barbaren und Römer“ bestimmt, sondern durch den „Rang der Güter, auf die es sein Eros wirft“72. Das zeigte, wie archaisch im Grunde das Denken der Nationalsozialisten war. Dagegen war Karl der Große ein geradezu moderner Mensch. Er hatte sich den Grundsatz zu eigen gemacht: „Recht“, nicht „Diktat“. So ließ er auch die „Volkrechte“ der unterworfenen Sachsen aufzeichnen?3, Schmids Kritik am NS-Regime war diesmal nicht sublim versteckt. Er schlug mit dem Holzhammer zu. Augustinus, so führte er in seinem Vortragsmanuskript aus, habe den „Caesaropapismus“ seiner Zeit beschrieben als einen „Staat, der sich, zum weltverschlingenden Untier geworden, vergottete, sich in einem Fürsten verkörperte, der den Anspruch erhäbe, in seinem So-Sein als lex-animata-Verleibung der Norm angesehen zu werden, der damit sein jeweiliges Dasein zu einem Sollen, das die Menschen binde, hinaufsteigerte, und dadurch, daß er sich selbst als letztes Ziel bejahte, den Grund zur Herrschaft des Bösen in der Welt setzen mußte.“ 7* Selbst dem Dümmsten der NS-Zensoren konnte nicht entgehen, wer da gemeint war. Schmid verband seine Ausführungen mit scharfen Vorwürfen gegen die Intellektuellen, die sich in die machtgeschützte Innerlichkeit geflüchtet hatten und der Konsolidierung des NS-Regimes tatenlos zusahen. Er tat dies, indem er sich mit den „radikalen geistigen Bewegungen“ des frühen Mittelalters auseinandersetzte, die den Staat zum „corpus diaboli“ erklärten, so daß ihnen „alles Sich-Ausrichten auf den Staat überhaupt, nicht nur auf eine bestimmte Erscheinungsform des Staates als Teufelswerk erscheinen mußte“.75 „Seltsam: auch die Epikureer lehrten Ähnliches. Vielleicht ist literarisches Asketentum immer eine Form des Epikureismus.“ 7° Härter hätte er die Kritik an den Intellektuellen kaum formulieren können. Er hatte wohl gehofft, daß die Mitternachtssendungen die Intellektuellen und das Bildungsbürgertum aufrüttelten, so daß sie sich geschlossen dem Nationalsozialismus entgegenstellten. Aber diese Hoffnung war genauso illusorisch wie die Ansicht Thomas Manns, daß es Aufgabe der Intelligenz gewesen wäre, 1933 den Generalstreik zu erklären und das Land zu verlassen’”. «, Carlo Schmids Vortrag wurde nicht gesendet. Frommel sah Ende 1935 keine Möglichkeit mehr, die Sendereihe weiterzuführen, ohne daß aus Kompromissen eine Kompromittierung wurde. Nachdem die Sendereihe im Ausland starken Zuspruch gefunden hatte, verschärften die Nationalsoziali$ ten ihre Kontrollmaßnahmen und ordneten eine teilweise Vorzensur der Sendebeiträge an. In ihren Augen waren die Mitternachtssendungen „weltanschaulich unbedingt eine Gefahr für den Nationalsozialismus“ 7®,. Auch eine getarnte Opposition war nicht mehr möglich. Aus Camouflage hätte Apologie werden müssen. Schmid konnte froh sein, daß sein Beitrag nicht gesendet wurde. Die Ohrfeige, die er den Nationalsozialisten hatte verabreichen wollen, wäre wohl kaum ungestraft geblieben. Sein Mut war schon fast Leichtsinn. Es mag der Mut der Verzweiflung gewesen sein. Auf eine geschlossene Opposition, die den Nationalsozialismus in absehbarer Zeit zu Fall bringen würde, war nicht mehr zu hoffen.
Der Druck der Anpassung auf die Verweigerer nahm zu. Die um Wolfgang Frommel versammelte „Runde“ löste sich auf. Ein Teil der Mitglieder emigrierte 1936. Frommel folgte ihnen ein Jahr später. Er ging zunächst nach Basel, wo der Verleger Benno Schwabe den mittellosen Flüchtling aufnahm. Schon bald wieder steckte er voller Pläne und Entwürfe. Eine Zeitschrift des Europäischen Humanismus, die den Titel „Argo“ tragen sollte, wollte er ins Leben rufen”®. Schmid sagte seine Mitarbeit zu. Er hatte dafür eine 70 Schreibmaschinenseiten umfassende Kurzausgabe und Kommentierung der Werke Platons zusammengestellt, deren Zweck er in der Einleitung zu dem Kommentar umschrieb: „Der Titel ‚Kurzausgabe‘ soll andeuten, daß wir nicht eine bloße Auslese aus Platons Werk bringen wollten, sondern das Ganze, aber mit Verzicht auf alles, was zum Verständnis der Platonischen Philosophie nicht notwendig ist, um durch diese Zusammenfassung dem modernen Leser die Kenntnis des tiefsten Denkers der Antike zu ermöglichen und zugleich die Übersicht zu schaffen, die zum Aufbau seines Systems erforderlich ist.“ 8° Im George-Kreis galt Platon als ein Wahrheitssuchender, der in der Reihe der großen Dichter und Denker an vorderster Stelle stand. Er war der Philosoph des Eros, sein Lehrer Sokrates der Erfinder der Dialektik. So wollte auch Schmid die Philosophie Platons verstanden wissen. Die Rede Diotimas über den Eros in Platons Symposium gehörte zu seiner Lieblingslektüre®‘. Er wehrte sich heftig dagegen, platonische Liebe im landläufigen Sinne zu begreifen. Die platonische Liebe sei „keineswegs platonisch“. Es handle sich bei ihr nicht um eine rein geistige Liebe, sondern um die Sublimierung der Erotik zum Eros, den er als eine „Art göttlichen Wahnsinn“ begriff®?. Er transzendiert die bloß instrumentelle Vernunft. Durch die sokratische Dialektik werde „Scheinweisheit“ erschüttert – eine Aufgabe, die die formale Logik nicht zu leisten vermag, weshalb Platon keinen Wert auf sie gelegt habe. Bei dem „Spiel“ der Dialektik füllten sich die „Seelen mit TIrunkenheit“, hatte Nietzsche in der „Morgenröthe“ geschrieben®3, Schmid zitierte Sokrates’ provokatives Eingeständnis: „Ich weiß, daß ich nichts weiß.“®4+ In ihm komme „die Bescheidenheit des ewig Suchenden, des Jägers nach Weisheit“ ebenso zum Ausdruck wie der „unsagbare Hochmut der kritischen Vernunft“. Schmids Interesse an Platon war nicht nur wissenschaftlicher Natur. Auch er war auf der Suche nach Wahrheit und auf der Suche nach seinem Selbst. In dem platonisch-aristokratischen Menschenbild fand er sich wieder.
In seiner Platon-Ausgabe beschäftigte er sich nicht nur mit dem philosophischen, sondern auch mit dem politischen Werk Platons, dessen Interpretation ihm erneut Anlaß gab, das nationalsozialistische Herrschaftssystem zu attackieren. War Platons „Politeia“ nicht eine Vorform des NS-Regimes? Dort werde ein Staat als der absolut „richtige“ anerkannt, während alle anderen Staaten zu „Nichtstaaten“ erklärt würden. In einem solchen Staat könne es nicht ausbleiben, daß „Gerechte“ zu „Märtyrern“ werden mußten°S. Sokrates’ „Opfertod“ wurde von ihm zu einer Art Steinigung des Weisen durch die Masse stilisiert. Platon hatte in seinen politischen Werken den Zusammenhang von plebiszitärer Demokratie und Tyrannis betont“. Schmid konstruierte, auf Platon aufbauend, einen Zusammenhang von „Massendemokratie“ und „Polizei- oder Führerstaat“ 7. Diesmal benutzte er die antike Tyrannislehre zu einer Verurteilung des Nationalsozialismus als plebiszitären Führerstaat. Der Tyrannis stellte er wieder das Ideal des Philosophenkönigs entgegen, wie es Platon im „Politikos“ gezeichnet hatte. Platon hatte dort die Auffassung vertreten, daß sich das Königtum von der Tyrannis dadurch unterscheide, daß es die Einheit von Philosophie und absoluter Macht verkörpere®®. Schmid fand hier die theoretische Untermauerung für sein geistesaristokratisches Ideal einer Einheit von Macht und Geist. Auch das Platon-Manuskript mußte Schmid in die Schublade legen. Die Zeitschrift „Argo“ blieb ein „großangelegter Entwurf“, u.a. deshalb, weil Frommel auf die Mitarbeit seiner jüdischen Freunde und Bekannten aus Rücksichtnahme auf die Verkäuflichkeit der Zeitschrift in Deutschland hätte verzichten sollen°®. So blieb Schmids Arbeit eine Arbeit der Selbstvergewisserung und Selbstbestätigung. Frommel ging über Italien und Paris nach Amsterdam, wo er während des Kriegs in einem Haus in der Heerengracht jüdische Kinder und Verfolgte vor dem Zugriff der Gestapo bewahrte”°. Percy Gothein, der andere Mitbegründer der „Runde“, kam 1944 im KZ Neuengamme ums Leben. Frommels Lebenslauf und der vieler anderer Mitglieder der um ihn versammelten „Runde“ dokumentieren eindrücklich, daß die Anhänger Stefan Georges nicht in die Ahnenreihe der Nationalsozialisten gehören. Die „Runde“ glich eher einem „Konventikel der Verfemten“, das George nach einem Wort Adornos dem mondänen Salon, in dem Hitler zur Hoffähigkeit gelangte, vorgezogen hat?‘. Im Sommer 1935 hatte sich der Kreis ein letztes Mal getroffen. Man hatte sich zurückgezogen in ein abgelegenes Landhaus in Saass in den Graubündener Alpen, „um dort einen Nu der Selbstbesinnung zu gewinnen im Lawinensturz der politischen Ereignisse“ ?*. Schmid folgte der Einladung nach einigem Zögern. Gerade erst hatte sein jüngster Sohn Raimund das Licht der Welt erblickt. Und wann sollte er denn mit der Familie zusammen sein, wenn nicht in den Ferien??3 Schließlich reiste er zusammen mit Hans und Martin doch in das Landhaus nach Saass, wo man sich täglich in Dantes „Göttliche Komödie“ versenkte. Er las, übersetzte und kommentierte die Verse des Dichterpropheten, der ihn sein ganzes Leben nicht mehr losließ. Wozu Dichtung in Zeiten der Wirren? Dante, der verbannte Dichter, wurde zum Vorbild für die vom Nationalsozialismus Verfemten. Die Utopie des „Neuen Reichs“ stärkte den Widerstandswillen gegen das „Dritte Reich“. Ohne diese Utopie wäre die Last des Widerstandes kaum zu tragen gewesen. Dichtung und Leben verschmolzen zur Einheit. Dichtung gewann existentielle Bedeutung. Das geringe Verständnis, das wir heute für eine solche Auffassung von Dichtung aufbringen, zeugt vom kulturellen Wandel, der sich in Deutschland nach 1945 vollzog. Carlo Schmid kam immer wieder auf Dante zurück. Er verehrte ihn nicht nur als Urahn des Neuen Reichs, sondern auch als einen Dichter und Philosophen, der die Höhen und Tiefen menschlicher Existenz in Sprache gefaßt hatte. Dantes „Göttliche Komödie“ las er als eine comedie humaine. Mehr als 170 eng beschriebene Schreibmaschinenseiten umfaßt sein Kommentar zu Dantes Terzinengesang?*. Weil ihm Dantes Minnedichtung „Vita Nova“ der Schlüssel zu dessen ganzem Werk zu sein schien, übertrug er zunächst diese teils in Prosa, teils in Versform verfaßte Erzählung vom Italienischen ins Deutsche?’. Sie handelt von der Liebe des Dichters zu Beatrice, die ihm den Weg zur Seligkeit weist. Eine Veröffentlichung im Insel-Verlag war geplant, kam aber nicht zustande‘. Auch die Übersetzung des Purgatorio aus Dantes „Göttlicher Komödie“ blieb unveröffentlicht. Ernst Kantorowicz, mit dem Schmid seinen Dante-Kommentar besprach, bescheinigte ihm, daß er den „Schlüssel“ zum „Dante- Zugang“ gefunden habe?”. Für Schmid war Beatrice neben Dante die Hauptgestalt der „Göttlichen Komödie“: „Erst Beatrice wird Dante die Fülle künden können, nämlich die Liebe, die zum Glauben gehört, daß man über den geliebten Menschen Gott liebt.“%® Schmid wandte sich gegen Deutungen, die in Beatrice eine bloße Allegorie sehen wollten. Dante habe Beatrice in die „Körperwelt“ hineingestellt. „Wer (…) sie liebt, richtet sein Eros auf das höchste Bild, erreicht (…) durch es hindurch das höchste Ziel.“ 9 Die Minne war Schmids Interpretation zufolge nichts anderes als der platonische Eros!”, Im Purgatorio ist die „Erotik als Vorstufe zum Eros die Schwelle zum irdischen Paradies“: „Hier ist eine schöne Atmosphäre und Lieblichkeit des Bereichs, der Ort der Künstler. Was reinigt ist die Flamme des Eros.“! ! Carlo Schmid kam immer wieder auf die platonische Idee des Eros zurück, die wohl für ihn auch ein Stück Selbsterkenntnis und -rechtfertigung war. Thomas Mann nannte den Künstler eine „Mischlingsnatur aus Geist und Sinnlichkeit“ ‚”,. Das war auch Carlo Schmid. Dante, der Dichter, wird im Paradies der „göttlichen Wesenheit“ teilhaftig, von der er in seiner Dichtung kündet’%. Die Vergeistigung des Unbewußten, des Triebhaften war Schmids Kommentar zufolge das große Thema von Dantes comedie humaine. Die Erfahrung der Schönheit bereitet den Weg zu menschlicher Vervollkommnung. Ästhetische Erziehung sollte das Neue Reich vorbereiten. Schmid träumte einen typisch deutschen Traum, aber mit dem „Dritten Reich“ hatte seine Vision des Neuen Reichs nicht das geringste zu tun.
Die Übersetzungen scheinen verlorengegangen zu sein. Kantorowicz bewunderte die Übertragungen, die Schmid mit „viel größerem Wortschatz und tieferer Kenntnis“ unternommen habe als seine Vorläufer’%. Zu den Vorläufern gehörte auch Stefan George. Schmid scheint sich vom Vorbild Georges freigemacht zu haben. Ihm kam es bei seinen Übersetzungen darauf an, ein Beitrag zur Erneuerung der deutschen Sprache zu leisten’®%, Daß sie nicht publiziert wurden, mag ihn geschmerzt haben. Er hatte durchaus den Ehrgeiz, sich in der literarischen Welt einen Namen zu machen.
Auch sein 1937 verfaßtes „Römisches Tagebuch“ konnte Schmid erst nach dem Krieg veröffentlichen’®. Es war dem Freunde Woldemar von Uxküll gewidmet’°” und ganz der Sprache und dem Geist Stefan Georges verpflichtet. Vierzehn Tage nur dauerte der spätsommerliche Romaufenthalt Carlo Schmids und seiner Frau, ein Aufenthalt, der mit dem Besuch zahlreicher Museen und historischer Stätten ausgefüllt war. Schmid hat keine Erzählung über eine italienische Reise geschrieben wie Goethe, der sich an der Ausgelassenheit und dem Treiben des römischen Karnevals erfreute. Allenfalls mit Jacob Burckhardts „Cicerone“ läßt sich das Tagebuch vergleichen. Burckhardt wie Schmid waren fasziniert und hingerissen von den Idealbildungen griechischer Bildniskunst. Burckhardts „Cicerone“ jedoch war ein Kunstführer, der die großen Werke der italienischen Malerei ebenso kenntnisreich beschrieb wie die Werke der Skulptur und Architektur. Schmids „Römisches Tagebuch“ war ein Erziehungsbuch, das die ideale Griechheit zur „Norm des Seins“ stilisierte, ein in einem kaum zu überbietenden Pathos geschriebener Hymnus auf Glanz und Gröfßge der Antike, eine Huldigung an die „Verleibung des Genies“ ‚ in der griechischen Marmorskulptur’°®. Die Betrachtung der griechischen Marmorskulptur rief bei Schmid ein Verdikt über die eigene Zeit hervor, die die „Wunder der Welt ängstlich und vermessen zugleich auf die Maße unseres ärgerlichen Verstandes verminder(t)“ ‚®. Schmid ging mit den Augem Nietzsches und Stefan Georges durch die Museen Roms. In seiner Begeisterung für den griechischen Heroismus geriet auch ihm die christliche Religion zu einer Sklavenmoral. So äußerte er beim Anblick der Hera Barberini völlig ergriffen: „Welcher Bruch muß in den Menschenherzen sich ereignet haben, daß sie angesichts solchen Götterbildes, dessen Anblick uns ausrufen läßt: ‚nun ist die Welt vollkommen‘, eine Religion der Entwertung der Erde und der Erlösung von ihr herbeirufen mußten! Es geschah, weil einem Blitze gleich der Gedanke aufzuckte: auch solches muß sterben! Dies vermochten sie nicht zu ertragen (…)“'““. Nicht nur über die christliche, auch über die römische Kultur äußerte sich Schmid eher abschätzig. Die römischen Bildnisse seien doch meist nur Darstellungen der „Tugenden des häuslichen Lebens“, aber nicht mehr Vergegenwärtigungen von „Schönheit und Genius““‘. Der römische Staat sei der griechischen Polis unterlegen, denn in ihm gebe es nur „Tüchtigkeit und nicht Größe, Sieg und Erfolg und nicht Vollendung und Ruhm“ “?, Keine andere Arbeit Schmids ist so geprägt vom Einfluß Nietzsches und Georges wie das „Römische Tagebuch“. Er hoffte allen Ernstes, daß der Anblick der griechischen Heroen- und Götterbilder den Menschen verwandeln könne“3. Fast mit Verachtung sprach er von den Menschen, mit denen er in Rom den Weg kreuzte: „Aber das Auge sieht, wenn es heute aufschaut, statt der edlen Weisen seiner Träume die Rudel des verängstigten Volkes, das stöhnend inne wird, daß noch viel Arbeit seiner wartet. Nur selten ragte eine Stirne hervor, auf der ein Leuchten war.“ “* Odi profanum vulgus et arceo — ich hasse das gemeine Volk und schranke mich ab. Die Worte Horaz’ könnten als Leitspruch dem „Römischen Tagebuch“ vorangestellt werden. Er verachtete das Vulgäre, die Massendemokratie, die er mitverantwortlich für die Durchsetzung des NS-Regimes machte. Auch in seinem „Römischen Tagebuch“ hatte Schmid keinen Hehl aus seiner Ablehnung des Nationalsozialismus gemacht. Das war auch der Grund, warum es nicht gedruckt werden konnte. Man mag Schmids Geistesaristokratismus bedauern. Schmid wäre nicht zu dem geworden, der er wurde, ohne den prägenden Einfluß der Geisteswelt Georges. Noch 1972 schrieb er Wolfgang Frommel: „Du hast Glück verbreitet und Glück gebracht – auch mir.“!!5 Schmid hatte erstmals Menschen gefunden, die ihn verstanden: Uxküll und Frommel. Er fühlte sich nicht mehr verloren und orientierungslos. Die Utopie des Dritten Humanismus war extrem elitär, aber aus ihr wuchs auch die Kraft und die Verpflichtung zum Widerstand gegen das NS-Regime. „Der Mensch darf (…) nie vergessen, daß er als Atlas geboren ist“, schrieb Schmid 1943 seiner Frau“®, Schmid war kein Atlas, der das Himmelsgewölbe trug. Er war sensibel und drohte unter der Last des Lebens schon fast zusammenzubrechen. Ernst Morwitz hatte er gebeichtet, daß er stetig mit sich selbst kämpfe, um den Anforderungen, die er an sich stelle, gerecht zu werden’’7. Er kämpfte mit sich, weil er sich den Normen des Dritten Humanismus verpflichtet wußte. So wurde er kein Mitläufer wie so viele andere. Er fühlte sich herausgefordert in jeder Beziehung. Seine literarische Produktion in jenen Jahren war enorm, wenn man bedenkt, daß ihm hierfür nur die Mußestunden blieben. Seinen Lebensunterhalt mußte er sich noch immer als Landgerichtsrat mit dem Abfassen von Gerichtsurteilen verdienen. Als Privatdozent an der Tübinger Universität hatte er Studenten zu belehren und schließlich war er ja auch noch Familienvater. Der Druck der Anpassung nahm zu und damit auch die eigene Gefährdung und die Sorge um die Familie,
Immunisierung gegen den Nationalsozialismus
Die nationalsozialistische Gleichschaltung erfolgte in Tübingen fast lautlos. Die bürgerlichen Honoratioren hatten sich vom Feindbild Marxismus blenden lassen und erhofften sich von der NSDAP die nationale Einigung gegen den Bolschewismus. In der Reichstagswahl vom s. März 1933 erreichte die NSDAP fast so% der Stimmen, SPD und KPD zusammen nicht einmal 17%“. An der Tübinger Universität hatte die Mehrheit der Professoren und Dozenten die nationalsozialistische Machtergreifung begrüßt. Angesichts der herausragenden Rolle, die die Alma mater in der Kleinstadt spielte, kam ihrer Zustimmung zum neuen System fast Signalwirkung zu. Letzte Zweifel und Vorbehalte, die in der Bevölkerung noch gegenüber den neuen Machthabern vorhanden waren, wurden ausgelöscht, zumal es in Tübingen vor 1938 kaum zu Übergriffen und Terrormaßnahmen kam. Juden und Sozialdemokraten in öffentlichen Stellungen, die von politischen Säuberungen betroffen waren, gab es nur wenige?. Nachdem die KPD bereits nach dem Reichstagsbrand in die Illegalität getrieben worden war, erfolgte im Juni 1933 auch die formale Auflösung der SPD. Die meisten Sozialdemokraten zogen sich zurück, blieben der sozialdemokratischen Solidargemeinschaft, in der sie Rückhalt fanden, treu, knüpften aber keine Widerstandsnetze. Größere politische Widerstandszirkel gab es in Tübingen nicht. Es blieb bei symbolischen Gesten der Verweigerung. So entzog man sich beispielsweise der offiziellen Grußpflicht, die „Heil Hitler“ lautete und durch Erheben des rechten Armes zu leisten war, durch das Lüften des Hutes. Auch Carlo Schmid, der vor 1933 selten einen Hut getragen hatte, sah man nun fast nur noch mit Hut. Er wollte seine Opposition gegenüber dem Nationalsozialismus sichtbar zum Ausdruck bringen? – eine Geste, die von den Gleichgesinnten ebenso verstanden wurde wie von den NSFunktionären, die anordneten, daß diejenigen, „die beharrlich einen ihnen gebotenen deutschen Gruß durch Lüften des Hutes zu beantworten pflegen (…), aus der Liste der zu Grüßenden (zu) streichen“ seien. Schmid war als Gegner des Nationalsozialismus in Tübingen bekannt, Bereits 1933 war seine beim Landgericht Tübingen angelegte Personalakte mit einem Beförderungssperrvermerk versehen worden’. Rückhalt fand Schmid bei Landgerichtspräsident Landerer, der kein Anhänger des neuen Regimes war. Er hatte 1933 die Wiederzulassung des renommierten jüdischen Rechtsanwaltes Heinz Hayum beim Landgericht Tübingen durchgesetzt, der dort noch fast zwei Jahre seine Mandanten vertreten konnte, bis er Ende 1934 aus Mangel an Klienten seine Anwaltspraxis schließen mußte°. Landerer sorgte dafür, daß Schmid nur Urteile in Zivilprozessen zu verfassen hatte, wo die politische Beeinflussung und der Druck nicht so stark waren wie in der Strafjustiz. Das heißt nicht, daß es keine Versuche von Parteistellen gab, auch auf das Zivilreferat politischen Druck auszuüben. 1934 wehrte sich Schmid mit Erfolg gegen ein gesetzwidriges Eingreifen des Gauleiters von Württemberg, Murr, in einen Zivilprozeß. Murr vergaß ihm diese Zurückweisung nie. Ein Urteil, das Schmid in einem Zivilprozeß verfaßte, in den ein Jude verwickelt war, löste einen „wüsten Angriff“ nationalsozialistischer Parteistellen auf das Tübinger Landgericht aus, dem vorgeworfen wurde, eine „Zitadelle judenfreundlicher Justiz“ zu sein’. Schmids Unnachgiebigkeit gegenüber Pressionsversuchen nationalsozialistischer Parteistellen gefährdete seine eigene Stellung. Bereits 1934 scheinen einige regionale Parteifunktionäre darauf gedrungen zu haben, ihn auf der Grundlage des 1933 erlassenen Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom Dienst zu suspendieren®. Ende 1936 hatte Landgerichtspräsident Landerer eine Beurteilung über Schmid abzugeben. Er formulierte sie so geschickt, daß sie zu einer Ohrfeige für die Nationalsozialisten wurde: „Schmid vereinigt ausgezeichnete juristische Fähigkeiten mit hervorragender allgemeiner Bildung. Seine Entschlußfreudigkeit gepaart mit Verantwortungsbewußtsein und einer großen Arbeitsfreude, Arbeitskraft und Einsatzbereitschaft ermöglichen ihm trotz seiner sehr fruchtbaren Nebenbeschäftigung als Privatdozent für Völkerrecht und als Beisitzer des Versorgungsgerichts seinen Pflichten im Hauptberuf jederzeit in vollem Umfang nachzukommen. Sein Wahrheitssinn, seine Gerechtigkeitsliebe und seine Pflichttreue stehen außer Zweifel. Sein scharfer Verstand und sein geschichtliches Wissen befähigen ihn zu mannhafter ehrlicher Kritik, die schwächere Geister beunruhigen mögen.“? Ein solches Gutachten mußten die zuständigen Parteistellen mit Grollen lesen. Wenn sie sich nicht als die „schwächeren Geister“ zu erkennen geben wollten, mußten sie das Gutachten schweigend hinnehmen. Carlo Schmid konnte von Glück reden, daß Landerer sich mit der ganzen Kraft seiner Person hinter ihn stellte. Die regionalen Parteistellen hätten ihn lieber heute als morgen aus dem Landgericht hinausgeworfen. Auch am Tübinger Landgericht war schon bald nach 1933 die Mehrzahl der Richter der NSDAP beigetreten. Die Landgerichtsdirektoren Kautter, Kohler und Bosch waren überzeugte Parteiaktivisten und Propagandisten nationalsozialistischer Weltanschauung!’®. So entstand auch am Landgericht ein Klima des Mißtrauens und gegenseitiger Verdächtigung. Nur drei Richter waren nicht Mitglied der NSDAP: Biedermann, Victor Renner und Carlo Schmid“, der sich mit dem Pfarrersohn Victor Renner in enger Freundschaft verbunden wußte. Sie trafen sich auch außerhalb des Gerichts, zumeist in der Weinstube Waiblinger, wo man sich ungestört unterhalten konnte, wenn .nicht gerade Kreisleiter Rauschnabel hinzustieß. Dem Druck der Anpassung konnte keiner ganz entgehen. So wurde auch Schmid im August 1933 Mitglied des Bundes Nationalsozialistischer
Deutscher Juristen. Hätte er es abgelehnt, hätte er aus der Universität ausscheiden müssen. Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Tübingen schloß sich zu dieser Zeit korporativ der Akademie für Deutsches Recht und der nationalsozialistischen Juristenorganisation an‘?. An fast allen Landgerichten erreichte der NS-Richterbund einen fast 100% Organisationsgrad, zumindest im höheren Dienst’’. Im Juni 1934 meldete sich Schmid auch für die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) an. Die politische Gefährdung hatte zugenommen, und er brauchte ein Feigenblatt. In die NSV traten viele ein, die auf keinen Fall Parteimitglied werden wollten, aber sich auch nicht gänzlich distanzieren konnten. Es dauerte fast drei Jahre, bis dem Aufnahmeantrag Schmids entsprochen wurde’*. Offensichtlich wollte man ihn auf diese Weise zwirıgen, doch Parteimitglied zu werden. Aus seiner Ablehnung des Nationalsozialismus machte Schmid auch in seinen Lehrveranstaltungen an der Universität keinen Hehl, obwohl er dort kaum Kollegen und Studenten fand, die seine oppositionelle Einstellung teilten. Bereits am 28. Februar 1933 hatten so der ı71 Professoren der Tübinger Universität und eine nicht minder geringe Anzahl von Privatdozenten und Assistenten eine Erklärung unterzeichnet, in der sie dem NS-Regime ihr Vertrauen aussprachen. Die Ergebenheitsadresse an die neuen Machthaber war auch von dem Direktor des Seminars für Völkerrecht, Hans Gerber, und dem späteren Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, Hans-Erich Feine, unterschrieben worden’S. Im April 1933 wurde der Germanist Gustav Bebermeyer, ein Anhänger der DNVP, zum „Beauftragten mit besonderen Vollmachten an der Universität“ ernannt. Im Oktober 1933 wurde an der Universität das Führerprinzip eingeführt’°. Zu politischen Säuberungen kam es kaum, weil es die Universität schon vor 1933 vermieden hatte, – Sozialdemokraten an die Universität zu berufen. Seit 1931 gab es im Lehr- ‘körper der Universität auch keinen Juden mehr. Die geringe Prozentzahl der Entlassenen war alles andere als ein Indiz für die Zurückhaltung der Universität gegenüber den braunen Machthabern, die bei öffentlichen Veranstaltungen geradezu hofiert wurden. Selbst der mit Schmid befreundete Rektor der Universität, Paul Simon, begrüfste am ı. Mai 1933 den „Tag der Arbeit mit Freuden“, „an dem das deutsche Volk mit neuer Hoffnung und mit jugendlichem Willen zur Einheit der nationalen Gesinnung zusammengeschlossen ist“ ‚7. Schmid blieb der Veranstaltung fern, obwohl alle Universitätsangehörigen aufgefordert worden waren, daran teilzunehmen“®. Ein halbes Jahr später beglückwünschte die Universität Hitler zum Austritt aus dem Völkerbund’”. Sie schloß sich der herrschenden Stimmung an, die eine Politik der harten Hand forderte. Carlo Schmid hielt diesen Schritt für töricht. Schon im Sommersemester 1933 hatte er seinen Studenten gelehrt, daß der Austritt aus dem Völkerbund der Weg in die Selbstisolierung Deutschlands sei. Keiner könne „den Kampf dadurch gewinnen, daß er den wesentlichen Kampfplatz, den es gibt, verläßt“”°. Der Völkerbund sei eine „politische Realtität“, der sich keine Macht entziehen könne. Seine Studenten konfrontierte er mit der rhetorischen Frage: „Wo anders wollen wir um die Durchsetzung unserer Ansprüche kämpfen als da, wo die empirische Politik gemacht wird?“ * Noch sprach er nicht offen aus, daß jeder andere Weg der Interessendurchsetzung nur ein Weg der Gewalt sein konnte. Bald schon wurde er deutlicher. Schmid bot auch nach 1933 jedes Semester Lehrveranstaltungen zur Außenpolitik und zum internationalen politischen System an”. Er behandelte aktuelle politische Themen und flüchtete nicht wie so viele auf politisch unverfängliches wissenschaftliches Terrain. Er griff auf seine Vorlesungsmanuskripte aus der Zeit vor 1933 zurück und ergänzte sie durch die Darstellung der neuesten politischen Entwicklung. Freilich, es wäre selbstmörderisch gewesen, ganz offen auszusprechen, was man dachte und meinte. Doch wenn man es geschickt anpackte, konnte man unter Berufung auf die Verpflichtung zu sozialwissenschaftlicher Objektivität seine eigene Stellungnahme zum politischen Geschehen durchblikken lassen.
Im Sommersemester 1934 las Schmid über die Abrüstungs- und Sicherheitspolitik der letzten zehn Jahre. Er skizzierte die internationale Entwicklung, Deutschlands Streben nach Gleichberechtigung, das in der Fünf-Mächte-Erklärung vom ıı. Dezember 1932 Anerkennung gefunden habe. Die nunmehr notwendige Sicherung des Friedens sei nur durch die „Beschränkung der militärischen Souveränität“ zu erreichen. Deshalb verlangten alle Staaten die Rückkehr Deutschlands zum Völkerbund. Auf ein kollektives Sicherheitssystem nach dem Modell der Genfer Protokolle von 1924 hoffe niemand mehr. Es sei daher der Vorschlag gemacht worden, durch ein System von „Garantiepakten regionalen Gepräges“ den Frieden zu sichern. Der Locarno-Vertrag solle durch ein Ostlocarno und einen Mittelmeerpakt ergänzt werden, wobei England Vorbehalte gegen ein Ostlocarno angemeldet habe”. Schmid ließ seine Sympathie für die englische Strategie eines general settlement durchblicken. Aber war diese Strategie auch mit Hitlers Außenpolitik vereinbar?
Die britische Regierung suchte Hitler für ein Nichtangriffspaktsystem und Rüstungsvereinbarungen zu interessieren, weil sie gegenüber einem wiedererstarkten Deutschland Sicherheitsgarantien wollte. Dafür war sie sogar bereit, auf ein Ostlocarno zu verzichten**. Sie glaubte an den Verhandlungswillen Hitlers, der Anfang 1934 seine Bereitschaft bekundet hatte, den Locarnopakt zu akzeptieren. Hitler bediente sich einer „Strategie grandioser Selbstverharmlosung“, um vorzutäuschen, daß seine Außenpolitik mit der der anderen europäischen Staaten in Einklang stehe”, Schmid fiel auf das Täuschungsmanöver nicht herein. Hitlers Führungsanspruch ließ sich mit einem System kollektiver Sicherheit nicht in Einklang bringen. So lautete sein abschließendes Resümee über die Vorschläge zur Gründung von Garantiepakten: „Ein Volk, das also eingeschränkt ist, lebt von der Luft, die die anderen ihm lassen. Führen wird es in Europa nirgends mehr.“ Damit dies nicht als ein Bekenntnis zum NS-Regime mißverstanden wurde, fügte er hinzu: „Ich habe lediglich die Möglichkeit, die Formen und Tendenzen des politischen Geschehens, welche die politischen Fakten aufzeigen, festzustellen. Was geschehen soll, das zu bestimmen, ist die Sache des Mannes, der Deutschland führt.“26 Schmid war ein Meister des Sarkasmus. Er hatte die Sätze sicherlich entsprechend betont, so daß keiner mehr über seine Ablehnung der Außenpolitik Hitlers im Zweifel sein konnte. Allein schon der Verweis auf wissenschaftliche Objektivität war in einer Zeit, in der man sich zu einer Weltanschauung zu bekennen hatte, ein Zeichen von Distanz.
Die Lehren wurden von Gegnern und von Anhängern des Regimes verstanden. Im Sommersemester 1935 brachte er seine Überzeugung, daß Hitlers Außenpolitik auf Krieg hinauslaufe, recht offen zum Ausdruck. Wieder einmal versuchte er, seinen Studenten den Völkerbund zu erklären und ihnen beizubringen, daß es falsch sei, im Völkerbund nur ein Mittel zur Kriechtung Deutschlands zu sehen. Der Völkerbund verhindere nicht, sondern ermögliche den politischen’ Interessenkampf. Seine Aufgabe sei es, daß ein Staat, der gegen das Völkerbundssystem handle, „isoliert“ werde, „d.h. die politische und diplomatische Gegnerschaft der anderen vorfindet“*7. Wer gegen die Spielregeln des Völkerbundes und gegen die bestehenden Verträge verstoße, schaffe eine „Konfliktatmosphäre“: „(…) wie die Mittel des Krieges gebunden sind, so auch die Mittel der Friedenspolitik. Bei Überschreitung der Bindung tritt eine Verschärfung zum Konflikt, von hier zur Krise, von hier zum Existenzrisiko“ ein”®. Das Existenzrisiko war der Schritt zum Krieg. „Wer das vermeiden will, muß ‘sich an den Waffenkatalog der Politik halten.“ Deutlicher konnte man nicht aussprechen, daß die Außenpolitik des NS-Regimes zum Krieg führte, wenngleich Hitler sich noch immer in Friedensbeteuerungen erging. Als Kriegsverhütungsmittel zählte Schmid auf: „r. Vermittlung, 2. Schiedsgerichtsbarkeit, 3. Polizeiexekutive“ 3°. Das entsprach den damals im Ausland diskutierten Plänen, den Völkerbund durch die Einführung obligatorischer Schiedsgerichtsbarkeit und eine dem Völkerbund unterstellte militärische Eingriffstruppe zu einer europäischen Friedensordnung auszubauen?‘.
Schmid lehrte seinen Studenten das Völkerrecht als eine für alle Staaten verbindliche Norm, auch nachdem die Nationalsozialisten das Völkerrecht als „reichsfeindlich“ erklärt und aus der Völkerrechtstheorie einen Staatsrechtsmonismus gemacht hatten, der in einen geopolitischen Begründungszusammenhang gestellt wurde. „Deutsches Außenstaatsrecht“ oder „Außerstaatliches Recht“ hieß das Völkerrecht nun??. Schmid nannte seine Lehrveranstaltungen beharrlich „Völkerrechtliches Seminar“, obwohl sie im Vorlesungsverzeichnis seit 1935 unter dem Begriff „Außerstaatliches Recht“ aufgeführt wurden.
Die NS-Ideologen waren der Auffassung, daß das etatistisch orientierte Völkerrecht durch die Wiedereinführung des Reichsbegriffs in die Wissenschaft obsolet geworden sei. Schmid setzte sich auch in seinen Lehrveranstaltungen mit der Reichsidee auseinander. Seit 1933 las er fast jedes Semester über den „Gestaltwandel der Reichsidee“. Von dieser Vorlesung ist nur noch ein erweitertes Manuskript aus den fünfziger Jahren vorhanden? 3. Doch der Vergleich des Manuskripts mit Schmids Beiträgen zu den Mitternachtssendungen zeigt, daß der Inhalt seiner nach 1945 gehaltenen Vorlesung sich wohl kaum von dem unterschied, was er in den Jahren 1933-1940 seinen Studenten lehrte. Auch in dem Manuskript aus den fünfziger Jahren findet sich noch der Satz, daß der Nationalsozialısmus eine „Philosophie von Viehzüchtern, angewandt am verkehrten Objekt“ sei. Mit dieser unvorsichtigen Bemerkung hatte er sich eine Vorladung bei der Gestapo eingehandelt, die erst auf eine Intervention des NS-Studentenführers Martin Sandberger wieder rückgängig gemacht wurde°*. Freilich, in den fünfziger Jahren sprach Schmid von „Reichsmetaphysik“, und nicht mehr vom „Neuen Reich“, als’dessen Künder er sich in den dreißiger Jahren verstand.
Die Vision des „Neuen Reichs“ stand nicht im Widerspruch zu einer europäischen Ordnung kollektiver Sicherheit, denn die prophezeite neue geistige Ordnung sollte zur Grundlage einer europäischen Friedensordnung werden, in der das nationale Machtstaatsdenken der Vergangenheit angehörte. Dennoch: der Völkerrechtler Schmid und der Visionär Schmid lagen im Widerspruch miteinander. Wissenschaftliche Objektivität und Prophetie vertragen sich nur schlecht. In seinen Völkerrechtsvorlesungen definierte Schmid ganz in der Tradition Max Webers Politik als Kampf um die Macht. Der Anhänger des „Dritten Humanismus“ dagegen verstand Politik als eine geistige Kategorie. In welchem Verhältnis standen Geist und Macht für ihn? Vielleicht wußte er es selbst nicht so ganz genau und begann deshalb in jenen Jahren, sich mit dem Verhältnis von Moral und Macht, von Ideen- und Realpolitik bei Machiavelli zu beschäftigen. Schmids Vorlesung über den „Gestaltwandel der Reichsidee“ war ein großer ideengeschichtlicher Entwurf. Sie hatte den Wandel der Reichsidee von Augustinus bis zur Neuzeit zum Thema. Gewandelt hatte sich die Reichsidee unter dem Stauferkönig Friedrich II., der als erster einen modernen säkularen Staat begründete. Unter Friedrich II., so lehrte Schmid, wurde das Reich zu einem „Staat unter Staaten“. Das Reich hatte keine heilsgeschichtliche Mission mehr zu erfüllen, es war nur mehr ein „Befehls- und Zwangsapparat“ wie jeder andere Staat auch. Friedrich war nicht mehr „rector et doctor christiani populi“, sondern ein schlichter
„Autocrator“ 5. Dante war der letzte, der die mittelalterliche Reichsidee noch einmal vergegenwärtigte und von ihr kündete. Die Studenten konnten aus Schmids Ausführungen nur eine Lehre ziehen: Die machtstaatlich gewendete Reichsidee der Nationalsozialisten hatte mit der mittelalterlichen Reichsidee nichts, aber auch gar nichts gemein. Auf Schmids Verständnis der Reichsidee braucht nicht noch einmal eingegangen zu werden. Es genügt festzuhalten, daß Schmid in einer Zeit der Barbarei an die Kultur des Abendlandes von Augustinus bis zur Neuzeit erinnerte, Schmid sprengte in seiner Vorlesung die engen Grenzen der Fachwissenschaft. Es kam ihm darauf an, die wechselseitige Verschränkung von Politik, Religion, Literatur und Philosophie aufzuzeigen. Seine historische Darstellungsweise läßt sich am ehesten mit der Jacob Burckhardts vergleichen, für den er große Wertschätzung trug?®. Wie dieser begriff auch Schmid die Geschichte in erster Linie als Kulturgeschichte, betrachtete sie mit einem die empirische Geschichte überschreitenden Blick, um die Einheit und Entwicklung der europäischen Kultur aufzuzeigen. Burckhardts Wort vom „Tatsachenschutt“, den viele Historiker produzieren?”, hätte Schmid sicherlich unterschrieben. Von Historikern, die Geschichtswissenschaft vornehmlich als Quellenstudium betrieben, hielt er nicht allzu viel. So rechtfertigte er einen längeren Exkurs über die mittelalterliche Dichtung damit, daß „aus solchen dichterischen Werken oft mehr über die sogenannten Realitäten einer Zeit zu erkennen“ sei. „als aus Urkunden, Annalen und dialektischen Kunststücken“ 3°. Schon gleich zu Beginn der Vorlesung hatte er seine unorthodoxe Betrachtungsweise erklärt: „Ver- .zeihn Sie, daß ich Ihnen Verse vorlese — ich bin nämlich der Meinung, man kann durch ein richtiges Lesen der großen Dichter einer Zeit, von dem, was die Zeit wirklich war, mehr erfahren als durch das Studieren – dicker Kompendien und dem Brockhaus.“ 3? Carlo Schmid maß der Phi- «.losophie- und Literaturgeschichte keinen geringeren Stellenwert bei als der Politikgeschichte. Augustinus, Thomas von Aquin, Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach waren für die europäische Kulturentwicklung nicht weniger wichtig als Karl der Große und der Stauferkönig Friedrich II. Shakespeare wurde genauso ausführlich behandelt wie Hobbes und die Herrscher des aufgeklärten Absolutismus. Den George-Schüler Gundolf hat man einen „Wissenschaftskünstler“ ge- .nannt*°. Auch Schmid war mehr Wissenschaftskünstler als ein Wissenschaftler im modernen Sinne. In seinen völkerrechtlichen Vorlesungen freilich hielt er sich streng an die Gebote wissenschaftlicher Objektivität. Der große Bildungsfundus, aus dem Schmid schöpfte, faszinierte auch die Studenten. Schmid und sein Freund Uxküll waren in Tübingen, wo die meisten Professoren nach einem Urteil des jungen Dichters Eugen Gottlob Winkler „ausgekochte Schulmeister“ waren*‘, Stardozenten*”. Obwohl Schmid häufig morgens zwischen 7 und 8 Uhr las, waren seine
Veranstaltungen gut besucht. Auch Regimeanhänger befanden sich unter seinen Hörern, zumindest in den Anfangsjahren des NS-Regimes. Durch couragiertes Auftreten hatte er sich Respekt verschafft. Seine Veranstaltungen scheinen nicht wie die anderer regimekritischer Dozenten gestört oder boykottiert worden zu sein. Möglicherweise hatte Schmid dies dem Führer des NS-Studentenbundes Sandberger zu verdanken, der, aus welchen Gründen auch immer, Schmid trotz seiner Gegnerschaft zum Nationalsozialismus bewunderte und sich 1937 sogar freiwillig zum Referendarsdienst bei ihm meldete. Ihm hatte Schmid auch zu verdanken, daß er trotz Denunziationen nicht von der Gestapo vernommen wurde#. Schmid bemühte sich auch um die regimetreu eingestellten Studenten. Anfangs sprach er sogar auf ihren Gruppenabenden in der Hoffnung, sie noch bekehren zu können. Noch immer glaubte er an die Macht der Pädagogik.
Nach 1945 bedankten sich zahlreiche Studenten bei ihm, daß er sie gegen den Nationalsozialismus immunisiert und ihnen in einer Zeit nationalistischen Wahns eine europäisch-humanistische Denkweise nahegebracht habe*‘. Einige von ihnen hatten an seinen Dante-Abenden teilgenommen, zu denen er einmal wöchentlich einen Kreis auserlesener Studenten und jüngerer Kollegen zu sich nach Hause einlud. Die Studenten kamen gern, obwohl es außer geistiger Kost nur Tee gab. Schmid las, übersetzte und interpretierte die „Göttliche Komödie“, Seine italienische Ausgabe ist mit stenographischen Kürzeln übersät, die ihm offensichtlich als Gedächtnisstütze dienten‘. Nicht aus Zeitvertreib veranstaltete er diese Dante-Kollegs, sondern weil er an den Erfolg einer ästhetischen Erziehung dieser jungen Menschen glaubte. Die Dichterlesung sollte seine jungen Zuhörer verwandeln. Das mag naiv klingen. Aber die Studenten der damaligen Zeit waren für die Worte der Dichtung noch empfänglich, zumindest die „Auserlesenen“, die die Ehre hatten, an Schmids Dante- Kollegs teilnehmen zu dürfen. Die Interpretation der Dichtung Dantes war immer auch eine Auseinandersetzung mit der herrschenden NS-Ideologie. Die Dante-Abende waren ein Zirkel politischer Opposition. Später wurden sie von den Nationalsozialisten verboten?’. Mit den Vertrauenswürdigen unter seinen Studenten traf sich Schmid noch nach den Lehrveranstaltungen. Manchmal zog man sich in einen separaten Raum im Roigelhaus zurück, manchmal ging man ins Cafe, um im Schutze der Kaffeehausatmosphäre die politischen Ereignisse zu besprechen oder die Seminardiskussion weiterzuführen“ ®. Gelegentlich wurde auch nur getratscht. Schmid konnte seine Zeitgenossen gut karikieren. Wenn er frustriert war, konnte er auch sehr abschätzig über sie reden, was ihm hin und wieder Unannehmlichkeiten einbrachte*. Einige der älteren Studenten nahm er in die „Agora“ des Cafe Völter mit, wo sich regelmäßig ein Kreis von Kunstliebhabern und Literaten traf, dessen regimekritische Haltung bekannt warS°. Widerstandszentren waren diese Kaffeehauszirkel nicht. Aber es tat gut, sich mit Gleichgesinnten aussprechen zu können. Schmid verbrachte viel Zeit in diesen Kaffeehäusern. Meistens kam er erst nach den Kaffeehaussymposien ins Landgericht, so gegen halb elf. Vorher mußten auch seine Referendare nicht erscheinenS!. Auf seine Figur wirkten sich die zahlreichen Kaffeehausbesuche nicht gerade vorteilhaft aus. Er wurde dicker und dicker, denn er pflegte bei diesen Treffen zahlreiche Tortenstücke zu verzehren, die er zumeist nicht einmal selbst bezahlte. Da er unter chronischem Geldmangel litt, erbarmte sich nicht selten einer seiner Studenten und bezahlte ihm die Rechnung”. Er muß schon überaus beliebt gewesen sein, sonst wären die Studenten wohl kaum zu einem solchen freiwilligen finanziellen Opfer bereit gewesen.
In der Literatur ist viel von den „Carlisten“ die Rede’. Das war ein Freundeskreis, nicht eine Schülerschaft. Schulebildend wirkte Schmid nicht, obwohl er sich als Lehrer und Erzieher verstand, der für die Sorgen und Nöte seiner Studenten stets ein offenes Ohr hatte.
Auch der jüdischen Studenten nahm sich Schmid an. Er riskierte den Konflikt mit den örtlichen Parteistellen. Die Zahl der jüdischen Studenten an der Universität Tübingen war außergewöhnlich gering. Im Wintersemester 1933/34 waren dort nur noch dreizehn jüdische Studierende immatrikuliert, 1937 waren es noch acht, 1938 verließ der letzte jüdische Student die Universität’*. Schon Mitte 1933 übte die lokale Parteiorganisation Druck auf die Vermieter aus, jüdische Studenten aus ihren Zimmern hinauszuwerfen. Carlo Schmid zögerte nicht und machte einen Anschlag am Schwarzen Brett, in dem er jüdischen Studenten, die ihre Unterkunft verloren hatten, anbot, vorübergehend in seinem Haus zu – wohnen5. Er schützte sie auch vor den Übergriffen ihrer nationalsoziali- «‚stischen Kommilitonen. Otto Citron, nach der damaligen Terminologie ein „Mischling“, bedankte sich noch dreißig Jahre später bei Schmid, daß er ihm während der schwierigen Studienjahre beigestanden hatte: „Ich wußte damals als Zwanzigjähriger immer, wo ich mich in einer Katastrophensituafion geborgen wissen durfte.“ 5° Dem jungen Ulrich Holländer, Sohn des Theaterregisseurs Felix Holländer, bot Schmid spontan an, ihn zu promovieren, als dieser ihm erzählte, daß er als Halbjude Schwierigkeiten ‚habe, einen Doktorvater zu finden. Ulrich Holländer, besser bekannt unter seinem späteren nom de guerie Michael Thomas, war mit Wolfgang Frommel und Percy Gothein befreundet. Er hatte Schmid 1935 kennengelernt, als er ihn zusammen mit Percy Gothein auf der Durchreise nach Italien in Tübingen besuchte’. Hätte Carlo Schmid die Promotion Holländers an der Fakultät durchsetzen können? Zur Nagelprobe kam es nicht. Ulrich Holländer gab angesichts der geringen Chance, als Halbjude eine Anstellung zu finden, sein Studium auf.
Jeder in Tübingen wußte, daß Schmid ein Gegner des Regimes war. Er hatte eine lose Zunge, die er manchmal besser gezügelt hätte. So nannte er beispielsweise Jacob Wilhelm Hauer, Ordinarius für Indologie und Religionswissenschaft, laut hörbar für alle „Nietzsche in Briefträgeruniform“ 5 ®, Hauer hatte sich 1933 selbst zum Führer einer Deutschen Glaubensbewegung ernannt, was ihm 1936 von der NSDAP untersagt wurde, woraufhin er Mitglied der SS wurde und sich nur noch in SS-Uniform zeigte”. Sein stechender Blick, sein vorgestreckter Schnauzbart und seine Mähne erinnerten an Nietzsche. Hauer dürfte Schmids Bonmot zugetragen worden sein. Anscheinend billigte man Schmid lange Zeit ein gewisses Maß an „Narrenfreiheit“ zu. Man brauchte nicht zu befürchten, daß er eine Widerstandsorganisation aufbaute, die dem Regime gefährlich wurde. Seine Verfolgung hätte Aufsehen erregt. Er war Kriegsfreiwilliger, hatte gegen das „Diktat“ von Versailles gekämpft, gehörte dem Bürgertum an und war obendrein bei den Studenten beliebt. An eine Universitätskarriere aber brauchte der junge Privatdozent, der nach der Amtsenthebung des renommierten Staatsrechtler Sartorius der einzige an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät war, der dem neuen Regime ablehnend gegenüberstand, nicht mehr zu denken.
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät in Tübingen war ein Hort überzeugter Nationalsozialisten. Hans Gerber veröffentlichte 1933 eine Arbeit über die „Staatsrechtlichen Grundlagen des neuen Reichs“, Hans-Erich Feine über „Tausend Jahre deutscher Reichssehnsucht und Reichswirklichkeit“, Georg Eißer über „Rasse und Familie. Die Durchführung des Rassegedankens im bürgerlichen Recht“. Privatdozent Schmelzeisen war überzeugter Parteiaktivist und hoffte durch seine Schrift „Das Recht im nationalsozialistischen Weltbild“ seine Karriere zu fördern“, Als im Dezember 1933 die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät über die Besetzung des Sartorius-Lehrstuhls beriet, kam keiner auf die Idee, Schmid, der nun bereits seit vier Jahren Privatdozent war, vorzuschlagen. Auf Platz ı der Berufungsliste wurde Felix Genzmer gesetzt, auf Platz 2 Ernst Rudolf Huber, der als profiliertester Vertreter der Kieler Rechtsschule ein Vordenker nationalsozialistischer Jurisprudenz war“. 1934 wurde Genzmer auf den Lehrstuhl berufen, dessen Spezialgebiet nordische Rechtsgeschichte sich für die nationalsozialistische Weltanschauung vereinnahmen ließ, wenngleich Genzmer kein Mitglied der NSDAP war. Im März 1935 konnte Schmid wider Erwarten. doch noch Hoffnung schöpfen. Das Sächsische Ministerium für Volksbildung hatte ihn für eine Professur an der renommierten Leipziger Rechtswissenschaftlichen Fakultät vorgeschlagen. Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, ohne dessen Zustimmung eine Berufung nicht möglich war, ließ jedoch mit einer Stellungnahme auf sich warten ®%. Hans Gerber, der inzwischen in Leipzig lehrte und Schmids Berufung ungeachtet des bestehenden politischen Dissenses unterstützt hatte, deutete in einem Gutachten vom Juni 1935 an, warum das Reichsministerium zögerte, Schmids Berufung zu befürworten: „Die sachliche Einschätzung von Schmid ist auch in Berlin so ausgezeichnet, daß seiner Berufung von da aus keine Hindernisse im Wege stehen. Wenn der Ruf an ihn noch nicht ergangen ist, so liegt es an gewissen Differenzen in der persönlich-charakterlichen Einschätzung, die bisher noch nicht voll behoben werden konnten (abi 6% Gerber drückte sich sehr gewunden aus. In den Augen der Berliner Machthaber war Schmid politisch unzuverlässig. Deshalb wurde seine Berufung nach Leipzig verhindert.
In einem Schreiben an den Dekan der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen legte Gerber nahe, Schmid dem Reichsministerium als seinen Nachfolger für den Lehrstuhl für Völkerrecht vorzuschlagen: „Denn wenn einer seiner wissenschaftlichen Leistung, seinem pädagogischen Fortkommen und seiner persönlichen Bildung nach eine Professur verdient, so ist es Schmid.“ °5 Dekan Feine war da anderer Auffassung. Er wünschte sich als Nachfolger Gerbers einen Mann von „soldatischer, SA-mäßiger Haltung“. Unter solchen Auswahlgesichtspunkten war Schmid nicht der geeignete Mann. Er wurde auf Platz s der Berufungsliste gesetzt. Feine suchte nach Ausreden. Er wollte nicht zugeben, daß politische Gründe ausschlaggebend für Schmids Zurückweisung waren. Da er nicht umhin konnte, Schmids „überragende“ Lehrbefähigung anzuerkennen, machte er ihm die geringe Anzahl seiner Veröffentlichungen und die Konzentration auf völkerrechtliche Themen zum Vorwurf: „Wenn die Fakultät ihn nicht in der ersten, sondern in der zweiten Gruppe vorschlägt, so ist hierfür maßgebend, daß sich seine wissenschaftlichen Arbeiten (…) und seine Lehrtätigkeit bisher ausschließlich auf dem Gebiet des Völkerrechts bewegt haben.“ 7” Daß Schmid fast jedes ‚Semester eine große ideengeschichtliche Vorlesung über den „Gestaltwandel der Reichsidee“ anbot, wurde von Feine bewußt ignoriert. Auch der Leiter der Dozentenschaft, der Mathematiker Erich Schönhardt, lehnte eine Berufung Schmids ab, da er es für dringend geboten hielt, daß der Lehrstuhl mit einem „ausgesprochenen Nationalsozialisten“ besetzt werde ®, Das Urteil des NS-Dozentenführers wurde bei Berufungen nur selten übergangen°?. Schönhardt befürwortete die Berufung Hermann von Mangoldts, der den Lehrstuhl dann auch bekam.
Solange die braunen Machthaber in Berlin saßen, brauchte sich Schmid keine Hoffnung auf eine Universitätskarriere zu machen. Noch war sein täglich Brot durch sein Richteramt gesichert. Aber wie lange noch? 1935 war die Gleichschaltungsphase des Regimes beendet, die Konsolidierungsphase begann. Es war zu erwarten, daß die Unabhängigkeit der Justiz weiter eingeschränkt wurde. Das Denunzianten- und Spitzeltum nahm zu. Die Emigration war für Schmid kein Ausweg. 1936 wurde seine Tochter Beate geboren, sein Sohn Raimund war gerade ein Jahr alt. Hans und Martin waren im Schulalter. Seine Frau war häufig krank. Den Strapazen eines Emigrantenlebens wäre sie nicht gewachsen gewesen. Auf größere finanzielle Rücklagen konnte er nicht zurückgreifen, wenngleich sich seine finanzielle Situation nach dem Tod seiner Mutter im Jahre 1937 durch das ererbte elterliche Vermögen erheblich verbesserte”°. Er bot das ererbte Geld dem Ehepaar Rieth an, um dem jungen Paar die Emigration zu ermöglichen”‘.
Für Schmid blieb nur die „Emigration in das Heer“. Vom 18. Mai bis 13. Juni 1936 leistete der Leutnant der Reserve in einem dem Wehrbezirkskommando Tübingen unterstellten Infanterieregiment eine Übung für die Übernahme in das Offizierskorps ab. Die Übung hätte bis August dauern sollen. Schmid brach die Übung vorzeitig ab, als der Adjutant des Regiments ihm mitteilte, daß seine Übernahme aus „rein politischen Gründen“ beanstandet werde. Der Adjutant riet ihm, sich krank zu melden, was er dann auch tat’””. Schmid gab die Hoffnung nicht auf, doch noch in das Offizierskorps übernommen zu werden. Gelegentlich bot er bei der Wehrmacht Dolmetscherkurse an?3. Vorerst jedoch mußte er weiter seinen Dienst am Landgericht tun und sich dem Alltag des NS-Regimes, das den einzelnen immer mehr total in Anspruch nahm, stellen, ohne dem Anpassungsdruck nachzugeben. Auf einen aufrechten Gang wollte er nicht verzichten. Aber seine Zunge wollte er mehr als bisher „im Zaum halten“ 7,
New Commonwealth-Society und die Lehren Machiavellis
„Abwarten der Umschwung kommt von außen“, so beschrieb ein Gestapo- Bericht aus dem Jahre 1937 die Einstellung der „Illegalen im Lande“, Kaum einer erwartete Mitte der dreißiger Jahre noch einen Staatsumsturz durch oppositionelle Kräfte innerhalb Deutschlands. Auch Carlo Schmid nicht. Das Regime konnte nur noch der Druck des Auslandes zu Fall bringen. So sagte Schmid, als er 1936 gebeten wurde, dem Forschungsbeirat des New Commonwealth-Instituts beizutreten, nach. kurzem Zögern zu. Die New Commonwealth-Society war 1932 von Lord Davies gegründet worden. Ihr Ziel war die Stärkung der internationalen Autorität des Völkerbundes durch die Einführung obligatorischer Schiedsgerichtsbarkeit und durch die Aufstellung einer internationalen Polizeimacht zur Durchsetzung der Beschlüsse der Schiedsgerichte. Davies fühlte sich dem Erbe Briands verpflichtet und wollte die Fortentwicklung des Völkerbundes als den „ersten Schritt auf dem Wege zu einer Weltföderation“ verstanden wissen”. Präsident der britischen Sektion der New Commonwealth- Society war Winston Churchill, an der Spitze der französischen Sektion stand der bekannte Völkerrechtler Georges Scelle, die deutsche Sektion wurde von Vizeadmiral a.D. von Freyberg geleitet.
Das Forschungsinstitut der New Commonwealth-Society war 1934 gegründet worden. Präsident des Forschungsinstituts war der britische Historiker Harold Temperley, Direktor war Ernst Jäckh, vor 1933 geschäftsführender Vorsitzender der Deutschen Liga für Völkerbund und Leiter der Friedensakademie in Berlin. Vermutlich hatte Georg Schwarzenberger, der als Sekretär im Institut arbeitete, angeregt, seinen ehemaligen Lehrer Schmid in den Forschungsbeirat des Instituts aufzunehmen, dem u.a. der Staatsrechtler Hans Kelsen, der Herausgeber der Friedenswarte Hans Wehberg und Herbert Kraus, Völkerrechtler in Göttingen und Mitglied der Liga für Völkerbund, angehörten. Von den Genannten lebte nur Kraus noch in Deutschland, der 1937 aus politischen Gründen emeritiert wurde?. Schmids Mitgliedschaft im New Commonwealth-Institut mußte vom Rektor der Universität Tübingen und dem württembergischen Kul- ‘ tusministerium genehmigt werden*. Das ging ohne Schwierigkeiten, denn noch suchte Hitler in England einen Bündnispartner, so daß die Mitgliedschaft in der New Commonwealth-Society politisch nicht als anstößig galt. Das sollte sich schon ein Jahr später ändern, als Hitler seine außenpolitische Strategie umwarf und England als zukünftigen Gegner einstufte.
Ernst Jäckh, der Institutsdirektor, ließ sich in seiner Arbeit von dem Grundsatz leiten: „Im Kampf zwischen Schwert und Pflug wird der Pflug siegen.“ Schmid betrachtete das Übergewicht von Vertretern des organisierten Pazifismus im Institut mit Skepsis. Im November 1936 warnte er in einem Brief an Ernst Jäckh vor politischen Reißbrettplänen: „Jede Betrachtung des politischen Völkerrechts als eines freischwebenden, gewissermaßen schwerelosen Gefüges auf alle Staaten gleichermaßen bezo- ‚gener Normen“ sei eine „Fiktion oder Ideologie“ 6, Auch innerhalb einer internationalen Rechtsordnung werde Machtpolitik betrieben: „Im Bereich des Politischen ist alles Recht, insbesondere das politische Verfahrensrecht, nicht viel mehr als eine Form, in welcher bestimmte Machtverhältpisse erscheinen und sich durchzusetzen suchen.“7” Wenn die Arbeit im Institut nicht zur Selbstbeschäftigung verkommen sollte, mußte das Institut versuchen, Einfluß auf die praktische Politik zu nehmen. Schmid gab deutlich zu verstehen, daß er die von manchen Mitgliedern des Instituts gehegte Hoffnung, die New Commonwealth-Society könne zur Keimzelle einer neuen internationalen Ordnung werden‘, nicht teilte: „Ich bin mir bewußt, daß vielleicht der Friede und die Zukunft Europas von vielen Staaten Verzichte verlangt auf Ziele, die ihnen teuer sind. Solche Verzichte auszusprechen und einem Organisationsschema für das Politische zugrunde zu legen, ist aber nicht das Recht des einzelnen unter uns, sondern die Sache derer, welche die Last des Schicksals der Völker zu tragen haben.“
Im Bereich der Außenpolitik war der Visionär Schmid ein harter Realpolitiker, der den Anhängern von Friedensutopien das Denken in Kategorien der Macht lehrte.
Seine Auffassung über die Notwendigkeit supranationaler Institutionen und der Einschränkung staatlicher Souveränität hatte er nicht geändert. Noch immer, so schrieb er in einem im März 1938 für die Zeitschrift „The New Commonwealth Quarterly“ verfaßten Aufsatz sei er von dem Gedanken der Schiedsgerichtsbarkeit durchdrungen’°. Doch eine „allgemeine Jurifizierung des politischen Bereichs“ war seines Erachtens in naher Zukunft nicht zu erreichen. Zunächst einmal müsse man daran gehen, den „Bestand an Rechtsnormen im Bereiche des Völkerrechts zu steigern“, denn alle den „Kern des Politischen“ berührenden Völkerrechtssätze seien noch immer umstritten“. Schmid verwies auf die clausula rebus sic stantibus, die von Staaten, die eine Änderung des Status quo erstrebten, zum Kernbestand des Völkerrechts gezählt werde, während sie von Staaten, die den Status quo zu sichern versuchten, nicht als völkerrechtliche Norm anerkannt werde. Schmid selbst hatte vor 1933 der clausula rebus sic stantibus den Rang einer Völkerrechtsnorm zuerkannt, weil er in ihr ein Instrument zur Revision der Reparationsforderungen sah‘?.
Wie sollte aber eine internationale Schiedsgerichtsbarkeit ohne „einheitliche Bewertungsmaßstäbe“ funktionieren? Schmid deutete nur an, was er meinte. Ein Staat, der wie das NS-Regime das Recht mit Füßen trat, würde sich niemals einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit unterwerfen. Er sprach von den sich der Vernunft entziehenden „Dämonien des politischen Lebens“’3. Hitler war nicht zur Räson zu bringen. Eine Ordnung internationaler Schiedsgerichtsbarkeit setzte eine demokratische Rechtskultur voraus. So erschieneinhm die Erfolgsaussichten für die Einführung einer obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit „einigermaßen trübe“’*. Resigniert stellte er am Schluß seines Aufsatzes fest: „Es wäre zum Vorteil einer gedeihlichen ’Entwicklung der internationalen Gerichtsbarkeit, wenn man heute ihre allgemeine Anwendung auf Staaten beschränkte, die einem und demselben Rechtskreise angehören; dort sind die Wertmaßstäbe vorhanden, welche die Voraussetzung der Institution sind.“ ‚
Als Schmid seinen Aufsatz schrieb, hielt es die britische Regierung noch immer für unmöglich, daß Deutschland und England sich wieder auf dem Schlachtfeld begegnen könnten’°. Sein Aufsatz war ein versteckter Appell an die westlichen Demokratien, den Friedensparolen Hitlers keinen Glauben zu schenken und statt dessen möglichst umgehend ein Verteidigungsbündnis gegen Hitler zu schließen. Ein Bündnis zwischen demokratischen Staaten und einer Diktatur konnte es nicht geben. Im Grunde hatte Schmid in seinem Aufsatz das Programm des New Commonwealth-Instituts unter den bestehenden Machtverhältnissen für utopisch erklärt
Schmid beabsichtigte einen weiteren Aufsatz über die Technik der internationalen Vermittlung zu schreiben, in dem er seine Überlegungen zu untermauern und fortzuführen gedachte’’. Der Aufsatz blieb ungeschrieben. Es war wohl mittlerweile zu riskant, in einer Zeitschrift der New Commonwealth- Society Artikel zu veröffentlichen. England war inzwischen von den nationalsozialistischen Machthabern zum Feind erklärt worden und die New Commonwealth-Society stand in enger Verbindung zu Churchill, dem erklärten Gegner der britischen Appeasement-Politik. Churchill hatte eine kurze Zeitlang erwogen, die New Commonwealth- Society als Plattform zu benutzen, um seiner Anti-Appeasement-Politik zum Durchbruch zu verhelfen’°. Schmid hätte sich gefreut, wenn Churchill mit seinem Plan Erfolg gehabt hätte. Er hielt die westliche Appeasement- Politik für einen katastrophalen Fehler. Schon 1935 nach dem Erlaß der Nürnberger Rassengesetze hatte er gehofft, daß die Westmächte die Beziehungen zu Deutschland abbrächen und Hitler durch Isolierung zu Fall brächten‘?,. Die Westmächte unterschätzten die Kriegsbereitschaft Hitlers, die für Schmid außer Frage stand. Laut durfte er das nicht sagen. Aber er konnte Bücher rezensieren, in denen diese Meinung vertreten wurde. Im März 1937 besprach er für das New Commonwealth Quarterly Graham Huttons 1936 erschienene Arbeit „Is it Peace?“, in der die Außenpolitik Großbritanniens im Rahmen einer weltpolitischen tour d’horizon einer scharfen Kritik unterzogen wurde. Schmid referierte Huttons Position ausführlich. Der Autor zeige, „daß Großbritannien und Frankreich in allen Kernfragen identische politische Interessen haben, während die faschistischen Mächte, namentlich Italien, Japan und Deutschland, notwendigerweise auf Raub, Ruhm und Vernichtung aus sein müssen.“ ?° In einem abschließenden Kapitel bemühe sich der Verfasser, „seine Lands- ‚leute davon zu überzeugen, daß ihnen die Entwicklung auf dem Kontinent nicht gleichgültig sein kann und daß es ihre Aufgabe sein muß, in Zusammenarbeit mit Frankreich bei allen Ereignissen eine Position der Stärke einzunehmen, um die faschistischen Mächte davon abzuhalten, Unheil über Ost- und Mitteleuropa zu bringen.“? ‚C arlo Schmid hatte dem nicht vie] hinzuzufügen. Er räumte lediglich ein, daß einige Passagen des Buches „nicht ganz zufriedenstellend“ seien, z.B. die Darstellung des deutschpolnischen Verhältnisses. Nach 1945 machte Schmid die Appeasement-Politik der Westmächte mitverantwortlich für den Ausbruch des 2. Weltkrieges. 1956 führte er in einem Vortrag aus: „Es kam der Zweite Weltkrieg. Er kam, weil Europa vor dem Regime, das seine Grundwerte leugnete und vernichtete, kapitulierte trotz Kellogg-Pakt und Locarno-Pakt. Es zeigte sich, daß eine Friedensordnung sich selbst aufgibt, wenn den Staaten, die sie tragen, gleichgültig wird, ob mächtige Nachbarn sich einem Regime unterwerfen, dessen Prinzip es geradezu ist, die Pfeiler dieser Ordnung zu zerstören. Ein Europa, das mehr sein will als ein geographischer Begriff, ist ohne das innere Interventionsprinzip eine romantische Fiktion.“ Schmid dachte nach 1945 nicht anders als in den dreißiger Jahren. Er blieb bis zum Ausbruch des 2. Weltkriegs Mitglied des Beirates des New Commonwealth-Instituts. Daß das Insitut irgendwelchen Einfluß auf die praktische Politik ausüben könne, glaubte er wohl nicht mehr. Aber die Mitgliedschaft war ein Bekenntnis zu einer internationalen Rechtsordnung. Auch wenn eine Ordnung obligatorischer Schiedsgerichtsbarkeit unter den gegenwärtigen Machtverhältnissen nicht durchzusetzen war, blieb deren Einführung doch ein langfristiges Ziel der Politik. 1938 schrieb er in einer Rezension des Tractatus Pierino Bellis „De Re Milıitari et Bello“: „Eine besondere Bedeutung haben die Darlegungen (Bellis) zu dem Problem der Schiedsgerichtsbarkeit; es ist ganz deutlich zu spüren, daß der Kriegsrat Belli nicht recht zu verstehen vermag, warum die Fürsten sich nicht regelmäßig dieses Mittels zur Erledigung ihrer Streitigkeiten bedienen wollen. Bei der Behandlung dieser Frage ist B(elli) besonders ‚modern‘: er will, wenn einer der streitenden Teile schiedsrichterlichen Austrag anbietet, den Gegner durch diese einseitige Erklärung – bei Strafe der Rechtsfolgen für den ungerechten Krieg — für gebunden halten.“ * Deutlicher konnte man kaum sagen, wie man die gegenwärtige internationale Lage und die außenpolitischen Absichten Hitlers einschätzte. Es mußte schmerzen, dem heraufziehenden Unheil tatenlos zusehen zu müssen.
Es war kein Zufall, daß Schmid sich Mitte der dreißiger Jahre in das Werk Machiavellis zu vertiefen begann. Der große Florentiner hatte wie kein anderer politischer Philosoph sich mit dem Phänomen der Macht und dem Verhältnis von Macht und Moral auseinandergesetzt. Der Visionär und der Realpolitiker, Dante und Machiavelli – das waren die beiden Pole, zwischen denen Schmid stand. Die beiden Florentiner Dante und Machiavelli trennten Welten. Dante erklärte den Weltmonarchen zum Garanten einer humanistischen Weltordnung. Machiavelli glaubte, daß nur in der Republik sich virtü, politische Kompetenz, Bürgertugend und Energie entfalten könnten”*,. Der Ahnherr des Neuen Reichs lehrte die Perfektibilität des Menschen und die Sinnhaftigkeit der Geschichte. Der mittelalterliche Glaube an die providentia Dei war bei ihm noch lebendig. Machiavelli war von der Korruptibilität der Menschen überzeugt, weshalb er einen staatlichen Repressionsapparat für unerläßlich hielt. Schmid ging auf die gegensätzliche Welt- und Lebensauffassung Dantes und Machiavellis, in der auch die Widersprüchlichkeit seines eigenen Denkens begründet lag, nicht ein.
Er war fasziniert und betroffen von der Aktualität des politischen Denkens Machiavellis. Im Juli 1940 schrieb er dem Verleger Rudolf Marx: „Nun kenne ich doch Machiavelli einigermaßen und doch befällt mich bei jeder neuen eingehenden Beschäftigung mit seinen Texten neues Staunen über die Fülle dessen, was er uns hic et nunc zu sagen hat.“ 5 Marx wollte in der Dietrichschen Verlagsbuchhandlung in Leipzig eine von Schmid besorgte Auswahl der Schriften Machiavellis herausgeben. Schmid, der von dem Historiker Rudolf Stadelmann zu dieser Arbeit ermuntert worden war, drang darauf, in diese Auswahl auch die Mandragola, eine von Machiavelli vermutlich ı518 verfaßte Komödie, aufzunehmen. Die Komödie sei der „Eckpfeiler des Gesamtwerks“; „die hoffnungslos resignierte Posse einer Menschheit, deren heroisch-tragische Möglichkeit der Fürst ist. Wer die Mandragola nicht kennt, weiß nicht viel vom Weltbild Machiavellis und wird darum das im ‚Fürsten‘ Gesagte oft unzulänglicherweise verabsolutieren und mißdeuten, weil er nicht weiß, in welcher Begrenzung Machiavelli den Menschen sieht.“ 6 In der Mandragola klagte Machiavelli den Aberglauben, die Dummheit, die Gewissenlosigkeit und Korruptheit seiner Zeitgenossen an. Mandragola – das ist die Wunderkraft der Alraunwurzel?”. Man nannte die Mandragola die „Komödie einer Gesellschaft, deren Tragödie der Principe ist“?®, Schmid griff dieses geflügelte Wort wieder auf. Auch Machiavelli war Schmid ein Beleg für sein Verständnis des Nationalsozialismus als plebiszitärer Führerdemokratie. Er sah in Machiavelli keinen „Lehrer des Bösen“3°, keinen „Ästheten der Gewaltsamkeit“3′, sondern einen Theoretiker der Staatsraison, den er gelegentlich sogar einen „Moralisten“ nannte. Die geplante Machiavelli-Edition, die ungefähr soo Seiten hätte umfassen sollen, kam nicht zustande. Schmid wendete sich in Lille, wo er die Arbeit hatte fertigstellen wollen, anderen Dingen zu. 1956 veröffentlichte er einen kleinen Auswahlband der Schriften Machiavellis mit nicht einmal der Hälfte des Umfangs?”.
Daß er sich intensiv mit Machiavelli beschäftigt hatte, beweist das . Manuskript einer Vorlesung über Machiavelli aus den dreißiger Jahren’. ‚So wie Schmid Machiavelli interpretierte, war er wirklich hochaktuell. Er benutzte die Vorlesung über Machiavelli, um seinen Studenten die Augen über den Charakter des NS-Regimes zu öffnen. So führte er beispielsweise aus: „Die Tyrannei als solche bewertet Machiavelli ganz eindeutig negativ“, denn: „sich des Staates zu bemächtigen, setzt (…) einen bösen Menschen voraus.“3* Machiavelli ließ sich als Autorität zitieren, um die Studenten über den cäsaristischen Herrschaftscharakter des NS-Regimes aufzuklären: „Der Tyrann tut immer am besten, sich auf das Volk zu stützen.“ Tyrannis entstehe Machiavelli zufolge dort, wo „Sekurität“ statt „Freiheit“ zur „Massenparole“ wird’. Wie recht hatte doch Machiavelli, als er prophezeite: ein Volk, das seine virtü verloren hat, muß den Principe ertragen. Dieser italienische Staatsdenker war, so wie Schmid ihn vorstellte, alles andere als ein Apologet der Gewaltsamkeit. Hatte Machiavelli doch festgestellt: „Die Legalität ist der Schutz der Freiheit (…). Was aber außerlegal ist, ist verhängnisvoll, auch wenn es nützlich ist.“ ’°
So wurden die Lehren Machiavellis unter der Hand zu einer schneidenden Kritik am NS-Regime. Die politischen Schriften des Florentiners erlaubten es sogar, mit denen ins Gericht zu gehen, die glaubten, daß sie das ganze politische Geschehen nichts angehe: „Man muß sich für eines von beidem entscheiden: weit weggehen vom Tyrannen oder sich ihm anschließen.“ #7 Es ist schon frappierend, wie Schmid es verstand, den Werken Machiavellis tagespolitische Aktualität zu geben. Plötzlich wurde aus Machiavelli ein früher Kritiker der Appeasement-Politik der Westmächte: „Die schlechtesten Fürsten gehen meistens den Weg der Neutralität und richten sich so zugrunde.“ 3® Im dritten Buch der Discorsi legte Machiavelli dar, daß ein degeneriertes, korruptes Volk nur durch die Eroberung von außen oder die Tat tugendhafter Männer im Innern zur „Selbsterkenntnis“ gebracht werden könne°”.
Schmid war ein Meister der Camouflage. Ob seine studentischen Zuhörer ihn auch immer verstanden haben? Es war nur noch ein kleines Häuflein, das zu ihm kam, als er im Wintersemester 1938/39 erstmals über Machiavelli las. Erst nach 1945 sollte seine Machiavelli-Vorlesung Berühmtheit erlangen. In späteren Jahren stellte er das Verhältnis von Politik und Moral ganz in das Zentrum seiner Machiavelli-Interpretation. Er zog aus den Schriften Machiavellis die Erkenntnis, daß die politische Ordnung zwangsläufig immer wieder in Widerspruch zu den Geboten der christlichen Moral gerate. „Dann muß sich der Staatsmann entscheiden, in welcher Ordnung er handeln will. Will er Gott wohlgefällig sein, will er der göttlichen Vernunft huldigen, will er unter keinen Umständen seinen Nächsten wehe tun, dann muß er handeln, ohne im Entscheidenden auf den politischen Erfolg zu achten. Er wird dann vielleicht ein Heiliger sein, aber den stato mag er dabei verspielen. Will er aber unter allen Umständen ‚conservare lo stato‘, das heißt im Machtkampf siegend den Staat erhalten, dann muß er das der jeweiligen Sachlogik nach Angemessene tun, ohne sich im einzelnen zu fragen, ob dieses Tun Gott wohlgefällig ist oder nicht, ob er damit das menschliche Antlitz denaturiert oder nicht, ob er damit Menschen wehe tut oder nicht.“ *° Schmid war bereit, sein Seelenheil zu riskieren. Es drängte ihn in die Politik – schon vor 1945. Doch mag ihn dabei immer auch die Hoffnung beschlichen haben, den Menschen nicht wehe tun zu müssen. Der Realpolitiker war immer auch ein Visionär.
Isolation und wachsende Bedrohung
Nachdem sich in den Jahren 1937/38 das NS-Regime konsolidiert hatte, wurde die Lebenssituation der Regimegegner immer unerträglicher. Die totalitäre Diktatur prägte auch den Alltag der Menschen. Als bekannter Regimegegner wurde Schmid in Tübingen zunehmend isoliert. Man mied den Umgang mit ihm, weil man sich politisch zu diskreditieren fürchtete. An der Universität gingen die Studentenzahlen rapide zurück. 1939 waren nur noch 1500 Studenten an der Universität immatrikuliert, was einen Rückgang der Studentenzahlen um mehr als so% bedeutete‘. Die juristische Fakultät war besonders stark von dem Rückgang betroffen. Waren im Wintersemester 1932/33 noch 478 Studenten für das Fach Jura eingeschrieben, so waren es 1941 nur noch go, weniger als 10 %?. Carlo Schmid hatte immer weniger Hörer. Seit 1938 bot er nur noch eine Vorlesung und ein Seminar an. Die Teilnahme am Seminar war unentgeltlich, Zeit nach Vereinbarung. Es meldete sich kaum noch jemand, denn seine Karriere förderte man nicht, wenn man sich als Hörer bei Schmid einschrieb. Auch ein Teil seiner ehemaligen Schüler wendete sich von ihm ab und schwenkte zum Nationalsozialismus über, was ihn ganz besonders schmerzte. Noch vierzig Jahre später äußerte er sich sehr betroffen darüber: „Daß so intelligente, edle Jünglinge so denken und fühlen konnten, traf mich im Innersten und ich mußte mich fragen, was wohl der Grund dafür sein mochte, daß moralisches Bewußtsein, Wissen um Recht und Unrecht, Bildung und humanistisches Ideal nicht genügen konnten, um der Verführung durch den Hexenzauber des Erfolges zu widerstehen.“ 3 Schmid war Lehrer und Erzieher aus Leidenschaft. Er empfand den Hörerschwund auch als persönliche Niederlage. Er mußte sich zudem fragen, ob sein Glaube an das „Neue Reich“ nicht eine Selbsttäuschung war.
1939 drohte ihm obendrein der Verlust seiner Lehrberechtigung an der Universität. Die Reichshabilitationsordnung vom Oktober 1938 trennte die Feststellung der Lehrbefähigung durch Verleihung des Titels Dr. habil. von der Erteilung der Lehrberechtigung. Dozenten, die sich vor 1938 habilitiert hatten, mußten innerhalb einer Übergangsfrist einen Antrag auf «Ernennung zum Dozenten „neuer Ordnung“ stellen, falls sie ihre Lehrberechtigung nicht verlieren wollten*. Der Zweck der Novellierung der Reichshabilitationsordnung war eindeutig: Politisch unliebsame Dozenten sollten auf „legalem“ Wege mundtot gemacht werden. Hatte der Sicherheitsdienst der SS doch 1938 beklagt, „daß noch immer nicht alle gegnerischen Kräfte in der Wissenschaft ausgeschaltet“ worden seien’. Carlo Schmid blieb, da er weiterhin an der Universität lehren wollte, nichts anderes übrig, als seine Ernennung zum Dozenten „neuer Ordnung“ zu beantragen. Im Juni 1939 reichte er bei der Fakultät den Antrag ein, den Dekan Georg Eißer, obwohl er ein überzeugter Nationalsozialist war, befürwortend an den Rektor weiterleitete: „Schmid besitzt ein ausgedehntes Wissen auf seinem Lehrgebiet Er hat eine leichte, außerordentlich fesselnde Kunst der Darstellung. Seine Ausführungen zeigen einen hohen Ideenreichtum. Neben diesen fachwissenschaftlichen Kenntnissen besitzt Dr. Schmid auch eine ungewöhnlich ‚große Allgemeinbildung, insbesondere auf philosophischem und künstlerischem Gebiet.“ Einschränkend fügte Eißer hinzu: „Bei seiner ganzen Veranlagung liebt Dr. Schmid eine etwas preziöse und kritische Art, ohne daß damit eine schlimme Absicht verbunden ist.“° Rektor Hermann Hoffmann, ein als entschiedener Nationalsozialist bekannter Psychiater, konnte die befürwortende Stellungnahme Eißers nicht teilen. Schmids Lehrtätigkeit werde zwar „sehr gerühmt“, das „Urteil über seine menschlichen Qualitäten und seine politische Haltung“ sei aber „weniger günstig“. „Wenn die angeordnete Prüfung der Dozenten alter Ordnung den Zweck haben soll, mit kritischem Maßstab unter den in Frage kommenden Persönlichkeiten eine Auslese zu treffen“, müsse die Ernennung Schmids zum Dozenten „neuer Ordnung“ abgelehnt werden’. Hoffmann hatte ansonsten nahezu alle Anträge positiv beschieden“. Nur bei Schmid weigerte er sich, aus politischen Gründen einer Ernennung zuzustimmen. Schmid war offensichtlich der einzige Privatdozent an dieser tiefbraunen Universität, der sich den neuen Machthabern nicht angedient hatte. Dafür wollte man ihn jetzt mit dem Entzug der Lehrberechtigung bestrafen. Beim württembergischen Kultusministerıum scheint Hoffmann als Scharfmacher bekannt gewesen zu sein. Es sprach sich trotz dessen ablehnender Stellungnahme für eine Ernennung Schmids zum Dozenten „neuer Ordnung“ aus?. Das Reichserziehungsministerium stimmte im Oktober 1939 der vorgeschlagenen Ernennung zu’®. Dort wurden fachliche Gesichtspunkte noch mehr berücksichtigt als an der Universität. Zum Berufsverbot war es nicht gekommen, aber akademische Anerkennung sollte Schmid versagt bleiben. Selbst die sonst nach sechsjähriger Dozentenzeit fast automatisch erfolgende Ernennung zum außerplanmäßigen Professor wußten der NS-Dozentenführer und die zuständigen Parteistellen zu vereiteln. Im Sommer 1940 schlugen der Dekan der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät Hero Moeller und der Obmann der Rechtswissenschaftlichen Abteilung der Fakultät Wilhelm Merk die Ernennung Schmids zum außerplanmäßigen Professor vor“. Doch ein entsprechender Antrag beim Kultusministerium in Stuttgart konnte nicht gestellt werden, weil Dozentenführer Robert Wetzel sich weigerte, eine Stellungnahme abzugeben. Der Anatom Robert Wetzel — ein Protege des Reichsführers-SS Heinrich Himmler — war Mitglied des SD und kannte nur ein Ziel: die Vertiefung und Verfestigung der nationalsozialistischen Weltanschauung an der Universität!®. Im November 1941 wurde Wetzel zu einer gutachterlichen Äußerung gezwungen, denn der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung hatte die Fakultät um ein Votum zur Ernennung Schmids zum außerplanmäßigen Professor gebeten. Die Stellungnahme Wetzels war — wie nicht anders zu erwarten — negativ: „Ich stimme den Vorwürfen gegen Schmid nicht bei, wenn sie so weit gehen, ihn als aktiven Staatsfeind zu betrachten. Schmid hat den ganzen Weltkrieg mitgemacht, hat auch nachher seine nationale Gesinnung bekundet (…). Auf der anderen Seite aber steht seine Art des Kritisierens vom Standpunkt des ‚geistig Überlegenen‘ aus. Diese seine geistige und kulturelle Überlegenheit ist nicht so groß, wie sie harmlosen Gemütern erscheint, die dann auch tief von ihm beeindruckt zu sein pflegen. Sie ist aber groß genug, um doch den einen oder anderen Tropfen Gift, den einen oder anderen Schatten der Entidealisierung auf junge Studenten zu werfen. Mag er bleiben und weiter treiben, was er ist und er tut – eine größere Verantwortlichkeit sollte er nicht erhalten, und der Weg dazu sollte ihm nicht gebahnt werden.“ ‚3 Wetzels Gutachten ist ein eindrucksvolles Dokument des Antiintellektualismus der Nationalsozialisten.
Bereits im Frühjahr 1941 hatte Wetzel darauf gedrungen, den freiwerdenden Lehrstuhl für öffentliches Recht, mit dem zugleich die Leitung des völkerrechtlichen Seminars verbunden war, mit einem Hochschullehrer zu besetzen, der in der Hauptsache Völkerrecht lehre, da ansonsten Schmid „auf kaltem Wege“ der Völkerrechtler der Universität“ werde’+. Schmid war inzwischen Kriegsverwaltungsrat in Lille und gar nicht mehr an der Universität tätig. Trotz Wetzels Einwänden entschloß sich das Kultusministerium in Stuttgart im März 1942, einen Antrag auf Ernennung Schmids zum außerplanmäßigen Professor zu stellen. Die Fachgutachten über ihn waren alle äußerst positiv’°. Der Antrag landete in der Parteikanzlei Martin Bormanns, wo man die Entscheidung hinauszögerte. Der Antrag sollte in zwei Jahren noch einmal geprüft werden’‘. Mit anderen Worten: Solange sich Schmid nicht bekehren ließ, konnte er nicht Professor werden. Die Personalpolitik an den Hochschulen lag nun völlig in den Händen . der Partei, gegen deren Votum nichts auszurichten war. Für Schmid war dieses ganze Hin und Her um seine Ernennung zum außerplanmäßigen Professor eine leidige und demütigende Angelegenheit. Immer wieder wurde er aufgefordert, Lebensläufe und Schriftenverzeichnisse bei der Fakultät einzureichen. Wenn er nicht Gefahr laufen wollte, seinen‘ Lehrauftrag doch noch zu verlieren, mußte er den Aufforderungen nachkommen. Außerdem scheint er auf den Professorentitel großen Wert gelegt zu haben. Doch selbst die Anfertigung eines curriculum vitae wurde für ihn zum Problem. In den dreißiger Jahren hatte er sich stets zu seinem jüdischen Lehrer Hugo Sinzheimer, der in der Emigration in den Niederlanden lebte, bekannt’’”. Nun schrieb er erstmals wahrheitswidrig: „Im Jahre 1923 wurde ich von der Universität Tübingen zum Doktor der Rechte promoviert.“’® Hätte er die Wahrheit geschrieben, hätte er die Unterlagen gar nicht erst einzureichen brauchen. Er unterwarf sich auch jetzt nicht den braunen Machthabern, aber in Nebensächlichkeiten, durch die kein anderer zu Schaden kam, ging auch er mittlerweile Kompromisse ein. Es wurde immer schwieriger, sich nicht in der einen oder anderen Form zu kompromittieren. Auch am Tübinger Landgericht traute inzwischen keiner mehr dem anderen. Konformitätsdruck, Mißgunst und Denunziation prägten dort den Arbeitsalltag. Als 1939 ein Justizassistent seine jüdische Ehefrau zum Betriebsausflug mitnahm, erstattete einer seiner Kollegen beim Oberlandesgericht Stuttgart Anzeige. Der dortige Oberlandesgerichtspräsident wollte Aufklärung über den Fall, die er auch bekam: Couragiert antwortete der Tübinger Landgerichtspräsident, daß der Denunziant sich die „Erbitterung aller Kamaraden wegen seines mehr als unkamaradschaftlichen Verhaltens“ zugezogen habe. In Stuttgart war man aber der Meinung, daß das Verhalten des Justizassistenten eine „grobe Ungehörigkeit“ gewesen sei. Dies sei den Beschäftigten am Landgericht in aller Deutlichkeit klarzumachen’®. Schmid geriet am Landgericht immer mehr in die Isolation. 1938 meldete sich zunächst keiner der dortigen Referendare bei ihm zur Ausbildung. Jeder fürchtete, es könnte als ein Bekenntnis zu einem Regimegegner ausgelegt werden. Wer wollte sein berufliches Fortkommen schon riskieren? Schließlich erklärte sich Paul Wilhelm Wenger, der spätere Bonner Redakteur des Rheinischen Merkur, mutig dazu bereit, den Referendardienst bei dem von den Nationalsozialisten verfemten Landgerichtsrat abzuleisten?°. Der Druck auf Schmid wuchs. Sein Kollege Schiele, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit am Gericht NS-Bekenntnis-Lieder absingen ließ, drängte ihn schon seit längerer Zeit zum Parteieintritt. Um seinem Drängen Nachdruck zu verleihen, gab er ungefragt überall negative Beurteilungen über Schmid ab?. Schiele war mit Rauschnabel befreundet, der seit 1937 Kreisleiter in Tübingen war. Der ehrgeizige frühere Volksschullehrer Rauschnabel war ein Silcher-Verehrer und dichtete gelegentlich auch selbst. Er hegte eine unglückliche Bewunderung für den Musensohn Carlo Schmid, den er trotz der ihm bekannten antinazistischen Einstellung für die Partei gewinnen wollte. Deshalb suchte er ihn auch, keine Mühe scheuend, einige Male auf der Waldhäuser Höhe auf, um ihm schmeichelnd zu erklären: „Solange wir Sie nicht haben, haben wir nicht gesiegt.“* Die Besuche im Hause Schmid dauerten nie sehr lange. Schmid wies ihm immer schon bald den Weg zur Tür”. Manchmal bedrängte Rauschnabel, der im Volksmund Saufschnabel hieß, Schmid auch am Juristenstammtisch. Später strickte man ihm daraus den Vorwurf, er habe mit dem Kreisleiter gezecht”*. Rauschnabel ließ sich durch Schmids Zurückweisungen nicht entmutigen. Er scheint allen Ernstes die Absicht gehabt zu haben, Schmid gegen seinen Willen in die Partei aufzunehmen. Jedenfalls teilte dies Schiele, der sich mit Rauschnabel wiederholt darüber unterhielt, wie Schmid in die Partei hineinzukriegen sei, Gebhard Müller 1946 mit?5. Nach Darstellung Schieles soll Rauschnabel einen Aufnahmeantrag für Schmid gestellt haben, der dann aber vom Geschäftsführer der NSDAP Wäürttembergs Helmut Baumert, der vor 1937 Kreisleiter in Tübingen war, abgelehnt worden sei”. Wenn Schieles Darstellung stimmt, mußte Carlo Schmid Baumert dankbar sein. Wer hätte ihm nach 1945 geglaubt, daß er unfreiwillig Mitglied der Partei geworden war? In den fünfziger Jahren.setzte sich Schmid dafür ein, daß Rauschnabel wieder sein Lehramt ausüben konnte, Rauschnabel war 1949 für den in der „Reichskristallnacht“ verübten Brandanschlag gegen die Tübinger Synagoge zur Verantwortung gezogen und von der Strafkammer des Tübinger Landgerichts zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt worden”. Schmid entschuldigte Rauschnabels Vergehen nicht. Aber er war fest davon überzeugt, daß er und sein Freund Victor Renner im KZ gelandet wären, „wenn ein anderer als Rauschnabel Kreisleiter in Tübingen gewesen wäre“ ”®, Rauschnabel wehrte Denunziationen, die ihm hätten gefährlich werden können, ab. In Schmids Augen war Rauschnabel eher ein „Polterer“ als ein Scharfmacher”?., Bisher hatten Rauschnabel und Sandberger ihn vor dem Zugriff der Gestapo bewahrt. Aber er war politisch gefährdet. Was würde aus seiner Familie werden, wenn der Ernährer ausfiel? Seine Frau mußte sich in den Jahren 1939/40 mehrmals in ein Sanatorium begeben. Wie hätte sie, die ohnehin nur schwer mit den Widrigkeiten des Lebens fertig wurde, vier Kinder, von denen zwei nicht einmal das Schulalter erreicht hatten, durch diese schwere Zeit bringen sollen? Lydia Schmid war ihrem Mann in dieser Leidenszeit keine Stütze, wenngleich sie in der Ablehnung des Nationalsozialismus mit ihm einig war. Die politische Entwicklung war ein häufiger Gesprächsstoff im Hause Schmid. Am Mittagstisch oder beim Abendbrot besprach man die neuesten politischen Ereignisse. Die offenen ‚Worte über das Regime, die dort fielen, durften nicht nach außen dringen. Den Kindern mußte eingefleischt werden, daß sie in der Schule auf keinen Fall erzählen durften, was sie zu Hause gehört hatten?®. Aber auch das Kindermädchen, deren Freund Leutnant und überzeugter Parteianhänger war, hörte mit. Konnte man sicher sein, daß sie nicht herumerzählte, was im Hause Schmid am Mittagstisch gesprochen wurde? Martin Schmid hatte sie einmal weinend in der Küche angetroffen, nachdem sein Vater ‚wieder einmal Hitlers verbrecherische Kriegsabsichten verurteilt hatte?‘. Die psychische Belastung wurde immer unerträglicher. Die Atmosphäre von Bespitzelung und Denunziation trieb die Familie immer mehr in die Isolation. Wo und mit wem konnte man noch offen reden? Größere Versammlungen in Privathäusern waren verboten. Auch die Dante-Abende, an denen Schmids Herz hing, wurden nicht mehr gestattet. Einige seiner früheren Freunde begannen, sich von ihm abzuwenden. Carlo Schmid verglich sein Schicksal mit dem Dantes, der fast zwanzig
Jahre in der Verbannung hatte zubringen müssen. 1939 schrieb er unter dem Titel „Die Versuchung“ eine Erzählung über Dantes Verbannung, die in Wirklichkeit ein Selbstgespräch war. Wieder einmal wurde Literatur für ihn zum Medium der Selbstaussprache. Die Erzählung beginnt mit den Sätzen: „Dante lebte das siebente Jahr in der Verbannung. Er hatte sich daran gewohnt, daß die Vielen, denen der Zuruf der Menge Beweis für die Erwähltheit ist, ihn verspotteten oder für einen Bösen und Abseitigen hielten. Das kümmerte ihn nicht mehr, denn er hatte gelernt, daß der Haufe seinem Wesen nach den, der ein hohes Denkbild lebt, hassen und belachen muß.“ Dante trotzte allen Versuchungen, aus der Verbannung zurückzukehren, aber er ist verbittert, fast hoffnungslos und völlig vereinsamt: „Was ihn schmerzte, war, daß Freunde, die ihm Herberge boten, je länger je mehr zu ihm in das Verhältnis wohlwollender Duldung traten. Sie rühmten seine Folgerichtigkeit und zollten seiner Unbeugsamkeit Bewunderung, doch war dies im Laufe der Jahre immer mehr ein freundliches Ertragen verjährter Sonderbarkeiten geworden, die man einem großen Unglücklichen gerne nachsah.“3* Aus der Erzählung spricht Verzweiflung. Ein Ende der Verbannung scheint nicht in Sicht. Dante wäre ohne seine humanistische Vision und seinen Geistesaristokratismus der Versuchung erlegen. Schmid auch. Für einen Angehörigen einer sozialistischen Solidargemeinschaft war es leichter, die Pressionen und Demütigungen des NS-Regimes auszuhalten. Er hatte den Rückhalt einer Gruppe Gleichgesinnter. Wer völlig isoliert war wie Schmid, konnte seine Kraft zum Widerstehen nur aus einem elitären Minderheitsbewußtsein ziehen. Es war die psychische Voraussetzung für die Immunisierung gegen den Nationalsozialismus. Im Mai 1939 verunglückte Woldemar von Uxküll, der Freund, der ihm am nächsten gestanden und ihm die Treue gehalten hatte, tödlich. Der unerwartete Tod des Freundes traf ihn schwer. Vier Tage später schrieb er an Uxkülls Vater: „Was mir der Verlust des Freundes bedeutet, brauche ich Ihnen nicht auszuführen. Mein Leben ist viel, viel ärmer geworden. Unsere Freundschaft war ein dauerndes Leben des einen aus den Kräften des anderen.“3? Zusammen mit Alexander Graf von Stauffenberg, dem Cousin des Verstorbenen, hielt er die Totenwache bei dem toten Freund#. Alexander von Stauffenberg hatte seinen Cousin, der wie er selbst Althistoriker und Georgeaner war, des öfteren in Tübingen besucht. Bei diesen Besuchen hatte Schmid Stauffenberg kennengelernt. Auch Claus von Stauffenberg war ihm dort einmal begegnet. Es scheint zu einer heftigen politischen Kontroverse gekommen zu sein. Stauffenberg hatte das NSRegime zu verteidigen gesucht’. Alexander von Stauffenberg, mit dem zusammen Schmid nun den toten Freund betrauerte, stand dem Regime damals weitaus kritischer gegenüber als sein Bruder Claus. Schmid organisierte die Begräbnisfeierlichkeiten. Der Totenfeier wurde ein Spruch aus dem Lukasevangelium Kapitel ı2, Vers 10 vorangestellt: „Und jedem, der ein Wort wider den Menschensohn redet, dem soll es vergeben werden; dem aber, der wider den Heiligen Geist lästert, wird nicht vergeben werden.“ Für die Universität hielt Rudolf Stadelmann, einer der wenigen Hochschullehrer, zu denen Schmid noch engeren Kontakt hatte, die Totenrede. Schmid schrieb zum Andenken an den Freund ein Gedicht?”:
Wie Du am ersten tage warst so blieb Dein bild Das haupt umwallt ein lichter schein von gold – es quillt Aus Deinen meeresaugen blau ein dunkles licht Wir leuchten wenn es sich in unseren seelen bricht. Der schatten den die angst des eitlen strebens gab Verwest mit Deiner sterblichkeit in Deinem grab. Du fingst den traum und warfst ihn rück mit neuem glanz Um Deine schläfen flicht er nun den letzten kranz.
Das „dunkle Licht“ ist ein Topos aus Hölderlins Dichtung. Es steht für das Dionysische, für die Unerfülltheit des Traums, für die Melancholie. Woldemar von Uxküll war wie Schmid ein melancholischer Mensch. Es wurde sogar vermutet, daß sein Unfall Selbstmord gewesen sei, was aber nicht der Fall war. Beide hatten sich in ihrem Traum von einem unentfremdeten Leben, in ihrem Leiden an der Massengesellschaft gegenseitig bestätigt. Je länger Woldemar tot war, desto mehr fühlte Schmid die „Leere“, die dieser „hinter sich gelassen“ hatte°°. Drei Monate nach dem Tod Uxkülls brach der Zweite Weltkrieg aus. Schmid hatte den Krieg vorausgesehen, wurde vom Ausbruch dann aber doch überrascht. Mit dem jungen Joachim von Adelsheim-Ernest, einem ‚Sohn einer Cousine Uxkülls, hatte er im September nach Rom reisen wollen, um ihn dort durch die Museen zu führen. Nun mußte die Romreise auf unbestimmte Zeit verschoben werden’?. Den 21jährigen von Adeisheim-Ernest, der an die Front mußte, mahnte er, sich in den Kampfhandlangen nicht zu exponieren®°. Über das Ausmaß an Verheerung, das dieser Krieg anrichten würde, war er sich von vornherein im klaren. Daß der Krieg ein Verbrechen war, stand für ihn außer Frage. Ende 1939 hatte Schmid eine Einladung zu einem Besuch der Universität in Warschau bekommen. Die Einladung ging vermutlich von der Arbeitsgemeinschaft für deutsch-polnische Rechtsbeziehungen aus, die im Dezember ihre Jahrestagung in Warschau abhielt*. Schmid kam auch nach Krakau. Er erfuhr wohl nicht alles, aber genug um zu erkennen, daß dort furchtbare Verbrechen begangen wurden. 183 Professoren, Dozenten und Assistenten der Jagiellonen-Universität Krakau waren am 6. November 1939, dem Tag, an dem die Universität hatte wiedereröffnet werden sollen, verhaftet und anschließend in das KZ Sachsenhausen deportiert worden. Die fadenscheinige Begründung der Nationalsozialisten für diese Aktion lautete: „Die hiesige Universität hat ihr akademisches Jahr begonnen ohne die ausdrückliche Erlaubnis der deutschen Behörden. Das ist böser Wille. Ferner ist allgemein bekannt, daß die Dozenten der deutschen Wissenschaft gegenüber immer feindlich eingestellt waren.“ *” In Wirklichkeit wollte die SS durch die Verhaftung die polnische Intelligenz ausschalten und letztendlich vernichten. Die Scheußlichkeit dieses Verbrechens verfolgte Schmid sein Leben lang. Als er 1958 im Bundestag von Vertretern der Deutschen Partei angegriffen wurde, weil er in Polen ein Schuldbekenntnis für die dort von Deutschen begangenen Verbrechen abgegeben hatte, entgegnete er noch immer ergriffen: „Lassen Sie sich (…) erzählen, wie man in Sachsenhausen die Professoren aus Krakau umgebracht hat! Vielleicht geht es Ihnen dann auch kalt den Rücken herunter.“ # Carlo Schmid konnte nicht sicher sein, daß ihn nicht das gleiche Schicksal ereilte wie die polnischen Professoren. Seit Kriegsbeginn wurden Briefe, die er vom Ausland erhielt, von Wehrmachtsstellen geöffnet. Es waren Briefe von Freunden, die emigriert waren, die keinen Hehl aus ihrer Abscheu gegenüber dem Regime machten. So schrieb der nach Italien emigrierte Henry Furst: „Ich will nicht sterben! Ich will das Ende vom Liede hören. Ich liebe die Bücher, die ein Ende haben, wo der Üble gezüchtigt wird und die Unschuld ins Licht gestellt. Ich will leben, das zu sehen.“ ** In einem anderen Brief bot er Schmid seine Hilfe an: „Wenn Sie gute Freunde haben, die gefangengenommen werden, so lassen Sie mich es wissen, vielleicht kann ich etwas für sie tun (…).“*5 Es war sträflicher Leichtsinn, so etwas zu schreiben. Ein solcher Brief hätte, wenn er in die Hände der Gestapo gekommen wäre, Schmid Kopf und Kragen kosten können. Er wurde in jener Zeit wiederholt auf die Kreisleitung zitiert, wo ihn Fragen erwarteten, die „nicht gerade Gutes ahnen ließen“ #, Noch immer hoffte er auf eine Flucht in die Wehrmacht. Bisher waren alle Versuche auf Übernahme in das Offizierskorps trotz der Dolmetscherkurse, die er dort abgeleistet hatte, gescheitert. Bekannte versprachen, ihm zu helfen, bedauerten aber zunächst, nichts für ihn tun zu können?7. Im Frühjahr 1940 forderte die Militärverwaltung in Brüssel Schmid als Kriegsverwaltungsrat an. Die bereits erfolgte Einberufung wurde Anfang Juni wieder rückgängig gemacht, weil Kreisleiter Rauschnabel eine ablehnende politische Beurteilung abgegeben hatte“. Auch ein zweites Gutachten fiel negativ aus. Es war zum Verzweifeln. Schmid las und übersetzte Baudelaire. Er brauchte Ablenkung. Einige Tage verbrachte er im Schwarzwald auf dem Gut Helene von Ernests, der Mutter Joachim von Adelsheim-Ernests*. Inzwischen hatte Daiber, Offizier beim Wehrbezirkskommando Tübingen, ein längeres Gespräch mit Rauschnabel geführt. Der Kreisleiter war nun bereit, ein positives Gutachten über Schmid abzugeben°. Was könnte besser die Herrschaft reiner Willkür im NS-Regime demonstrieren als diese Farce? Am 2o. Juli erhielt Schmid eine Einberufung als Kriegsverwaltungsrat. Neuer Dienstort war Lille. Die Stelle sollte ein „Schlupfloch“ sein, in dem er die NS-Zeit ohne größere politische Bedrohung überwintern konnte‘‘. Zwei Tage später reiste er nach Köln, wo er sich bei der zuständigen Militärverwaltungsstelle zu melden hatte. Dante, Baudelaire und Machiavelli packte er in seinen Koffer. Noch glaubte er, daß ihn seine Tätigkeit in Frankreich nicht mehr beanspruchen werde als sein Richteramt in Tübingen”.
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