Skip to main content

1896-1979 eine Biographie : Europa und die deutsche Einheit

Carlo Schmid entdeckte Europa nicht erst nach 1945. Schon Ende der zwanziger Jahre hatte er ein europäisches System kollektiver Sicherheit befürwortet, in den 30er Jahren hatte er nach den geistigen Grundlagen für ein geeintes Europa gesucht. Dante, der Ahnherr des Neuen Reichs, war auch ein Prophet europäischer Einheit. Das NS-Regime hatte die Europa-Idee diskreditiert, zugleich aber bei seinen Gegnern, allen voran den Mitgliedern des Kreisauer Kreises, die Erkenntnis wachsen lassen, daß im Nachkriegseuropa das Nationalstaatsprinzip überwunden werden müsse. Die Übertragung nationaler Souveränitätsrechte an eine europäische Gemeinschaft galt als beste Gewähr dafür, daß Europa nicht noch einmal zum Schauplatz eines Kriegs wird‘.

Daß der Weg nach Europa die Aussöhnung der ehemaligen Erbfeinde Frankreich und Deutschland voraussetzte, stand für Schmid schon seit den frühen goer Jahren außer Zweifel. Schon in Lille hatte er mit französischen Freunden die Möglichkeit einer deutsch-französischen Verständigung erörtert. Nach 1945 überwogen in Frankreich die Befürworter einer Zerstückelung Deutschlands gegenüber denen, die versöhnungsbereit erklärten, eine Integration Deutschlands in eine europäische Gemeinschaft sei die beste Sicherheitsvorkehrung gegen eine erneute deutsche Aggression. Zu den letzteren zählten u.a. der französische Sozialistenführer Leon Blum und Salomon Grumbach, der schon vor 1933 ein Propagandist ‚deutsch-französischer Freundschaft war. Blum und Grumbach hatten bereits 1946 Tübingen besucht. Grumbach nahm 1947 am Nürnberger Parteitag der SPD teil, wo Schmid ein langes Gespräch mit ihm führte”. Mit Blum und Grumbach verstand sich Schmid auf Anhieb, obwohl beide keinen Zweifel darüber ließen, daß Europa nur Realität werden konnte, wenn Deutschland zu Vorleistungen bereit war’.

Keine deutsch-französische Verständigung war möglich ohne eine Verständigung über das Ruhrgebiet. Für die Franzosen war die Ruhrindustrie ein Symbol wirtschaftlicher Macht und eine Brutstätte des Nationalsozialismus*. Selbst die Franzosen, die die Hand zur Versöhnung reichten, waren unter keinen Umständen bereit, von ihrer Forderung nach einer internationalen Kontrolle des Ruhrgebietes abzurücken. Carlo Schmid kannte die französische Mentalität, er konnte die kollektiven Ängste und Vorurteile nachempfinden. Aber ihm stand auch wie jedem Angehörigen seiner Generation das Schreckgespenst des Versailler Vertrages vor Augen.

Die internationale Kontrolle der Erzeugung und Verteilung der Ruhrindustrie durfte, so faßte er 1947 seine Überlegungen zusammen, nur eine „Vorleistung“, kein „Selbstzweck“ sein. Im Ruhrgebiet könne ein „Modell demokratischer kooperativer Kontrolle (…) wirtschaftlicher Schlüsselpositionen und territorialer Rohstoffmonopole“ geschaffen werden, das dann aber auf europäische Ebene übertragen werden müsse. Schmid gehörte zu den ersten, die eine Montanunion befürworteten.

Eine Internationalisierung des Ruhrgebietes, von der in der offiziellen französischen Propaganda viel die Rede war, lehnte er auf das entschiedendste ab. Zu einer solchen „Verstümmelung Deutschlands“ könne kein Deutscher „seine Zustimmung“ geben, denn sie würde mit Sicherheit eine nationalistische Reaktion hervorrufen®. Die Sozialisierung der Schwerindustrie des Ruhrgebietes, die sich die SPD zur Aufgabe mache, sei das beste Mittel zur Friedenssicherung. Unter internationaler Kontrolle wollte Schmid keine einseitige internationale Kontrolle verstanden wissen.

Deutschland müsse gleichberechtigt an der Kontrelle beteiligt werden”. Schmid war überzeugt, daß man ohne einen wirtschaftlichen Zusammenschluß der europäischen Staaten zu keinem vereinigten Europa kommen werde. Man brauche „kein Marxist zu sein, um zu wissen, daß politische Konstruktionen eines adäquaten ökonomischen Unterbaues bedürfen, um haltbar zu sein“°. Die Zeitgeschichte bot Beispiele genug. Er schrieb dies als Replik auf einen Beitrag des Mitbegründers des Royal Institute of International Affairs und Moltke-Freundes Lionel Curtis, der ein kollektives Sicherheitssystem als Schrittmacher zu einem vereinten Europa vorgeschlagen hatte. Schmid mochte nach dem, was er in den 2oer und 30er hautnah miterlebt hatte, daran nicht mehr glauben. Die wirtschaftliche Verflechtung schien ihm der stärkste Motor auf dem Weg nach Europa, gerade auch im Hinblick auf eine gedeihliche Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Franzosen. In diesem Punkt wußte er sich mit Adenauer einig.

Von Europa sprach damals fast jeder. Die Intellektuellen hatten das Thema Europa zu dem ihren gemacht, aber nur selten praktische Pläne zur Umsetzung ihrer Europa-Ideen entwickelt. In der SPD hoffte man auf ein sozialistisches Europa als dritter Kraft, das die feindlichen Blöcke auseinanderhielt’°. Richard Löwenthals Ende 1946 veröffentlichte Studie „Jenseits des Kapitalismus“, in der die Zukunftsvision eines freiheitlichen und sozialistischen Europa unter Führung der britischen Labour-Party als dritter Block zwischen den feindlichen Giganten USA und UdSSR entwikkelt wurde“, bestärkte die Sozialdemokraten in ihrer Erwartung, daß es eine realistische sozialistische Alternative zu einer Politik des Kalten Kriegs gebe. Carlo Schmid schätzte Löwenthals Buch, nicht minder den Verfasser, der bald zu einem seiner „liebsten Freunde“ wurde‘?. Nach Löwenthals Rückkehr aus dem englischen Exil im Jahre 1948 war Schmid häufig bei ihm und Karl Anders zu Gast, stellte mit ihnen zusammen scharfsinnige politische Analysen an und plünderte nicht selten den Kühlschrank seiner Gastgeber

Auch in Schmids Europakonzept war Europa die Rolle einer dritten Kraft zwischen den Blöcken zugedacht, doch er setzte nicht wie Löwenthal in seinem Buch alle Hoffnung auf eine europäische Initiative der Labour-Party. Schmid hoffte auf ein sozialistisches Europa, aber er hatte doch beträchtliche Zweifel, daß es sich verwirklichen lasse. Nach seinem Zukunftsentwurf konnte Europa nur dann zu einem dritten Partner werden, wenn die europäischen Staaten sich dazu entschließen konnten, auf ihre Souveränität zugunsten einer überstaatlichen Gemeinschaft zu verzichten. Die auswärtigen Beziehungen, die Landesverteidigung, der Großverkehr, die Steuerung der Energieversorgung, die Wirtschaftsplanung und die Lenkung der Schlüsselindustrien sollten einem europäischen Bundesstaat übertragen werden’*. Schmid war Realist genug, um sich darüber im klaren zu sein, daß ein europäischer Bundesstaat sich nicht von heute auf morgen verwirklichen lasse. Man müsse stufenweise vorgehen, zunächst Regionalpakte schließen oder Verflechtungen in Teilsektoren herstellen.

Schmid schwankte zwischen aktivem Europaengagement, dem Plädoyer für die Schaffung eines Montanpaktes und der resignativen Feststellung, daß es am besten sei, Deutschland bleibe vorläufig außenpolitisch „inaktiv“. In den meisten seiner Aufsätze sprach er sich aus Furcht, es könnte zu einer Neuauflage des Versailler Vertrags kommen, für die letztere Möglichkeit aus. Jedes Einverständnis mit einer aktiven außenpolitischen Rolle Deutschlands müßte „mit einem Preis bezahlt werden, der eine verhängnisvolle Hypothek auf die Zukunft darstellen könnte, denn die Besatzungsmächte würden beim heutigen Stande ihres politischen Denkens eine außenpolitische Aktivierung Deutschlands nur unter Bedingungen in Kauf nehmen, die eine dauernde Lähmung des deutschen wirtschaftlichen und politischen Potentials bedeuten würden“‘ ?. Eines war sicher: Die Zeit würde für Deutschland arbeiten, genauer gesagt für Westdeütsehland, denn die Chancen für eine Überwindung der deutschen Teilung nahmen von Tag zu Tag ab. Bereits im Frühjahr 1947 stellte Schmid betroffen fest, daß es voraussichtlich in absehbarer Zeit zu keiner Einigung über die deutsche Einheit kommen werde. Es müsse aber alles getan werden, um die sowjetisch besetzte Zone zurückzugewinnen’®. Ein Konzept, auf welche Weise das geschehen könnte, hatte er nicht. Er plädierte für ein Europa der dritten Kraft und war zugleich ein engagierter Verfechter eines westeuropäischen Bundesstaates. Mit dem Dritte-Kraft-Konzept verband sich vorerst kaum mehr als die vage Hoffnung, daß die Sowjetunion irgendwann einmal unter dem Druck des Westens an dem Faustpfand Osteuropa und Mitteldeutschland das Interesse verlieren könnte!7. Es war ein Utopie, an der Schmid festhielt, weil er sich mit der grausamen Realität der Teilung Europas und Deutschlands nicht abfinden wollte und konnte. So erklärte er mit dem ihm eigenen Pathos, daß ein freiheitliches Europa als dritter Partner allein die Welt davor „bewahren“ könne, „in einem tragischen Entweder-Oder zwischen Ost und West in Stücke gerissen zu werden“ ‚

Schmid riet Deutschland zu außenpolitischer Inaktivität, war aber selbst wie kein anderer Politiker außenpolitisch aktiv. Er gehörte zu den ersten, die sich in der entstehenden Europabewegung engagierten. Die deutsche Europabewegung steckte zwei Jahre nach dem Zusammenbruch Deutschlands noch in den Kinderschuhen. Im Sommer 1947 bereiste der Deutschlandbeauftragte der UEF Ernst von Schenck die Westzonen, um Mitarbeiter für die Europabewegung zu gewinnen‘?. Die UEF, ein Zusammenschluß der europäischen Föderalistenverbände, vertrat wie Carlo Schmid ein Konzept Europas als dritter Kraft. Ihr im Sommer 1947 verabschiedetes Programm lautete: „Wenn auch eine europäische Föderation anfänglich nur einen Teil der Staaten Europas umfassen kann, so wird doch die U.E.F. die Teilung Europas in zwei feindliche Blöcke niemals als eine Tatsache hinnehmen. Der Umstand, daß die Arbeit der Sammlung in Westeuropa begonnen wird, bedeutet für die Länder des Westens, daß sie der Gefahr entgehen, Gegenstand einer Machtpolitik zu werden, daß Europa, wenigstens zum Teil, seine legitime Unabhängigkeit wieder gewinnt (se)

Mit diesem Programm konnte sich Schmid vorbehaltlos einverstanden erklären. Er sagte Schenck seine Mitarbeit zu. Zu dem Kongreß der UEF in Montreux im August 1947 konnte er nicht kommen, weil die französische Militärregierung ihm die Ausreise verweigerte. Auch auf der ersten großen Kundgebung der Europäischen Bewegung, die im Mai 1948 in Den Haag stattfand, fehlte Schmid. Er hatte sich einem Beschluß des SPD-Vorstandes gebeugt. Der Haager Kongreß ging auf eine Initiative des Schwiegersohnes Churchills Duncan Sandys zurück, der eine stark antisowjetisch ausgerichtete Europabewegung ins Leben gerufen hatte, die sich mit dem Gedanken eines sozialistischen Europa zwischen den Blöcken nur schwer in Einklang bringen ließ. Die Labour-Party und die französischen Sozialisten lehnten die Teilnahme an dem „Churchill-Unternehmen“ ab, worauf die Parteizentrale in Hannover die Direktive ausgab, daß auch die deutschen Sozialdemokraten dem Kongreß fernzubleiben hatten?!, Schmid hielt diese Abstinenz für einen großen Fehler. Wenn die Partei ein Wort in der internationalen Politik mitreden wollte, mußte sie ihre Berührungsängste gegenüber konservativen Gruppen abbauen. Anfang April mahnte er im Parteivorstand mit beschwörenden Worten, daß die SPD sich die „Idee der Vereinigten Staaten von Europa zu eigen“ machen müsse?3. Sein wortreiches Bemühen um eine Änderung des Parteibeschlusses war vergeblich. Ollenhauer empfahl oder besser befahl die Nichtbeteiligung am Haager Kongreß, und Carlo Schmid war nicht der Mann, der sich über einen Parteivorstandsbeschluß hinweggesetzt hätte. In seinem Absageschreiben an die UEF nannte er nicht den wahren Grund für sein Fehlen. Er schob vor, wegen der aus „überwiegend politischen Gründen notwendig gewordenen Übernahme“ eines Referates auf dem Berliner SPD-Bezirksparteitag leider nicht kommen zu können. An der Arbeitstagung der europäischen Föderalisten in Bad Homburg, die im Anschluß an den Haager Kongreß stattfinden sollte, wollte er auf jeden Fall teilnehmen**.

Schmid sollte mit seiner Warnung, daß die SPD sich durch eine Nichtbeteiligung an der Haager Konferenz aus der Europabewegung selbst ausschalte, recht behalten. Der Haager Kongreß, an dem über 700 Politiker und Repräsentanten des öffentlichen Lebens teilnahmen, wurde zu einer spektakulären Demonstration des Europäischen Einigungswillens und zu einem Triumph der Konservativen, die der Europabewegung ihren Stempel aufdrücken konnten. Adenauer gelang es, sich als Europäer zu profilieren und die CDU zur Europapartei zu stilisieren”

An der vom 20.-24. Mai nach Bad Homburg einberufenen Arbeitstagung der UEF nahm Schmid, wie angekündigt, teil. Er hielt das Eingangsreferat, in dem er konkrete Überlegungen zum Aufbau eines europäischen Bundesstaates und zur Rolle Westdeutschlands im europäischen Einigungsprozeß anstellte. Zunächst unterstrich er noch einmal seine schon früher geäußerte Auffassung, daß die drei Westzonen vorerst nicht in den europäischen Föderationsprozeß miteinbezogen werden sollten. Eine spätere Eingliederung der drei westlichen Zonen in die europäische Gemeinschaft schloß er aber nicht aus. Sie dürfe nur, wie er bewufßst vage formulierte, nicht „zum falschen Zeitpunkt“ erfolgen”. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Verbindungen der drei Westzonen mit den europäischen Staaten, soweit sie unterhalb der Ebene staats- und verfassungsrechtlicher Zusammenschlüsse blieben, begrüßte er ausdrücklich als einen konstruktiven Beitrag zu einer europäischen Friedenspolitik?’. Mit anderen Worteri: Der westliche Teil Deutschlands konnte sich an allen europäischen Zusammenschlüssen beteiligen, durch die nicht die deutsche Teilung völkerrechtlich fixiert wurde. Einer westdeutschen Beteiligung an einer Montanunion stand nichts im Wege. Einer Integration des halben Deutschland in einen europäischen Bundesstaat dagegen sollten die Deutschen zunächst nicht ihre Zustimmung geben, weil damit die Teilung Deutschlands zementiert wurde. Carlo Schmid konnte sich in Bad Homburg mit dem von ihm entwickelten Konzept durchsetzen. Ein Antrag des rheinland- pfälzischen Ministers Adolf Süsterhenn auf eine sofortige Eingliederung Westdeutschlands in einen westeuropäischen Bundesstaat wurde abgelehnt”*.

Die Homburger Tagung hatte in der Öffentlichkeit freilich weit weniger Resonanz gefunden als die Haager Konferenz, über deren Verlauf auch Ernst von Schenck nicht glücklich gewesen war. Er bedankte sich noch einmal brieflich bei Carlo Schmid für dessen Teilnahme an der Homburger Tagung: „Jedenfalls ist für mich das Entscheidende, daß diese Tagung – nicht zuletzt durch Ihre Teilnahme – nicht nur de facto, sondern auch in ihrer Wirkung nach außen hin deutlich genug kein reaktionäres Gepräge trug und trägt.“ Die Konferenz sei ein erster Gegenschlag gegen die auch in Den Haag sichtbar gewodene Tendenz gewesen, Europa zu einem Anliegen der Konservativen zu machen”. Schmid pflichtete Schenck bei. Er hoffte, daß die Homburger Tagung zum Anfang einer aktiven Beteiligung der SPD in der Europabewegung werde, und regte an, daß man sich bald wieder einmal „auf breiter Grundlage“ treffe?°. Nachdem die Barrieren gefallen waren, schlossen sich auch zahlreiche Sozialdemokraten der europäischen Bewegung an. Carlo Schmid wurde im Sommer 1948 in die politische Kommission der Europa-Union berufen, zu der sich die deutschen Europaverbände im Februar 1948 zusammengeschlossen hatten?‘. Seit 1947 beteiligte er sich, wann immer er Zeit fand, an den Gesprächen der Europäischen Akademie Schlüchtern. An ihm lag es nicht, daß der SPD bald Europafeindlichkeit nachgesagt wurde.

Kurt Schumacher galt als Gegner der europäischen Einheit, als unverbesserlicher Nationalist. Der Parteivorsitzende der SPD verbarg sein Mißtrauen gegen die Europa-Union nicht. Er wollte sich den Verdacht nicht ausreden lassen, daß die Europabewegung eine „Europa-A.G.“, ein klerikal kapitalistisches Europa anstrebe3?. Zwar gab auch Schumacher wiederholt ein Bekenntnis für ein vereinigtes Europa ab, aber für ihn kam nur die gleichberechtigte Integration Deutschlands in eine sozialistische europäische Gemeinschaft in Frage. Der europäische Kontinent konnte seiner Ansicht nach „als ökonomisches Ganzes bloß in der Form eines demokratisch kontrollierten Sozialismus existieren“ 33, Sein schneidender Tonfall, in dem er die Gleichberechtigung Deutschlands forderte, erweckte im Ausland den Eindruck, daß es sich bei ihm um einen linken Nationalisten handle. So konnte es nicht ausbleiben, daß man der SPD bald zu Unrecht unterstellte, sie sei antieuropäisch gesinnt.

Als der französische Außenminister Robert Schuman im Herbst 1948 Deutschland besuchte, überging er die Sozialdemokraten geflissentlich. Er führte ein langes Gespräch mit dem Vorsitzenden der CDU der britischen Zone Konrad Adenauer, suchte aber nicht die Aussprache mit einem Repräsentanten der SPD. Als man ihm deshalb Vorhaltungen machte, versicherte er, bei seinem nächsten Deutschlandbesuch Carlo Schmid aufzusuchen, um sich mit ihm über Fragen der Deutschland- und Europapolitik zu unterhalten’*. Schmid hielt man für einen überzeugten Europäer, die SPD stand im Rufe, im nationalen Fahrwasser zu schwimmen. Hier begann schon die für Schmid verhängnisvolle Trennung zwischen ihm und seiner Partei, die ihn dazu nötigte, sich der offiziellen Parteilinie mehr anzupassen als für seine Profilierung als Politiker gut war. Ihm konnte, solange die SPD fest in der Hand Schumachers war, nicht daran gelegen sein, daß im Ausland ein Gegensatz zwischen ihm und dem SPD-Parteivorsitzenden aufgebaut wurde, durch den das ohnehin gespannte Verhältnis einer Zerreifsprobe ausgesetzt worden wäre. So versuchte er die undankbare Rolle des Mittlers zu spielen.

Wenn die SPD die Aussöhnung mit Frankreich auf ihre Fahnen schreiben wollte, durften sich die Franzosen und Schumacher, der in der französischen Zone lange Zeit Sprechverbot hatte, nicht länger spinnefeind gegenüberstehen. Anfang 1948 konnte Schmid Schumacher hocherfreut mitteilen, daß eine „hohe französische Persönlichkeit“ sich am 14. Februar mit dem SPD- Parteivorsitzenden in Tübingen treffen wolle. Schmids Brief war sichtlich diktiert von der Furcht, Schumacher könne das Gesprächsangebot ausschlagen. Er berichtete von einer Unterredung, die er mit Deutschlandminister Schneiter anläßlich dessen Besuchstournee durch die französisch besetzte Zone geführt hatte, bei der man hinsichtlich der Deutschlandpolitik zu einer weitgehenden Übereinstimmung der Standpunkte gekommen sei. Schneiter habe den Deutschen das Recht zugestanden, „sich die Verfassung zu geben, die sie wünschten“. Im übrigen sei Schneiter davon überzeugt, daß alles, was man in der französischen Presse über den Nationalismus des SPD-Parteivorsitzenden lese, „Unsinn“ sei. Schneiter habe ihn gebeten, Begegnungen zwischen französischen Parlamentariern und „bedeutsamen politischen Persönlichkeiten Deutschlands“ zu vermitteln?5. Nachdem Schmid alle Register der Überredungskunst gezogen hatte, willigte Schumacher in die Unterredung ein.

Am 14. Februar, morgens acht Uhr holte Schmid Schumacher in der Parteizentrale in Hannover ab und brachte ihn nach Tübingen, wo ihn Jean Laloy, der später als französischer Verbindungsoffizier die Arbeit des Parlamentarischen Rates begleitete und überwachte, erwartete. Die Unterfedang dauerte sechs Stunden. Schmid dolmetschte?°. Das gab ihm Gelegenheit, scharfe Formulierungen durch versöhnlich klingendere zu ersetzen. Trotzdem endete das Gespräch im Dissens. In den beiden Hauptstreitpunkten föderalistische Ordnung Deutschlands und Internationalisierung der Ruhrindustrie war keiner der Gesprächspartner bereit, dem anderen einen Schritt entgegenzukommen, obwohl sich beide um Verständnis bemühten. Kurt Schumacher machte seinem Gegenüber unmißverständlich klar, daß der Marshallplan seiner Ansicht nach eine Föderalisierung Deutschlands ausschließe und die Ruhrindustrie Eigentum des deutschen Volkes bleiben müsse. Laloy war trotzdem nicht völlig unzufrieden über den Gesprächsverlauf?”. Offensichtlich hatte er sich Schumacher schlimmer vorgestellt, als er war. Schumacher dagegen betonte im Parteivorstand, daß das Gespräch negativ verlaufen sei?“.

Schmids Hoffnung, das Gespräch werde die Franzosen und den SPDParteivorsitzenden einander näher bringen, war zerronnen. Schmid hatte durchaus Verständnis für Schumachers politische Position, die in der Sache oft gar nicht so sehr weit von der seinen abwich. Die beiden Kriegsfreiwilligen des Jahres 1914 waren fast gleichalt. Beide litten unter dem Trauma des Versailler Vertrags und der Denunziation demokratischer Politiker als „Erfüllungspolitiker“. Beide fürchteten, daß die Diskriminierung Deutschlands zu einem Wiederaufleben der nationalen Rechten führen werde. Auch Schmid warnte bei jeder passenden Gelegenheit davor, daß eine differentielle Behandlung des deutschen Volkes einen „Kettenhund- Nationalismus“ heraufbeschwöre??. Auch er vertrat die Auffassung, daß die Deutschen keinen Vertrag unterzeichnen durften, in den die „Drachensaat des Revisionismus“ eingepflanzt war*°. Er war es, der sich im Parteivorstand darüber empörte, daß die sozialdemokratische Partei des Saargebietes der Präambel der Ende 1947 verabschiedeten Saarverfassung zugestimmt hatte, in der der wirtschaftliche Anschluß des Saarlands an Frankreich und die politische Unabhängigkeit des Saarlands vom Deutschen Reich erklärt worden war*‘. In einer Resolution, die er zusammen mit dem aus dem Saarland ausgewiesenen früheren Reichstagsabgeordneten Ernst Roth verfaßte, wurde die Saarverfassung als ein „Hohn auf alle Demokratie“ bezeichnet und die Zugehörigkeit des Saargebietes zu Deutschland unterstrichen**.

Nichts fürchtete Schmid mehr als das Image des „Erfüllungspolitikers“. Da er sein Ohr überall hatte, wußte er aber auch, was politisch möglich war und was nicht. Eine europäische Einigung konnte es nicht geben, wenn die Deutschen nicht zu Vorleistungen bereit waren. Insbesondere in der Ruhrfrage mußte man versuchen zu einem Kompromiß zu gelangen. Auf einer Ende April 1948 in Paris tagenden Sozialistenkonferenz führte Schmid mit Leon Blum ein langes Gespräch über das Ruhrproblem. Auch diese Konferenz war daran gescheitert, daß die französische Forderung nach einer Internationalisierung des Ruhrgebietes von der deutschen Delegation, deren Wortführer Schmid war, abgelehnt worden war. Blum machte einen Kompromißvorschlag, der sich mit Vorstellungen, die Schmid bereits früher entwickelt hatte, deckte und deshalb von ihm nur befürwortet werden konnte. Die Enteignung und Sozialisierung der Ruhrindustrie durfte nur unter dem Vorbehalt vorgenommen werden, daß eine spätere Eingliederung in einen Montanpakt erfolgte. Die Geschäftsführung sollte von einer interalliierten Behörde ausgeübt werden, zu der auch deutsche Vertreter hinzuzuziehen waren. Die Betriebsgewinne mußten in erster Linie den Deutschen zugute kommen®. Schmid beschwor seine Partei geradezu, den Vorschlag Blums aufzugreifen: „Schon um der Internationale willen müsse etwas wie eine Einigung zustande gebracht werden.“** Man dürfe sich nicht in den Schmollwinkel zurückziehen: „Die Dinge sind das, was wir aus ihnen machen, daher sind fortwährende Bemühungen, dauerndes Daraufhinarbeiten erforderlich.“+5 Schmids Mahnung kam schon fast zu spät. Auf der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz war über die Köpfe der Deutschen hinweg eine Lösung des Ruhrproblems anvisiert worden.

Um eine außenpolitische Isolierung der SPD zu verhindern, fungierte Schmid insbesondere seit Schumachers Erkrankung als eine Art Außenminister der SPD. Alles war noch unorganisiert, so daß jeder im Grunde Außenpolitik auf eigene Faust machen mußte. Nach und nach entwickelte sich das Stuttgarter Friedensbüro zu einem Ersatz für das fehlende Auswärtige Amt. Schmid war das nicht entgangen. Er versuchte Einfluß auf die Personalpolitik zu gewinnen und eine Umorganisation des Friedensbüros in Gang zu setzen, um dort möglichst selbst einen Fuß hineinsetzen zu können*, Als im Februar 1948 dort ein Ausschuß für Staats- und Völkerrecht eingerichtet wurde, scheute er nicht Zeit und Mühe und wurde Mitglied des Ausschusses. Aber ein außenpolitisches Büro, das ihm zuarbeitete, konnte er aus dem Stuttgarter Friedensbüro nicht machen.

Für Schmid waren die deutsche Frage und die europäische Einigung unlösbar miteinander verknüpft. Eine enge Bindung der Westzonen an die westeuropäischen Staaten war unumgänglich, aber sie durfte nicht die Teilung Deutschlands besiegeln. Es mußten Interimslösungen gefunden werden. Obwohl Schmid dem Blockdenken mit seinem Konzept Europas als dritter Kraft eine Absage erteilte, stand er neutralistischen Positionen absolut ablehnend gegenüber. Als der Bremer Senatspräsident Kaisen im Frühjahr 1948 vorschlug, für die Westzonen ein außenpolitisches Neutralitätsstatut zu schaffen, stieß er bei Schmid auf heftigsten Widerspruch*”. Schmid war der Überzeugung, daß ein Bekenntnis zur Neutralität im Grunde nichts anderes bedeute „als die freiwillige Unterwerfung unter den Willen fremder Staaten“ *.

Mit Kaisen, den er persönlich ganz gern mochte, lag sich Schmid im Frühjahr 1948 des öfteren in den Haaren. Noch dreißig Jahre später erinnerte er sich an die oft sehr schwierigen Diskussionen mit dem Bremer Senatspräsidenten*?. Kaisen drängte auf die baldige Bildung eines westdeutschen Kernstaates und hielt Schmids Provisoriumstheorie für eine juristische Spitzfindigkeit‘°. Seit Anfang 1948, als die Diskussion um eine westdeutsche Verfassung konkretere Formen annahm, stritt Schmid unermüdlich für seine Auffassung, daß die drei Westzonen keinen Staat, sondern nur ein „organisiertes Provisorium“ bilden dürften‘‘. Weil er die Alliierten nicht aus ihrer Verantwortung für Deutschland als Ganzes entlassen wollte, wandte er sich entschieden gegen die Entstehung eines westdeutschen Teilstaates. Die Spaltung Deutschlands sei eine Folge „des Wahnsinns der Beschlüsse von Jalta“, der nur von jenen aus der Welt geschaffen werden könne, die ihn in die Welt gebracht haben°?. Nur ein „Notdach“ sei möglich, kein „Definitivum“, das die Siegermächte von dem Zwang befreien würde, sich um die Einheit Deutschlands zu kümmern. Es sei im Interesse der Deutschen, das Provisorium aufrecht zu erhalten, das jedoch besser organisiert sein müsse als das gegenwärtige’.

Carlo Schmids Forderung nach einem Besatzungsstatut bekam 1948 einen anderen Tenor. Es ging ihm jetzt nicht mehr allein darum, die Beziehungen zu den Besatzungsmächten auf eine klare Rechtsgrundlage zu stellen, sondern auch darum, den Besatzungsmächten, die in London über die Gründung eines Weststaates debattierten, die Verantwortung für die deutsche Einheit aufzuzwingen. Der Erlaß eines Besatzungsstatuts ließ eine „vernünftige“ administrative und politische Organisation zu, ohne die Spaltung Deutschlands zu vertiefen: „Mit einem Besatzungsstatut brauchte man keine Erwägungen mehr anzustellen, über die Notwendigkeit oder Möglichkeit einer staatsähnlichen Organisation der Westzone oder Ostzone. Dann würden eben die Gebietskörperschaften, die man braucht, auf Grund des Besatzungsstatutes geschaffen, und sie werden dann geschaffen werden können mit den Kompetenzen, die man braucht.“ °* Schmids „organisiertes Provisorium“ war ein staatsähnliches Gebilde, dem jedoch die staatliche Souveränität fehlte.

Die Befürworter einer Politik der Stärke warnte Schmid vor einem „Anschlußdenken“, das sich mit dem Gedanken der Selbstbestimmung nicht vereinbaren lasse und Stimmen Auftrieb gebe, die einer gewaltsamen Einverleibung der anderen Hälfte Deutschlands das Wort redeten. Verfassunggebung war für ihn nur möglich als ein Akt freier Selbstbestimmung eines Volkes’. Schmid plädierte für ein Offenhalten der deutschen Frage. Die deutsche Einheit mußte im Gespräch bleiben. Mehr war momentan nicht zu erreichen.

Wie Kurt Schumacher lehnte auch Schmid alle ostzonalen Initiativen zur Bildung einer nationalen Repräsentation ab, die seines Erachtens nichts anderes waren „als der Versuch die Technik der Blockpolitik auf Gesamtdeutschland zu übertragen“, Die Kommunisten waren für Schmid, der seit jeher ein entschiedener Antikommunist war, keine Gesprächspartner. Er glaubte, daß sie wie Hitler nach „dem Prinzip des Lattenzaumes“ die freiheitliche Demokratie in Westdeutschland unterminieren wollten”.

So zog er durch die Lande und propagierte seine Provisoriumstheorie, die einigen bodenständigen Politikern überhaupt nicht einleuchten wollte. Sie verbanden mit dem Begriff provisorisch allzu schnell den Begriff funktionsuntüchtig. Man wollte das Chaos überwinden und nicht noch tiefer in es hineingeraten. Kaisen brachte zum Ausdruck, was manch einer dachteS®. Carlo Schmid tat sich oft schwer, seine Gedanken so darzustellen, daß jeder sie verstand. Durch sein stetiges Bohren erreichte er, daß der Parteivorstand sich seine Provisoriumstheorie zu eigen machte. Ollenhauer, der den erkrankten Schumacher vertrat, stand auf seiner Seite. Am 6. Mai 1948 wurde in der Parteivorstandssitzung in Springe eine Resolution zur Londoner Sechs-Mächte-Konferenz verabschiedet, die unverkennbar Schmids Handschrift trug. Der baldige Erlaß eines Besatzungsstatuts wurde als „unerläßlich“ erklärt. Die „künftige provisorische westdeutsche Organisation“ sollte durch ein parlamentarisches Gremium geschaffen werden, das aus unmittelbaren Wahlen hervorgeht, das aber für sich nicht in Anspruch nehmen durfte, eine deutsche Nationalversammlung zu sein. Es war auch nicht dazu berechtigt, eine gesamtdeutsche Regierung zu wählen. „Ein solches Parlament und eine solche Regierung“ hatten vielmehr „sich in Namensgebung und Aufgabenstellung darauf zu beschränken, was sie unter den heute gegebenen Umständen nur sein konnten: ein provisorisches Parlament und eine provisorische Regierung für die westlichen Besatzungszonen.“ 5?

Drei Tage nach der Verabschiedung der Resolution hielt Schmid auf dem Berliner SPD-Bezirksparteitag eine mitreißende Rede, durch die sein Provisoriumskonzept endgültig zur offiziellen Parteimeinung erhoben wurde“°, Der Verzicht auf die Gründung eines westdeutschen Staates wurde zu einer Solidaritätserklärung mit der Berliner Bevölkerung, die durch eine sowjetische Blockade bedroht war und durch sowjetische Nadelstiche traktiert wurde. Berlin wurde zum Symbol für das Ringen um Einheit und Freiheit. Schmid bekannte sich emphatisch zur Solidarität mit den Berlinern. Er erwog sogar eine Aussetzung der Währungsreform in den Westzonen, bis Berlin in die Währungsreform miteinbezogen werden konnte‘‘. Die deutsche Einheit war ihm, der nie in der Tagespolitik aufging, wichtiger als kurzfristiges politisches Kalkül. Die Option für den Westen sollte nicht mit der Preisgabe des Ostens bezahlt werden. Die politischen Möglichkeiten der Deutschen freilich waren begrenzt. Noch lag das Schicksal Deutschlands in den Händen der Alliierten, die mit Ausnahme der Franzosen das Provisoriumskonzept Schmids ablehnten. Nach zähen Verhandlungen einigten sie sich Anfang Juni auf der Londoner Konferenz über die zukünftige Organisation Deutschlands.