1896-1979 eine Biographie : Enttäuschung und politischer Abstieg (1949-1953)
Die Partei in der Opposition „durchkämmen“
So aufgebracht wie in der Landesvorstandssitzung am 22. August 1949 erlebten die Genossen ihren Vorsitzenden nur selten. Er machte aus seinem Herzen keine Mördergrube und gab ganz offen zu, daß er erbost war über die Parteiführung in Hannover, der er die Schuld an der Wahlniederlage gab: „Die ganze Strategie des Parteivorstandes habe sich als falsch erwiesen, von den Plakaten, die weitaus die schlechtesten gewesen seien, angefangen.“‘ Um die Flüchtlinge und vor allem um die Jugend habe man sich zu wenig gekümmert. Dieser Auffassung waren auch andere führende Mitglieder der Partei, die weniger selbstgerecht waren als Kurt Schumacher, der kurz nach der Wahl erklärte, das Volk habe „millionenfach“ gegen seine „ureigensten wirtschaftlichen und sozialen Interessen“ gewählt”. Schmid rügte die Brutalität des Wahlkampfes. Führende Mitglieder der Partei hätten sich auf das „primitive Niveau“ Adenauers hinabbegeben. Sowohl im Rheinland als auch in Braunschweig sei ihm gesagt worden, daß „gewisse Reden des Genossen Schumacher“ der Partei „sehr geschadet“ hätten?. Tatsächlich hatten Schumachers Ausfälle gegen die katholische Kirche, die er als fünfte Besatzungsmacht bezeichnet hatte, der SPD im katholischen Rheinland sehr viele Stimmen gekostet. Böse Zungen behaupteten damals, Schumacher mache die „beste Propaganda gegen sich selbst“ +. Schmids Philippika gegen die Parteizentrale in Hannover hatten noch kein Ende. Er kritisierte, daß „untüchtige Leute“ öffentlich herausgestellt worden waren und die Partei es nicht einmal fertiggebracht hatte, ein Aktionsprogramm zu konzipieren. „Was hat es uns nicht alles an Stimmen gekostet, daß wir den Leuten nicht gesagt haben, was wir uns im konkreten unter Sozialisierung der Schlüsselindustrien vorstellen und was Planwirtschaft in unseren Augen nicht sein soll“, klagte er zwei Tage nach der Sitzung Gustav Radbruch‘°.
Schmids Verdruß war nur zu verständlich. Das Wahlergebnis war denkbar knapp zugunsten der Christdemokraten ausgefallen. Nicht einmal 2% der Stimmen trennten die SPD vom Wahlsieger CDU/CSU”, Bei einer anderen Wahlkampfführung hätte das Ergebnis genau umgekehrt lauten können. Er selbst konnte mit seinem Wahlergebnis in Mannheim einigermaßen zufrieden sein. Er hatte das Direktmandat auf Anhieb erobert. Die SPD war in Mannheim auf 38,3 % der Stimmen gekommen. Der KPD hatte er keine Wähler abspenstig machen können. Sie hatte 18,7% der Stimmen erreicht‘. Es war eine unglückliche Entscheidung gewesen, ihn, der als ein Rechtsaußen der SPD galt, in einer KPD-Hochburg aufzustellen.
Der knappe Wahlausgang hätte eine Große Koalition nahegelegt. Aber war nach den Wunden, die man sich im Wahlkampf geschlagen hatte, eine Große Koalition noch möglich? Schmid bezweifelte es?. Verbittert konstatierte er, daß die SPD wohl am besten in die Opposition gehe. Dort bestünde zumindest die Möglichkeit, die Partei „durchzukämmen und zu verjüngen“. Außerdem könne man durch eine eindeutige Frontstellung der CDU „klar (zu) erkennen geben, was sie ist“’°,. Natürlich hätte er eine Große Koaltion nicht ausgeschlagen, wenn die Möglichkeit dazu noch bestanden hätte, aber am 22. August waren die Würfel zugunsten einer Kleinen Koalition schon so gut wie gefallen. Für Kurt Schumacher hatte bereits in der Wahlnacht festgestanden, daß die Sozialdemokraten mit den Christdemokraten kein Bündnis eingehen konnten“. Einen Tag nach der Wahl am ı5. August hatte er im „Sozialdemokratischen Pressedienst“ verkündet, daß das Wahlergebnis auf „die Bildung eines Bürgerblocks“ hinauslaufe, „d.h. auf die Besitzverteidigung auf Kosten der breiten Massen des Volkes“ ‚?, Eine Regierungsbeteiligung der SPD käme allenfalls in Frage, wenn sie die Wirtschaftspolitik bestimmen könne. Er selbst glaubte nicht daran, daß die CDU/CSU sich auf diese Bedingung einlassen werde’3. Seinem Intimfeind Adenauer spielte er damit in die Hände. Der lud am 21. August führende Repräsentanten der CDU/CSU in sein Haus nach Rhöndorf ein und stellte dort endgültig die Weichen in Richtung Kleine Koalition.
Schmid war überaus ungehalten über Schumachers Alleingang. Für ihn war es mehr als „bejammernswert“, daß eine Woche nach der Wahl noch Keine Parteivorstandssitzung stattgefunden hatte’*. Die Vorstandssitzung war auf den 29./30. August vertagt: worden“. Hinter der Vertagung stand Absicht: Die Entscheidungen sollten gefallen sein, bevor sich der Parteivorstand in Bad Dürkheim versammelte.
In der Partei gab es eine breite Strömung, die sich für eine Regierungsbeteiligung der SPD aussprach. Auch die Besatzungsmächte, insbesondere die Franzosen, drängten auf die Bildung einer Großen Koalition’. Die angesehene französische Tageszeitung „Le Monde“ meinte zwei Tage nach der Wahl, daß man die SPD von der Regierung nicht ausschließen dürfe. Man könne doch bei der Regierungsbildung an einer Persönlichkeit wie Carlo Schmid nicht einfach vorbeigehen. Am nächsten Tag machte „Le Monde“ noch einmal Propaganda für ein Bündnis von CDU/CSU und SPD. Jetzt wurden neben Schmid auch Reuter und Brauer genannt’”. Adenauer und Schumacher ließen sich durch solche Kommentare nicht beirren. Es gelang jedem auf seine Weise, die Befürworter einer Großen Koalition zum Verstummen zu bringen.
Schmid hatte anscheinend schon nach den ersten Äußerungen aus Hannover resigniert. Es wäre vermutlich auch wenig aussichtsreich gewesen, wenn er eine Fronde gegen Kurt Schumacher organisiert hätte. Den Machtkampf mit dem SPD-Parteivorsitzenden konnte er nicht aufnehmen. Mit Gebhard Müller hatte er vermutlich die Lage ausgiebig besprochen. Der Ministerpräsident Württemberg-Hohenzollerns war ein glühender Verfechter einer Großen Koalition und in dieser Frage einer der größten Widersacher Adenauers. Auf der Rhöndorfer Konferenz sprach er fast wie ein Advokat Carlo Schmids. Man müsse an die SPD mit einem Koalitionsangebot herantreten. Die „Spannungen innerhalb der SPD“ seien – das wußte er wohl von Schmid – „sehr groß“. Von vielen Sozialdemokraten werde Schumacher für die Niederlage verantwortlich gemacht. Es sei daher ein Gebot der politischen Vernunft, die „maßvollen Kräfte“ innerhalb der SPD wie Schmid, Kaisen, Kopf und Stock zu stärken. Durch eine Große Koalition werde ihnen die Auseinandersetzung mit dem „radikalen Flügel“ der Partei erleichtert‘?. Es deutet alles darauf hin, daß Müller hier die Ansichten seines Tübinger Kabinettskollegen wiedergegeben hatte. Schmid hatte bereits in einer Landesvorstandssitzung der SPD im Juli betont, daß grundsätzliche Auseinandersetzungen über die innerparteiliche Führungsstruktur notwendig seien‘?. In einer Koalitionsregierung hätte Kurt Schumacher entweder seinen autoritären Führungsstil und seine kompromißlose Haltung aufgeben müssen oder die Koalition wäre sofort wieder auseinandergebrochen, was dann möglicherweise innerhalb der SPD eine Palastrevolution ausgelöst hätte. Schmid wäre ohne Zweifel in einer Großen Koalition die überragende Persönlichkeit gewesen.
Bei Adenauer stieß Müller auf taube Ohren. Der machtbewußte Aspirant für das Kanzleramt erklärte, daß Schmid zwar in „seinem Innern anders denke“ als Schumacher, aber im „Ernstfall“ immer mit dem SPDParteivorsitzenden „marschieren“ werde”. Das war ein Plattformargument. Schmid hatte sich im Parlamentarischen Rat gegen Schumacher durchgesetzt. Der Alte wollte eine Kleine Koalition und ein Rivale Kurt Schumacher war ihm weitaus lieber als ein Rivale Carlo Schmid. Müller versuchte die Koalitionsfrage noch einmal aufzurollen, indem er Adenauer vorwarf, das Amt des Bundespräsidenten zu einem Kuhhandel mißbraucht zu haben?‘. Um die FDP für eine Kleine Koalition zu gewinnen, hatte der CDU-Vorsitzende Heuss das Amt des Bundespräsidenten versprochen. Müller und Schmid hielten das für einen glatten „Verfassungsbruch“**, Die beiden Tübinger glaubten, daß die Bürgerkoalition erheblichen Belastungen ausgesetzt sein werde. Sie konnten darauf hoffen, daß ein sozialdemokratischer oder überparteilicher Bundespräsident ihr Bemühen um einen koalitionspolitischen Kurswechsel unterstützte. Heuss würde bei aller ihm gebotenen Zurückhaltung nichts unversucht lassen, um die Kleine Koalition zu erhalten.
Als Carlo Schmid am 28. August zur SPD-Konferenz nach Bad Dürkheim fuhr, hatte er keinerlei Hoffnung mehr, daß es doch noch zu einem Bündnis mit den Christdemokraten kommen werde. Das sicher geglaubte Ministeramt war in weite Ferne gerückt. Bitter für einen Mann von fast 53 Jahren, selbst wenn er damals mit Sicherheit nicht damit rechnete, daß es ı7 Jahre dauern würde, bis die SPD auf der Regierungsbank Platz nehmen konnte.
Noch am 28. August, einen Tag vor der Parteivorstandssitzung, setzten sich einige Mitglieder der Parteiführung, unter ihnen Schmid, in Bad Dürkheim zusammen, um ein Oppositionsprogramm zu entwerfen. Nicht nur Schmid kritisierte, daß der Entschluß, ein Aktionsprogramm auszuarbeiten, zu spät komme?. Vor den Wahlen hätte man mit einem Aktionsprogramm aufwarten müssen, dann wäre vielleicht daraus ein Regierungsprogramm geworden. Der Aufgabenkatalog, den Schmid in seinem Programmentwurf aufstellte, entsprach weitgehend den 16 Punkten des zwei Tage später vom Parteivorstand verabschiedeten Dürkheimer Programms. Einige Punkte wurden nach der Diskussion im Parteivorstand noch ergänzt und präzisiert. Er brauchte im Grunde nur zu wiederholen, was schon auf seinem Wahlkampfflugblatt stand. Auch jetzt trat er wieder für eine umfassende soziale Reformpolitik, für die Planung und Lenkung der Rohstoffe und Kredite und für die Sozialisierung der Schlüsselindustrien ein. Der gewerbliche und bäuerliche Mittelstand erhielt die Zusage, daß sein Eigentum nicht angetastet wurde”*. Ein „unbedingter Konfrontationswillen“, wie spätere Historiker meinen”, sprach aus diesen Punkten, die sich mit Forderungen des linken Flügels der CDU deckten, nicht, wenn auch die Präambel zu den Punkten wie eine Kampfansage klang. Schmid hatte in ungewohnter Schärfe formuliert, daß die SPD in die Opposition trete, um den „auf allen Ebenen geplanten unbarmherzigen Angriff des Besitzbürgerblocks auf die Grundanliegen des werktätigen Volks (zu) zerschlagen.“ ?° Sein ganzer Ärger über Adenauers Vorgehen, kam in dieser Präambel zum Ausdruck. Der Tenor der zwei Tage später verabschiedeten Fassung der Präambel war dann noch unerbittlicher. Dort hieß es: „Das Ergebnis der Wahlen am 14. August beschwört die Gefahr herauf, daß die bisherige Wirtschaftspolitik fortgeführt, die deutsche Arbeitskraft ruiniert und die Spannungen zwischen den Klassen so gesteigert werden, daß die staatsbildenden Kräfte gelähmt und die deutsche Demokratie zerstört wird.“ ”
Auf die Außenpolitik ging Schmid in seinem Programmentwurf nur am Rande ein. Zu ungewiß war hier noch die Entwicklung. So beschränkte er sich darauf, ein Bekenntnis zu Europa in den Programmentwurf hineinzuschreiben: „Die Zeit des Nationalstaates ist vorüber. Die europäischen Völker werden nur Bestand behalten, wenn sie ihre Souveränitäten auf ein politisch, ökonomisch und konstitutionell geeintes Europa Bla tragen. Die SPD wird alles tun, um diese Entwicklung zu fördern.“ *” In der verabschiedeten Fassung fiel das Bekenntnis zu Europa halbherziger aus. Sie legte den Schluß nahe, daß das neugeordnete Europa nur ein sozialistisches Europa sein könne.
Manches in dem Programm wirkte, wie der spätere Regierende Berliner Bürgermeister Otto Suhr zu Recht kritisierte, etwas „abgegriffen“ und „farblos“, Auch Schmid hatte nicht immer griffige und präzise Formulierungen gefunden. Er hatte einen anderen Wortschatz als die Sozialdemokraten, sprach im Grunde eine ganz andere Sprache als sie. Die Übernahme sozialdemokratischen Gedankengutes in seine eigenen Entwürfe und Reden wirkte manchmal etwas schablonenhaft.
Auf der Tagung des Parteivorstandes gab es nur wenige, die sich Schumachers Oppositionskurs widersetzten. Kaisen und der Kölner Oberbürgermeister Görlinger verlangten, daß die SPD einen Anspruch auf eine Beteiligung an der Regierung erhebe. Die SPD dürfe für das Scheitern der Großen Koalition nicht verantwortlich gemacht werden. Henßler, der zusammen mit Kurt Schumacher bereits im Reichstag gesessen hatte, verbat sich dessen Abwürgen der innerparteilichen Meinungsfreiheit. Er lehnte einen scharfen Konfrontationskurs gegenüber der CDU/CSU ab, weil dadurch die Länderkoalitionen und die Gewerkschaftseinheit gefährdet würden’, Schmids Ausführungen waren total widersprüchlich, es sei denn, der Protokollant der Parteivorstandssitzung konnte seiner gewundenen Dialektik nicht folgen. Zunächst sprach er sich „entschieden“ gegen eine Regierungsbeteiligung aus, um dann lang und ausführlich über die Befürwortung einer Großen Koalition durch die Franzosen zu berichten: „Frangois-Poncet äußerte, er glaube, daß Adenauer die SPD an sozialen Leistungen überspiele und ihr damit jede Erniedrigung zufügen würde. Ebenso meinte Schuman, daß die SPD in die Große Koalition gehen solle, um bei der sicherlich bevorstehenden Arbeitslosigkeit die Situation meistern zu können.“ Sein Argument, das er für die Übernahme der Oppositionsrolle vorbrachte, war dünn. Die SPD habe als Oppositionspartei „größere Chancen“, „sozialdemokratisch inspirierte Gesetze zu erzwingen“ ‚. Schmid versteckte sich hinter den Franzosen. Aber auch das an die Wand gemalte Schreckgespenst einer Erniedrigung der SPD durch Adenauer konnte Schumacher nicht umstimmen. Die Taktik des Parteivorsitzenden, die Sitzung des Parteivorstandes spät einzuberufen, hatte sich als erfolgreich erwiesen. Das Oppositionsprogramm, die sogenannten Dürkheimer Punkte, wurden nach ihrer Überarbeitung einstimmig vom Parteivorstand angenommen. Um Einigkeit zu demonstrieren, veröffentlichte Schmid vier Tage nach der Konferenz in Bad Dürkheim im „Sozialdemokratischen Presse dienst“ einen Artikel, in dem er die Dürkheimer Beschlüsse verteidigte. Er griff dabei Formulierungen seines eigenen Programmentwurfes wieder auf?*. Da man überall munkelte, er sei ein Opponent Schumachers, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich demonstrativ hinter den Parteivorsitzenden zu stellen. Nichts freut den Parteigegner mehr als Zwist im anderen Lager.
Als sich am 6./7. September die Führungsgremien der SPD in Köln zu einer Konferenz versammelten, war die Nominierung des Bundespräsidenten Thema Nr. ı der Diskussion. Schumachers Feststellung, daß sich an der von den Koalitionsparteien vereinbarten Kandidatur Heuss’ nichts mehr ändern lasse, war durchaus zutreffend?3. Überlegungen, doch noch einen Gemeinschaftskandidaten zu finden, glichen Sandkastenspielen. Die FDP hatte schon eine Woche zuvor einen Emissär zu Carlo Schmid geschickt, der auskundschaften sollte, ob die SPD eventuell bereit war, Heuss’ Kandidatur zu unterstützen3*. Adenauer freilich leugnete bei einer Besprechung mit Schumacher und Schmid am 10. September, daß er die Nominierung des Bundespräsidenten zum Gegenstand von Koalitionsverhandlungen gemacht habe. Schmid gab Adenauer zu verstehen, daß er seinen Beteuerungen wenig Glauben schenkte. Ansonsten begnügte sich Schmid weitgehend damit, das Gespräch zweier Kontrahenten zu protokollieren, die sich in ihrer gegenseitigen Frontstellung einig waren. Als Schumacher erklärte, daß den Sozialdemokraten der „schöne Satz“ „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern“ nicht läge, entgegnete Adenauer prompt: „Uns auch nicht.“35 Adenauer konnte in seiner Absprache mit der FDP über die Nominierung Heuss’ keinen Verstoß gegen das Grundgesetz sehen. Das lag u.a. auch daran, daß dem ehemaligen Präsidenten des Parlamentarischen Rates das Grundgesetz ein Buch mit sieben Siegeln war. Schmid mußte ihn belehren, daß die Wahl des Bundespräsidenten ebenso wie die des Bundeskanzlers nach dem Grundgesetz ohne Aussprache erfolgt, was dieser mit sichtlicher Erleichterung aufnahm. Er hatte eine Kampfrede der SPD erwartet.
Nachdem die Nominierung Heuss’ zum Bundespräsidenten nicht mehr rückgängig zu machen war, war Schmid daran gelegen, eine sozialdemokratische Kampfkandidatur zu verhindern. Er war mit Heuss befreundet, der ihn nach seinem Einzug in die Villa Hammerschmidt immer sehr großzügig mit Maultaschen und Uhlbacher Rotem bewirtete. So hatte Schmid sich schon auf dem kleinen Parteitag in Köln gegen die Aufstellung eines sozialdemokratischen Kandidaten gewandt”. Trotzdem unterstützte er in der Fraktion der Bundesversammlung Schumachers Kandidatur für das höchste Staatsamt. Noch in seinen Erinnerungen, in denen er ansonsten alle Differenzen mit Kurt Schumacher geflissentlich verschweigt, ließ er durchblicken, daß er dessen Kandidatur für eine törichte Fehlentscheidung hielt®®. Doch man konnte Schumacher nicht desavouieren, ohne der Partei zu schaden. Außerdem brachte er es nicht fertig, den schwer kranken Schumacher frontal anzugreifen. Trotz aller politischen Gegnerschaft bewunderte Schmid die Leidensfähigkeit des SPD-Parteivorsitzenden. Die meisten Mitglieder der Fraktion der Bundesversammlung hielten Schumachers Kandidatur für eine „Schnapsidee“?°%. Der Parteivorsitzende mußte die Wahl manipulieren, um seine Kandidatur durchzusetzen ®“.
Carlo Schmid wollte auf keinen Fall einen kompromißlosen Konfrontationskurs gegenüber der Regierungskoalition steuern und war Anfang September auch noch zuversichtlich, ein gewichtiges Wort bei der Kursbestimmung der Partei mitreden zu können. Er konnte sich schlichtweg nicht vorstellen, daß Schumacher trotz seiner schweren Krankheit der Partei und Fraktion unbeugsam seinen Willen aufdiktierte. Gegenüber Frangois-Poncet äußerte er die Hoffnung, daß in Wirklichkeit er, nicht Schumacher der Fraktionschef sein werde. Der designierte Fraktionsvorsitzende sei krank und’ werde sich daher voraussichtlich nur selten in Bonn aufhalten. Dessen Stellvertreter Ollenhauer habe es auf sich genommen, für Ordnung und Disziplin innerhalb der Partei zu sorgen. So werde er als dritter Vorsitzender die Marschroute der Fraktion bestimmen können. Führende Mitglieder der Fraktion wie Suhr, Baade und Nölting teilten seine Einstellung und seien bereit, ihn bei seiner Arbeit zu unterstützen*‘. Es ist typisch für Schmid, daß er drei Professoren als seine engsten Mitstreiter nannte. Noch immer glaubte er, daß durch geistige Überlegenheit auch der starrköpfigste Parteiapparat überwunden werden könne. Seine Erfolge als Landesvorsitzender Südwürttemberg-Hohenzollerns und im Parlamentarischen Rat verführten ihn zu einer Überschätzung seiner eigenen Möglichkeiten.
Am 7. September konstituierte sich der Bundestag in der umgebauten Pädagogischen Akademie am Bonner Rheinufer. Noch wußte niemand, wie lang der Bundestag hier tagen würde. Schmid nannte die zukünftige Bundeshauptstadt, in der er nie ganz heimisch wurde, verächtlich „Pensionopolis“**. Er hatte sich zunächst für Kassel als Bundeshauptstadt ausgesprochen; später schloß er sich der Parteimehrheit an und votierte für Frankfurt. Am liebsten hätte er es gesehen, wenn sich Bundesregierung und Bundestag in Stuttgart niedergelassen hätten. Einen entsprechenden Vorschlag hatte er unterstützt*. Schließlich war er ja noch immer Ordinarius in Tübingen und sollte dort wöchentlich mehrere Lehrveranstaltungen abhalten.
Für jemand, dem ein Ministeramt gewunken hatte, war das Amt des Bundestagsvizepräsidenten nur ein billiges Trostpflaster. Gemäß interfraktioneller Vereinbarung wurde Schmid am 7. September mit diesem Amt betraut. Zum Bundestagspräsidenten wurde Erich Köhler, der Präsident des Frankfurter Wirtschaftsrates gewählt, der seiner Aufgabe in keiner Weise gewachsen war. Als Vizepräsident war Schmid zugleich Mitglied des Ältestenrates und des Vorstandes des Bundestages. Dort bestand die Möglichkeit, interfraktionelle Kontakte zu knüpfen, durch die die parteipolitischen Fronten zumindest etwas aufgeweicht werden konnten. Weil er.im Bereich der Außen- und Besatzungspolitik eine bipartisan policy für unbedingt notwendig hielt, reklamierte er sofort, nachdem das Gerangel um die Ausschußbesetzung in Gang gekommen war, seinen Anspruch auf den Vorsitz im außenpolitischen Ausschuß**. Er machte sich wahrscheinlich Hoffnung, so doch noch ein Wort in der Außenpolitik mitreden zu können. Adenauer hatte wenig außenpolitische Erfahrung. Im Vergleich zu Schmid war er ein blutiger Dilletant. Das Regierungslager erklärte sich trotz Vorbehalten Adenauers, der in Schmid einen potentiellen Rivalen witterte, bereit, ihm den Vorsitz im außenpolitischen Ausschuß zu überlassen. Anscheinend spekulierte man darauf, über den Europäer Schmid die SPD für die Politik der Regierung einspannen zu können.
Auch Adenauer wollte den Kontakt zur SPD nicht ganz abreißen lassen. Da er Schumacher mied, wenn er nur konnte, schickte er Blankenhorn als Emissär zu Carlo Schmid, der sich mit dem 4sjährigen undogmatischen Diplomaten bestens verstand. Blankenhorn galt als spiritus rector der Adenauerschen Außenpolitik und als liberaler Gegenpol zu dem „reaktionären“ Alten. Schmid konnte hoffen, über Blankenhorn Einfluß auf die Außenpolitik Adenauers nehmen zu können. So wurde Blankenhorn bei seinem ersten Besuch in Schmids kleiner Wohnung in der Renoisstraße auch sogleich mit einem „guten Wurstbrot“ bestochen, mußte sich dann allerdings eine „Menge von Vorwürfen wegen der Führung des Wahlkampfes“ anhören. Das Gespräch verlief überaus herzlich, wenn man sich auch nicht in allen Punkten einig war. Gretel Finckbeiner, Schmids Sekretärin und rechte Hand, flüsterte dem Besucher beim Abschied zu, er solle doch möglichst bald wiederkommen*°. Adenauers Adlatus fand sich dann auch in den nächsten Monaten regelmäßig zu einem längeren Gespräch bei Schmid ein. Gretel Finckbeiner hatte eine Eigenmächtigkeit begangen. Aber ihr war natürlich nicht entgangen, daß ihr Chef unter dem von Kurt Schumacher aufdiktierten Oppositionskurs litt. Noch hatte Schmid nicht resigniert. Es mußte-möglich sein, zu einer parteiübergreifenden Außenpolitik zu gelangen. Kurt Schumacher freilich war weitaus agiler, als er dies erwartet hatte. Noch keine zwei Wochen war es her, daß der Bundestag seine Arbeit aufgenommen hatte, da klagte Schmid schon, „daß er sich wie ein von Schumacher geprügelter Hund vorkomme und vor der Frage stünde, ob er nicht alles hinwerfen solle“#°. Schumachers Befehlston war verletzend, und Schmid hatte nicht das dicke Fell, das er hätte haben sollen, um einfach darüber hinwegzugehen. An einen Ausstieg aus der Politik dachte er nicht. Er hatte nur seiner Frustration Luft gemacht.
Vermutlich war die Antwortrede Schumachers auf Adenauers Regierungserklärung der Gegenstand des Streits gewesen, der Schmid so auf gerieben hatte. Es hatte sehr viel Mühe gekostet, Schumacher auszureden, nationalistische Forderungen ins Zentrum seiner Rede zu stellen*”. Schließlich war es doch gelungen. Der SPD-Parteivorsitzende hielt eine staatsmännische, verantwortungsbewußte Rede, in der er ausdrücklich betonte, „daß die Opposition sich nicht in der bloßen Verneinung der Regierungsvorschläge erschöpfen kann“. Sie habe die Aufgabe der Regierung, ihren „positiven Gestaltungswillen“ aufzuzwingen*”. Er zeigte die sozialdemokratischen Alternativen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierungskoalition auf und mahnte sie zu sozialpolitischen Initiativen. Seine Ausführungen zur Außenpolitik waren apodiktisch und kurz: Eine gleichzeitige Mitgliedschaft der Bundesrepublik und des Saargebiets im Europarat müsse abgelehnt werden. Europa könne nur auf der Grundlage der deutschen Gleichberechtigung geschaffen werden*.
Schmid durfte erst am letzten Tag der Aussprache über die Regierungserklärung, am 29. September die Rednertribüne besteigen. Seine Geduld war arg strapaziert worden, so daß er des öfteren in Zwischenrufen seine Meinung kundgetan hatte. Bei der Rede des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU Brentano fiel es ihm schwer, auf seinem Platz zu bleiben. Mehrmals unterbrach er Brentano, der nur ein mittelmäßiger Redner war, um ihm zu erläutern, daß der Gedanke der Caritas nichts mit einer sozialen Grundhaltung zu tun hatte‘. Schmid war kein verkappter Christdemokrat und auch kein verirrter Liberaler.
Das bewies er in seiner Antwort auf die Reden der Mitglieder der Regierungskoalition, in der die Aufhebung der Selbstentfremdung des Arbeiters durch Mitbestimmung im Betrieb und bei der wirtschaftlichen Rahmenplanung ein zentrales Thema war. Da Schmid eine selbstbewußte Arbeiterschaft wollte, maß er den Gewerkschaften eine zentrale Bedeutung bei. Er selbst war Ende August Mitglied der ÖTV geworden’. Die Regierungskoalition, die den Arbeitern ein „kleines Häuschen und einen Schrebergarten“ versprach, betrieb in seinen Augen sozialpolitischen „Paternalismus“ 3?. Der soziale Wohlfahrtsstaat war für den Geistesaristokraten, der sich Sinzheimer und Proudhon verpflichtet wußte, kein Ideal, weil der Wohlstand den Arbeiter letztendlich korrumpieren mußte. Die Arbeiterbewegung verstand er nicht als „Lohnbewegung“, sondern als „elementare Freiheitsbewegung“: „Die Arbeiterschaft verlangt, daß man sie als Klasse – und nicht als romantischen Berufsstand – in die Lage versetzt, in rechtlich geordneter Weise über sich und die ökonomischen und politischen Voraussetzungen ihrer sozialen Existenz zu bestimmen.“ Schmids Alternative zum Regierungsprogramm hieß: gesellschaftliche Voraussetzungen schaffen für eine zivile Bürgergesellschaft.
In seinen Ausführungen zur Außen- und Deutschlandpolitik betonte er abermals den engen Zusammenhang von europäischer und deutscher Einheit. Die Alliierten dürften nicht aus ihrer deutschlandpolitischen Verantwortung entlassen werden‘*. Die apodiktischen Forderungen, die Kurt Schumacher als Voraussetzung für eine deutsche Beteiligung am Europarat genannt hatte, nahm er zurück. Nicht von ungefähr seien „einige Hypotheken“ zu Lasten Deutschlands „in das Grundbuch der Geschichte eingetragen“ worden: „Demontagen, Reparationen, Besatzungskosten, Grenzkorrekturen, Ruhrstatut und die Saar.“S5 Die meisten Probleme ließen sich nur auf europäischer Ebene lösen. Eine Montanunion sei der geeignete Weg. Die Beteiligung der Bundesrepublik als assoziiertes Mitglied am Europarat befürwortete er ohne Wenn und Aber. Er brauchte keine Abstriche an seinem schon seit längerer Zeit entwickelten außenpolitischen Konzept zu machen. Es hatte nichts an Aktualität eingebüfßst.
Die Differenzen zu Adenauers außenpolitischem Programm waren gering. Schmids erste Bundestagsrede war ein Bekenntnis zu außenpolitischer Gemeinsamkeit. Das weite Feld der Innenpolitik bot der SPD genügend Möglichkeiten, um sich als zukünftige Regierungspartei zu profilieren. Am Schluß seiner Rede unterstrich er die Kooperationsbereitschaft der Opposition, die kein „Klub der Mißvergnügten“, „nicht die Bremse am Wagen der deutschen Politik“, sondern der „andere Beweger der deutschen Politik“ seiS°. Die Rede fand Beifall, nicht nur im eigenen Lager, auch in der Mitte des Hauses und bei der FDP, die rechts von der CDU/CSU-Fraktion saß. Die Frontlinien zwischen Regierungskoalition und Opposition schienen so starr gar nicht zu sein. Gute Grundsätze wurden. gefaßt. Wenn sie dem politischen Alltagsgeschäft nicht geopfert würden, konnte man hoffen, daß die zweite deutsche Demokratie nicht enden würde wie die erste.
Vizepräsident, Parlamentarier und Parlamentskritiker
Immer wenn vom Verfall parlamentarischer Beredsamkeit die Rede ist, erinnert man sich an Carlo Schmid. Ein rhetorisches Glanzlicht sei er gewesen, wie es keines mehr gebe. Wenn er geehrt wurde, so für seine „Rebellen-Beredsamkeit und repräsentative Rhetorik“ ‚. Er selbst stritt es ab, ein geborener Redner zu sein. Er sei vielmehr ein Professor, der die Probleme darlege wie in einem Kolleg. Da ist einiges dran. Nicht alle seine Bundestagsreden waren rhetorische Kabinettsstücke. Manche glichen Nachhilfestunden für Hinterbänkler. Oft legte er in seine Ausführungen zu viel Pathos, das schon die damaligen Zuhörer befremdete, nicht erst den heutigen Leser”. Wenn er wieder einmal nicht auf Parteilinie lag, versuchte er durch den „verschwenderische(n) Gebrauch der Analogie und der Allegorie“ und „den Glanz der Assoziationen“ den Hörer zu blenden und ließ ihn so die „Fallstricke der Wirklichkeit übersehen“3 . Rhetorik wurde dann zum Mittel, um Konflikte zu überspielen. Gewiß, er verstand es, die Register der Rhetorik zu ziehen. Wenn er im Bundestag sprach, füllte sich der Plenarsaal. Aber nicht seine langen, oft überlangen Reden waren voller Witz und Esprit, sondern seine Antworten auf Zwischenfragen und Zwischenrufe. Er brauchte die Provokation von außen und griff freudig jeden Zwischenruf, der gemacht wurde, auf. Selbst war er ein kaum zu bremsender Zwischenrufer und -frager. Er suchte den Dialog, die geistige Herausforderung, um die Dinge auf den Punkt zu bringen und ideologisch zu entfrachten. Nein, er schwebte keineswegs als „humanistischer Geist über den Wogen des Parlaments“, wie Franz-Josef Strauß meinte, der es hätte besser wissen müssen, denn Schmid liebte die Zwiesprache mit dem „klassischen Humanisten“ aus Bayern. So warnte er ihn in einer Debatte in den fünfziger Jahren davor, mit bloßen Meinungen zu operieren, indem er ihn an Platon erinnerte: „Sie sind ein klassischer Humanist, Herr Verteidigungsminister. Sie wissen, wie sehr ich diese Eigenschaft schätze. Sie haben Plato zitiert. Sie wissen, was er über die ‚Doxa‘ sagt.“° Schmid unterbrach den Parteigegner, um ihn von seinem vorgefaßten Parteistandpunkt abzubringen und mit ihm einen gemeinsamen politischen Nenner zu finden. Politik als sokratischer Dialog. Auch mit Kiesinger und Gerstenmaier kreuzte er gern die Klingen. Geistiges Niveau mußte sein Gegenüber schon haben. Schmid thronte nicht über allen und allem. Er war kampflustig, aber der Kampf durfte nicht in Parteigezänk ausarten.
Der Bundeskanzler liebte Schmids sokratische Wahrheitsfindung nicht. 1954 wäre er unter Schmids Zwischenfragen fast zusammengebrochen. Unter der Überschrift „Tausend Menschen stockte der Atem“ berichtete Walter Henkels über das Rededuell Adenauer-Schmid in der „Frankfurter Allgemeinen“°. Auch 1958 trieb Schmid Adenauer durch seine Zwischenfragen in die Enge’. Adenauer duellierte sich überhaupt nicht gern und schon gar nicht mit Schmid. Wenn er sich damit hätte durchsetzen können, wäre Ende 1954 die gerade erst eingeführte Regelung, Zwischenfragen zu stellen, wieder abgeschafft worden. Er beschwerte sich, daß die Form, in der Schmid Zwischenfragen stelle, „völlig undiszipliniert“ sei®. Dabei waren Schmids Fragen zwar messerscharf, aber immer sachlich und nie polemisch oder verletzend. Er ließ den Gegner lieber auf ein „wippendes Florett auflaufen“, statt ihm ein „Iintenfaß an den Kopf zu werfen“?. Im Ältestenrat setzten die Fraktionen der Regierungskoalition Anfang 1955 durch, daß bei Regierungserklärungen und Großen Anfragen keine Zwischenfragen mehr zugelassen werden durften!°. Es kam vor, daß Regierungsmitglieder kneiften, wenn Schmid eine Zwischenfrage stellen wollte, indem sie es kategorisch ablehnten, auf Zwischenfragen von ihm zu antworten.
Schmid wünschte sich einen lebendigen Parlamentarismus. Sein Ideal war der Parlamentarismus des 19. Jahrhunderts, der durch Diskussion und Öffentlichkeit bestimmt wurde. Er hätte es gern gesehen, wenn alle großen Entscheidungen „in offener Feldschlacht“ in der Plenardebatte getroffen worden wären anstatt hinter den „verschlossenen Türen“ der Fraktionszimmer‘?. Er wußte, daß sein Ideal der Vergangenheit angehörte. In zahlreichen Aufsätzen, die er zur politischen Bildung und Belehrung schrieb, rechtfertigte er später schweren Herzens den Fraktionszwang und die Gewohnheit, „Reden zum Fenster hinauszuhalten“ ‚3, Enttäuscht war er trotzdem, daß im Bundestag keine richtige Streitkultur entstand. Dabei hatte er als Vizepräsident versucht, erzieherisch zu wirken. In den Anfangsjahren ertönte sehr oft die Glocke des amtierenden Präsidenten Schmid, der dazwischen fragte: „Herr Abgeordneter, verlesen Sie eine Erklärung oder halten Sie eine Rede.“ ‚* Als er merkte, daß er mit seinen pädagogisch gemeinten Hinweisen keinen Erfolg hatte und sich damit auch in der eigenen Fraktion unbeliebt machte, unterließ er entsprechende Mahnungen. Die Abgeordneten ließen sich nicht gern schulmeistern und manch ein Hinterbänkler legte ihm die Mahnungen als Arroganz aus’°. Er achtete aber darauf, daß die Redner zumindest Zwischenfragen zuließen. Schon bald fürchtete er, daß das Parlament zu einer „diskutierenden Ersatzbürokratie“ verkomme’®. Nicht durch „fleißige Ausschußarbeit“ verdienten sich die Parlamente die Achtung des Volks, sondern indem sie glaubhaft vermitteln, daß sie Verteidiger der Rechte und Interessen des Volkes sind’7’. Er monierte, daß die deutschen Abgeordneten „zu fleißig“ seien und trat damit zugleich dem Vorwurf einiger seiner Parteifreunde entgegen, daß er nicht fleißig genug sei'“. Gegen die starke Fixierung des deutschen Bundestages auf die Arbeit in den Ausschüssen focht er einen vergeblichen Kampf.
Seine Belehrungen und Monita zeigten keine Wirkung, obwohl er versucht hatte, sie in das Schleiergewand des Humors zu kleiden. Wenn bei Abstimmungen über Änderungsanträge zu Detailproblemen niemand mehr so richtig durchblickte, machte er den Abgeordneten bewußt, daß sie als Stimmvieh mißbraucht wurden: „Ich sehe einige Hände sich nur zögernd erheben. Können die Herren Stimmführer nicht vielleicht die Hand ‚ein bißchen höher halten, damit die Mitglieder des Hauses, die weiter hinten sitzen, es auch sehen?“ ‚? „Ich nehme an, Sie haben gewußt, weswegen Sie sich enthalten haben“, rief er Abgeordneten zu, die mehr aus Verlegenheit denn aus Überzeugung sich bei der Abstimmung der Stimme enthielten”. Hinterbänklern, die für die Interessen ihres Wahlkreises fochten, um sich für die nächste Wahl zu profilieren, konnte er spitz entgegnen: „Wir kämpfen alle für das Gemeinwohl, indem wir das Unsere zunächst ins Auge fassen.“ ?‘ Als Vizepräsident bewies Schmid sein kabarettistisches Talent. Sein bissiger Humor, hinter dem der Intellektuelle seine Frustration über den parlamentarischen Alltag verbarg, konnte vernichtend sein. Seine Vorschläge zur Parlamentsreform wurden nicht aufgegriffen, obwohl er immer Heiterkeitserfolge verbuchte, wenn er feststellte, daß Steuerdebatten nicht nur „tagesfüllend“, sondern auch „hausleerend“ seien”,
Weil er in dem „Paragraphenfuchsen“ der Experten eine Verödung des parlamentarischen Lebens sah, schlug er vor, daß sich der Bundestag mit der Rahmengesetzgebung begnügen solle. Die Details, um die man sich in den Ausschüssen unermüdlich mühte, könnten dann in Ausführungsverordnungen festgelegt werden. Nur so könne verhindert werden, daß ein Bundestag aus Experten betriebsblind gegenüber dem Allgemeininteresse werde”. Sein Vorbild war das britische Unterhaus, das bis zu seiner Reform in den 8oer Jahren dem Typus des Redeparlaments zugerechnet wurde. Immer wenn das Thema Umbau des Plenarsaals zur Debatte stand, meldete sich der Vizepräsident. zu Wort und verwies auf die Sitzordnung des Unterhauses. Dort stünden sich die Gegner Aug in Aug gegenüber. Jeder könne von seinem Platz aus sprechen, so daß dort ein lebendiger kämpferischer Dialog entstehe. Den Hörsaalcharakter des Bundestages, den Adenauer gegen die weitaus fortschrittlicheren Pläne des Architekten Hans Schwippert durchgesetzt hatte”, hielt Schmid für einen „Krebsschaden“, denn im Bundestag wurde nach seinem Empfinden zu oft doziert anstatt debattiert°. Freilich, hier saß der Professor im Glashaus. Als Vizepräsident rügte er die langen Reden und hielt selbst viel zu lange. Der Hörsaalcharakter des Bundestages verführte auch ihn zum Dozieren, wenn er nicht durch Zwischenfragen zum Dialog aufgefordert wurde. Als Vizepräsident war er witzig und lockerte so manche langweilige Debatte auf. Den Orden wider den tierischen Ernst, der ihm 1958 verliehen wurde, hatte er sich redlich verdient.
Trotz seiner manchmal heiteren, manchmal ernsten Belehrungen war er kein Zuchtmeister, der die Abgeordneten durch Ordnungsstrafen schurigelte. Selbst in der ersten Wahlperiode, als es im Plenarsaal oft tumultartig zuging, kam er mit 25 Ordnungsrufen aus”. Nicht alle Präsidenten und Vizepräsidenten meisterten die Turbulenzen so souverän wie Schmid. Erich Köhler mußte auf Druck seiner politischen Freunde im Oktober 1950 sein Amt niederlegen, Hermann Schäfer, der zweite Vizepräsident, saß oft zitternd auf dem Präsidentenstuhl, weil er nicht wußte, wie er den ohrenbetäubenden Krach und die dauernden Störungen unterbinden sollte? 7. Köhlers Nachfolger Hermann Ehlers, mit dem Schmid gern zusammenarbeitete, verstand es wie sein Kollege, mit Witz und Humor schwieriger Situationen Herr zu werden”, Leicht war es damals nicht, sich Autorität zu verschaffen und objektiv und gerecht gegen jedermann zu sein. Schmids Parteifreunde empörten sich zuweilen darüber, daß er auch ihnen Ordnungsrufe erteilte. Mellies, in späteren Jahren Wehner wurden von ihm wegen ihres unparlamentarischen Sprachgebrauchs am meisten gerügt.
Zu Saalschlachten wie in der Weimarer Republik kam es im Bonner Bundestag nicht. Schmid hatte es befürchtet. In den Vertretern der Rechtsparteien (Deutsche Reichspartei, Wirtschaftliche Wiederaufbauvereinigung und Bayernpartei) sah er die „gleiche Gefahr“, die er „früher in den Braunhemden gesehen“ hatte?°, Gleich nach der ersten Sitzung des Bundestages kündigte er an, den „Kampf gegen diese Kreise mit aller Erbitterung (zu) führen und sie im Parlament der allerschwersten Kritik aus(zu)setzen. Sollten die Herrschaften es dann wagen, die Grenzen des parlamentarischen Anstandes zu überschreiten, so wären er und seine Freunde entschlossen, im Parlament von der Schußwaffe Gebrauch zu machen.“ :‘ Solcher Militanz bedurfte es nicht. Die Waffe des Hohns genügte. Schmid benutzte sich häufig als Zwischenrufer und als Parlamentspräsident. Er unterminierte die Glaubwürdigkeit der radikalen Gruppen von rechts und links, indem er sie verlachte. Der als Wirrkopf bekannte Gründer der Wiederaufbauvereinigung Alfred Loritz erbat sich vom amtierenden Präsidenten vernünftige Zwischenrufe, worauf dieser schlagfertig entgegnete: „Der Präsident ist, was die Vernunft anlangt, Zwischenrufern gegenüber so machtlos wie gegenüber den Rednern.“ ?? Als Adolf von Thadden, Mitglied der Deutschen Reichspartei, später Vorsitzender der NPD, mit Bleistift hinterm Ohr das Rednerpult betrat, ertönte die Glocke des Präsidenten: „Sie werden sich mit dem Bleistift hinter dem Ohr noch verletzen, Herr von Thadden.“3 „Politische Säuberungsmaßnahmen“, die von verschiedenen Seiten gefordert wurden’*, lehnte Schmid ab. Nicht das „Geschrei“ war für ihn das schlimmste, sondern die „Spannungslosigkeit, die Herzlosigkeit und der Mangel an Leidensfähigkeit“ 35
Die souveräne Handhabung der Geschäftsordnung machte dem Tübinger Rechtsprofessor keine Schwierigkeiten. Wer meint, Geschäftsordnungsfragen seien für ihn eine Nebensache gewesen’, der irrt gewaltig. Bei Geschäftsordnungsdebatten konnte er sich sogar über Details ereifern, denn nach seinem Verständnis von Recht und Demokratie wurden dort oft elementare Fragen der Demokratie berührt. Mit dem ihm eigenen Pathos stellte er fest, daß ein Rechtsstaat „stirbt“, wenn falsch verfahren wird??. Wenn es um den „unverbrüchlichen Respekt des Rechts“ ging, galt für ihn der Grundsatz „minima non curat praetor“ nicht?®.
Nicht weniger wichtig als Geschäftsordnungsdebatten nahm er politische Stilfragen. Nicht zu Unrecht nannte man ihn später den Stilbildner des Parlamentarismus. Auf sein Drängen hin wurde in der 2. Wahlperiode eine feierliche Eröffnungszeremonie der Plenarsitzungen eingeführt. Beim Eintritt des amtierenden Präsidenten hatten sich die Abgeordneten des Hauses zu erheben und stehen zu bleiben, bis der Präsident auf seinem Stuhl Platz genommen hatte. Der Präsident erschien seiner Würde _ gemäß im Cut, die Saaldiener erhielten Fräcke??. Insbesondere im eigenen politischen Lager wurde Schmids Neigung für das Repräsentative belächelt. Nur zögernd stimmte die Fraktion der Eröffnungszeremonie zu#°. Schmid hätte es nicht abgestritten, daß er Freude am Repräsentieren hatte. An die Nüchternheit der Wiederaufbauphase konnte er sich nie ganz gewöhnen. Doch in erster Linie ging es ihm darum, die Souveränität des Parlaments durch eine würdevolle Selbstdarstellung zu unterstreichen.
Nicht nur aus persönlicher Eitelkeit sah man ihn damals über und über mit Orden behängt. Er wollte sichtbar zeigen, daß er sich zu der Bonner Demokratie bekannte und sich durch deren Auszeichnungen geehrt fühlte*‘. Als er sich 1954 das Großkreuz des Ordens Menelik II. an die Weste hängte, das er von der Schwiegertochter Kaiser Haile Selassis geschenkt bekommen hatte, geschah das freilich aus Spaß an der Freude. Einige Genossen schüttelten den Kopf und nahmen Anstoß an seinem vertraulichen tete ä t&te mit der exotischen Schönheit*”.
Im Vorfeld des Staatsbesuchs des abessinischen Kaisers hatte Schmid sich mit Adenauer über Protokollfragen gestritten. Der Bundestagsvizepräsident, der mit der obrigkeitsstaatlichen Tradition der Deutschen brechen wollte, achtete peinlich genau auf den Vorrang der Legislative vor der Exekutive. Gemäß Protokoll hatte der Bundestagspräsident als zweiter Mann im Staate bei Staatsbesuchen den Vortritt vor dem Bundeskanzler, der sich aber beharrlich weigerte, seinem sozialdemokratischen Gegenspieler den Vortritt zu lassen. So drängte sich Adenauer beim Staatsempfang des abessinischen Kaisers am Bonner Bahnhof protokollwidrig vor, worauf Schmid ihm laut und vernehmlich zur Freude aller Journalisten zurief: „Wo Sie jetzt stehen, Herr Bundeskanzler, da war früher bei unserer Schwadron der Platz des Schimmels mit der Kesselpauke.“* Die Bedeutung, die der Dichter der Form zumaß, maß der Politiker dem Protokoll zu. Die symbolische Politik war für ihn nicht weniger wichtig als die Realien der Politik. Schmid konnte sich darüber ärgern, daß Gerstenmaier als Bundestagspräsident dem Alten zumeist den Vortritt ließ**.
Der Bundestagsvizepräsident machte es sich zur Aufgabe, die Würde des Parlaments zu verteidigen. Die Verunglimpfung des Parlaments in der Weimarer Republik machte Schmid hellhörig für jede abfällige Bemerkung über den Bundestag und seine Abgeordneten. Als Bundeswirtschaftsminister Erhard im Sommer 1950 einen Beschluß des Bundestages, die Brotpreise weiter zu subventionieren, mit der verächtlichen Feststellung kommentierte „Hier waren wieder einmal Hysteriker als Wirtschaftspolitiker am Werk“, brachte die SPD-Fraktion auf Initiative Schmids einen Antrag im Bundestag ein, Erhard zu entlassen. Natürlich rechnete Schmid nicht damit, daß der Bundeskanzler Erhard entlassen werde. Er trachtete auch nicht danach mit Kanonen auf Spatzen zu
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schießen, wie man ihm auf Regierungsseite unterstellte, zumal es sich bei dem Objekt des Antrags, wie er mit bissigem Humor feststellte, nicht um einen Spatzen handelte*5. Den Anfängen einer erneuten Diskreditierung des parlamentarischen Regierungssystems sollte gewehrt werden. „Das Volk“, so warnte er, „wird das Parlament so einschätzen, wie dieses sich selber einschätzt, und dann, meine Damen und Herren, (…) werden Kräfte aufstehen und Gehör finden, die zu primitiven oder elementaren Lösungen mehr Vertrauen haben als zu konstitutionellen.“ War es nicht so, daß „jeder Esel“ sich durch die Fehler der Politiker gerechtfertigt fühlte?*’ Erwuchs hieraus nicht das Mißtrauen gegen die da oben, die sich um die Interessen des Volkes überhaupt nicht kümmerten? Um Vorurteile abzubauen, betrieb Schmid auch außerhalb des Plenarsaals politische Pädagogik als Journalist, der den Bürgern die Funktionsweise des Bundestages erklärte, oder als Vortragsredner. In den Anfangsjahren gehörte er zu den wenigen Bonner Parlamentariern, die Schulklassen durch den Bundestag führten*°. Durch Vorträge an Volkshochschulen, deren Einladungen er sich kaum erwehren konnte, trug er zur Erwachsenenbildung bei. Politik mußte vermittelt, dem Volk nahegebracht werden. Dazu war die Presse da. Die Journalisten hofierten Schmid, ob sie Axel Caesar Springer oder Erich Kuby, Rudolf Augstein oder Hans Zehrer hießen.
Kummer bereitete ihm, daß er sich um seinen Mannheimer Wahlkreis nicht so kümmern konnte, wie er es gerne getan hätte. Er selbst hatte geschrieben, daß es Aufgabe eines Politikers sei, in regelmäßigen Abständen dem eigenen Wahlkreis Rede und Antwort zu stehen*”. Doch wann sollte er das auch noch machen? Er war überaus dankbar, daß ein Mannheimer Parteigenosse es auf sich nahm, jeden Samstag für ihn eine Bürgersprechstunde in Mannheim abzuhalten“. Er selbst wollte sich in Bonn, soweit es ihm möglich war, der Sorgen und Nöte der Mannheimer annehmen. Die Mannheimer konnten mit ihm zufrieden sein und waren es auch.
Er war noch nicht lange Vizepräsident, da galt er schon als ein Mann, an dem man sich wenden konnte, wenn man Hilfe brauchte. Eine Flut von Petitionen kam auf ihn zu. Menschen, die kaum des Schreibens mächtig waren, baten ihn um Rat und Hilfe, weil sie gehört hatten, er helfe allen. Tatsächlich gingen Schmid die sozialen Notfälle sehr ans Herz. Wenn er eine Möglichkeit sah, zu helfen, so tat er dies auch. Handelte es sich um ganz kleine Beträge, griff er auch schon mal in die eigene Tasche. Oft bekam Marta Schanzenbach einen hilfesuchenden Schrieb ihres Fraktionskollegen: „Schon wieder so ein armer Teufel.“ „Können wir dem Mann nicht ein bissel helfen?“5 ’ Die stellvertretende Bundesvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt wußte besser als er, wo es Möglichkeiten und Mittel gab, um Menschen, die in Not geraten waren, zu unterstützen. Anfangs hatte er auch engagiert im Petitionsausschuß des Bundestages mitgearbeitet‘?. Wegen seiner zahlreichen politischen Verpflichtungen mußte er aber seine Mitarbeit dort schon bald einstellen.
Häufig erreichten ihn 20 bis 30 Briefe pro Tag. Liegen blieb keiner. Die Dringlichkeit des Anliegens bestimmte die Reihenfolge der Beantwortung. Bis Mitte der 6oer Jahre war das Büro Schmid ein Zwei-Mann-Betrieb. Kein Ghostwriter, der Reden schrieb, kein persönlicher Referent, der die Briefe beantwortete. Nur eine treue Sekretärin, die die Schreibarbeiten, die Standardanfragen und das Organisatorische erledigte, denn der Don Quichotte brauchte einen Sancho Pansa, der Ordnung in seinen ungeregelten Tagesablauf brachte, ihn an Liegengebliebenes erinnerte und ihn manchmal auch mütterlich mahnte, die politischen Hausaufgaben zu erledigen’?. Er beteuerte dann auch, wenn er auswärts oder im Urlaub war, in seinen Karten und Briefen, die er nach Bonn schrieb, immer ganz pflichtschuldig, daß er „fleißig“ seiS‘. Er war ein’menschlicher Chef, der seine Mitarbeiter nie anschrie, aber auch ein unkonventioneller, mit dem zusammenzuarbeiten, nicht immer leicht war. Er wußte es und hatte deshalb ein schlechtes Gewissen. „Dein schwarzes Schaf“, unterzeichnete er Karten an seine Mitarbeiterin Friedel Ahlgrimm’.
Er setzte sich nicht gleich morgens, wenn er ins Büro kam, an den Schreibtisch. Der Morgen gehörte der Zeitungslektüre. Die Bild-Zeitung las er täglich, weil er wissen wollte, mit welchen Schlagzeilen das Volk gerade einmal wieder verblödet wurde‘®. Der Geistesaristokrat war kein Reißbrettpolitiker, der glaubte, Politik über die Köpfe und Herzen der Menschen hinweg machen zu können. Die Bedeutung der Demoskopie hatte er schon früh erkannt. Mit Elisabeth Noelle-Neumann hatte er schon als Präsident des Staatssekretariats in Tübingen Bekanntschaft geschlossen”. Freilich, ein Politiker, der dem Volk nach dem Mund redete, war er nicht. Er setzte sich zum Ziel, das Volk zu erziehen, nicht sich ihm anzupassen. Auch wenn es Wählerstimmen kosten konnte, hatte er den Mut zum Unpopulären. Als nach einer Serie von Taxifahrermorden die Mannheimer Bevölkerung die Wiedereinführung der Todesstrafe verlangte, erklärte Schmid mitten im Wahlkampf, daß er allen Versuchen, die Todesstrafe wieder einzuführen, energisch entgegentreten werde. Gegenüber den Befürwortern von Plebisziten verteidigte er den „aufgeklärten Absolutismus“ des Parlaments’®. Er sagte viel Unpopuläres und war trotzdem populär. Als Vizepräsident und Abgeordneter trug er wie kein anderer zum Ansehen des Parlamentarismus und zur Herausbildung einer demokratischen Kultur in Westdeutschland bei. Er repräsentierte den Bundestag und galt bei vielen als dessen eigentlicher Präsident. Als politischer Erzieher und Stilbildner fand er weite Anerkennung. Doch sein hohes Ansehen verband sich nicht mit politischer Macht. Für die Durchsetzung seiner politischen Ziele mußte er einen zähen langen Kampf führen, bei dem er:oft verlor. Niederlagen, nicht Erfolge bestimmten sein Bonner Politikerdasein.
Enttäuscht von Europa – geschlagen von Kurt Schumacher
Der Auswärtige Ausschuß hatte seine Arbeit gerade erst aufgenommen, da behauptete der Bundeskanzler schon, unter Schmids Vorsitz etabliere sich der Ausschuß zu einem Auswärtigen Amt‘. Daß einige Mitglieder des Ausschusses vertrauliche Informationen an Journalisten weitergegeben hatten’ nahm er zum willkommenen Anlaß, vor dem Ausschuß keine Erklärungen mehr abzugeben. Bei seinen Verhandlungen mit der AHK wollte er sich auf keinen Fall durch irgendwelche Beschlüsse des Parlaments Fesseln anlegen lassen?. Die Zuständigkeiten, die sich der Auswärtige Auschuß angemaßt hatte, gingen ihm viel zu weit. Hatte doch Schmid, unterstützt von Abgeordneten der Koalitionsfraktionen durchgesetzt, daß sich der Ausschuß nicht nur mit den Gegenständen, die ihm vom Plenum überwiesen wurden, befassen wollte, sondern auch mit den außenpolitischen Problemen der Gegenwart, zu denen man Stellungnahmen der Bundesregierung erwartete’. Der Bundeskanzler witterte wieder einmal die Gefahr einer gegen ihn gerichteten Koalition. Schmid war im Gegensatz zu vielen seiner Parteifreunde kein Befürworter einer Parlamentarisierung der Außenpolitik. Der im Kaiserreich Geborene vertraute auf die Mittel der klassischen Diplomatie. Aber Adenauer ging nicht ganz fehl. Schmid hoffte, im Auswärtigen Ausschuß eine Große Koalition in der Außenpolitik herstellen zu können, um politische Alleingänge des Kanzlers zu verhindern.
In einer der ersten Ausschußsitzungen nahm er den Kanzler noch in Schutz. Als einige Mitglieder des Ausschusses die Abwesenheit des Bundeskanzlers beklagten, meinte er beschwichtigend, daß dieser erst im einem fortgeschrittenen Stadium der Verhandlungen zur Auskunft verpflichtet seit. Das war Ende Oktober, als der Ausschuß erstmals über einen eventuellen Beitritt eines deutschen Vertreters zur Ruhrbehörde debattierte. Klare Ja-/Nein-Fronten gab es nicht. Schmid hielt eine Anpassung des Ruhrstatuts an das Besatzungsstatut für notwendig, da das Ruhrstatut „noch zahlreiche Merkmale des Gendamerie-Denkens“ enthalte, während nach dem Besatzungsstatut die Kontrollrechte weitaus restriktiver gefaßt waren. Hierüber müßten Verhandlungen mit den Besatzungsmächten geführt werden. Außerdem müsse man sich Klarheit darüber verschaffen, ob ein Beitritt „den Weg für eine europäische Wirtschaftseinheit öffnet oder blockiert“. Allgemeiner Tenor der überaus sachlich verlaufenen Diskussion war, daß der Beitritt nicht übers Knie gebrochen werden dürfe. Das Protokoll der Ausschußsitzung ging mit der Bitte, daß vor einem eventuellen Beitritt darüber im Bundestag eine Diskussion stattfinden solle, dem Bundeskanzler zu.
Adenauer ignorierte die wohlgemeinten Empfehlungen des Auswärtigen Ausschusses. Die Westalliierten, genauer gesagt die Briten, hatten in einem geschickten Schachzug eine Einstellung der Demontage wichtiger Werke mit der Entsendung eines deutschen Vertreters in die Ruhrbehörde gekoppelt. Um auch Frankreich für den Demontagestop zu gewinnen, bot Adenauer den Franzosen eine Kapitalbeteiligung bis zu 40% an deutschen Industrieunternehmen an. Einem Aide-M&moire, das er an die vom 9. bis 10. November in Paris tagende Konferenz der drei westlichen Außenminister richtete, fügte er einen Entwurf über die Neuordnung der Kapitalverhältnisse der Vereinigten Stahlwerke unter ausländischer Kapitalbeteiligung bei. Zugleich stellte er die Entsendung eines deutschen Vertreters in die Ruhrbehörde in Aussicht‘.
Am 9. November empfing Adenauer die drei Fraktionsvorsitzenden der SPD Schumacher, Ollenhauer und Schmid zu einem Informationsgespräch, bei dem es zum großen Krach kam. Schumacher war erzürnt über Adenauers Alleingang und griff ihn wegen seines Entgegenkommens gegenüber Frankreich aufs heftigste an?. Schmid mußte sich mit der Rolle des Adlatus begnügen, wie bei all den Unterredungen, die die drei Fraktionsvorsitzenden mit dem Kanzler führten. Schumacher verlangte die sofortige Einberufung des Bundestages, um der Pariser Außenministerkonferenz das nationale Wollen der Deutschen zu demonstrieren. Als er damit nicht durchdrang, wandte er sich an die Presse. In zwei Interviews, in denen er jede diplomatische Rücksicht vermissen ließ, nannte er die französische Politik „engstirnig und primitiv“ und machte sie für das angebliche Scheitern der Pariser Außenministerkonferenz verantwortlich‘. Die von Adenauer vorgeschlagene ausländische Kapitalbeteiligung an der deutschen Industrie bezeichnete er als ein „ganz brutales Geschäft auf Kosten des deutschen Volkes“?. Kompromißlos lehnte er eine Entsendung eines deutschen Vertreters in die Ruhrbehörde und einen Beitritt in den Europarat bei gleichzeitiger Aufnahme des Saargebietes ab.
Als Blankenhorn am Abend des ı2. November bei Schmid vorbeischaute, machte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses auf ihn einen völlig „erschöpften Eindruck“: „Aufgeschwemmt, blaß, müdes Gesicht sitzt er mir gegenüber und ist in dieser Haltung ein verzweifelter, deprimierter, enttäuschter Mann. Am meisten enttäuscht über seine eigenen Parteileute und über Schumacher, den er introvertiert nennt, und dessen Reizbarkeit der Grund für die heftigen Angriffe auf die Adenauersche Politik ist.“’° Carlo Schmid vermochte Blankenhorn, der ihm vorwarf, daß durch Schumachers Interview „alle Hunde auf die Gasse gehetzt“ worden seien, so daß ein gemeinsames Gespräch nur mit „viel Mühe und Geduld“ wieder in Gang gebracht werden könne, nicht zu widersprechen. Gewiß, ‘der Bundeskanzler war an dieser Entwicklung nicht schuldlos. Blankenhorn bekam von seinem Gastgeber zu hören, daß der Regierungschef über die „sachlichen Probleme der Ruhr und der europäischen Union nicht genügend unterrichtet“ sei. Damit hatte Schmid ebenso recht wie mit der Feststellung, daß Adenauer sich zu wenig um eine Revision des Ruhrstatuts bemühe“.
Er hatte dies einige Tage zuvor auch schon in einem Presseartikel moniert, sachlich ohne verletzende Schärfe, wobei er die Notwendigkeit einer Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen ausdrücklich hevorgehoben hatte, über die er sich mit Adenauer einig war‘?”. SchumaChers Interview war ein Anschlag auf die deutsch-französische Verständigungspolitik. Schmid mußte um den Erfolg seiner europapolitischen Initiativen fürchten. Mitte Oktober hatte unter seiner tätigen Mitwirkung das Exekutivkomitee des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung ein Memorandum verabschiedet, in dem der Bundesregierung nahegelegt wurde, sich zum Beitritt in den Straßburger Europarat bereit zu erklären, selbst wenn eine gleichzeitige Zulassung des Saargebietes zur Straßburger Konsultativversammlung nicht verhindert werden konnte. Die mit der Aufnahme des Saargebietes verbundenen Probleme, die „nach allgemeiner Überzeugung im Friedensvertrag endgültig zu regeln“ waren, sollten „möglichst sofort unter Ausschaltung von Prestigefragen zum Gegenstand eines unmittelbaren deutsch-französischen Gesprächs gemacht werden“ ‚?.
Schmid war verärgert, daß der von ihm vorgeschlagene Zusatz, daß die Franzosen mit der Aufnahme des Saargebietes in den Europarat die internationale Anerkennung des Saargebietes als ein von Deutschland abgetrenntes Gemeinwesen bezweckten, nicht in das Memorandum aufgenommen wurde und enthielt sich deshalb bei der Schlußabstimmung der Stimme. Grundsätzlich stand er aber voll und ganz hinter dem Memorandum, an dessen Ausformulierung er mitgearbeitet hatte. Er erbot sich sogar, mit Adenauer darüber zu sprechen, ob nicht die Bundesregierung noch vor Zusammentritt des Ministerkomitees im November ihre Bereitschaft zur Teilnahme am Europarat erklären solle. Er war ziemlich sicher, daß er den Bundeskanzler für diesen Vorschlag gewinnen könne’#. Adenauer erklärte am ıs. November den Wunsch nach Aufnahme der Bundesrepublik in den Europarat. Schmid kollaborierte mit Adenauer, nachdem er Schumacher von seinem ablehnenden Standpunkt in der Frage des Europaratsbeitrittes nicht hatte abbringen können.
Der Gang der SPD in die Opposition hatte Schmids europapolitisches Engagement nicht erlahmen lassen. Mit unvermindertem Elan versuchte er das Seine dazu beizutragen, um den Prozeß der europäischen Einigung zu beschleunigen. Auf seine Initiative konstituierte sich am Abend des 9. November im Bundesratssaal die deutsche Gruppe im Parlamentarischen Rat der Europäischen Bewegung. Das Zerwürfnis zwischen Adenauer und Schumacher am Nachmittag desselben Tages trübte die Stimmung des Abends nicht. Schmid wurde zum Präsidenten gewählt, der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU Brentano zu seinem Stellvertreter. Fritz Erler, der Schmid bei den Gründungsvorbereitungen geholfen hatte, wurde zum parlamentarischen Sekretär ernannt’°. Zwei Tage später wurden Schmid und Brentano eingeladen, der Ratssitzung der Interparlamentarischen Union am 19. und 20. November in Paris beizuwohnen. Der stellvertretende französische Hochkommissar Berard bat die zuständigen Pariser Stellen, den beiden einen herzlichen Empfang zu bereiten’. Vermutlich fürchtete er, daß man Schmid mit Vorhaltungen wegen der Schumacher- Interviews überschütten werde.
In Paris hatten die unbedachten Äußerungen Schumachers verständlicherweise Verärgerung ausgelöst. Der französische Sozialist Henri Frenay, einer der führenden Köpfe der Europabewegung, fragte Schmid in einem Brief voller Verzweiflung nach einem Weg, der die deutschen und französischen Sozialisten trotz der Beleidigungen Schumachers wieder zusammenführen könne’7. Schmid wollte bei einem Treffen Ende November in Bernkastel die Angelegenheit mit Frenay besprechen.
Zunächst blieb nur das Bemühen, im Ausland und auch innerhalb der Bundesrepublik den angerichteten Schaden zu begrenzen. Am 15. November wollte Adenauer eine Regierungserklärung über die Pariser Außenministerkonferenz und die deutsche Beteiligung an der Ruhrbehörde abgeben. Anfang November hatte Schmid dem Bundeskanzler noch versprochen, daß die SPD ihre ablehnende Haltung so formulieren werde, daß dadurch seine Verhandlungen mit der AHK unterstützt werden“®. Nun war es wider Erwarten zu einer Polarisierung des innenpolitischen Klimas gekommen. Schumachers Antwort auf Adenauers Regierungserklärung war relativ moderat, wenngleich er in der Sache hart blieb. Er unterstrich nochmals sein „klares eindeutiges Nein“ zu einem Beitritt der Bundesrepublik in die Ruhrbehörde, zu einer ausländischen Kapitalbeteiligung an der Ruhrindustrie und zu einem gleichzeitigen Eintritt der Bundesrepublik und des Saargebietes in den Europarat’°.
Mehr Aufsehen als die Rede Schumachers erregte diesmal die Rede Carlo Schmids. Überall stand und steht noch zu lesen, Schmid habe Adenauer einen „dolus eventualis“ bei seiner Außenpolitik vorgeworfen”. Eine solche Unterstellung lag Schmid fern. Er hatte wörtlich gesagt: „Das Schlimmste, was wir tun könnten, wäre, wenn wir in dieser Phase der Geschichte die Kardinalfehler der Weimarer Republik wiederholten, nämlich mit einem dolus eventualis unterzeichneten, also mit dem Hintergedanken: Wir unterschreiben, und nachher wird man sehen.“? ! Zugegeben: besonders klug war es nicht, einen solchen Begriff in die Debatte zu werfen. Es mußte im Ausland der Eindruck entstehen, daß sich die Deutschen schon wieder mit revisionistischen Absichten trugen. Schmid freilich ging es gerade darum, das erneute Entstehen einer revisionistischen Außenpolitik, die nationalistischen Parolen Vorschub leisten mußte, zu verhindern. Das war doch das Trauma, das ihn verfolgte, wenn es ihn auch nicht so gefangennahm wie Schumacher.
Nicht ein einziges Mal in seiner ganzen Rede hatte er die Regierung scharf angegriffen. Dem Bundeskanzler bot er noch einmal ausdrücklich eine Politik außenpolitischer Gemeinsamkeit an. Er riet ihm, sich die Kritik der Opposition bei seinen Verhandlungen mit den Hohen Kommissaren um eine Revision des Ruhrstatuts zunutze zu machen. Das Junktim zwischen der Demontagefrage und der Entsendung eines deutschen Vertreters in die Ruhrbehörde ohne Wenn und Aber zu akzeptieren, hielt er für bedenklich, denn mit einer Politik der Junktims könne man nie zu einer eigenständigen deutschen Außenpolitik kommen?”. Schmid sagte – nur, was die meisten Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses, unabhängig von ihrer parteipolitischen Zugehörigkeit, dachten. Sein Nein zu einem deutschen Beitritt in die Ruhrbehörde war kein endgültiges, kein absolutes.
Adenauer reagierte so gereizt, weil er keine Antwort auf Schmids Kritik wußte. Er wälzte dessen Lapsus vom „dolus eventualis“ aus und behauptete, Schmid habe in Unkenntnis der politischen Verhältnisse von einer Alternative „Souveränität über das Ruhrgebiet und dem Aufhören der Demontagen“ gesprochen, was eine böswillige Verdrehung von dessen Argumentation war”. Der Bundeskanzler verstand es in genialer Weise, durch Unterstellungen von seinem eigenen Versagen abzulenken. Für ihn war das Junktim ein fait accompli. Bei den abschließenden Verhandlungen, die am 22. November zum Abschluß des Petersberger Abkommens führten, war Adenauer weit weniger erfolgreich als es im nachhinein schien. Die alliierten Dekartellisierungsbestimmungen wurden nicht aufgehoben, die Aufnahme einer Revisionsklausel in die Bestimmungen des Ruhrstatutes wurde von den Hohen Kommissaren verweigert, wichtige Werke blieben auf der Demontageliste?*.
Trotzdem wurde Adenauer ein Erfolg zuteil, weil die SPD falsch taktierte: Verfassungsbruch lautete der Vorwurf, den sie Adenauer entgegenschleuderte – ein Vorwurf, den Schmid in der Form nicht geteilt hat, obwohl auch er über Adenauers außenpolitische Alleingänge und seine Mißachtung des außenpolitischen Ausschusses erzürnt war”°. Adenauers Weigerung, die Zustimmung des Bundestages zum Petersberger Abkommen einzuholen, hatte der SPD-Parteivorsitzende bereits einen Tag nach Unterzeichnung des Abkommens mit der Ankündigung einer Bundesverfassungsgerichtsklage beantwortet”°. Arndt griff Schumachers Argumentation auf und warf in der Debatte über das Petersberger Abkommen dem Bundeskanzler einen „autoritären Handstreich“ vor?’. Die Debatte artete in eine hitzige Redeschlacht aus, in der Schumachers böses Wort vom „Bundeskanzler der Alliierten“ fiel, das provoziert wurde durch Adenauers polemische Behauptung, die SPD-Fraktion nehme es in Kauf, „die ganze Demontage bis zu Ende gehen zu lassen“? ®, Bundestagspräsident Köhler ordnete einen Ausschluß des Oppositionsführers von den Verhandlungen des Bundestages für 20 Sitzungstage an. Aus dem Eklat drohte eine Staatskrise zu werden.
Die Hohen Kommissare mußten fürchten, daß auch die zweite deutsche Demokratie nicht von langer Dauer sein werde. Der amerikanische Hochkommissar MeCloy besprach noch am 25. November mit Schmid die Lage, der ihm offen und ohne Umschweife berichtete, daß man in der SPD-Fraktion empört sei über die Unbeherrschtheit des Vorsitzenden, durch den die SPD in eine fast ausweglose Situation geraten sei. Schumachers intransigenter Oppositionskurs werde von der Mehrheit der Fraktion nicht befürwortet?°,. Schmid ging eindeutig auf Distanz zum Fraktionsvorsitzenden, der mit seiner starren außenpolitischen Haltung seine eigenen außenpolitischen Ziele durchkreuzte. Adenauer war mitverantwortlich für die erste schwere Krise der Bundesrepublik. McCloy stimmte mit Carlo Schmid überein, daß Adenauers Mifßachtung des Bundestages die demokratische Entwicklung in der Bundesrepublik gefährde. Der amerikanische Hochkommissar kabelte an das Außenministerium nach Washington, daß Adenauer und Schumacher in ihren Parteien als „Problemkinder“ betrachtet werden?‘. Der amerikanische Außenminister Acheson hatte bei einer Zusammenkunft mit Schmid und Schumacher am 13. November zu außenpolitischer Gemeinsamkeit gemahnt. Schmid hatte nach dem Gespräch, bei dem er nicht zu Wort gekommen war, den Amerikanern sein Einverständnis versichert’*. An ihm lag es nicht, daß es zu keiner bipartisan policy kam. Auch McCloy beteuerte er jetzt noch einmal, daß die SPD nicht grundsätzlich gegen die Entsendung eines deutschen Vertreters in die Ruhrbehörde sei. Sie erwarte aber, daß zuvor einige Bestimmungen des Ruhrstatutes geändert werden. McCloy hatte durchaus Verständnis für diese Position>3.
Adenauers und Schumachers Konfrontationskurs fanden weder den Beifall der Hohen Kommissare noch den der Mehrheit des Bundestages. Aber wer sollte die beiden Kontrahenten zur Raison bringen? Carlo Schmid bemühte sich nolens, volens zunächst einmal beim Bundestagspräsidenten und im Ältestenrat um eine „honorige“ Beilegung des Konflikts?*. Nach langem hin und her wurde am ı. Dezember eine Verständigungsformel gefunden. Schumachers Ausschluß aus dem Bundestag wurde aufgehoben.
Gleichzeitig war Schmid bestrebt, das in Scherben gegangene deutschfranzösische Verhältnis wieder zu kitten. Mit Henri Frenay vereinbarte er eine Zusammenkunft französischer Sozialisten mit Kurt Schumacher. Man beriet, wie man am besten vorgehe, daß das Gespräch nicht im unversöhnlichen Meinungsstreit ende. Aber wie will man so gegensätzliche Positionen wie die des SPD-Vorsitzenden und der französischen Sozialisten miteinander in Einklang bringen? Das Anfang 1950 geführte Gespräch brachte, wie kaum anders zu erwarten, keine Verständigung?®. Schmid tat, was er konnte, um den Dialog mit den Franzosen nicht abreifen zu lassen. Francois-Poncet erhielt von ihm einen überaus herzlichen Neujahrsbrief, in dem er seinen Wunsch nach einer deutsch-französischen Verständigung zum Ausdruck brachte3°. Der französische Hochkommissar war ein entschiedener Gegner Schumachers, in dem er einen zukünftigen „Hitler de gauche“ sah?”.
Seit September hatte Schmids Hauptaufgabe darin bestanden, aufgerissene Gräben wieder zuzuschütten. Damit konnte er weder sich profilieren noch die SPD aus ihrer Misere bringen. Ein politischer Kurswechsel, eine ganz andere Oppositionsstrategie war nötig. Alle Hoffnung richtete sich auf Schmid, der aber erst einmal flach lag. Ein Unglück kommt selten allein! Anfang Dezember war er in Paris in einer Badewanne ausgerutscht und hatte sich zwei Rippen gebrochen. Der Spott ließ nicht auf sich warten. Wenn er schon in einer Badewanne ausrutsche, was würde da erst auf internationalem Parkett passieren??? Gebhard Müller mahnte den Patienten und auch den Politiker zu Geduld’®. Der aber war äußerst ungeduldig und verließ das Bett viel früher, als er sollte. Er habe „ein Gefühl, als ob längere Abwesenheit schaden könnte“, schrieb er Heuss, der ihm die besten Wünsche zur Genesung übermittelt hatte*°.
Noch bevor er am 10. Januar sich wieder in Bonn einfand, nahm er in Stuttgart an einer Konferenz des Landesvorstandes und der Landtagsfraktion Württemberg-Badens teil, zu der auch die aus der Südwestecke kommenden Bundestagsabgeordneten eingeladen worden waren. Schoettle, in der Weimarer Republik Freund und Kampfgefährte Schumachers, eröffnete eine Grundsatzdiskussion über den Führungsstil des Parteivorsitzenden und die weitere politische Strategie der Partei: „Wie können wir die Partei in eine Richtung bringen, die sie aus der Isolierung herausführt? Der Konflikt Schumacher-Adenauer hat uns mehr geschadet. Das Führungsprinzip muß korrigiert werden, wenn tragische Entwicklungen vermieden werden sollen. (…) Der ehrliche Versuch, Schumacher in seinem Bereich zu stellen, muf gemacht werden. Schumacher meint, daß die Proleten den besseren Instinkt haben, aber Zweifel daran sind berechtigt. Die heutige Besprechung sollte der Ausgangspunkt für eine offene Aussprache mit Schumacher sein.“* ‚S chmid hatte den Ausführungen Schoettles nicht viel hinzuzufügen. „Wie Schoettle die Situation sieht, so ist sie“, stellte er kurz und bündig fest. In der Ruhrfrage habe die Partei eine Niederlage erlitten, wenngleich ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Petersberger Abkommen grundsätzlich richtig gewesen sei. Jetzt müsse man unbedingt nach einem Weg suchen, zu der deutschen Beteiligung am Europarat ja sagen zu können*”. Mommer war mit Schmids kurzer Stellungnahme nicht zufrieden. Der Mann, der Schumacher stellen sollte, war Schmid. Was erwarteten die Schumacher-Kritiker? Daß er eine Fronde gegen Schumacher aufbaute oder die Rolle des Königsmörders übernahm? Die Mehrheit der Partei mag im Januar 1950 hinter ihm gestanden haben, aber vom Parteiapparat wäre er torpediert worden. Die Hannoveraner Führungsspitze hätte nichts unversucht gelassen, um ihn in der Öffentlichkeit zu demontieren.
Auf der Stuttgarter Tagung hielt er sich völlig bedeckt. Mommer konnte ihm keine eingehendere Stellungnahme entlocken. Es war auch überaus ungeschickt von Schoettle gewesen, in einem so großen Kreis, und noch dazu in Anwesenheit Max Denkers, der ein Intimus des Parteivorsitzenden und ein Intimfeind Carlo Schmids war, dieses hochbrisante Thema anzusprechen. Schoettle hätte sich denken können, daß der Stuttgarter Parteifunktionär postwendend Hannover von der Sitzung informieren würde*. Eine Verschwörung gegen den Parteivorsitzenden wurde in Stuttgart nicht angezettelt. Die Sitzung endete in Resignation. Mommers Schlußwort widersprach keiner: „Ohne Schumacher ist die Partei nicht denkbar. Er ist, wie er ist. Man muß in der richtigen Weise mit ihm umgehen.“ ** Doch Schumacher wußte jetzt, wie brüchig seine Stellung als Parteivorsitzender war, und daß ihm in Schmid ein potentieller Rivale erwuchs. Es scheint zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen beiden gekommen zu sein, aus der Schmid als Geschlagener hervorging*. Er war jetzt noch mehr als zuvor gezwungen, sich der Parteilinie anzupassen, es sei denn, es kam doch noch zu einer Großen Koalition
Im Januar bot sich von neuem die Chance für eine Politik außenpolitischer Gemeinsamkeit. Die Franzosen beabsichtigten, die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit des Saargebietes von Frankreich zu zementieren. Anfang Januar hörte man von Plänen Frankreichs, nach denen die saarländischen Kohlengruben für so Jahre durch Frankreich betrieben und die saarländischen Eisenbahnen französischer Verwaltung unterworfen werden sollten. Um das französische Mitspracherecht in dem autonom erklärten Saargebiet zu sichern, plante man, einen Vertreter Frankreichs in das Saargebiet zu entsenden. Erklärtes Ziel Frankreichs war es, durch Aufnahme des Saargebietes in den Europarat sich diese Maßnahmen international sanktionieren zu lassen. Frangois-Poncet sprach ganz offen davon, daß Frankreich aus dem Saargebiet ein zweites Luxemburg machen wolle*. Die sogenannten Saarkonventionen wurden trotz deutschen Protestes am 3. März unterzeichnet?’. Die Ablehnung dieser Pläne in der Bundesrepublik war einhellig. Blankenhorn suchte am ı1. Januar Carlo Schmid auf und verständigte sich mit ihm über ein gemeinsames Vorgehen. Man war sich darüber einig, „daß die Bundesregierung einen fait accompli hinsichtlich der Saargruben, der Autonomie des Saargebietes und der Eisenbahnen nicht hinnehmen kann“ und daß hierdurch der „Eintritt in den Europarat unmöglich gemacht werde“ *. Schmid versprach Schumacher und Ollenhauer zu einer gemeinsamen Außenpolitik überreden zu wollen, was ihm diesmal auch gelang. Am 14. und 18. Januar kamen der Bundeskanzler und die drei Fraktionsvorsitzenden der SPD zu einer Lagebesprechung zusammen, bei der weitgehende Übereinstimmung erzielt wurde. Adenauer hatte aus Protest die Unterzeichnung des deutsch-französischen Handelsvertrags ausgesetzt, die SPD-Vertreter regten einen Schritt bei der UN an®. Den gleichzeitigen Eintritt des Saarlandes und der Bundesrepublik in den Europarat lehnte Adenauer freilich nur deshalb ab, weil die Vorsitzenden aller Bundestagsfraktionen sich nach Bekanntgabe der französischen Saarpläne dagegen ausgesprochen hatten.
Im Außenpolitischen Ausschuß herrschte Ende Januar mehr als Unmut über Adenauers Mitachtung des Parlaments. Abgeordnete aller Fraktionen übten laute Kritik daran, daß der Bundeskanzler den Auswärtigen Ausschuß zu einem „unwürdigen Schattendasein“ verurteilte°. Allgemeine Zustimmung fand Dehlers Aufsehen erregende Rede vom 22. Januar in Hamburg. Der streitbare Liberale hatte in einem Aufschrei der Entrüstung die Beseitigung aller Hemmnisse des Besatzungs- und Ruhrstatuts gefordert. Dehlers Rede war eine einzige Provokation gegen Frankreich, die in der Feststellung gipfelte, Hitler sei eine „Folgeerscheinung des Versailler Vertrags und vor allem der kleinmütigen Politik Frankreichs“ gewesen‘, Der einzige im Auswärtigen Ausschuß, der meinte, Dehler hätte diese Rede besser nicht gehalten, war Carlo Schmid, der sich so wider Willen auf der Seite Adenauers fand, der seinen unbotmäßigen Justizminister wegen dieser Rede gemaßregelt hatte°”. Schmid hatte Mühe, die „Wogen der Empörung“, die sich gegen Adenauer erhoben, „zu glätten“ 3 . Unfreiwillig wurde er zum Advokaten des Bundeskanzlers, weil er fürchtete, daß die nationale Empörung eine gefährliche Entwicklung heraufbeschwören könne.
Im Auswärtigen Ausschuß hatte sich eine Große Koalition gegen Adenauer gebildet. Der linke Flügel der CDU plädierte Anfang 1950 ganz offen für eine Große Koalition. Schmid scheint vorsichtige Annäherungsversuche unternommen zu haben, die aber, wie ein Informant der französischen Hochkommission zu berichten wußte, von Kurt Schumacher sofort konterkariert wurden‘. Adenauers Befürchtung, daß die Bestätigung Schmids als Vorsitzender der Deutschen Gruppe im Parlamentarischen Rat der Europäischen Bewegung der Auftakt zu einer Großen Koalition sei, war völlig grundlos. Ohne eine Entmachtung der beiden Parteivorsitzenden blieben alle Überlegungen über eine Koalition zwischen CDU/CSU und SPD Spekulation. So begnügte sich Schmid damit, dem Bundeskanzler im Auftrag der Mitglieder des Ausschusses einen Mahnbrief zu senden, umgehend vor dem Ausschuß Erklärungen zu den außenpolitischen Entwicklungen der letzten Zeit und über die Maßnahmen und Ziele der Bundesregierung abzugeben. Außerdem drang er auf die Ernennung eines Staatssekretärs des Äußeren, der in den Sitzungen des Ausschusses regelmäßig Rede und Antwort stehen sollte6. Zwei Monate später sah sich Schmid abermals veranlaßt, den Bundeskanzler im Namen des Ausschusses an seine Informationspflicht zu erinnern. Nicht einmal die Protestnote der Bundesregierung gegen die Saarkonventionen hatte Adenauer dem Ausschuß zur Kenntnis gebracht7. Mit Genugtuung stellte Schmid fest, daß auch die Mitglieder der Regierungskoalition sich im Ausschuß nicht als „Büchsenspanner“ des Bundeskanzlers betätigten®, Adenauer äußerte unterdessen dauernd den Verdacht, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses betreibe Nebenaußenpolitik. Durch einen solchen Vorwurf konnte der Bundeskanzler davon ablenken, daß ihm an einer gemeinsamen Außenpolitik überhaupt nicht gelegen war.
In der Sache hätte man sich verständigen können. Die außenpolitischen Zielsetzungen Adenauers und Schmids lagen nämlich gar nicht sehr weit auseinander. Trotz seines entschiedenen Neins zu den Saarkonventionen suchte auch Schmid nach Lösungen, um einen deutschen Europaratsbeitritt doch noch möglich zu machen. Den Preis einer völkerrechtlichen Abtrennung des Saargebietes konnte Deutschland nicht zahlen, denn dann verlor man gegenüber dem Osten den Boden unter den Füßen: „Was im Osten Unrecht ist, kann im Westen nicht Recht sein.“ ® Er war der Auffassung, daß die Franzosen in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen das Saargebiet an Frankreich binden wollten. Konnte man den Zankapfel Saar nicht durch ein wirtschaftspolitisches Arrangement mit Frankreich aus der Welt schaffen? Bereits im November hatte er vorgeschlagen, eine deutsch-französische Montanunion ins Leben zu rufen, um in Zukunft einen ungehinderten Austausch von Saarkohle und lothringischem Erz zu ermöglichen. Eine solche Wirtschaftsunion trug seiner Ansicht nach sowohl den legitimen Interessen der französischen Wirtschaft als auch dem französischen Sicherheitsbedürfnis Rechnung. Im März und Mai trat er abermals mit seinem Vorschlag an die Öffentlichkeit°‘. Der Bundeskanzler entwickelte im Frühjahr 1950 ähnliche Pläne. Kurt Schumacher griff die Gedanken seines eigenwilligen Mitstreiters auf. In der Bundestagsdebatte am 10. März sprach er sich für die Aufnahme deutschfranzösischer Wirtschaftsverhandlungen aus“. Die Debatte endete in einer für die soer Jahre seltenen Einmütigkeit aller Parteien.
Eine Entscheidung für oder gegen den Europaratsbeitritt hatte die Debatte nicht gebracht. Carlo Schmid schwankte wie bei den Grundgesetzberatungen zwischen Härte und Nachgiebigkeit. In einer Präsidiumssitzung der Europa-Union Ende März riet er zunächst, durch Härte ein Entgegenkommen der Franzosen zu erzwingen, hielt aber dann den Vorschlag des Präsidenten Eugen Kogon, die Deutschen sollten dem Europarat beitreten und dort einen Schiedsspruch über die Zugehörigkeit des Saargebietes zu Deutschland erwirken, für „durchaus diskutabel“°. Er war überzeugt, dafs trotz eines negativen Votums der SPD die Mehrheit des Bundestages sich für eine deutsche Beteiligung am Europarat aussprechen werde*. War es da nicht ratsam, geschlossen im Europarat gegen die französische Saarpolitik zu protestieren?
Adenauer traute sich erst am 9. Mai, dem Tag, an dem der französische Außenminister Robert Schuman den Plan einer europäischen Gemeinschaft, für Kohle und Stahl bekanntgab, einen Kabinettsbeschluß über die deutsche Beteiligung am Europarat herbeizuführen. Der Schumanplan bedeutete eine enorme Rückenstärkung für die Beitrittsbefürworter. Carlo Schmid begrüßte ihn kaum weniger enthusiastisch als der Bundeskanzler. Seit Jahren hatte er immer wieder Propaganda für die Gründung einer Montanunion gemacht. Nun hatten die Franzosen die Initiative ergriffen. Er war froh darüber, daß der Anstoß vom europäischen Nachbarland kam. Die Deutschen gerieten so nicht in den Verdacht, sich durch eine Hintertür wirtschaftliche und politische Machtpositionen erschleichen zu wollen. Durch die Gründung einer Montanunion verlor die Saarfrage an Gewicht.
Kurt Schumacher war anderer Meinung. Er beurteilte den Schumanplan skeptisch bis ablehnend. Er nannte ihn in einer Pressekonferenz am 10. Mai einen „Rahmen ohne Bild“. Ob er ein Rahmen für ein demokratisches Europa oder ein internationales Kartell sei, wisse man noch nicht. Auf keinen Fall ging es an, „daß sich die Bundesregierung am Schweife des französischen Vorschlagpferdes durch den Europarat-Engpaß ziehen läßt“ ©, Auch auf die Gefahr hin vom Fraktionsvorsitzenden gemaßregelt zu werden, kritisierte Schmid vorsichtig, aber unmißverständlich in der am gleichen Tag stattfindenden Fraktionssitzung die Schumachersche Position, die in der Öffentlichkeit den Eindruck entstehen lasse, „die SPD befinde sich auf dem Rückzug vom Europagedanken“. Im In- und Ausland wachse die Überzeugung, die SPD beabsichtige eine „Schaukelpolitik zwischen Ost und West“ 7. Tatsächlich hatte McCloy wiederholt die Befürchtung geäußert, Schumacher verfolge einen außenpolitischen Neutralitätskurs‘ ®. Schmid wollte, daß man sich die Haltung zum Europaratsbeitritt noch einmal gründlich überlegte, was er freilich in der Fraktionssitzung nur zwischen den Zeilen zum Ausdruck brachte. Andere Fraktionsmitglieder pflichteten ihm bei. Der Fraktionsvorsitzende brach die Diskussion unwirsch ab. Der Beschluß der Fraktion könne nur lauten: „Der Kanzler hat keine neuen Argumente, daher auch keine Änderung der Haltung der SPD.“
Auf dem zwölf Tage später in Hamburg stattfindenden Parteitag vertrat Schmid, der während Schumachers Referat zeitungslesend auf der Bühne gesessen hatte, contre coeur und wider bessere politische Einsicht die Schumachersche Linie. Straßburg sei keine Plattform um gegen die französische Saarpolitik und für deutsche Gleichberechtigung zu kämpfen. Es müsse vielmehr „für ein europäisches Straßburg vor den Mauern dieser Stadt“ gekämpft werden?°. Nur wenige wagten, dem Parteivorsitzenden zu widersprechen: Brauer, der alte Paul Löbe und der junge Willy Brandt. Die Zahl der Beitrittsbefürworter in der SPD war weitaus größer. Sie alle hatten auf ein entscheidendes Wort Carlo Schmids gehofft und waren enttäuscht worden. Im Landesvorstand der SPD Südwürttembergs, den er selbst auf Europa eingeschworen hatte, herrschte Unverständnis, ja fast Entrüstung über seine Haltung”‘. Daß er im Sommer 1950 den Landesvorsitz niederlegen mußte, war auch Ausdruck der Enttäuschung über sein mangelndes Durchsetzungsvermögen gegenüber Schumacher.
Die Genossen im Südwesten wußten ebensowenig wie die auf dem Parteitag und in der Fraktion, daß Schmid vergeblich mit Schumacher um den Beitritt in den Europarat gerungen hatte”, Fritz Erler berichtete Mitte Juni in einer Sitzung des Landesvorstandes Südwürttembergs, daß Schmids „Echo in der Fraktion“ „außerordentlich im Sinken“ sei, da er wegen des Fraktionszwanges statt seiner eigenen Meinung stets die des Fraktionsvorsitzenden zu vertreten habe. Die Auseinandersetzungen mit Schumacher fanden unter vier Augen statt oder im Fraktionsvorstand, über dessen Sitzungen es bezeichnenderweise keine Protokolle mehr gibt. Erler hatte den Eindruck, daß man Schmid aus der Außenpolitik „herausbugsieren“ wolle, indem man ihn zum „kulturellen Schönredner“ abstempelte”. Der scharfsinnige junge Abgeordnete, der mit seinem Mentor Schmid eng zusammenarbeitete, täuschte sich nicht. Von November 1949 bis Mai 1951 hielt Schmid nicht eine außenpolitische Rede im Bundestag. Schumacher wußte seinen Rivalen ins zweite Glied zu verweisen.
Schmid konnte den Kampf mit Schumacher nicht aufnehmen, wenn er die Partei nicht in ein Chaos stürzen wollte. Die Bürgermeisterfronde Brauer, Kaisen und Reuter, die über eine sichere Hausmacht verfügte, hatte es leichter, gegen den Stachel der Parteidisziplin zu löken als Schmid, der neben Kurt Schumacher auf der Fraktionsbank saß. Zudem war von den dreien allenfalls Ernst Reuter ein ernsthafter Konkurrent. Entsprechend gespannt war das Verhältnis zwischen dem Parteivorsitzenden und dem Berliner Bürgermeister, von dem Schumacher nur als von dem „Präfekten von Berlin“ sprach”*. Schmid verstand sich mit Reuter, für den er Hochschätzung trug, und Brauer sehr gut”. Da ihn das Gespenst einer Parteispaltung umtrieb, versuchte er manchmal zwischen den drei Bürgermeistern und Kurt Schumacher den ehrlichen Makler zu spielen. Er mußte später bekennen, daß er in dieser Rolle wenig erfolgreich war”.
Als Verteidiger der Parteilinie kam Schmid in eine unmögliche Position. Als er Anfang Juni auf einer Berliner Funktionärskonferenz zwischen den Gegnern eines Europaratsbeitritts und den Befürwortern zu vermitteln versuchte, erntete er Protestrufe. Auch die Beitrittsbefürworter haben „ehrenwerte Gründe“, versicherte er seinen Zwischenrufern’?’. Aber warum lehnte die SPD dann die Europaratsbeteiligung ab? Zumal die Franzosen zugestimmt hatten, dafs die endgültige Regelung an der Saar dem Friedensvertrag vorbehalten bleibt. Manchmal redete er sich selbst ein, daß es vielleicht ganz gut sei, daß zumindest eine Partei laut gegen die französische Saarpolitik protestierte”®. Doch mit seinem Furopaengagement vertrug sich diese Haltung schlecht. In der Europa-Union wurde seine ablehnende Stellungnahme aufs heftigste mißbilligt”?.
Kürt Schumacher diktierte der Partei seinen Willen auf. Dem Parteivorsitzenden war offensichtlich nicht entgangen, dafs zahlreiche Parteitagsteilnehmer nicht seiner Meinung waren, so daß er eine gesonderte Abstimmung über die Europaratsteilnahme vermied. Die Resolution, über die die Delegierten abzustimmen hatten, enthielt neben der Frage Europarat Ja oder Nein auch ein umfangreiches Wirtschafts- und Sozialprogramm. Bei der Abstimmung im Bundestag am 13. Juni wurde Fraktionszwang verhängt.
Ende Juni verlas Kurt Schumacher der Fraktion ein angebliches Rundschreiben Francois-Poncets, demzufolge die Franzosen den Opponenten des Schumacher-Kurses den Rücken stärken wollten, um die Stellung des Parteivorsitzenden zu erschüttern“°. In der darauffolgenden Fraktionssitzung am ı1. Juli gab der Vorsitzende die Richtlinie aus, Einladungen der Franzosen grundsätzlich „kühl“ zu behandeln°‘. Der französische Hochkommissar schickte noch am selben Tag ein Telegramm an Carlo Schmid, er wolle ihn sofort in der Verwaltungshochschule in Speyer sprechen®?. Schmid bildete dort gerade die Anwärter des Auswärtigen Dienstes im Völkerrecht aus. Frangois-Poncet hatte das Rundschreiben nicht verfaßt. Er hielt es, falls es überhaupt existierte, für eine Fälschung und wollte nachforschen, welche Handschrift es trug. Kurt Schumacher verweigerte ihm die Einsichtnahme in das Schriftstück®®. Finte oder Fälschung – das läßt sich nicht mehr feststellen. Jedenfalls nutzte Schumacher das Rundschreiben, sei es nun vorhanden oder fingiert, um eine Scheidewand zu den Franzosen aufzubauen. Abgeordnete der Fraktion trauten sich nicht mehr, sich in französischer Gesellschaft sehen zu lassen®*.
Schmid pflegte weiterhin guten Kontakt zu dem französischen Hochkommissar, dem man einen republikanischen Elitismus nachsagte, der aber vor allem ein ausgezeichneter Kenner der französischen und deutschen Literatur war”. Es waren geistige Interessen und Einstellungen, die Schmid und Frangois-Poncet verbanden, daneben natürlich das Bemühen um eine deutsch-französische Verständigung. In der französischen Hochkommission registrierte man mit Bedauern und Sorge den stetig wachsenden Einflußverlust des zweiten stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD, dem die Schumacher-Treuen Arndt und Lütkens den Rang abliefen. Die Hoffnung auf Schmid als Kronprinz, der Schumacher in absehbarer Zeit beerben werde, sank. Für die Franzosen war Schmid das „Opfer“ des frankophoben Parteivorsitzenden®®
Ganz so einfach lagen die Dinge nicht. Aber eines ist richtig: Schmids Bemühen um eine deutsch-französische Freundschaft wurde von dem SPD-Parteivorsitzenden immer wieder zunichte gemacht. Schumacher sprach viel von Europa, aber seine Perspektive war nicht europäisch. Sie war national und atlantisch. Der Europarat war für ihn nur ein „Vorzimmer“ zur Nato°”. Carlo Schmid dachte wie Adenauer in erster Linie europäisch. Deshalb hatte die deutsch-französische Freundschaft für Schmid wie auch für den Bundeskanzler einen so hohen Stellenwert. Als Adenauers Politik der deutsch-französischen Verständigung 1963 im Bundestag gewürdigt wurde, spendete Carlo Schmid spontan Beifall – als einziger in der SPD-Fraktion®®. Adenauers Verdienste wurden gewürdigt, Schmids nicht minder große verblaßten hinter der anti-europäischen Einstellung seiner Partei.
Ende Juni hatte die Mehrheit der Fraktion beschlossen, trotz des ablehnenden Votums gegen eine deutsche Europaratsbeteiligung Delegierte nach Straßburg zu entsenden. Carlo Schmid sollte die 7köpfige SPD Delegation anführen. Er ging mit viel Skepsis nach Straßburg. Er sei alles andere als begeistert über seine Entsendung in den Europarat, vertraute er einem Genossen aus der französischen Bruderpartei an. Er sei müde und ausgelaugt. Der Weg nach Europa werde steinig sein und auf ihm laste die ganze Arbeit, denn den deutschen Delegierten fehle jede Erfahrung auf internationalem Parkett. Wie immer, wenn er frustriert war, beklagte er sich bitter über die „Mittelmäßigkeit“ seiner politischen Mitstreiter” ®. Sein Hang zu Medisance kam dann durch.
Der Straßburger Europarat, das hatte er schon ein Jahr zuvor gesagt, konnte nicht mehr als ein Anfang sein. Die Kompetenzen der Konsultativversammlung waren gering. Sie konnte lediglich Empfehlungen an den Ministerrat aussprechen und auch das nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit. So wie der Europarat konstruiert war, konnte er bestenfalls eine Plattform für die Bildung eines europäischen Bewußtseins sein. Noch ehe die Bundesrepublik Mitglied im Europarat war, hatte sich Schmid im Rahmen der Europa-Union für den Ausbau des Europarats zu einem europäischen Bundespakt eingesetzt. „Europa soll nicht nur eine Sammlung von Stämmen sein, es soll ein Ganzes sein und werden“, mit diesen Worten forderte er im Januar 1950 die Europa-Union auf, das in Straßburg diskutierte Bundespakt-Projekt aktiv zu unterstützen, Eine föderative Neuordnung Europas sei nur möglich, wenn man eine übernationale Bundesgewalt schaffe, die über legislative, exekutive und judikative Kompetenzen verfügt. Er selbst wollte im Bundestag die Initiative zur Verabschiedung einer entsprechenden Entschließung ergreifen. Er riet zur Entfachung einer regelrechten Bundespakt-Kampagne. Die Mitglieder der Europa-Union sollten von Haus zu Haus gehen und Unterschriften für den Bundespakt sammeln?‘. Zur selben Zeit als Europa an der Saarfrage zu scheitern drohte, bließ er zu europäischer Aufbruchstimmung. Wieder einmal mochte er an seinen Leitspruch gedacht haben: Politik ist die Kunst, das Notwendige möglich zu machen. Eine interfraktionelle Entschließung über die Gründung eines Bundespaktes wurde dank seiner Bemühungen Ende Juli mit den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der Kommunisten- im Bundestag angenommen??.
Die von der Europa-Union geplante Bundespakt-Kampagne scheiterte, obwohl Schmid im April noch einmal eindringlich gemahnt hatte, die Resolution über den Bundespakt mit lokalen Abstimmungen zu verbinden ®3. Nur in einigen kleinen Landstädtchen kamen Urabstimmungen zustande?*. Als Beweis für den europäischen Einigungswillen der deutschen Bevölkerung konnten sie nicht genommen werden. Schmid war enttäuscht und ließ sich zu einer harten Kritik an der Europa-Union hinreißen: „Wenn Europa auf die Europa-Union angewiesen wäre, es würde nie zustande kommen. (…) Meist sind es hochgestimmte Idealisten und sehr selten kommt zu dem Idealismus Verwaltungserfahrung hinzu.“9S Eine machtvolle Demonstration für Europa hätte auch von der SPD-Parteiführung nicht ignoriert werden können.
Auf blinde Europabegeisterung konnte Schmid äußerst gereizt reagieren. Als eine Gruppe Münchener Studenten des Bundes Europäischer Jugend eine Woche vor Beginn der Europaratstagung in einer symbolischen Aktion bei Weissenburg die Grenzpfähle einriß, nannte er sie abschätzig „Berufseuropäer“, was die Jugendlichen aufs äußerste befremdete, Gewiß, viel Mut hatte zu der Aktion nicht gehört. Die Grenzbeamten waren zuvor angewiesen worden, nichts zu unternehmen. Aber die Jugendlichen hatte er mit seiner harschen Abfuhr arg vor den Kopf gestoßen.
Seine Gereiztheit mag Ausdruck seiner eigenen Enttäuschung gewesen sein. Seine Vision eines europäischen Bundesstaates erwies sich angesichts der nationalstaatlichen Realität als eine ferne Zukunftsutopie. Als er im August 1950 im Europahaus in Straßburg erstmals das Wort ergriff, gab er trotzdem noch einmal seiner Hoffnung Ausdruck, daß der Europarat nur eine Etappe auf dem Weg zum europäischen Bundesstaat sei. Wenn man auf halbem Weg stehen bleibe, bedeute dies letztendlich den Verzicht auf Europa. Er verhehlte nicht, daß die europäische Integration ganz besonders im deutschen Interesse lag. Die Befreiung Deutschlands von der Besatzungsherrschaft setze die Integration der Bundesrepublik in ein vereintes Europa voraus. Am Schluß seiner Rede protestierte er gegen die Mitgliedschaft der Saar im Europarat?”. Im Laufe der Verhandlungen sahen sich Schmid und auch die übrigen deutschen Delegationsmitglieder gezwungen, von dem Bundespakt-Vorhaben abzurücken. Die dem Commonwealth verhafteten Briten konnten sich weder für einen europäischen Staatenbund noch für einen europäischen Bundesstaat begeistern. Dem Schumanplan wollten sie durch Unterstellung der Montanbehörde unter den Europarat die supranationale Spitze nehmen. Es gab nur die Alternative europäischer Bundespakt ohne Großbritannien oder Bildung von Sonderbehörden im Rahmen des Europarates. Europa ohne Großbritannien schien Schmid keine gute Lösung zu sein. So entschloß er sich, mit der Mehrheit der Konsultativversammlung für den zweiten Vorschlag zu stimmen‘®. Das Bundespakt-Projekt war gescheitert. Als sich am 28. August die Europaratsversammlung vertagte, herrschte europäische Katerstimmung.
Ganz so mutlos wie im August war Schmid nicht mehr, als sich im November die Abgeordneten in Straßburg zu erneuter Beratung versammelten. Der Labour-Abgeordnete Ronald Mackay stellte gleich zu Beginn einen Kompromißvorschlag zur Diskussion, in dem er einen Mittelweg zwischen Bundespakt-Lösung und zwischenstaatlicher Zusammenarbeit aufzeigte. Der Europarat sollte in ein Parlament aus zwei Kammern umgewandelt werden, wobei den in der Länderratskammer vertretenen Regierungen das Recht der letzten Entscheidung zukam. Damit trug Mackay der britischen Forderung nach zwischenstaatlicher Zusammenarbeit Rechnung. Ein den beiden Kammern verantwortlicher Verwaltungsrat fungierte als Exekutive. Dem britischen Interesse kam auch die funktionale Begrenzung des Europarates, dem lediglich die Organisationen des Brüsseler Paktes und des Europäischen Wirtschaftsrates unterstellt werden sollten, entgegen”.
Carlo Schmid begrüßte den Plan Mackays, der eine Aussicht biete, „aus dem Dilemma zwischen der Forderung nach einer kleineuropäischen Föderation, durch die Großbritannien und die skandinavischen Länder ausgeschaltet würden, und der gegenwärtigen Struktur des Europarates herauszukommen “ ‚%, Er hatte sich mit dem Verzicht auf eine europäische Konföderation abgefunden, die seiner Ansicht nach von Großbritannien und den skandinavischen Ländern deshalb nicht akzeptiert wurde, weil sie für diese Länder eine Verschlechterung des sozialen Standards bedeutete. Sein Pessimismus war fast verflogen. Er gab sich überzeugt, daß der Plan allgemeine Zustimmung finden werde. Weder Mühe noch Arbeit scheuend, ließ er sich in den von der Konsultativversammlung eingesetzten Siebenerausschuß delegieren, der die Aufgabe hatte, den Mackay-Plan zu überarbeiten. Der Siebenerausschuß traf sich Mitte Dezember in Paris und arbeitete auf der Grundlage des Mackay-Planes einen neuen Satzungsentwurf für den Europarat aus. Im Januar traf man sich nochmals, um einen Bericht für das Ministerkomitee anzufertigen”.
Pläne zu schmieden, ist leicht. Sie in die Wirklichkeit umzusetzen, ist weitaus schwieriger. Schmid war sich durchaus bewußt, daß über die europäische Verfassung nicht die Straßburger Delegierten sondern die Regierungen der europäischen Staaten entschieden’”?. Deshalb drängte er darauf, den Mackay-Plan im Auswärtigen Ausschuß zu diskutieren. Mit Ausnahme Brills äußerten sich alle Mitglieder des Ausschusses optimistisch hinsichtlich der Chancen des Plans’”, der dann doch auf dem Papier stehen blieb. Der Europarat entwickelte sich nicht zum Träger eines europäischen Integrationsprozesses. Schmid resignierte endgültig. Er hatte kaum mehr Hoffnung, daß es möglich sei, „im Europarat noch etwas Ernsthaftes für die Realisierung des europäischen Gedankens zu tun“ „%, Die großen Europäer mußten erkennen, daß sich ihre Vision nur durch lange zähe Kärrnerarbeit verwirklichen ließ. Der Präsident des Europarates Paul Henri Spaak trat im Dezember 1951 mit den Worten „Das Europa, von wir hier sprechen, ist ein Europa, das wir schwer haben verstümmeln lassen“, von seinem Amt zurück’. Schmid dachte nicht viel anders. Er fuhr nur noch der internationalen Kontaktpflege wegen nach Straßburg, wo er beim abendlichen gemütlichen Beisammensein immer im Mittelpunkt stand. Aber eine große politische Bedeutung maß er der Straßburger Versammlung nicht mehr bei. Als der Chef des Bundespräsidialamtes Manfred Klaiber ihn im Frühjahr 1952 zu einer Maibowle ein lud, schrieb er zurück: „(…) ich gehöre zu den armen Leuten, die am 24. Mai für zwei wahrscheinlich höchst nutzlose Wochen ihre Zeit werden in Straßburg versitzen und verschwätzen müssen. Wahrscheinlich wäre es sehr viel gescheiter, Straßburg abzusagen und zu Ihrer Maibowle zu gehen als umgekehrt – aber leider ist es unsereinem meist verwehrt, gescheit zu sein.“ 106
Europa konnte nur „als Produkt einer neuen Art des wechselseitigen Verhaltens von Nation zu Nation“ entstehen’””. Erst mußten auf nationaler Ebene die wirtschaftlichen, politischen und psychologischen Hemmungen ausgeräumt werden, die einer europäischen Einigung im Weg standen. Zu dieser schmerzlichen Einsicht mußte sich Schmid im Laufe des Jahres ı95ı durchringen, der wie viele andere auch in den Jahren zuvor Europa manchmal als eine „Art von Fluchtburg“ betrachtet haben mag. Jetzt postulierte er Europa als „nationale Aufgabe“ ‚®,
Auch die Europa-Union konnte nicht länger an der ihr lieb gewordenen Utopie eines europäischen Bundespaktes festhalten. Im Laufe der Zeit entwickelte sich die Europa-Union mehr und mehr zu einer „wichtigen Hilfstruppe bei der innenpolitischen Durchsetzung des Adenauerschen Westintegrationskurses“’®, Schmid geriet als Vizepräsident der Europa- Union in die unglückliche Situation, ein Spagat zwischen der Adenauerschen und der Schumacherschen Außenpolitik schlagen zu müssen. Ein schier unlösbarer Loyalitätskonflikt entstand. Bereits im Dezember 1950 . verabreichte ihm die Europa-Union einen Denkzettel für sein Veto gegen die deutsche Europaratsbeteiligung. Bei der Wahl der Vizepräsidenten fiel er gegen Wilhelm Kaisen, der im Gegensatz zu Schmid laut gegen Schumachers Außenpolitik protestiert hatte, durch. Kaisen hatte 76 Stimmen erhalten, Schmid nur 47. „Demonstrativ“ verließ er den Kongreß“°, Sensibel, wie er war, konnte er Niederlagen nur schwer wegstecken. Er wertete die Kampfkandidatur Kaisens als einen offenen Affront. In einem zweiten Wahlgang wurde er in absentia zum vierten Vizepräsidenten gewählt. In der internationalen Öffentlichkeit wäre seine Nicht-Wiederwahl auf Unverständnis gestoßen. Lustlos nahm er die Wahl an, nachdem die französischen Sozialisten ihn inständig darum gebeten hatten!“. Sie hat- . ten natürlich recht mit ihrer Mahnung, daß man Europa nicht den Konservativen überlassen dürfe. Wem sagten sie das! Sie hätten ihren Appell besser an Kurt Schumacher gerichtet. Solange er den außenpolitischen Kurs der SPD bestimmte, konnte Schmid nicht aktiv in der Europa-Union mitarbeiten, ohne sich in andauernde Widersprüche zu verstricken. 1951 stellte er sich nicht mehr zur Wahl für das Amt des Vizepräsidenten, 1952 beendete er seine Mitarbeit in der Europa-Union. Im gleichen Jahr wurde sein Schüler Dieter Roser zum Vizepräsidenten gewählt. Damit wurde zumindest in der Öffentlichkeit der Eindruck der Kontinuität gewahrt und ein offener Bruch zwischen SPD und Europa-Union vermieden.
Dem aufmerksamen zeitgenössischen Beobachter konnte jedoch nicht verborgen bleiben, daß die SPD in die außenpolitische Isolierung driftete, vor der Schmid immer gewarnt hatte. Auch bei der Entscheidung über die Montanunion, auf die sich nach dem Scheitern des Bundespakt-Planes die Hoffnungen der Europäer konzentrierten, betrieb Kurt Schumacher eine Politik des Alles oder Nichts. Carlo Schmid kam dadurch in eine überaus mißliche Lage. Adenauer zog durch die Lande und erklärte, die SPD lehne einen Vertrag ab, für den Schmid zwei Jahre zuvor Propaganda gemacht habe. Fritz Heine drängte Schmid, Adenauer zu antworten!’2, Schmid schwieg vorerst. Die SPD hatte im Frühjahr 1951 eine regelrechte Kampagne gegen den Schumanplan entfacht. Am 21. April, drei Tage nach der Unterzeichnung des Montanpaktes, nannte der SPD-Parteivorsitzende die Montanunion „die Fortsetzung der alten Politik französischer Herrschaftsansprüche mit europäischen Worten“. Der Vertrag ziele auf die „Schwächung der deutschen Wirtschaft, um ein großes Volk gefügig zu machen“ “3. Kurt Schumacher machte die Ablehnung des Schumanplanes zum Dogma. Für ihn war der Plan ein „regionaler Spezialpakt“ von sechs Ländern, die er mit den vier berühmten Ks kennzeichnete: „konservativ, klerikal, kapitalistisch und kartellistisch“ “*. Wechselseitige Polemik bestimmte die Auseinandersetzung um den Montanpakt.
Carlo Schmid stand zwischen den Fronten. Er war alles andere als begeistert über den von Adenauer am 18. April unterzeichneten Vertrag über die Europäische Kohle- und Stahlgemeinschaft. Für den Plan, eine Montanunion zu gründen, konnte er eine geistige Vaterschaft beanspruchen, nicht aber für diesen Vertrag. Er war verärgert und enttäuscht, daß man aus seiner Idee nicht mehr gemacht hatte und schimpfte auf die Verhandlungsdelegation: „Es wäre Aufgabe der Regierung gewesen, ihre besten Leute zum Aushandeln dieses Vertrages zu schicken, nicht blutige Dilletanten wie Hallstein und einige Interessenten.“ “5 Der auf internationalem Parkett noch unerfahrene Frankfurter Ordinarius für Internationales Recht Walter Hallstein war von Adenauer nach langer Kandidatensuche zum Leiter der deutschen Delegation bei den Schumanplan-Verhandlyngen ernannt worden.
Kritik erfuhr der ausgehandelte Vertrag nicht nur von sozialdemokratischer Seite. Auch die westdeutsche Stahlindustrie, der Bundesrat und der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Karl Arnold machten Einwände geltend‘!’°. Schmid hielt es für besser, deren Kritik aufzugreifen, als in laute Polemik gegen den Schumanplan zu verfallen, die als nationalistische Gesinnung ausgelegt werden mußte. Bei der ersten großen Redeschlacht über den Montanvertrag im Bundestag im Sommer 1951 verwandelte er das absolute Nein der SPD in eine kritische Stellungnahme zu einem schlecht ausgehandelten, aber an sich guten Plan. Damit wurde kein außenpolitischer Kurswechsel eingeleitet, aber immerhin ein Schritt zu außenpolitischer Gemeinsamkeit getan. Wenn er betonte, daß in jeder Verneinung „eine Bejahung verborgen“ liege“7, so hängte er dem Nein wie schon bei den Grundgesetzberatungen ein bedingtes Ja an. Schmid ging als Punktesieger aus der Debatte hervor. „Zum Sachlichen der Montan- Union sprach als einziger in aller Ausführlichkeit Carlo Schmid für die SPD“, stellte „Der Spiegel“ nach Abschluß der ersten Lesung des Vertrages fest!“
Was waren seine Kritikpunkte? Zum einen der politische Dirigismus der Montanbehörde, die nichts anderes sei als ein „Konvent von Managern“ “9, Das Parlament der Montanunion habe keine echten Befugnisse. Die sozialen und finanziellen Folgen der Anordnungen der Montanunion mußten vermutlich die einzelnen Staaten tragen, deren Parlamente aber keinerlei Einfluß auf die Tätigkeit der Hohen Behörde hatten. Gefährlich sei die starke Machtkonzentration bei der Hohen Behörde, insbesondere im Hinblick auf die sojährige Laufzeit des Vertrages und die beschränkte Möglichkeit der parlamentarischen Versammlung, die Hohe Behörde abzuberufen. Weiter gab er zu bedenken, daß dem europäischen Planungsapparat der Planungsunterbau in den Nationalwirtschaften der einzelnen Staaten fehle’”, Und außerdem: „Wo steht denn im Vertrag, daß die Ruhrbehörde, die alliierten Kontrollen, die Kohle- und Stahlkontrollgruppen, die Eingriffe der Alliierten Sicherheitsbehörde, die Beschränkung der Stahlkapazität und der Stahlproduktion verschwinden werden?“‘? ! Da habe sich die Bundesregierung auf ein bloßes Versprechen der Alliierten eingelassen. Wie konnte die Bundesregierung guten Gewissens die Dekartellisierungsbestimmungen des Gesetzes Nr.27, durch die die deutsche Montanindustrie eindeutig gegenüber der französischen Montanindustrie benachteiligt werde, als Vorbedingung für die Unterzeichnung des Montanvertrags akzeptieren – und das bei einer Vertragslaufzeit von so Jahren? Warum nahm die Bundesregierung die Übervorteilung der deutschen Industrie auf dem Gebiet der Investitionen einfach hin?
Das war eine ganze Latte präziser Fragen, auf die die Bundesregierung keine befriedigende Antworten wußte. „Wir Sozialdemokraten lehnen den Schumanplan, so wie er jetzt ist, ab“, lautete sein Schlußvotum’22. Aus dem absoluten Nein wurde ein bedingtes Ja. Gab er doch vorsichtig zu verstehen, daß die SPD vielleicht doch noch zustimmen könne, wenn vor der Ratifikation bindende Erklärungen über den Abbau der Ruhrkontrolle, über die Sicherung des deutschen Investitionsbedarfes und der Verbundwirtschaft sowie über die völkerrechtliche Zugehörigkeit des Saargebietes zu Deutschland abgegeben würden!
Schmid versuchte die SPD aus ihrer Neinsagerposition herauszubringen. Die Forderungen, die er erhob, deckten sich fast haargenau mit denen des Bundesrates und der westdeutschen Stahlindustrie, die aber peinlich jedes Zusammengehen mit der sozialistischen Opposition vermied und auf eine „Politik der leisen Schritte“ vertraute‘>* Immerhin: Im Herbst 1951 erklärten die drei Westmächte sich bereit, daß mit dem Inkrafttreten der Montanunion die Restriktionen und Kontrollen des Ruhrstatuts fallen werden. Schmid hatte nicht Unrecht mit seiner Feststellung, daß die Kritik der Opposition der Regierung manchmal sehr nützlich war.
Die alliierten Antikartell- und Antifusionsbestimmungen und die Saarfrage blieben ein Zankapfel. Die von Frankreich betriebene Aufrichtung eines „Polizeistaates“ im Saargebiet wurde von allen Parteien verurteilt. Schmid, der sich sowohl in einem Arbeitskreis der Fraktion als auch in einem Unterausschuß des Auswärtigen Ausschusses um eine Lösung der Saarfragen bemühte, betrachtete die politischen Zustände an der Saar nicht als untergeordnetes Problem. Die Unterdrückung der Meinungsund Koalitionsfreiheit an der Saar konnte nicht länger hingenommen werden, wenn man glaubwürdig gegen die Unterdrückung der Meinungsfreiheit in der DDR angehen wollte‘?5. In seiner Hoffnung, daß durch die Gründung einer Montanunion die Saarfrage sich von selbst löse, hatte er sich getäuscht’”°. Offensichtlich hatten die Franzosen nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Interessen an der Saar. Trotzdem: eine Alternative zu einem Kurs der Westintegration gab es nicht. Er war kein Gegner des von Adenauer eingeschlagenen Kurses, aber er warf dem Kanzler vor, daß er für die Durchsetzung deutscher Interessen zu wenig kämpfte: „Der Herr Bundeskanzler hat einmal gesagt, wir müssen uns zentimeterweise vorwärts kämpfen. Das ist richtig, wenn man die Betonung nicht nur auf das Längenmaß, sondern auch auf das Verbum, nämlich auch auf ‚kämpfen‘ legt.“ ‚”” Schmid war im Grunde der geistige Vordenker der Politik, die Adenauer ausführte, schlecht ausführte, wie Schmid meinte, der die Chance nie erhielt, sein außenpolitisches Geschick unter Beweis zu stellen. Er wäre ein hartnäckigerer Verhandlungspartner gewesen als Adenauer, denn nach den Erfahrungen der Weimarer Republik vermochte er nicht wie der Kanzler auf die Dynamik der Geschichte zu vertrauen. Ob er erfolgreicher gewesen wäre, sei dahingestellt.
Zu einer Befürwortung der Montanunion konnte sich die SPD nicht durchrimgen. Das hätte einen Kurswechsel um 180° verlangt, den Schmid nicht durchsetzen konnte. Er hatte viel Sympathie eingebüßt, weil er nicht den Kampf gegen Schumacher aufnahm, den er freilich nur verlieren konnte. Sein beharrliches stilles Einwirken auf den Parteivorsitzenden brachte ihm keine Lorbeeren ein, cebwohl es nicht so erfolglos war, wie Außenstehende glaubten. Zusammen mit einigen Gleichgesinnten versuchte er Schumachers Sprache zu mäßigen und die Agitation gegen den Schumanplan zu dämpfen‘?®. Schmid war oft in der Villa des Parteivorsitzenden im Bonner Kiefernweg. Manche Rede Schumachers wäre wahrscheinlich noch schärfer und kompromißloser ausgefallen, wenn Schmid ihn nicht zu mehr Diplomatie überredet hätte. Schmid sorgte auch dafür, daß der Parteivorsitzende Mitte Dezember ein Gesprächsangebot Adenauers annahm. Die französische Hohe Kommission, die eine wüste Redeschlacht bei der abschließenden Lesung des Schumanplanes befürchtete, konnte er beruhigen: Man habe sich im Führungskreis der SPD auf eine sachliche Auseinandersetzung geeinigt’””. Schumachers nationale Töne fanden in der Fraktion immer weniger Widerhall und innerhalb der Partei wuchs die Zahl der Befürworter des Montanvertrags‘?°. Auch in Schmids Mannheimer Wahlkreis stieß die Haltung der SPD auf Unverständnis“?‘.
In der abschließenden Debatte am ı0./11. Januar 1952 bot die SPDFraktion ı3 Redner auf, die sich vor allem mit den wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Montanpaktes auseinandersetzten. Schmid verlangte im Namen der SPD-Fraktion eine Aussetzung der Ratifizierung des Vertrages bis zu Aufhebung des Antikartellgesetzes Nr. 27, einer endgültigen befriedigenden Klärung der Saarfrage und dem Abschluß der Verhandlungen über den General- und EVG-Vertrag. Ohne eine Kenntnis der „Oberverfassung“ sei es gerade auch im Hinblick auf die deutsche Wiedervereinigung gefährlich, Verzichte, wie sie der Montanpakt verlange, einzugehen’3?, Vor allem Wehner hatte das Argument vorgebracht, daß die Montanunion ein Hindernis auf dem Weg zur deutschen Wiedervereinigung sei’33, das sich in der SPD bald durchsetzen sollte. Schmid, für den die deutsche und europäische Einheit in einem engen Zusammenhang standen, sah in der Westintegration allenfalls dann ein Hemmnis für die deutsche Wiedervereinigung, wenn in dem noch auszuhandelnden Generalvertrag einem gesamtdeutschen Souverän die politische Entscheidungsfreiheit genommen wurde. Er schränkte Wehners Argument stark ein, das in völligem Widerspruch stand zu seiner bisherigen grundsätzlichen Befürwortung eines Montanpaktes.
Die SPD-Fraktion konnte sich keine Hoffnung machen, ihren Aussetzungsantrag durchzubringen. Schmid verstand den Antrag wohl in erster Linie als Demonstration. Bewies man’doch damit, daß man nicht grundsätzlich gegen den Montanpakt war. In seinen Erinnerungen gestand er, daß ihm bei seinem Nein gegen die Europäische Kohle- und Stahlgemeinschaft nicht ganz wohl war‘?*. Das merkten auch schon die Zeitgenossen. Adenauers Staatssekretär Lenz versuchte nachträglich Schmids Zustimmung zu dem Vertrag einzuholen. Schmid ließ sich natürlich von Adenauers getreuem Adlatus nicht weichklopfen’3S.
Trotz des Neins der SPD hatte die Debatte über den Montanvertrag nicht polarisierend gewirkt. Schon in der Debatte und auch danach war viel von gemeinsamer Außenpolitik die Rede gewesen. Als am 16. Januar die Saarfrage im Bundestag beraten wurde, sprach Schmid davon, daß die SPD „um Deutschlands willen sehr froh“ wäre, wenn es möglich wäre, Voraussetzungen „für eine gemeinsame deutsche Außenpolitik zu schaffen“ ‚3°. In der Saarfrage kam Schmid dem Bundeskanzler, der sich für eine Europäisierung der Saar ausgesprochen hatte, einen großen Schritt entgegen. Einer Europäisierung könne er zustimmen, wenn auch „Frankreich einige lothringische Dörfer dazu gebe“ „37. Adenauer griff Schmids Vorschlag auf‘?*. Schmid bemühte sich um eine Annäherung an den außenpolitischen Kurs der Bundesregierung. Im Dezember hatte er einem Vertreter der französischen Hochkommission anvertraut, daß die SPD auf eine Große Koalition zusteuere. Ihr Ziel sei es, den linken Flügel der CDU von der Regierungskoalition abzuspalten’3°, Das mag mehr der Wunsch Schmids als der der SPD gewesen sein. Francois-Poncet äußerte in seinem Bericht nach Paris große Zweifel daran, daß die SPD ihre Marschroute ändern werde, solange Schumacher noch lebe’*°,
Der SPD-Parteivorsitzende hielt an seiner Verdammung des Montanpaktes fest. Noch kurz vor seinem Tod bekundete er abermals seine Auffassung, daß durch den Schumanplan ein „Kleinst-Europa des kartellistischen Kapitalismus“ begründet worden sei. Eine Europäisierung der Saar unter Hinzufügung französischen Gebietes nannte er eine „typische Illusion der amtlichen deutschen Außenpolitik’“* ‚. Aber Kurt Schumacher war keineswegs allein verantwortlich dafür, daß es zu keiner Großen Koalition kam. Da war auch noch Adenauer. Und außerdem bot die Diskussion um die westdeutsche Wiederbewaffnung genug Stoff für neuen Streit.
Europäische Sicherheit und Locarno-Pläne:..: Die Wiederbewaffnungsdiskussion
1946 mochte Schmid noch glauben, (daß es’ nie wieder deutsche ‚Soldaten geben werde‘. 1948 schon nicht mehr. Deshalb ließ er ins Grundgesetz . schreiben, daß die Bundesrepublik sich an einem System kollektiver Sicherheit beteiligen kann. Eine entsprechende Resolution wurde 1948 auch im SPD-Parteivorstand gefaßt”. Die meisten Parteivorstandsmitglieder konnten mit dem Begriff kollektive Sicherheit nicht viel anfangen. Kurt Schumacher visierte auf lange Sicht eine gleichberechtigte deutsche Mitgliedschäft in der Nato an. Noch schien das alles Zukunftsmusik zu sein. Man hatte andere dringendere Probleme.
Als Adenauer Ende: 1949 in einem Interview für den „Cleveland Plain Dealer“ einen deutschen Verteidigungsbeitrag in Aussicht stellte, stieß er damit bei der SPD auf Ablehnung. Der Beitrag der Bundesrepublik zur friedlichen Lösung des Kalten Kriegs liege nicht im Bereich des „Militärischen“, sondern im Bereich des „Moralischen“, antwortete ihm der stellvertretende Parteivorsitzende Erich Ollenhauer?. Soziale Sicherheit galt als der stärkste Panzer gegen die kommunistische Verführungstaktik. Auf dem Parteitag im Mai 1950 in Hamburg wurde ausdrücklich jede Form einer Remilitarisierung abgelehnt*. Noch wähnte man sich in relativer Sicherheit. Das änderte sich schlagartig, als am 25. Juni Nordkorea Südkorea angriff. Panikstimmung kam auf. Man fürchtete einen Einmarsch der Volkspolizei in die Bundesrepublik
Auch in Carlo Schmids Mannheimer Wahlkreis herrschte Kopf- und Ratlosigkeit. Die Parteifreunde wollten wissen, was sie der aufgeschreckten Bevölkerung sagen sollten. Anfang Juli teilte Schmid den Mannheimer Genossen seinen Standpunkt in der schon bald hitzig geführten Debatte um eine westdeutsche Wiederbewaffnung mit: „(A)n dem Tag, an dem in Westdeutschland die erste Division aufgestellt würde, wäre der Präventivkrieg der Russen sicher. Lohnt es sich unter diesen Umständen, einige Divisionen, die man uns vom Westen doch nur schweren Herzens genehmigen würde, vorzubereiten? Anders wäre die Sache freilich, wenn die Amerikaner an die Elbe einen Vorhang von 20 Panzerdivisionen legen könnten, hinter dem man im Westen ernsthaft und ungestört ans Werk gehen könnte – da ließe sich die Frage diskutieren, obwohl ich auch erst noch einige Bedenken überwinden müfßte.“3 Schmid hatte sich die militärstrategischen Analysen seines Freundes Hans Speidel zu eigen gemacht.
Daß eine westdeutsche Wiederaufrüstung einen sowjetischen Einmarsch provozieren könnte, befürchteten auch die Hohen Kommissare. Auch sie vertraten die Auffassung, daß ein westdeutscher Verteidigungsbeitrag ohne eine wesentliche Verstärkung der westlichen Truppen sinnlos und gefährlich sei. Die Franzosen mißtrauten zudem noch immer ihrem unruhigen rechtsrheinischen Nachbarn. Kurz vor Ausbruch des Koreakrieges hatte Frangois-Poncet noch einmal unmißverständlich klargemacht, daß Frankreich einem westdeutschen Verteidigungsbeitrag allenfalls im Rahmen einer. noch zu bildenden europäischen Armee zustimmen werde. Dem militärischen Zusammenschluß habe der politische und wirtschaftliche vorauszugehen‘.
Als Carlo Schmid am 10. August im Straßburger Europarat über die sozialdemokratische Position zu einer westdeutschen Wiederaufrüstung referierte, übernahm er die Argumentation des französischen Hochkommissars. An seine Zuhörer appellierte er: „Schaffen wir zuerst eine europäische Gewalt und schaffen wir dann eine europäische Armee.“ 7 Einen drohenden Präventivkrieg der Sowjetunion, die mangelnde militärische Durchschlagskraft westdeutscher Truppenkontingente und das sich möglicherweise entwickelnde innenpolitische Übergewicht einer Wehrmacht in einem jungen, noch schwachen Staat nannte er als weitere Gefahrenpunkte einer westdeutschen Wiederaufrüstung. Churchill ging über Schmids Bedenken hinweg. Er preschte mit dem Vorschlag vor, eine europäische Armee zu schaffen, in der auch die Deutschen Truppenkontingente stellen sollten. Fast alle Europaratsdelegationen stimmten dem Projekt des einstigen britischen Premiers mit vielen Wenn und Aber zu. Die fünf NeinStimmen kamen von den Vertretern der SPD, die Labour-Abgeordneten enthielten sich der Stimme. Wohl war Schmid bei seinem Nein nicht, wie er einem französischen Delegierten noch in Straßburg beichtete. Daß ein westdeutscher Verteidigungsbeitrag unumgänglich war, das mochte und konnte er nicht abstreiten. Doch er hatte gehofft, daß der Beschluß über einen europäischen Bundespakt dem über einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag vorausgehe. Seine zurückhaltende Stellungnahme zu der geforderten westdeutschen Wiederaufrüstung hatte er auch als Mahnung verstanden, möglichst schnell einen europäischen Bundesstaat zu schaffen°. Nach seiner Rückkehr aus Straßburg wußte er, daß mit der Gründung eines europäischen Bundesstaates in naher Zukunft nicht zu rechnen war.
Die militärstrategischen Vorbehalte blieben. Kurt Schumacher griff sie auf und entwickelte sie zu einem Konzept der offensiven Verteidigung. Nur unter der Voraussetzung einer amerikanischen Truppenmassierung an der Elbe wollte der SPD-Parteivorsitzende zu einem deutschen Verteidigungsbeitrag ja sagen. Deutschland dürfe nicht Kriegsschauplatz werden, deutsche Soldaten dürften nicht als Kanonenfutter verheizt werden?. Kurt Schumacher und Carlo Schmid, die beiden Kriegsfreiwilligen des Jahres 1914, setzten sich über die an der Parteibasis weit verbreitete Ohnemich- Stimmung und über den Hamburger Parteitagsbeschluß vom Mai 1950 hinweg. Der „militante“ Sozialist Schumacher hatte wie auch Schmid bereits zur Zeit der Weimarer Republik den Gesinnungspazifismus als Utopismus abgelehnt. Beide hatten nicht wie die meisten Sozialdemokraten Berührungsängste gegenüber dem Militär. Schmid brachte Schumacher mit seinem Freund Speidel und dem Generalleutnant a.D. Heusinger zusammen. Die beiden Militärexperten waren sich mit den beiden Sozialdemokraten fast völlig einig. Auch sie forderten eine Truppenkonzentration in Westdeutschland, auch sie pochten auf die deutsche Gleichberechtigung. Schumacher versprach Speidel die „Gefolgschaft seiner Partei, wenn die Armee nicht von Leuten geführt werde, die restaurativ denken“’°.
Speidel und Heusinger berieten auch die Bundesregierung. So war es nicht verwunderlich, daß in der Frage der Wiederbewaffnung zunächst keine größeren Differenzen zwischen der Bundesregierung und der sozialdemokratischen Opposition bestanden. Lediglich den innerhalb der Bundesregierung kursierenden Plänen, eine Bundespolizei als Antivolkspolizei aufzubauen, stand man in den maßgebenden Kreisen der SPD-Führung äußerst kritisch gegenüber. In dieser Zeit muß Schmid den Eindruck gewonnen haben, daß der Bundeskanzler mehr „Gendarmist“ als „Milita- „Eistirseiin
Adenauer zollte dem militärischen Sachverstand des SPD-Parteivorsitzenden Achtung. In Schmid dagegen wollte er einen unsicheren Kantonisten sehen. Der Grund für Adenauers echtes oder gespieltes Mißtrauen war Schmids vielzitierte Münchener Rede vom 22. Oktober 1950. Wieder einmal wurde ihm sein Wortwitz zum Verhängnis. Im Zelt des Münchener Zirkus Krone versuchte er an diesem Tag vor über 3000 Zuhörern, den maßgebend von ihm mitformulierten sozialdemokratischen Standpunkt in der Wiederbewaffnungsfrage darzulegen und führte dabei u.a. aus: „Wir sagen nein zur Wiederbewaffnung Deutschlands, weil unter den heutigen Machtverhältnissen die Verteidigung Westeuropas ein blutiger Dilletantismus ist. Wir sagen erst ja zu einer Wiederbewaffnung, wenn wir die Machtmittel sehen, die imstande sind, einem russischen Angriff zu widerstehen.“ Kein Deutscher nehme das Gewehr in die Hand, um den anderen das Kreuz der „verbrannten Erde“ abzunehmen. Ungefähr 200 russischen Divisionen ständen etwa 15 westeuropäische Divisionen gegenüber. Wenn den ıs Divisionen sechs bis acht deutsche Divisionen hinzugefügt würden, dann könne ein russischer Vorstoß zum Atlantik vielleicht vierzehn Tage verzögert und einigen Leuten die Gelegenheit gegeben werden, die Freiheitsstatue noch zu erreichen. Jetzt kam der verhängnisvolle Satz: „Uns ist es lieber, es werden heile Menschen in heilen Häusern bolschewisiert als Krüppel in Erdlöchern.“‘? Da Journalisten und Politiker zumeist nur mit halbem Ohr zuhören, geriet Schmid sofort in Verdacht, er habe die Parole ausgegeben: Lieber rot als tot’. Ausgerechnet er! Nichts lag ihm, bei dem zuweilen sogar eine heimliche Bewunderung für militärischen Heroismus durchkam, ferner, als Propaganda für eine Ohne-mich-Haltung zu machen. Er hatte lediglich sagen wollen, daß Deutschland östlich der Oder-Neiße-Linie verteidigt werden müsse, weil es sonst zu einem „zweiten Dünkirchen“ werde. Einige Leute, allen voran Adenauer, der sich bei den Hohen Kommissaren über Schmids Rede entrüstete’*, fanden Gefallen daran, ihn in eine gesinnungspazifizistische Ecke zu stellen. Schmid bemühte sich vergeblich um eine richtige Interpretation seiner Rede.
So wurden die Dinge auf den Kopf gestellt. Er konnte ja nicht laut sagen, daß er bereits mehr über das „Wie“ als über das „Ob“ einer westdeutschen Wiederbewaffnung nachdachte. Im Spätherbst 1950 hatte er seinen Schützling Fritz Erler dafür gewinnen können, Diskussionsforen zum Meinungsaustausch zwischen führenden Sozialdemokraten und hohen Offizieren der Wehrmacht zu organisieren. Auf diese Weise geriet Erler, der in jungen Jahren Reichswehrminister Noske am liebsten „auf glühenden Kohlen gebraten hätte“, in die Rolle des Wehrexperten der SPD“. Schmid mag einiges dazu beigetragen haben, um Erlers Noske- Trauma, das in sozialdemokratischen Kreisen weit verbreitet war, abzubauen. Erler und Schmid hatten schon in Tübingen eng zusammengearbeitet. Über Erlers Entschluß, für den Bundestag zu kandidieren, hatte sich Schmid mehr als gefreut. In Bonn bemühte er sich darum, seinem „Zögling“ das Entree zu erleichtern. So setzte er sich dafür ein, daß Erler Sekretär der deutschen Gruppe im Parlamentarischen Rat der Europäischen Bewegung wurde. Der Posten selbst war nicht sehr attraktiv, aber der Inhaber hatte das Anrecht auf eine Sekretärin’®, Welcher junge Abgeordnete in der provisorischen Bundeshauptstadt hatte das schon!
Die von Schmid ins Leben gerufenen und von Erler organisierten Konferenzen mit Offizieren der ehemaligen Wehrmacht hatten die ausdrückliche Billigung Kurt Schumachers, der dort gelegentlich auch als Referent auftrat’7”. Schumacher wie Schmid wollten verhindern, daß SPD und Wehrmacht sich wieder wie in Weimar mit gegenseitigem Mißtrauen gegenüberstanden. Die auch jetzt noch vorhandenen Vorurteile ließen sich im gemeinsamen Gespräch abbauen. Ehemalige junge Offiziere, mit denen zusammen Schmid das Jugendsozialwerk aufgebaut hatte, unterstützten Erler bei der Vorbereitung der Konferenzen. Wenn auf die Aufstellung deutscher Truppenkontingente nicht verzichtet werden konnte, so sollte die zukünftige deutsche Wehrmacht zumindest einen demokratischen Charakter haben. Schmid entwickelte auf den Konferenzen das Ideal des „Staatsbürgers in Uniform“, das später mit dem Namen Graf von Baudissins verbunden wurde, der auch zu den Konferenzteilnehmern zählte’°. Die Treffen mußten streng geheimbleiben‘?. Die Parteibasis hätte bei einem Bekanntwerden mit einem Aufschrei der Empörung reagiert und die Bundesregierung hätte triumphierend verkünden können, daß die SPD die in der Öffentlichkeit so umstrittene Remilitarisierung bereits vorbereite. Äußerste Diskretion war verlangt, die Schmid nicht immer leicht fiel.
Die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung war gegen die Wiederbewaffnung. Innerhalb der SPD wurde die Forderung nach einer Volksabstimmung über die Wiederbewaffnung laut. Ein solches Verlangen stand im Widerspruch mit dem Grundgesetz und wurde deshalb von Carlo Schmid ebenso wie von Kurt Schumacher abgelehnt. Der Parteivorsitzende überlegte indessen, ob es nicht möglich sei, aus der Stimmung im Volke für die SPD Kapital zu schlagen. Am 30. Oktober trafen sich Vertreter der Bekennenden Kirche und der SPD, unter ihnen auch Schmid, in’Darimstadt zu einem Meinungsaustausch über die Wiederbewaffnung. Niemöller, der ein entschiedener Widersacher Adenauers in der Auseinandersetzung um den westdeutschen Wehrbeitrag war, und Schumacher führten das Wort. In einem gemeinsam verabschiedeten Kommunique wurden Neuwahlen zum Bundestag gefordert, da bei der Wahl 1949 die Wiederbewaffnung noch nicht zur Entscheidung gestanden habe”. Die Begründung war nicht gerade sehr überzeugend. Einige Mitglieder der Fraktion meinten nicht zu Unrecht, daß man mit einer solchen Argumen- . tation die Gefahr dauernder Bundestagsauflösungen heraufbeschwöre?“.
Auch Schmid war nicht glücklich über die in Darmstadt verabschiedete Resolution, obwohl er in der Fraktion wieder einmal schwieg oder schweigen mußte. Die Neuwahlforderung rief in Bonn großen Unmut hervor. Vor allem die Hohen Kommissare waren erzürnt. Frangois-Poncet, der Schmids Haltung in der Wiederbewaffnungsfrage weitgehend teilte”?, berichtete erbost nach Paris, daß Schumacher für die „Machtergreifung“ kämpfe”3. Schmid tat sich schwer, die Darmstädter Resolution zu verteidigen. Dem völlig konsternierten McCloy teilte er mit, daß die Parteiführung unter dem Druck der Parteibasis gehandelt habe”*. Von Ollenhauer hörte der amerikanische Hohe Kommissar eine ganz andere Version: „Einige führende SPD-Leute hätten diese Entscheidung getroffen, Fraktion und Basis seien dabei überhaupt nicht gefragt worden.“ 5 Der aufrechte Ollenhauer sagte gerade heraus, was war. Schmid, der sich mit der Neuwahlforderung nicht identifizieren konnte, rettete sich in Ausflüchte. In der Dezembersitzung des Landesvorstandes der SPD-Württemberg-Hohenzollern mußte er dann offen zugeben, daß mit einer Neuwahl überhaupt nicht zu rechnen war, da man sich mit dieser Forderung in einer „hoffnungslosen Minorität“ befinde. „Jedoch müsse man immer und immer wieder das Volk darauf hinweisen, daß es in dieser Sache gefragt werden müsse.“ ?° Gewiß, eine Remilitarisierung gegen den Willen eines Großteils der westdeutschen Bevölkerung war politisch riskant, aber dies war nicht der Hauptgrund für die Neuwahlforderung der SPD gewesen, mit der man nur Wasser auf die Mühlen der Wiederbewaffnungsgegner goß. Schumacher spekulierte auf einen Wahlsieg der SPD.
Wie wollte man den Menschen im Lande die Neuwahlforderung plausibel machen, wo es doch überhaupt keinen großen Dissens zwischen Bundesregierung und Opposition in der Wiederbewaffnungsfrage gab? Als Schmid Anfang 1951 an der Tübinger Universität die sozialdemokratische Stellungnahme zur Wiederaufrüstung vortrug, fragte ihn ein Student ganz unbedarft, wo denn der Unterschied zwischen der Haltung der Bundesregierung und der der Opposition liege. Der sonst so redegewandte Tübinger Rechtsprofessor wußte keine großen Differenzen aufzuzeigen. Der Unterschied bestehe in „den verschiedenen spezifischen Gewichten“, lautete seine vage Antwort?7.
Freilich, ganz einer Meinung waren Regierung und Opposition nicht. Der Ende Oktober 1950 von Rene Pleven bekanntgegebene Plan zur Errichtung einer europäischen Streitmacht war umstritten. Die Bundesregierung ließ dem Plevenplan verhaltene Unterstützung zuteil werden, während die SPD in großer Einmütigkeit das Projekt Plevens, in dem die deutschen Soldaten ihres Erachtens nur den Status von „Fremdenlegionären“ hatten, ablehnte. Nach dem Plevenplan sollten die westdeutschen Truppenverbände Bataillonsgröße nicht überschreiten dürfen. Außerdem wurde der Bundesrepublik als einzigem Mitglied der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft die Nato-Mitgliedschaft verweigert?®. Kurt Schumachers pochte auf die militärische Gleichberechtigung westdeutscher Truppenverbände und wußte sich in dieser Forderung mit Carlo Schmid einig.
Auch in der Bundesregierung wuchs die Reserve gegenüber dem. Plevenplan, den man möglichst schnell zu den Akten legen wollte. Adenauer und seine Mitstreiter unternahmen den Versuch, über den Petersberg die Nato-Mitgliedschaft der Bundesrepublik zu erreichen, der sich im Sommer ı95r dann als aussichtslos erweisen sollte. Schmid kannte die Stimmung in seinem Mutterland und hatte deshalb von Anfang an erhebliche Zweifel gehabt, daß Frankreich einer Nato-Mitgliedschaft der Bundesrepublik ihre Zustimmung geben könnte. So hatte er der Bundesregierung dringend davon abgeraten, den greisen Legationsrat Conrad Roediger zum deutschen Delegationsleiter bei den Plevenplanverhandlungen zu berufen’ ®. Nach dem Scheitern der Verhandlungen auf dem Petersberg wurde Roediger dann auch sehr schnell durch Theodor Blank ersetzt. Es war für Schmid, der außer zu den Hohen Kommissaren keinen Kontakt zu den politischen Entscheidungsträgern der westlichen Staaten hatte, nicht immer leicht, die außenpolitischen Konstellationen im einzelnen zu überblicken und der Bundesregierung mit realistischen Alternativen entgegenzutreten. Anfang 1951 trug er sich mit dem Gedanken, eine Amerikareise des Auswärtigen Ausschusses zu organisieren?°. Wie sollte der Außenpolitische Ausschuß in wichtigen Fragen der Außen- und Verteidigungspolitik mitsprechen können, ohne den stetigen Meinungsaustausch mit ausländischen Politikern? Adenauer hielt den Ausschuß mit Informationen knapp.
Trotz seiner Verärgerung über die Alleingänge des Kanzlers bemühte sich Schmid weiterhin um eine gemeinsame Linie in der Außen- und Sicherheitspolitik. Im Oktober 1950 war er mit Blankenhorn übereingekommen, im Auswärtigen Ausschuß drei Unterausschüsse zu bilden, die sich mit den juristischen Fragen zur Revision des Besatzungsstatutes, dem Problem der Anerkennung der Vorkriegsschulden und dem Aufbau einer Bundespolizei beschäftigen sollten?‘. Der letztere Unterausschuß brauchte seine Arbeit nicht aufzunehmen, weil Adenauer sehr schnell von dem Bundespolizeiprojekt Abschied nahm. Schumachers Intimus Lütkens hatte gegen die Einrichtung der Unterausschüsse heftig protestiert. Er fürchtete, daß der Kanzler die Unterausschüsse für seine Politik instrumentalisieren werde?”. Ganz Unrecht hatte Lütkens mit seiner Warnung nicht. Schmid dachte aber nicht in parteipolitischen Kategorien. Ihm ging es darum, in Zusammenarbeit mit allen Fraktionen die beste Lösung herauszuarbeiten. Er nahm sein Wort von der Opposition als dem anderen Beweger der Politik ernst. So sorgte er auch dafür, daß sein Schüler Gu- ‚stav von Schmoller, der als Leiter des Tübinger Instituts für Besatzungsfragen ein ausgezeichneter Kenner der besatzungsrechtlichen Probleme war, bei den Verhandlungen um die Revision des Besatzungsstatuts hinzugezogen wurde??. Adenauer war sofort einverstanden gewesen. Vor dem Völkerrechtler Schmid hatte er große Hochachtung. Schüler von ihm zu sein, war eine Empfehlung.
Ein deutscher Verteidigungsbeitrag war ein Unding, solange auf der Bundesrepublik noch die Servituten des Besatzungsstatutes lasteten. Schmid brachte das Problem auf eine einprägsame Formel: „Man kann uns nicht gut als Besiegte behandeln und verlangen, daß wir wie Verbündete reagieren.“3 *A uf der New Yorker Außenministerkonferenz im September 1950 hatten die Westalliierten eine Revision des Besatzungsstatutes in Aussicht gestellt, jedoch die Bedingung daran geknüpft, daß die Bundesregierung die Verantwortung für die Vorkriegsschulden des deutschen Reiches übernahm und die aus der wirtschaftlichen Unterstützung in der Nachkriegszeit entstandenen Schulden anerkannte. Der Kanzler, der durch die vorbehaltlose Bejahung der Vorkriegsschulden das Weiterbestehen des deutschen Reiches unterstreichen wollte, hätte den Westmächten eine Blankovollmacht ausgestellt, wenn Schmid ihn nicht eindringlich davor gewarnt hätte’°. In dieser Materie kannte er sich wie keiner anderer aus. Hatte er sich doch im Kaiser-Wilhelm-Institut mit diesen spröden Fragen lange Zeit herumgeschlagen. Der Auswärtige Ausschuß stellte sich hinter seinen Vorsitzenden und sprach sich entschieden gegen eine vorbehaltlose Anerkennung der Schulden aus. Da den Hohen Kommissaren an einer Zustimmung des Bundestages zu der Schuldenerklärung gelegen war, waren Adenauer die Hände gebunden.
Schmid arbeitete unverzüglich mit Hilfe des Unterausschusses „Vorkriegsschulden“ eine Stellungnahme zu der Schuldenproblematik aus. Er wandte sich gegen das Junktim von Schuldenanerkenntnis und Revision des Besatzungsstatutes. Die Haftung der Bundesrepublik für die Vorkriegsschulden sei wegen der Rechtskontinuität von Deutschem Reich und Bundesrepublik selbstverständlich. Die Nachkriegsschulden sollten nicht durch Abkommen mit der AHK, sondern durch zweiseitige Verträge mit den beteiligten Regierungen geregelt werden. Am besten sei es, auf einer internationalen Schuldenkonferenz einen Zahlungsplan auszuhandeln, in dem Rücksicht auf die allgemeine wirtschaftliche Lage der Bundesrepublik zu nehmen sei. Außerdem forderte Schmid die Verknüpfung der Schuldenregelung mit der Behandlung des deutschen Auslandsvermögens? 7. Im letzteren Punkt konnte er sich nicht durchsetzen, weil Adenauer wieder einmal vorschnell alliiertem Druck nachgab. Die anderen Vorschläge griff der Bundeskanzler in der Neufassung der Schuldenerklärung auf?®. Es geschah etwas Seltenes. Im Februar 195ı sprach der für seine Distanz und Kälte bekannte Bundeskanzler dem Unterausschuß „Vorkriegsschulden“ seinen Dank aus: „Es sei eine wesentliche Verbesserung der deutschen Stellung erreicht worden.“39 Auch Hermann Abs, der auf der Londoner Schuldenkonferenz die deutschen Interessen zu vertreten hatte, wollte auf die Mitarbeit des Unterausschusses, dem neben Schmid, Karl Georg Pfleiderer, Johannes Semler und Carl von Campe angehörten, nicht verzichten*. Schmid konnte einen Erfolg verbuchen, der im Hinblick auf die Finanzen des jungen Staates nicht unwichtig war, aber Adenauer zugute kam, nicht ihm und auch nicht der SPD. Wenn er Kärrnerarbeit leistete, still und bescheiden hinter den Kulissen wirkte, nahm keiner Notiz davon. Öffentlichkeitswirksam war nur, was sich parteipolitisch ausschlachten ließ. Vermutlich waren ihm die Genossen sogar etwas gram, daß er Adenauer zugearbeitet hatte
Durch die zähen Verhandlungen über die Schuldenanerkenntnis war die Revision des Besatzungsstatutes hinausgeschoben worden. Die kleine Revision des Besatzungsstatutes, die am 6. März erfolgte, war, wie Schmid sofort sachkundig feststellte, „durch die weltpolitische Entwicklung schon überholt“‘. Die Bundesregierung sah das nicht viel anders. Die Forderung nach politischer und militärischer Gleichberechtigung der Bundesrepublik wurde von einem breiten überparteilichen Konsens getragen. Schmid konnte der Zustimmung des Bundestages sicher sein, als er Ende April 1951 erklärte: „Das Besatzungsregime muß — wenn seine Abschaffung politische Auswirkungen haben soll – auf einmal und für allemal abgeschafft werden. Abschaffung des Besatzungsstatutes bedeutet nichts anderes, als daß Deutschland wieder seinen normalen inneren und äußeren Status erhält.“** Kein deutscher Verteidigungsbeitrag ohne deutsche Gleichberechtigung – so dachten die meisten Deutschen. Schmid formulierte es pathetisch: „Man stirbt nicht für ein Besatzungsstatut.“ #
Mitte August sah er wieder einmal alles äußerst schwarz. „Hier braut sich ein fürchterlicher Sud zusammen“, berichtete er seinem Schüler Peter Schneider, ohne näher darauf einzugehen, was er Schlimmes befürchtete*. Die Ereignisse des Spätsommers ı95ı geben eine Antwort darauf. Im August war abzusehen, daß Frankreich sich der politischen und militärischen Gleichberechtigung der Bundesrepublik mit Erfolg entgegenstellte. Nicht nur die SPD, auch Adenauer war über das Ergebnis der Mitte September tagenden Washingtoner Außenministerkonferenz zutiefst enttäuscht.- Der vorgeschlagene Generalvertrag brachte nur eine Teilrevision, keine‘Ablösung des Besatzungsstatuts. Darüber hinaus hatten die westlichen Außenminister ein Junktim zwischen Generalvertrag und Europäischer Verteidigungsgemeinschaft aufgestellt. Frankreich wollte weiterhin nichts unversucht lassen, die Bundesrepublik aus der Nato herauszuhalten. Kurt Schumacher drohte in einem Aufschrei nationaler Entrüstung: „Jetzt beginnt der Kampf.“ #
Dabei war der SPD-Parteivorsitzende seit kurzem davon abgerückt, auf die Souveränität der Bundesrepublik zu pochen. In einem am 26. August „im Beisein Schmids mit McCloy geführten Gespräch hatte er Adenauers Beharren auf die Herstellung vollständiger Souveränität heftig kritisiert. Im Hinblick auf Berlin und Ostdeutschland sei eine vollständige Souveränität der Bundesrepublik nicht wünschenswert*°. Das war ein abruptes Abrücken von der bisher vertretenen Linie, dem die Mehrheit der Partei und auch Schmid nicht folgten?’. Schumachers Autorität reichte zunächst nicht aus, um seine Position innerhalb der SPD durchzudrücken. So mußte Lütkens, der Schmid aus der Rolle des außenpolitischen Sprechers der Fraktion verdrängt hatte, den Versuchsballon spielen. Im Oktober vertrat er im Bundestag den Standpunkt Schumachers so überspitzt, daß Ollenhauer sich im Namen der SPD-Fraktion von der Lütkens-Rede distanzieren mußte#°. Da Schmid den Inspirator der Rede kannte, beteiligte er sich nicht an dem allgemeinen „Scherbengericht“, das Lütkens in der Partei und in der Fraktion über sich ergehen lassen mußte*?. In Lütkens Ausführungen lag sogar ein Gran Wahrheit. Wenn Schmid den Begriff Souveränität verwendete – er tat es nur selten -, dann auch nicht im streng staatsrechtlichen Sinne. Im Gegensatz zum Bundeskanzler gab er sich nicht der Illusion hin, daß vor der deutschen Wiedervereinigung alle alliierten Vorbehaltsrechte fallen konnten. Schmid versuchte dem in Staatsund Völkerrechtsfragen unbedarften Bundeskanzler plausibel zu machen, „daß auch die Amerikaner gezwungen seien, kleine Brücken zu den Russen zu halten“5°. Auch nach Ablösung des Besatzungsstatuts blieben die Rechte der Alliierten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes bestehen. Insofern hatten Schumacher und Lütkens recht, daß die Bundesrepublik nicht nach vollständiger Souveränität streben könne.
Der Parteivorsitzende jedoch verband seine These mit einem außenpolitischen Kurswechsel, der einer Aufkündigung des Konsenses in der Deutschlandpolitik gleichkam. Die Wiedervereinigung müsse der Westintegration vorangehen, lautete nun die Devise. Zuvor hatte es in der Deutschlandpolitik kaum Differenzen zwischen der Bundesregierung und der sozialdemokratischen Opposition gegeben. Adenauer, Schumacher und Schmid waren sich vollkommen einig in der Ablehnung der Grotewohl- Initiative zur Bildung eines Gesamtdeutschen Konstituierenden Rates vom November 1950 und des Volkskammerappells zur deutschen Einheit vom Januar 1951°‘. Schmid sprach von einem „russischen Propagandafeldzug“ und fürchtete nicht weniger als Adenauer, daß die von der Sowjetregierung vorgeschlagene Viererkonferenz über die Wiedervereinigung Deutschlands zu einem Wiederaufleben des Kontrollrates führen werde°®. Die östlichen Wiedervereinigungsinitiativen steckten seiner Ansicht nach voller Gefahren und mußten deshalb aufs schärfste zurückgewiesen werden. „Mit ihrer Einheitsparole bezwecken sie (die Russen) ihre Machtmittel bis an den Rhein hin zu verlängern und mit Hilfe der KPD und SED auch hier ein Mitspracherecht zu erhalten und sich eine Plattform zu schaffen“, erläuterte er den Mitgliedern des Landesvorstandes und der Landtagsfraktion Württemberg-Hohenzollerns53.
Eindringlich mahnte er die Parteifreunde: „Auch aus Solidarität mit unseren von den Russen in ihren KZ’s gemarterten sozialdemokratischen Brüdern müssen wir in unserer Haltung festbleiben und die Hetze der russischen Presse, die in erster Linie darauf ausgeht, die Deutschen in ihrem absoluten Nein unsicher zu machen, vereiteln.“ 5* Er hegte die Befürchtung, daß die Parteibasis sich von der Einheitsparole blenden lassen könne und appellierte deshalb an die sozialdemokratischen Funktionsträger, bis hinunter zum letzten Ortsverein seinen Standpunkt in dieser Frage darzulegen, um auch den einfachen Parteimitgliedern die Augen über die Absichten der Sowjetunion zu öffnen. Schmid war äußerst ungehalten über die Gleichgültigkeit der Weltöffentlichkeit gegenüber der „Barbarei“ in der Sowjetunion und deren SatellitenstaatenS. Im Deutschen Roten Kreuz, dessen Präsidium er angehörte, kümmerte er sich um die Ausarbeitung von Grundsätzen der Menschlichkeit gegenüber politischen Gefangenen‘°. Auf die weit verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber den Zuständen im Osten reagierte er mit einem überscharfen Anti-Kommunismus, der ihn dazu verführte, das kommunistische Unrechtsregime mit dem nationalsozialistischen auf eine Stufe zu stellen.
Im Herbst 1951 zerbröckelte der Konsens zwischen Regierung und Opposition in der Deutschlandpolitik. Grotewohls Einheitsappell stieß bei Adenauer auf Ablehnung, bei Schumacher auf verhaltene Zustimmung. In der Bereitschaft der DDR, gesamtdeutsche Wahlen als ersten Schritt zur deutschen Wiedervereinigung zu akzeptieren, sah der SPD-Parteivorsitzende ein entscheidendes Zugeständnis der Gegenseite°’. Zum offenen Streit kam es erst im November. Anlaß waren die von der Bundesregierung veröffentlichten Grundsätze für die Wahl einer Verfassunggebenden Nationalversammlung, die von SPD-Seite scharf kritisiert wurden, weil der Nationalversammlung nur verfassunggebende Kompetenzen zugestanden worden waren und ein Länderausschuß dem zu schaffenden Verfassungswerk die Zustimmung erteilen mußte. Es kam darüber zu einem Briefwechsel zwischen Schumacher und Adenauer, der im Zerwürfnis endeteS ®. Schmid war alles andere als glücklich darüber, daß wegen des Wahlgesetzentwurfes, der in seinen Augen ohnehin nur ein Reißbrettentwurf war’, ein Streit vom Zaune gebrochen wurde, der zudem nur vorgeschoben war, denn letzten Endes ging es um die Kontroverse Vorrang der Wiedervereinigung oder der Westintegration. Carlo Schmid stellte keine Reihenfolge auf. In seiner Rede vor der Beratenden Versammlung des Europarates am 28. November betonte er noch einmal die Gleichzeitigkeit von europäischer und deutscher Einheit“. Auch seine Silvesteransprache war diesem Gedanken verpflichtet‘‘.
Das Jahr 1951 war – sieht man von der Unterzeichnung des Montanvertrags ab – im Grunde ein Jahr außenpolitischen Stillstandes gewesen. Ende 1951 war die Diskussion um einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag, zumindest was die Grundsatzfragen anbetraf, kaum weiter gediehen als Ende 1950. Auch Schmids Standpunkt war der gleiche geblieben. Bei einem Zusammentreffen mit einer Delegation des amerikanischen Kongresses in Straßburg im November 1951 insistierte er abermals darauf, daß die Bundesrepublik nicht zum Glacis der Festung Westeuropa degradiert werden dürfe. Er glaubte bei der US-Delegation auf Verständnis gestoßen zu sein und hegte sogar etwas Hoffnung, daß die Amerikaner sich den Standpunkt der SPD zu eigen machen könnten – zumindest teilte er dies Kurt Schumacher mit, dessen Mißtrauen gegenüber den Westmächten er zu dämpfen versuchte, wann immer er konnte“.
In der SPD standen Anfang 1952 die Zeichen auf Sturm. Bei der Vorbereitung der verteidigungspolitischen Debatte im Bundestag meldeten sich gleich mehrere Fraktionsmitglieder zu Wort, die außerparlamentarische Aktionen gegen einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag starten wollten. Schmid warnte vor einem Überschwappen der Emotionen: „Eine Demokratisierung der Wehrmacht sei möglich, wenn man sie ernstlich wolle.“ Wie nicht anders zu erwarten, artete die Bundestagsdebatte am 7. und 8. Februar in eine hitzige Redeschlacht aus. Weder Regierung noch Opposition hatten überzeugende Argumente. Adenauer sprach so schlecht, daß ihn Franz-Josef Strauß herauspauken mußte. Carlo Schmids Rede war gekennzeichnet durch eine brillant vorgetragene Kritik der bisherigen Vertragsverhandlungen und völlige Ratlosigkeit, was das Aufzeigen verteidigungspolitischer Alternativen anging. Daß weder EVG- noch Generalvertrag in der bisher ausgehandelten Fassung die verheißene deutsche Gleichberechtigung brachten, konnte niemand bestreiten. Die Notstandsklausel war so weit gefaßt, daß sie extensiv ausgelegt, den Westalliierten die Möglichkeit gab, einen innenpolitischen Machtwechsel zu verhindern. Die Bundesregierung wurde zu einer vertraglichen Übernahme besatzungsrechtlicher Bestimmungen verpflichtet. Das Evokationsrecht der Besatzungsmächte sollte weiter bestehen bleiben. Die Franzosen setzten noch immer alles daran, eine Nato-Mitgliedschaft der Bundesrepublik zu verhindern. Eine ausreichende Truppenmassierung an der deutschen Östgrenze war noch nicht erfolgt‘*.
Nun kam er zum zentralen Punkt der Kontroverse zwischen Regierung und Opposition: der Rückwirkung der Westverträge auf die deutsche Wiedervereinigung. „Ehe man frei ist, lassen sich nur Verträge provisorischen Charakters schließen, Verträge über einen modus vivendi, aber auch diese nicht im Junktim mit Dauerbindungen.“ 65 Man hat diesen Satz oft als Beweis dafür genommen, daß Schmid auf die außenpolitische Linie von Schumacher und Lütkens eingeschwenkt sei. Bei Schmid kommt es immer auf die Zwischentöne an. Wer genau liest, erkennt, daß er sich deren Position nicht zu eigen machte, sondern sie abzuschwächen versuchte. Lütkens sprach sich für die Beibehaltung des Besatzungsregimes bis zur Wiederherstellung der deutschen Einheit aus. Carlo Schmid warnte davor, „definitve Bindungen“, die den Status Deutschlands auf Generationen hin bestimmen, einzugehen, solange die Spaltung Deutschlands fortbesteht°®. Er war wie schon in der Schumanplan-Debatte sichtlich bemüht, den Streit um den Vorrang der Wiedervereinigung oder der Westintegration zu entschärfen. Vorbehalte gegen den Abschluß von Verträgen, die einen Friedensvertrag präjudizierten, waren auch von Vertretern der Regierungskoalition geäußert worden. Auch von ihnen war die Forderung nach militärischer und politischer Gleichberechtigung erhoben worden. Schmids Monita deckten sich zum großen Teil mit der Kritik, die auch von Abgeordneten der Regierungskoalition vorgetragen wurde. Als er nach eigenen Vorschlägen gefragt wurde, entgegnete er dann auch ziemlich aufbrausend, daß ein positiver Beitrag der SPD zur Wehrdebatte schließlich darin bestehe, daß die Regierungskoalition sich mittlerweile die Argumente der SPD zu eigen gemacht habe”. Es fiel auf, daß er am Schluß seiner Rede fast die Nerven verloren hätte‘®. Durch das ständige Lavieren zwischen der Parteilinie und seiner eigenen Auffassung verlor er an Selbstsicherheit.
Obwohl der Schlußteil von Schmids Rede nicht sehr überzeugend war, war der Bundeskanzler durch dessen Kritik in Bedrängnis gekommen, so daß er sich zu einem Ablenkungsmanöver gezwungen sah. Er warf seinem sozialdemokratischen Opponenten vor, er habe vertrauliche Mitteilungen preisgegeben, was Schmid zu Recht empört zurückwies®. Der Kanzler ließ sich drei Monate Zeit, bis er ihm bestätigte, daß seine Annahme grundlos gewesen sei”.
Die Debatte hatte Gräben aufgerissen. Dabei hatte sich Schmid, wohl nicht zuletzt in der Hoffnung, daß es spätestens nach der Wahl 1953 doch noch zu einer Großen Koalition kommen werde”‘, darum bemüht, Brükken zur Regierung zu bauen. „Es wird auch im kommenden Jahr des fruchtbaren Zusammenwirkens aller Wohlmeinenden bedürfen“, hatte er dem Kanzler in einem langen Neujahrsbrief geschrieben. Trotz aller „Verschiedenheiten des Ansatzes und des Weges“ gebe es doch bei allen Parteien den Willen der „gemeinsamen Sache zu dienen“ ”?. Der Bundeskanzler hatte wenig Interesse an einer Zusammenarbeit mit der Opposition, wenngleich er aus politisch-taktischen Gründen den Hohen Kommissaren das Gegenteil weiszumachen versuchte. Er fürchtete das Auseinanderfallen der Regierungskoalition”3, auf das Schmid heimlich spekulierte.
Kurt Schumacher hatte am 21. Dezember einen Schlaganfall erlitten und mußte das Bett hüten. Carlo Schmid übersandte ihm am ersten Weihnachtsfeiertag herzliche Genesungswünsche und mahnte den Ungeduldigen, sich zu schonen, obwohl er wußte, das dieser das nicht tat: „Du lebst ja durch das Opfer Deiner Person für die Sache, zu der Du Dich bekannt hast.“ ”* Deshalb bewunderte er Schumacher trotz aller politischen Meinungsdifferenzen und Rivalitäten. Nun versicherte er dem Parteivorsitzenden, daß er sich auf seine Freunde verlassen könne”. Vermutlich wollte er Schumachers Mißtrauen ausräumen und sich mehr Handlungsfreiheit sichern.
Wenn überhaupt, so bestand jetzt die Gelegenheit, zu einer gemeinsamen Außenpolitik zu kommen. Mehr unfreiwillig als freiwillig hatte sich der Bundeskanzler bereit gefunden, sich im Januar mit Schmid und Ollenhauer zweimal zu einer politischen Unterredung zu treffen. Der SPDParteivorsitzende registrierte trotz Schmids Treuebekenntnis die Gespräche mit Argwohn und soll seine beiden Stellvertreter schließlich zurückgepfiffen haben”. Zu einer Zusammenarbeit wäre es auch ohne Schumachers Intervention nicht gekommen. Obwohl die Streitpunkte nicht sehr groß waren, verliefen die Unterredungen völlig ergebnislos. Schmid äußerte sich besorgt, daß die in Westeuropa stationierten Truppen nicht ausreichten, um einen russischen Angriff abzuwehren. Heusinger, der dem Gespräch beiwohnte, konnte Schmids diesbezüglichen Befürchtungen nicht ganz ausräumen. Noch immer hatte Schmid Zweifel, ob zwölf Divisionen den Deutschen eine erhöhte Sicherheit bringen könnten’ 7. Ansonsten hielt er sich mit seiner Kritik sehr zurück, obwohl er die EVG unter militärischen Gesichtspunkten für eine Fehlgeburt hielt. Sie gliche „eher Wallensteins Lager als einer Europa-Armee“, urteilte er im Februar recht bissig auf einer Bezirkskonferenz der SPD-Württemberg- Hohenzollern”®. Die Militärexperten aller Länder hätten ihm nicht widersprochen” ®. Grundsätzliche Einwände gegen die Errichtung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft hatte Schmid nicht. Er distanzierte sich von Heinemanns Ansicht, „daß die Eingliederung in eine Europa-Armee die Wiedervereinigung Deutschlands unmöglich mache“. Neutralismus sei eine „Utopie“ °°, Heinemanns Auffassung wurde mittlerweile auch in der SPD geäußert, wenngleich man Heinemanns „Notgemeinschaft für den Frieden Europas“ keine Unterstützung zuteil werden ließ
Carlo Schmid und große Teile der Regierungskoalition hätten Anfang 1952 sich in der Sache einigen können, aber weder Adenauer noch Schumacher hatten Interesse an einer Kooperation. Außerdem war ein neuer Konflikt entbrannt durch die vorbeugende Normenkontrollklage gegen den von der Bundesregierung geplanten Verteidigungsbeitrag, die die SPD-Fraktion Ende Januar beim Bundesverfassungsgericht eingereicht hatte. Die SPD wollte sich durch das Bundesverfassungsgericht bestätigen lassen, daß eine Beteiligung an der EVG ohne vorherige Änderung des Grundgesetzes verfassungswidrig sei. Kurt Schumacher hatte Adolf Arndt zur Ausarbeitung der Klage überredet“?. Wenn überhaupt, konnte nur das Bundesverfassungsgericht die EVG-Politik der Bundesregierung noch stoppen. Carlo Schmid brachte die Klage in arge Bedrängnis. Er hatte damals ins Grundgesetz geschrieben, daß sich der Bund aufgrund einfachen Mehrheitsbeschlusses einem System kollektiver Sicherheit einordnen kann. Nun bearbeitete ihn sein Parteifreund Arndt, darzulegen, daß er unter einem System kollektiver Sicherheit kein Verteidigungsbündnis wie die EVG verstanden habe®3. Als loyaler Diener seiner Partei kam er Arndts Bitte nach. In der bereits erwähnten Bundestagsdebatte am 8. Februar erklärte er: „Ich habe von einem System kollektiver Sicherheit gesprochen, das die Ganzheit der Staatenwelt umspannen soll und nicht von einem, das aus einer Reihe machtpolitischer Blöcke bestehen soll.“ 84 Allerdings relativierte er seine Ausführungen sofort wieder, indem er Kiesinger zugestand, daß man den Atlantikpakt als ein „partielles System kollektiver Sicherheit“ bezeichnen könne®:. Immer wieder war er gezwungen, gegen sich selbst zu argumentieren und verstrickte sich dadurch in Widersprüche.
Die Bundesregierung nahm die Klage zunächst nicht sehr ernst, bekam es aber im Sommer dann mit der Angst zu tun. Vielleicht würden die Karlsruher Richter die Zulässigkeit der Klage doch bejahen. Der Bundespräsident wurde dazu überredet, in Karlsruhe ein Gutachten über die Verfassungsmäßigkeit des EVG-Vertrages anzufordern. Das Ganze geriet schließlich zu einer bösen Farce. Die Bundesregierung fürchtete Ende des Jahres, das Gutachterverfahren könne für sie negativ ausgehen, und erhob deshalb nun selbst beim Bundesverfassungsgericht eine Organklage. Die Karlsruher Richter sollten feststellen, daß die SPD gegen das Grundgesetz verstofse, wenn sie dem Bundestag das Recht abspreche, den EVG- und Generalvertrag mit einfacher Mehrheit zu verabschieden. Nach dem Beschluf% ® des Bundesverfassungsgerichts, die Klagen an das Gutachterverfahren zu binden, wurde Heuss von Adenauer bedrängt, seinen Gutachtensantrag zurückzuziehen, was dieser schließlich auch tat. Aus dem Verfassungsstreit war eine Verfassungskrise geworden®“.
Schmid machte für die Verfassungskrise nicht nur die Bundesregierung verantwortlich, sondern auch die Klage der SPD-Fraktion, denn sie stand am Anfang einer gefährlichen Pervertierung des Rechtsstaates zum Justizstaat.. Er regte an, das geltende Recht so zu ändern, „daß Streitigkeiten, die kraft ihres materiellen Schwergewichts politische Streitigkeiten sind, ausschließlich auf politische Weise (…) ausgetragen werden“ °7. Politische Entscheidungen müßten im Parlament fallen und nicht auf der Richterbank. Die Karlsruher Richter mahnte er zu einem judicial self-restraint°®. Wer über den Justizstaat zu einer Parlamentarisierung der Außenpolitik kom- – men wollte, untergrub den Rechtsstaat. Vermutlich aus Rücksicht auf Adolf Arndt, mit dessen Namen sowohl die Normenkontrollklage der SPD als auch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz verbunden wa, ließ er den Aufsatz bei den Akten liegen. Er schätzte Arndt zu sehr, um ihm mit einem . kritischen Artikel in den Rücken zu fallen. So sah es wieder einmal so aus, als ob er mit allem einverstanden sei, was die Partei sagte und tat.
Adenauer drängte unbeirrt von aller Kritik aus dem eigenen und dem gegnerischen Lager auf eine rasche Paraphierung der Westverträge. Er vermochte deshalb in der Stalinnote zur deutschen Wiedervereinigung vom 10. März nur ein böswiliges Störmanöver seiner Westintegrationspolitik zu sehen. Die SPD verlangte eine Prüfung des sowjetischen Wiedervereinigungsangebotes. Diesmal konnte Schmid sich vorbehaltlos der Auffassung seiner Partei anschließen. Bereits einige Tage vor Bekanntgabe der Note hatte er in einem Gespräch mit Rüdiger Proske an die Bundesregierung appelliert auch nach Osten hin tätig zu werden, um dort „Tatbestände“ zu „setzen“, die die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands „ein kleines Stückchen weiterbringen“®?. Er glaubte, daß die Politik der Stärke, auf die die Bundesregierung sich versteifte, die deutsche Spaltung zementieren mußte und dadurch die Wiedervereinigung auf unbestimmte Zeit vertagt werde”.
Von Lütkens war er nicht bekehrt worden, wie ihm einige CDU-Abgeordnete in der Bundestagsdebatte am 3. April vorschnell vorwarfen?‘, aber von dem noch kurze Zeit zuvor vertretenen Konzept einer offensiven Verteidigung war er tatsächlich abgerückt. Er hielt nicht starr an einmal eingenommenen Positionen fest, wenn die weltpolitische Situation neue Antworten verlangte. Die Wiedervereinigung stand jetzt im Zentrum der Diskussion, nicht mehr ein eventueller Angriff der Sowjetunion auf die Bundesrepublik. Zu Recht wehrte er sich dagegen, Lütkens an die Seite gestellt zu werden, denn eine Abkehr von einer Politik der europäischen Integration bedeutete sein neues außenpolitisches Konzept nicht, und russische Sicherheitsinteressen hatte er auch die Jahre zuvor schon ins politische Kalkül gezogen. Er betrachtete die politische Lage ganz nüchtern und unpathetisch: „Wenn man die Russen an den Verhandlungstisch bringen will, wenn man nicht ein russisches Nein geradezu provozieren will, dann muß man ihnen ein Interesse offen lassen. Man muß Verhältnisse schaffen, die ihnen erlauben, unter bestimmten Umständen den Nachteil oder scheinbaren Nachteil der Aufgabe Mitteldeutschlands durch allgemein- politische Vorteile für kompensierbar zu halten.“ Carlo Schmid eröffnete die Debatte um den Preis, den man um der deutschen Einheit willen der Sowjetunion zahlen müsse. Daß die Neutralisierung Deutschlands ein zu hoher Preis sei, betonte er ausdrücklich. Aber es müsse möglich sein, eine der deutschen Situation „angemessene Sonderlösung“ zu finden, denn man könne nicht damit rechnen, daß die Sowjetunion ihr Einverständnis dazu gebe, daß Mitteldeutschland dem atlantischen Block zugeschlagen werde. Auch die Sowjetunion habe ein legitimes Sicherheitsinteresse, das der Westen nicht einfach außer acht lassen könne®3.
An Schmids scharfem Antikommunismus hatte sich nichts geändert, aber wenn man die Spaltung nicht hinnehmen wollte, mußte man mit der Sowjetunion ins Gespräch kommen. Er warnte vor einer definitiven Westbindung, wie sie der Generalvertrag vorsah, da der Bundesrepublik damit die Möglichkeit genommen werde, eigenständige ostpolitische Initiativen zu ergreifen?*. Konnte man sicher sein, daß Frankreich nicht ein gespaltenes Deutschland lieber war als ein Ganzes? Eine solche Argumentation barg Gefahren in sich. Das Vertrauenskapital, das die Westmächte den Deutschen entgegenbrachten, drohte wieder verlorenzugehen, der auch von Schmid befürwortete europäische Integrationsprozeß wurde dadurch erschwert. Schmid verkannte dieses Dilemma nicht. Er hatte mit Frangois- Poncet ausführlich darüber gesprochen’.
Im Parteivorstand wurde seine Rede verrissen. Ernst Reuter hielt die Versuche seines Parteifreundes, „sich für die Sowjets den Kopf zu zerbrechen“, nicht für sehr „glücklich“. Schoettle, der nicht frei war von persönlichen Animositäten gegenüber seinem schwäbischen Kollegen, sprach gar von „Entgleisungen“ Schmids, die der Partei teuer zu stehen kämen?”. Die „Preisfrage“, die bald zum zentralen Thema der Wiedervereinigungsdiskussion werden sollte, wirkte im Frühjahr 1952 noch provozierend, denn die meisten zogen aus ihr den Schluß, der Sowjetunion werde damit der gleiche moralische Status zugestanden wie den Westmächten. Schmid hatte gleich zu Beginn seiner Rede einem solchen Mißverständnis entgegenzutreten versucht”, aber niemand hatte ihm richtig zugehört. Im übrigen waren seine Gedanken so neu gar nicht. Der mit Carlo Schmid befreundete amerikanische Chefdiplomat George F. Kennan hatte das russische Sicherheitsinteresse schon seit einiger Zeit ins Zentrum der Diskussion gerückt. Kennans scharfsinnige Analysen der sowjetischen Politik beeinflußten Schmid ebenso wie die Richard Löwenthals. Zusammen mit seinem Freunde „Rix“ traf er sich regelmäßig mit hochrangigen Diplomaten in Godesberger Lokalen, um dort „Kremlastrologie“ zu treiben”. Vermutlich waren einige der „Kremlastrologen“ gut darüber informiert, daß die Sowjetunion tatsächlich großes Interesse an der deutschen Einheit hatte”. Die Frage war nur, welchen Preis die Bundesrepublik dafür zahlen mußte.
Adenauers Entschluß, die Westverträge so schnell wie möglich unter Dach und Fach zu kriegen, war durch die Wiedervereinigungsdebatte auch“nicht im geringsten ins Wanken geraten. Am 9. Mai wurden die beiden umstrittenen Verträge in Paris paraphiert. Am Abend des gleichen Tages gab Schmid eine Stellungnahme zu den Verträgen ab und sparte dabei nicht mit Kritik an Adenauers außenpolitischen Alleingängen, die ihn wie die meisten Abgeordneten gleich welcher Partei verärgert hatten!°!, Bis dato hatte der Auswärtige Ausschuß noch kein Exemplar der Verträge gesehen. Einen sechsköpfigen Sonderausschuß, dem auch Schmid angehörte, hatte der Kanzler zwar hin und wieder über die Ver- _tragsverhandlungen informiert, aber die Informationen waren als Geheimsache zu behandeln, so daß von einer parlamentarischen Kontrolle nicht die Rede sein konnte’”. Am schärfsten kritisierte Schmid, daß durch die Bindungsklausel des Generalvertrags die „Wiedervereinigung als eine Art Eingemeindung von Mitteldeutschland“ betrachtet werde’”. Aufgestoßen war ihm auch, daß Adenauer davon sprach, durch den Generalvertrag werde Deutschland souverän. Carlo Schmid zitierte seinen Fast- Namensvetter Carl Schmitt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Das waren die Besatzungsmächte, an die im Falle des Notstandes die oberste Gewalt zurückfiel’°%. Die Kompetenzen des Schiedsgerichts, das über Meinungsverschiedenheiten, die sich aufgrund des Vertrages ergaben, zu entscheiden hatte, waren so weit gefaßt, daß es im Extremfall sogar Urteile des Bundesverfassungsgerichts aufheben konnte. Wenn es zu Streitigkeiten kam, war das Schiedsgericht, wie Schmid als guter Kenner der Materie sofort erkannte, ermächtigt „als nationaler Ersatzgesetzgeber aufzutreten“ ‚°. Im Auswärtigen Ausschuß stritt er sich vehement mit seinem einstigen Lehrer Erich Kaufmann über die Schiedsgerichtsklauseln. Der politische Berater der Bundesregierung wurde bei dem Streit immer kleinlauter und mußte zum Schluß zugeben, daß die ausgehandelten Bestimmungen äußerst problematisch seien!”
Aus Schmids Kritik sprach kein spezifisch sozialdemokratischer Oppositionsgeist. Wegen der Bindungs- und Notstandsklausel wurde der Bundeskanzler auch im Kabinett attackiert, so daß er noch einmal mit den Hohen Kommissaren an den Verhandlungstisch mußte. Auch im Außenpolitischen Ausschuß bildete sich abermals eine große Koalition gegen den Alten. Man wollte endlich die Vertragstexte sehen‘?””. Der Kanzler geriet noch einmal in Bedrängnis, konnte aber dann doch ohne größere Verzögerung Ende Mai die Verträge dem Bundestag zur Ratifikation zuleiten. In der SPD brach eine Art Panikstimmung aus. In der Hitze des Gefechts hätten einige Mitglieder des Parteivorstandes und der Fraktion am liebsten zum General- oder Parlamentsstreik geblasen. Kurt Schumachers nationale Empörung war nicht mehr zu bremsen. „Wer diesem Generalvertrag zustimmt, hört auf ein Deutscher zu sein.“ !°® Das politische Klima war wieder einmal vergiftet.
Schmid versuchte wie schon des öfteren, den angerichteten Schaden wieder zu beheben. In der Bundestagsdebatte am 9. Juli appellierte er an alle, sich „leidenschaftslos“ mit den Verträgen auseinanderzusetzen, „in dem Bewußtsein, daß jeder nach bestem Vermögen sich zu den Gründen bekennt, von denen er annehmen muß, daß sie die guten sind“ ‚°%, Mit Emphase betonte er, daß auch die Mitglieder der Regierungskoalition Patrioten seien“°, Im übrigen räumte er ein, daß der Generalvertrag „sehr schätzbare Erleichterungen“ bringe, aber der Preis dafür sei hoch, denn bei allen „vitalen Entscheidungen“ habe das deutsche Volk in den „Schatten der Politik der Drei zu treten““‘, Noch einmal distanzierte er sich ausdrücklich von Forderungen nach einer Neutralisierung Deutschlands.
Es gebe jedoch nicht nur die Alternative Europäische Verteidigungsgemeinschaft oder Neutralismus, „Satellit des Ostens oder Vasall des Westens“ zu sein, sondern noch eine dritte: „sich dem Westen in Formen zu verbinden, die der Osten nicht bedrohlich zu finden braucht, und mit dem Osten in ein Verhältnis freien Austausches zu treten, das den Westen stärkt statt ihn zu schwächen (…). Für die Einzeletappen des Weges gibt es kein Patentrezept, aber man muß auf dieses Ziel hin verhandeln, und das ist besser, als militärisch zu denken, wo politisch gedacht werden muß.“ ‚? Einige Abgeordnete der Regierungskoalition riefen Schmid zu: „Das ist eine Halbheit.“ Zugegeben: seine Ausführungen waren überaus abstrakt und ließen sich nur bedingt als praktische Handlungsmaxime verwenden. Nach der Sommerpause ging er daran, seine Vorstellungen zu präzisieren.
Es gehört allerdings ins Reich der historischen Mythenbildung, daß sich Schmids außenpolitisches Programm auf dem im September 1952 in Dortmund stattfindenden SPD-Parteitag durchgesetzt habe“3. In dem dort verabschiedeten Aktionsprogramm wurde zwar ein kollektives Sicherheitssystem als Alternative zur EVG propagiert, aber was hieß das schon? Das war eine Kompromißformel, die alle Mitglieder der Partei akzeptieren konnten, weil sich jeder darunter vorstellen konnte, was er wollte. Schmid hatte sich dazu auf dem Parteitag überhaupt nicht geäußert. Er hatte sich in Dortmund überhaupt sehr zurückgehalten, denn er war wieder einmal in die Schußlinie innerparteilicher Kritik geraten.
Anfang September hatte sich Bundestagspräsident Hermann Ehlers bereit erklärt, eine Volkskammerdelegation zur Entgegennahme eines Briefes zur deutschen Einheit zu empfangen. Der Empfang war von Ehlers als Demonstration des Wiedervereinigungswillens gedacht, nicht als Auftakt zu gesamtdeutschen Gesprächen. Schmid hatte nach Rücksprache mit dem Fraktionsbüro dem Empfang durch das Bundestagspräsidium zuge- Stimmt. Wenn die SPD Adenauer schon unentwegt aufforderte, jede Wiedervereinigungschance zu nutzen, so konnte man die Teilnahme an dem von Ehlers geplanten symbolischen Akt wohl kaum absagen. So oder ähnlich- mag Schmid gedacht haben, als er Ehlers sein Einverständnis erkläfte. Im Führungszirkel der Partei reagierte man mit Entrüstung. Der Empfang der Volkskammerdelegation sei eine Aufweichung der Haltung, daß man mit Pankow keine Gespräche führe. In der Sowjetzone werte man den Vorgang als einen Akt der Anerkennung des „Pieck-Grotewohl- Regimes“ durch Bonn“*. Ollenhauer dekretierte, daß Schmid die Teilnahme am Empfang absagen müsse’.
Schmid war gezwungen, gegenüber Ehlers eine Wende um 180° zu begründen. Mehrere Briefentwürfe waren notwendig. Der letzte, den er am 2. September an Ehlers abschickte, lautete: „ich habe in den letzten Tagen gewisse Probleme, die der Besuch der Abgesandten der Volkskammer aufwirft, mit politischen Freunden nach allen Seiten hin erörtert. Gewisse dabei zu Tage getretene Argumente haben mich davon überzeugt, daß meine Teilnahme (…) an dem vorgesehenen Empfang als Aufweichung meiner die Anbahnung sogenannter Gesamtdeutscher Gespräche mit den Machthabern der Sowjetzone grundsätzlich ablehnenden politischen Haltung mißdeutet werden könnte. Da ich solchen Mifßdeutungen unter keinen Umständen Nahrung geben möchte, habe ich mich entschlossen, entgegen meiner ursprünglichen Absicht, an dem für Montag vorgesehenen Empfang der Abgesandten der Volkskammer nicht teilzunehmen.“ “° In allen Zeitungen stand, Schmid sei zurückgepfiffen worden“ 7. Ehlers, der Adenauers Drängen, den Empfang abzusagen, widerstanden hatte, empfing die Delegation allein. Es war nur ein 18-Minuten- Gespräch, aber Ehlers profilierte sich dadurch als ein Mann des ostpolitischen Dialogs. Der Bundestagspräsident konnte gegenüber dem Kanzler mit Genugtuung feststellen, daß Schmids Absage in der Öffentlichkeit, besonders in Kreisen der evangelischen Kirche „einen denkbar schlechten Eindruck“ gemacht habe!“®
Schmids Kotau hatte ihm selbst und der Partei nur geschadet. Warum hatte er sich deren Verlangen nicht unbeugsam entgegengestellt, wie Ehlers dem des Kanzlers? War er durch die ständigen innerparteilichen Auseinandersetzungen schon zu zermürbt oder wollte er sein angespanntes Verhältnis zur Partei nicht noch mehr verschlechtern? Er fraß seine Verbitterung wie immer in sich hinein. Seine Stellung innerhalb der Partei wurde durch den Vorfall noch mehr geschwächt.
Je mehr sein Ansehen in der Partei sank, je geringer war die Chance, daß er sich mit seinem außen- und verteidigungspolitischem Konzept durchsetzen konnte. Ende 1952 arbeitete er vermutlich nach längerem Drängen der Parteifreunde eine außenpolitische Expertise aus. Von detaillierten außenpolitischen Plänen hielt er nicht viel. Er vertraute auf die Mittel der klassischen Diplomatie. So unterstrich er in einer Vorbemerkung zu seinem außenpolitischen Expos& ausdrücklich: „Was diplomatisch oder politisch taktisch im Einzelfall unternommen werden muß, um das Ziel zu erreichen oder sich ihm anzunähern, das allerdings bestimmt sich nach der jeweiligen politischen Situation.“ 9 Solange man in der Opposition war, hatte man so gut wie keine Möglichkeit, die politische Durchführbarkeit des eigenen Programms zu beweisen. Schmids Programm war ein europäisches Programm. Er plädierte für eine schrittweise Verdichtung der bisher nur lockeren Verbindung aller europäischen Staaten z.B. durch einen weiteren Ausbau der OEEC. Europa bezogen war auch das von ihm befürwortete System kollektiver Sicherheit, bei dem ihm sicherheitspolitische Vertragssysteme aus der Zwischenkriegszeit vor Augen standen. Die Locarno-Verträge in ihrer Gesamtheit dienten ihm als Modell für zukünftige Sicherheitsvereinbarungen‘?°. Es war vermutlich nicht Schludrigkeit, daß er von den Locarno-Verträgen des Jahres 1926 sprach. 1926 war der Berliner Vertrag abgeschlossen worden, der eine Neutralitätszusage Deutschlands gegenüber der Sowjetunion enthielt. Schmid wollte die Umwandlung der EVG in eine „Gefahrengemeinschaft“, die nach Osten hin offen war und auf die Sicherheitsinteressen der UdSSR Rücksicht nahm. Konflikte innerhalb dieser „Gefahrengemeinschaft“ sollten aufgrund eines internationalen Schiedsgerichtssystems gelöst werden’*‘. Über ein mögliches Ost-Locarno ließ sich Schmid nicht weiter aus. Damit wäre das heikle Problem Anerkennung der Oder-Neiße- Linie aufgeworfen worden, das er wohl einstweilen noch umgehen wollte.
In einem Redemanuskript aus dem Jahre 1953 unterschied Schmid zwischen einem großen und einem kleinen Locarno. Das große Locarno hätte auch die USA und die UdSSR miteingeschlossen. Er hatte aber nur wenig Hoffnung, daß es zwischen der USA und der UdSSR zu einer so weitgehenden Verständigung kommen könnte’”?. Er dachte mehr an ein Europa zwischen .den Blöcken, das zu einer Zone militärischen und politischen Disengagements werden konnte. Ansatzweise war hier entwikkelt, was man später europäische Friedensordnung nannte. Schmid verschwieg nicht, daß die Locarno-Verträge nur eine erste Etappe auf dem Weg zur Beendigung des Ost-West-Konflikts sein konnten: „Locarno- Verträge werden für sich allein den Kalten Krieg nicht erledigen; sie könnten aber ein geeignetes Mittel sein, die Bereitschaft der Beteiligten für seine Erledigung zu fördern und den gefundenen Lösungen Dauer zu verleihen.“ ‚*
In der SPD stießen Schmids Vorschläge auf wenig Gegenliebe. Adolf Arndt bestritt schlichtweg, daß es sich bei den Locarno-Verträgen um ein System kollektiver Sicherheit handelte, das er als eine „universale Gefahrengemeinschaft“ verstanden wissen wollte’”* Lütkens, lange Zeit Schmids Kontrahent auf dem Gebiet der Außenpolitik, entwickelte ein zu Schmids Vorschlägen völlig konträres Programm. Im Interesse der deutschen Wiedervereinigung plädierte er für eine Beibehaltung des Besatzungsstatuts. Die Integration der Bundesrepublik in die westeuropäische Gemeinschaft dürfe bis zur Wiederherstellung der deutschen Einheit nicht weiter verfolgt werden. Auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik optierte er für die Aufstellung nationaler Streitkräfte, die sich der Nato in Form eines Regionalpaktes, der wiederum als Teil eines kollektiven Weltsicherheitssystems gedacht war, assoziieren sollten‘?5. Ähnliche Überlegungen hatte, was die Sicherheitspolitik anbetraf, auch Max Brauer angestellt. Er sprach sich für ein kündbares Assoziationsverhältnis zur Nato aus’”°.
Wehner verriß die Planskizzen allesamt. Er hielt entgegen, daß Adenauers „außenpolitischer Praktizismus“ die entwickelten Pläne bald zur Ma- _ kulatur machen würde. Schmids System kollektiver Sicherheit erschien ihm unrealistisch, da die Bundesrepublik und vor allem die SPD auf dessen Entstehung kaum Einfluß habe‘?”. Gewiß. Aber wenn man so dachte, mußte man als Oppositionspartei auf das Formulieren außenpolitischer Alternativen überhaupt verzichten. Schmid hatte ja in seiner Vorbemerkung selbst Vorbehalte angemeldet. Die außenpolitische Marschrichtung, die Wehner einschlagen wollte, war im übrigen auch nicht gerade von übergroßem Realismus getragen. Interessen- und Kampfgemeinschaften innerhalb der Montanunion wollte er schmieden, um das Sechser- Europa aus den Angeln zu heben’*®, War Wehner denn entgangen, daß die Sozialdemokraten innerhalb Europas isoliert waren, selbst innerhalb der sozialistischen Bruderparteien?
Schmid brauchte sich nicht vorhalten zu lassen, nichts für die Durchsetzung sozialdemokratischer Positionen im Ausland getan zu haben. Er war es, der auf internationaler Ebene die Partei vertrat. Er reiste durch Europa und warb für das außenpolitische Programm der SPD, selbst unter Hintanstellung seiner eigenen Meinung. 1950 hielt er Vorträge in Schweden, 1951 in London, 1952 in Griechenland und Rom, 1953 in Norwegen. Für die Franzosen war er Kontaktmann und Vertrauensperson. Als Professor konnte er auch ohne offiziellen Auftrag im Ausland Vorträge halten und politische Gespräche führen. Den Schuh der Wehnerschen Kritik mußte er sich nicht anziehen.
Für sein Locarno-Modell konnte Schmid innerhalb der SPD nur wenige Anhänger gewinnen. Erler scheint einer der wenigen gewesen zu sein, die Schmids Vorschläge unterstützten’”®. Einen couragierten Gleichgesinnten fand Schmid in der FDP: den Waiblinger Abgeordneten Karl Georg Pfleiderer, mit dem er als Student zusammen die Kollegbank gedrückt hatte. Auch im Bundestag pflegte er guten Kontakt zu seinem schwäbischen Kollegen’3°. Pfleiderer hatte bereits im Juni 1952 Aufsehen erregt, als er sich für ein bündnisfreies Deutschland ohne fremde Truppen zwischen Rhein und Oder, das aber eigene nationale Streitkräfte unterhalten sollte, ausgesprochen hatte. Schmid hatte sich skeptisch gegenüber dem Pfleiderer- Plan geäußert. Er schätzte die Stimmung in den westeuropäischen Ländern wohl zutreffend ein, wenn er feststellte, daß die Furcht vor einer deutschen Nationalarmee dort zu groß sei, als daß der Plan sich durchsetzen ließ’3!,
Der Waiblinger Abgeordnete sann weiter nach Alternativen zur amtlichen Außenpolitik. Am 2. September legte er dem Auswärtigen Ausschuß eine Denkschrift zur deutschen Ostpolitik vor, die sich fast haargenau mit den Überlegungen Schmids deckte. Auch Pfleiderer sah in dem Vertragssystem der Jahre 1925/26 das Vorbild für ein zu errichtendes europäisches Sicherheitssystem. Auch er plädierte für ein System der Westbindung, das die Möglichkeit offenließ, durch Sonderabmachungen den Sicherheitsinteressen der Sowjetunion entgegenzukommen’32 Am 29. Oktober erläuterte Pfleiderer im Auswärtigen Ausschuß seinen Standpunkt. Er riet, noch vor der Ratifizierung der Verträge, Absprachen mit den Westmächten über die Gestaltung der Beziehungen zum Osten zu treffen. Insbesondere müsse im Rahmen der EVG und im weiteren Rahmen der übrigen Vertragspartner der Status Deutschlands innerhalb des europäischen Staatendaher für den Fall der Wiedervereinigung gemeinsam festgelegt weren‘ 33,
Schmid war hocherfreut über die Ausführungen seines schwäbischen Kollegen. Er ordnete sogleich die Vervielfältigung von dessen Referat und die Verteilung an alle Ausschußmitglieder an. Erst nach heftigem Protest Hallsteins, der die Regierungsposition verteidigt hatte, erklärte sich der sonst so unparteiische Ausschufßsvorsitzende bereit, auch dessen Ausführungen vervielfältigen zu lassen’3#. Carlo Schmid hatte Pfleiderer viel Zeit für sein Referat gelassen. Der Verdacht liegt nahe, daß die beiden Schwaben unter einer Decke steckten. Ihr sicherheitspolitisches Programm jedenfalls stimmte fast nahtlos überein
Im Auswärtigen Ausschuß scheint eine leidenschaftliche Debatte über die Pfleiderer-Thesen entstanden zu sein, die sich aber mangels Protokolle nicht mehr nachzeichnen läßt. Nach dem Abschlußbericht des Ausschusses über die Vertragswerke, in dem auch das Pfleiderer-Referat erwähnt wurde, soll es im Ausschuß „erhebliche Bedenken“ gegeben haben, ob Deutschland nicht im Verhältnis zu der Sowjetunion ein Sonderstatus zuerkannt werden müsse“. Pfleiderers Plan versprach einen möglichen Ausweg aus der Scylla Politik der Stärke und der Chrarybdis Neutralisierung, die niemand wollte, schon gar nicht Carlo Schmid, der Ende 1952 im Auswärtigen Ausschuß noch einmal erklärte: „Neutralisierung bedeutet Einbeziehung Deutschlands in den sowjetischen Herrschaftsbereich.“ „3° In dem Punkt war er sich mit Adenauer einig.
Der Kanzler brauchte den Pfleiderer-Schmid-Plan nicht zu befürchten, denn er wurde innerhalb der Parteien nicht aufgegriffen. Verärgert war “er trotzdem. Sowohl im Auswärtigen Ausschuß als auch im EVG-Ausschuß, der eigens zur Beratung des gleichnamigen Vertrags gebildet worden war, wurden die Verträge trotz des bei völkerrechtlichen Verträgen geltenden Grundsatzes „ne varietur“ einer gründlichen Überprüfung unterzögen. Schmid war auch Mitglied des EVG-Ausschusses, wo er sich lebhaft an der Diskussion von Detailproblemen wie der völkerrechtlichen Stellung der Fusiliers Marins oder der bei einem Krieg in der Sowjetunion gefangengenommenen deutschen Soldaten beteiligte’37”. Kopfschütteln bei Abgeordneten aller Parteien löste seine Begeisterung für Militärkapellen, Zapfenstreich und Truppenfahnen aus, für deren Wiedereinführung er eifrig stritt’3®, Manchmal konnte er seine Herkunft aus der Geisteswelt Stefan Georges nicht verleugnen. Das militärische Zeremoniell übte auf ihn eine ungeheure Faszinationskraft aus.
In den Debatten um die Ratifizierung der Verträge im Dezember und März wurde er von der Fraktion nicht als Redner benannt. Was Ollenhauer als Hauptredner als Alternative zur Regierungspolitik vorstellte, ließ sich mit den Schmidschen Plänen kaum vereinbaren. „Wir denken“, so erläuterte der Parteivorsitzende, „an neue Verhandlungen auf internationaler Basis über die Schaffung eines kollektiven Weltsicherheitssystems zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens unter gleichberechtigter Mitwirkung aller. (…) Wir werden für die Ablösung der Verträge durch eine neue internationale Vertragsordnung, für die Sicherheit und den Frieden kämpfen, durch die das deutsche Volk in einer Gemeinschaft von Freien und Gleichen seinen Platz einnehmen kann und wird.“ 3° Das war reichlich vage. Anfang 1953 präzisierte Ollenhauer seine Vorstellungen und revidierte sie auch etwas. Nun votierte er für eine sicherheitspolitische Zusammenarbeit der europäischen Staaten unter Einschluß Großbritanniens, Dänemarks und Norwegens, die in engem Kontakt zur Nato erfolgen sollte. Statt der supranationalen EVG sollte eine europäische Koalitionsarmee geschaffen werden’*°. Das war im Grunde die Option für ein reines Bündnissystem unter Verzicht auf die entspannungspolitischen Grundsätze, die Schmid mit der Locarno-Idee verband.
Der Kanzler nahm kaum noch Notiz von den Vorschlägen der SPD’. Er hatte die USA hinter sich. Das genügte ihm. Der amerikanische Außenminister Dulles war ein eingeschworener Verteidiger der EVG. Das dreiviertelstündige Gespräch, das Ollenhauer, Wehner und Schmid am s. Februar mit dem amerikanischen Außenminister führten, wäre vermutlich auch dann schiefgelaufen, wenn die Sozialdemokraten eine realistischere Alternative zur EVG aufgezeigt hätten. Dulles hatte das Gespräch überhaupt nur gesucht, um die Sozialdemokraten davon zu überzeugen, daß es keine Alternative zur EVG gab’#. Schmid scheint schon im voraus mit einem negativen Ergebnis des Gesprächs gerechnet zu haben. Dulles’ Einstellung war ja zur Genüge bekannt. Er mochte in die Empörung Wehners und Ollenhauers über den amerikanischen Außenminister nicht einstimmen und verabschiedete sich sogleich nach der Unterredung. Er müsse noch dringend Bundestagspost erledigen. In Wirklichkeit war er mit Richard Löwenthal verabredet, was die Parteifreunde herausbekamen und mit Entrüstung registrierten’#. Schmid hatte den Genossen wieder einmal allzu deutlich zu verstehen gegeben, daß er sich lieber mit seinem scharfsinnigen Freunde „Rix“ unterhielt als mit ihnen. Argwohn gegen ihn war die Folge.
Was in der Partei geschah, erfuhr er manchmal nur noch durch Zufall. So hatte er keine Ahnung, daß die SPD in Karlsruhe eine einstweilige Verfügung beantragt hatte, durch die die Unterzeichnung der Westverträge und die Weiterleitung der Ratifikationsurkunden verhindert werden sollte’*. Wehner nahm die gescheiterte Aussprache mit Dulles zum Anlaß, um Schmid und Erler zur Absage einer geplanten USA-Reise zu bewegen.
Er warnte vor den „innerparteiliche(n) Nachwirkungen“, die diese Reise provozieren werde und gab vor, die beiden „vor vermeidbaren weiteren Komplikationen bewahren“ zu wollen. Der Zuchtmeister erinnerte an den „Warnschuß, der vor einigen Wochen in einigen Zeitungen abgefeuert wurde, als diese Reise in Verbindung mit der Reise des Bundeskanzlers gebracht wurde“’#. Vermutlich fürchtete Wehner, daß die beiden sich amerikanischen Positionen annähern könnten. Standen doch beide im Verdacht, mehr über das Wie als über das Ob eines deutschen Verteidigungsbeitrages nachzudenken. Auch waren sie keine grundsätzlichen Gegner einer Westintegration, wenn damit die Tür nach Osten nicht zugeschlagen wurde’#°. Wehners Stellung als außenpolitischer Sprecher der SPD wäre ins Wanken geraten, wenn die USA-Reise der beiden wider Erwarten erfolgreich verlaufen wäre. Schmid und Erler sagten ab. Als Grund schoben sie vor, bei der 3. Lesung des General- und EVG-Vertrags nicht fehlen zu können’*’”. Das amerikanische Terrain wurde Adenauer überlassen, der sich rechtzeitig für den Wahlkampf als Mann der Amerikaner profilieren konnte.
Im Frühjahr 1953 geriet der Kanzler allerdings noch einmal in Bedrängnis, nicht durch die Opposition, sondern durch den britischen Premier. Churchill schlug am ır. Mai in einer Unterhausrede die baldige Einberufung einer Viermächtekonferenz zur Lösung der deutschen Frage vor. Um dem russischen Sicherheitsinteresse Rechnung zu tragen, erwog der britische Premier einen deutsch-russischen Sicherheits- und Garantievertrag, eine Art Ostlocarno. Schmid konnte sich durch den sensationellen Vorstoß Churchills vollauf bestätigt fühlen. Nachdem er in der eigenen Partei mit seinen Locarno-Plänen nicht durchgedrungen war, ventilierte er deren Chancen im Ausland. Sein Beitrag hierzu in der Brüsseler Zeitung „Le Peuple“ stieß bei dem französischen Botschafter in Belgien Jean Riviere auf große Aufmerksamkeit. Er legte Außenminister Bidault den Artikel, über den er lang und ausführlich berichtete, ans Herz’#°. Aber in Frankreich stand man dem Churchill-Vorschlag eher skeptisch gegenüber, zumal der Bundeskanzler auch nicht im geringsten gewillt war, darauf einzugehen.
In den Monaten zwischen Stalins Tod und dem 17. Juni habe vermutlich die „letzte und größte Chance“ zur deutschen Wiedervereinigung bestanden, schrieb Richard Löwenthal später’*. Schmid scheint das Urteil seines Freundes geteilt zu haben. Für ihn war der Arbeiteraufstand des 17. Juni ein „Fanal der Hoffnung“, ein „Appell, die Trägheit des Herzens zu überwinden und etwas zu wagen – auch Initiativen, von denen nicht von Anfang an sicher ist, daß sie den gewünschten Erfolg bringen werden“ ‚5°, Wer wie die Bundesregierung keine Wagnisse eingehen wolle, ‘nehme die „Versteinerung des Status quo“ hin. Noch einmal mahnte er die Bundesregierung, die Wiedervereinigung nicht als eine „Art Eingemeindungsproblem“ zu behandeln’S’. In jenen Aufsehen erregenden Tagen war Schmid erfüllt von Mitleid, existentialistischem Pathos und politischer Aufbruchstimmung. Er wollte nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die westdeutsche Bevölkerung aufrütteln. Im Parteivorstand schlug er vor, der westdeutschen Bevölkerung die Bedeutung des 17. Juni über den Rundfunk nachträglich bewußt zu machen‘?. Aber für die Westdeutschen war der 17. Juni kein Signal der Hoffnung. In späteren Jahren mußte Schmid betroffen feststellen, daß der Tag der deutschen Einheit zu einem „zweiten Vatertag“ verkommen war.
Der Bundeskanzler stimmte nur widerwillig der Einberufung einer Viermächtekonferenz zu. Immerhin: Er rückte jetzt etwas von seinem Konzept der Stärke ab: „Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft soll(te) Ausgangspunkt für ein Sicherheitssystem sein, das die Sicherheitsbedürfnisse aller europäischen Völker, einschließlich des russischen Volkes berücksichtigt.“ ‚5? Schmid kommentierte den Vorschlag des Kanzlers: „Wäre es nicht rationeller gewesen, zunächst mit den Russen über ein allgemeines Sicherheitssystem zu verhandeln und den Abschluß einer Militärallianz im Stil der EVG erst nach dem eventuellen Scheitern dieser Verhandlungen ins Auge zu fassen?“’5* Ihn befremdete die deutschlandpolitische Trägheit der Bundesregierung ebenso wie das fehlende Nationalbewußtsein der westdeutschen Bevölkerung. Ihm stand immer das Nationalbewußtsein seines Mutterlandes Frankreich vor Augen. Aber die Franzosen hatten eine andere Vergangenheit als die Deutschen. Weil Schmid wollte, daß die Deutschen ein normales Verhältnis zu ihrer Nation gewinnen, gehörte er zu den ersten, die die Diskussion über die deutsche Vergangenheit in Gäng brachten.
Die Schatten der Vergangenheit: Die politische Kultur der frühen soer Jahre
Die Beendigung nationalsozialistischer Herrschaft war noch keine fünf Jahre her, da gab es schon viele, die ein für allemal einen Schlußstrich hinter die nationalsozialistische Vergangenheit ziehen wollten. Der Abschluß der Entnazifizierung sollte auch ein Ende der Schulddiskussion bringen. Hinsichtlich der Entnazifizierung teilte Schmid die Auffassung seines Freundes Fritz Erler, daß man mit „Fragebogen keine Revolutionen“ nachholen könne!. Aber er sah mit wachsender Sorge, daß die „Deutschen die Ereignisse von 193 3-1945 verdrängten, anstatt sich mit ihnen auseinanderzusetzen“?. Immer wieder mahnte er seine Landsleute, „daß die Welt nur bereit sein werde zu vergessen, wenn die Deutschen bewiesen, daß sie nicht vergessen“3. Nur wenn sie die Erblast übernahmen, konnten sie zu einer neuen nationalen Identität gelangen.
Eine wissenschaftlich fundierte historische Analyse über das Aufkommen und die Durchsetzung des Nationalsozialismus entwickelte Schmid nicht und eignete sich auch keine an. Die Deutung des Nationalsozialismus als Cäsarismus, die er sich in den 30er Jahren zu eigen gemacht hatte, hielt er nicht für überholt, aber nach 1945 rückte auch bei ihm die Konzeption eines deutschen Irr- und Sonderwegs in den Vordergrund. In der Tradition Veit Valentins und seines Tübinger Kollegen Rudolf Stadelmann begriff er die gescheiterte Revolution von 1848/49 als den Beginn eines deutschen Sonderwegs, der in die deutsche Katastrophe führte: „Durch das Scheitern der Revolution, die der erste Versuch des deutschen Bürgertums zu politischer Selbstverantwortung war, haben sich die Deutschen von den Feinden der Demokratie einreden lassen, es fehle ihnen als Volk überhaupt die Begabung für das Politische.“ * Politik und Moral gerieten zu Gegensätzen: „Man hat damit jenen Typus möglich gemacht, der zu Hause von peinlicher Moralität und im politischen Kalkül von stupider Brutalität war, und jeden, der die Politik anders sah, als Dichterphilosophen verhöhnte.“5 Um diesen Gegensatz aufzuheben, war er, der zuweilen selbst als Dichterphilosoph belächelt wurde, in die Politik gegangen, hatte er danach gestrebt, eine führende Rolle in der zweiten deutschen Demokratie zu spielen. Ein Hieronymus im Gehäuse, der dem Aufkommen des Nationalsozialismus tatenlos zugesehen hatte, war er auch vor 1933 nicht gewesen. Er hatte den Nationalsozialismus unterschätzt, sich der Utopie des Dritten Humanismus verschrieben, der er auch nach 1945 nicht völlig abschwor. Ohne sie wäre er wahrscheinlich nach 1945 nicht in die Politik gegangen, ohne sie hätte er nach 1933 vermutlich nicht so entschieden dem Nationalsozialismus die Stirn geboten. Trotzdem fühlte er sich schuldig für die Untaten des Regimes. In Lille hatten ihn an manchen Tagen die Schuldgefühle fast aufgefressen. Er sprach nicht über seinen Widerstand und bezeichnete sich auch nicht als Widerstandskämpfer°. Wenn er von der Schuld der Deutschen sprach, so schloß er sich mit ein.
Die Mehrzahl der Deutschen hatte kein so sensibles Schuldbewußtsein wie Schmid. Sie versuchten von ihrer Schuld abzulenken. War die Austreibung der Deutschen aus den Ostgebieten nicht auch ein Verbrechen? War die Zurückhaltung der deutschen Kriegsgefangenen nicht auch unmenschlich? Schmid ließ solche Ablenkungsmanöver nicht zu. Wer ihm mit solchen Argumenten kam, den belehrte er: „Aber was in Deutschland und als Tat Deutscher ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit war, bleibt auch dann ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn es in anderen Ländern den Deutschen gegenüber getan worden ist und getan wird.“7” Er wirkte als politischer Moralist und Erzieher, denn er war “überzeugt davon, daß die Aufarbeitung der Vergangenheit die Voraussetzung für einen politischen Bewußtseinswandel der Deutschen war. Es seien viel zu wenige „aufgestanden, um zu verhindern, was an Furchtbarem geschah“, als daß dem deutschen Volk die Haftung für die begangenen Verbrechen abgenommen werden könnte‘.
In Bundestagsreden, in Vorträgen, in unzähligen Gedenkreden zum 20. Juli und zur Woche der Brüderlichkeit verwies Schmid seine Mitbürger auf die Mitverantwortung an dem gräßlichen Geschehen. Auch an den legendären Mittwochsgesprächen in der Kölner Bahnhofsbuchhandlung Gerhard Ludwig, in deren Mittelpunkt die Aufarbeitung der NS-Zeit stand, beteiligte er sich. „Darf man vergessen?“ wollten seine Zuhörer wissen. Nein, aber den Deutschen durfte auch nicht für alle Zeit der aufrechte Gang verweigert werden. Schmid faßte zusammen: „Wir sollten uns zwar nicht mit Sack und Asche drapieren, aber wir müssen Umkehr fordern im Denken und Fühlen.“? Auf diese Umkehr kam es ihm an, weil erst durch sie ein demokratisches Bewußtsein entstehen konnte. Das Publikum in der Bahnhofsbuchhandlung spendete Beifall.
In der breiten Öffentlichkeit war die Schulddiskussion ebenso unpopulär wie das Eintreten für die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts. Bereits in seinem Entwurf zum Dürkheimer Programm hatte Schmid der Wiedergutmachung einen zentralen Stellenwert eingeräumt’°. Die Pflicht zur Wiedergutmachung war für ihn ebenso selbstverständlich wie für Kurt Schumacher, der in seiner Antwort auf die Regierungserklärung Adenauers betont hatte, daß es „die Pflicht eines jeden deutschen Patrioten“ sei, „das Geschick der deutschen und europäischen Juden in den Vordergrund zu stellen und die Hilfe zu bieten, die dort notwendig ist““. Die Bundesregierung betrachtete die Wiedergutmachung in erster Linie als finanzielles Problem und rührte sich deshalb in dieser Frage zunächst nicht, so daß sich die SPD-Fraktion Anfang 1951 gezwungen sah, eine Interpellation zur Wiedergutmachung im Bundestag einzubringen. Die Regierung wurde aufgefordert, ein einheitliches Bundesentschädigungsgesetz auszuarbeiten und den Staat Israel als Repräsentanten des erbenlosen jüdischen Eigentums anzuerkennen!?. Schmid begründete die Interpellation und ging dabei mit der Bundesregierung, die die Entschädigung zur Ländersache erklärte, hart ins Gericht. Man könne auch vom „Fiskus verlangen, daß er sein Denken nicht nach dem Schäbigkeitsprinzip reguliert“ ‚3. Angesichts des „elementaren Phänomens Konzentrationslager“ sei „fiskalische Intelligenz“ fehl am Platz’+, Weil die an den Juden begangenen Verbrechen die grausamsten waren, mußten deren Wiedergutmachungsansprüche vorrangig erfüllt werden. „(Ü)ber die Ansprüche der ausgemordeten Familien ohne Erben sollte das organisierte Gemeinwesen verfügen, das sich die Juden der Welt als Heimstätte ihres Volkes geschaffen haben.“’5 Schmids Appell an die Moral stieß beim Staatssekretär im Bundesfinanzministerium Hartmann auf taube Ohren. Er lehnte sowohl ein einheitliches Bundesentschädigungsgesetz als auch die Anerkennung Israels als Rechtsnachfolger für alle erbenlosen Rückerstattungsund Wiedergutmachungsansprüche ab.
In den Ausschüssen ging der beschämende Streit um die Wiedergutmachung weiter. Carlo Schmid appellierte an die Bundesregierung, die Initlative zu ergreifen und nicht auf einen alliierten Oktroi zu warten. Er riet ihr, einen Gesetzentwurf auszuarbeiten und damit auf den Petersberg zu gehen’°. Aber nicht einmal sein Argument, daß ohne Wiedergutmachungszahlungen an Israel der jüdische Staat die Bundesrepublik nicht anerkennen werde, konnte die Bundesregierung von der Notwendigkeit eines solchen Schrittes überzeugen. Auch im Auswärtigen Ausschuß setzte Schmid das Thema Wiedergutmachungsverhandlungen mit Israel auf die Tagesordnung, um Adenauer zu einer Stellungnahme zu zwingen. Grundsätzlich war der Kanzler, nachdem er auf dem Petersberg schon mehrmals gemahnt worden war, zur Aufnahme von Verhandlungen bereit.
Die Mittlerdienste, die der SPD-Abgeordnete Jacob Altmaier anbot, nahm der den Sozialdemokraten sonst so feindlich gesinnte Kanzler gern an. Altmaier, selbst Jude, hatte Fäden zu dem israelischen Konsul Elijahu Livneh in München geknüpft, um Wiedergutmachungsverhandlungen mit Israel in Gang zu bringen. Er hatte es auf sich genommen, ein Gespräch zwischen dem Bundeskanzler und einem Vertreter Israels zu vermitteln’”. Schmid sorgte für die Unterstützung des Auswärtigen Ausschusses“°, die der Kanzler nötig hatte, denn in seinem Kabinett saß eine große Anzahl von Wiedergutmachungsgegnern. Das erste Gespräch, das Adenauer im April in Paris mit dem israelischen Gesandten Maurice Fischer und dem Staatssekretär im israelischen Finanzministerium David Horowitz führte, scheiterte vollkommen. Adenauer versuchte nun, Kontakte zu dem Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses Nahum Goldmann zu knüpfen.
Währenddessen bemühte sich Schmid in Istanbul um das Ingangkommen von Wiedergutmachungsgesprächen. Auf der dortigen Tagung der Interparlamentarischen Union war es Anfang September zu einem schweren Eklat gekommen. Der Sprecher Israels, der spätere Staatspräsident Ben Zvi, protestierte gegen die Anwesenheit der Deutschen, die sich der schlimmsten Verbrechen schuldig gemacht hatten. Schmid war betroffen, gerade weil er sich mitverantwortlich für die Verbrechen fühlte. Er entgegnete Ben Zvi mit bebender Stimme, daß es nicht angebracht sei, aus dem Kongreß „ein Tribunal zu machen“‘?. Ein Treffen von Parlamentariern sei nicht der Ort, „um miteinander abzurechnen“. Daß das deutsche Volk eine „furchtbare Schuldverpflichtung“ auf sich zu nehmen habe, stehe außer Frage. Auch materielle Entschädigungsleistungen könnten diese Schuld nicht wiedergutmachen””.
Nach Vermittlungsbemühungen von dritter Seite kam es schließlich zu “einem Gespräch zwischen Deutschen und Israelis. Auf deutscher Seite nahmen neben Carlo Schmid die CDU-Abgeordneten Brentano und Tillmanns an der Zusammenkunft teil. Schmid war der Wortführer der Delegation, denn man sprach französisch, obwohl die Israelis besser deutsch konnten als französisch. Er bat darum, daß Israel deutsche Entschädigungsleistungen annehmen möge. Schließlich erboten sich die jüdischen Gesprächspartner, bei der Knesseth anzufragen, „ob ein Angebot der deutschen Regierung, in Verhandlungen über Entschädigungsleistungen an Israel einzutreten, angenommen würde“*‘. Für viele Israelis waren materielle Leistungen „Blutgeld“, das sie nicht annehmen wollten.
Es mußten viele Hebel angesetzt werden, um zu Wiedergutmachungsgesprächen mit Israel zu gelangen. Nahum Goldmann verlangte als Vorbedingung für eine Gesprächsaufnahme, daß der Kanzler zuvor eine öffentliche Erklärung über die Verantwortung Deutschlands für die nationalsozialistischen Verbrechen abgab. Die erste Fassung der Regierungserklärung wurde von den Israelis zurückgewiesen. Dort war zwischen den Verbrechen des nationalsozialistischen Staates und der Haltung des deutschen Volkes eine scharfe Trennungslinie gezogen worden?” Auf die Grenzen der deutschen Zahlungsfähigkeit wurde auch noch in der am 27. September von Adenauer verlesenen Erklärung hingewiesen. Die SPDFraktion vermochte diese Erklärung nicht zu unterschreiben. Brentano hatte in einem Brief an Schmid den Wunsch geäußert, die Erklärung als gemeinsame Erklärung aller Bundestagsfraktionen von Alterspräsident Paul Löbe verlesen zu lassen??. Aber Kurt Schumacher fand die Erklärung der Bundesregierung „zu lau“ und Schmid konnte ihm nur beipflichten. Die Fraktion beauftragte ihn, Arndt und Altmaier, eine eigene Erklärung auszuarbeiten”*. In ihr wurde betont, daß die „furchtbare Größe des Unrechts“ allen Deutschen Opfer abverlange”°. Schmid, der einen ausgeprägten Sinn für symbolische Akte und Gesten hatte, bat Bundestagspräsident Ehlers nach Abschluß der Aussprache über die Regierungserklärung das Bau: aufzufordern, sich zu Ehren der Opfer von den Plätzen zu erheben
Es dauerte noch fast ein halbes Jahr, bis in der niederländischen Kleinstadt Wassenaar die Wiedergutmachungsverhandlungen beginnen konnten. Die deutsche Delegation wurde geleitet von dem Frankfurter Rechtsprofessor Franz Böhm und dem Stuttgarter Wiedergutmachungsbeauftragten Otto Küster, die israelische Delegation von dem Schatzmeister der Jewish Agency Giora Josephthal und Felix E. Shinnar. Vor Beginn der Verhandlungen zitierte Schmid Adenauer noch einmal in den Auswärtigen Ausschuß, um von ihm verbindliche Erklärungen über das deutsche Verhandlungsangebot zu bekommen??. Trotz intensiver Vorbesprechungen stand die Konferenz schon zwei Wochen nach dem Beginn vor dem Scheitern. Bundesfinanzminister Schäffer und Abs, der deutsche Delegationsleiter der Londoner Schuldenkonferenz, hatten erklärt, daß vor Abschluß der Londoner Schuldenkonferenz den Israelis kein verbindliches Verhand lungsangebot gemacht werden könne. Böhm und Küster wurden von Schäffer Vorhaltungen gemacht, weil sie der israelischen Verhandlungsdelegation eine Summe von drei Milliarden angeboten hatten, woraufhin Küster von seinem Amt zurücktrat”®. Schmid besprach sich mit Böhm und kam mit ihm überein, mit Hilfe des Auswärtigen Ausschusses die Bundesregierung unter Druck zu setzen. Am 10. Mai gab er Böhm Gelegenheit, vor dem Ausschuß eine Stellungnahme zu den Wassenaarer Verhandlungen abzugeben. Am Ende der Sitzung wurde eine Entschließung verabschiedet, daß die Verpflichtung zur Wiedergutmachung Vorrang habe vor der Rückzahlung der Schulden, über die in London beraten wurde. Schmid übergab die Entschließung sofort nach der Sitzung der Presse”. Am gleichen Tag wandte sich auch Kurt Schumacher in einem Brief an Adenauer gegen eine Koppelung der Wiedergutmachungsverhandlungen mit den Verhandlungen auf der Londoner Schuldenkonferenz3°,
Diesmal kam Adenauer die Kritik des SPD-Parteivorsitzenden und des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, über dessen Nebenaußenpolitik er sich sonst so gern beschwerte, gelegen. Schäffer konnte seinen Bundessäckel nicht länger verschnürt halten. Die Verhandlungen in Wassenaar wurden wieder aufgenommen. Gespräche Schmids mit Felix Shinnar mögen einiges dazu beigetragen haben. Am 10. September unterzeichneten Adenauer, Goldmann und der israelische Außenminister Moshe Sharett in Luxemburg ein Abkommen über Zahlungen von 3,5 Milliarden DM. Die Ratifizierung verzögerte sich aufgrund arabischer Boykottdrohungen, die in rechtskonservativen Kreisen Widerhall fanden. Schmid drängte im Auswärtigen Ausschuß auf eine schleunige Behandlung des Abkommens?‘. Bei der historischen Abstimmung am ı8. März 1953 stimmte die SPD-Fraktion als einzige der Bundestagsfraktionen geschlossen für das Luxemburger Abkommen. Schmid drückte im Namen der SPD-Fraktion die Hoffnung aus, daß das Abkommen „als ein Zeichen des ernsten Willens des deutschen Volkes begriffen werden möge, wenigstens etwas von dem entsetzlichen Unheil wiedergutzumachen, das die nationalsozialistische Gewaltherrschaft über das jüdische Volk und die anderen von ihr heimgesuchten Völker gebracht hat.“ 3? Noch im gleichen Jahr wurde die Kölner Israel-Mission eingerichtet, deren Leiter Felix Shinnar wurde, der Schmid für seine Bemühungen um eine Aussöhnung mit Israel überaus dankbar war. Später bekam er jedes Jahr zu Weihnachten von Shinnar eine Kiste Apfelsinen oder Pampelmusen geschenkt.
Das Israel-Abkommen befriedigte nicht die individuellen Wiedergutmachungsansprüche der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. In seiner Erklärung, die er zur Ratifizierung des Luxemburger Abkommens abgab, hatte Schmid unterstrichen, daß die SPD-Fraktion die baldige Verabschiedung eines bundeseinheitlichen Wiedergutmachungsgesetzes verlange, durch das allen Verfolgungsopfern „ausreichend und rasch“ Entschädigung gewährt werde?3. Der von der Bundesregierung im Frühjahr 1953 vorgelegte Gesetzentwurf war so unbefriedigend, daß die SPD-Fraktion ihm nur unter der Bedingung zustimmte, daß er in der 2. Legislaturperiode sofort novelliert werde’*. Trotz zahlreicher sozialdemokratischer Initiativen erfolgte die Novellierung erst 1956. Carlo Schmid hielt diese Verschleppungstaktik der Bundesregierung für beschämend. Die Wiedergutmachung sei für ihn etwas, schrieb er dem Vorsitzenden des Jewish Labor Committees Adolph Held, „das außerhalb jeder Politik steht und unabhängig ist von den politischen Wirkungen, die es innen und außen hervorrufen könnte. Ehe man politisch ist, muß man in erster Linie Mensch sein.“35 Das Einzelschicksal berührte Schmid nicht minder, ja vielleicht noch mehr als die große Politik. Er selbst half zahlreichen jüdischen Bekannten bei der Durchsetzung ihrer Wiedergutmachungsansprüche3 ®,
Mit Betroffenheit mußte er feststellen, „wie geizig, wie hartherzig und oft viel, viel buchstabenfetischer als Shylock“ manche Behörden die Wiedergutmachungsansprüche behandelten?’. Ein Kleinkrieg gegen die Opfer3 ®,. Nicht nur er auch sein Fraktionskollege Adolf Arndt, der mit gleichem Engagement wie Schmid sich für die Wiedergutmachung einsetzte, beklagte die „engherzige“ Wiedergutmachungspraxis der Gerichte und Entschädigungsbehörden. Er und der CDU-Abgeordnete Franz Böhm trugen Anfang 1955 bestürzende Beispiele vor, in denen Gerichte und Entschädigungsbehörden unter Verweis auf das während der NS-Zeit geltende Recht Wiedergutmachungsansprüche abgelehnt hatten. Schmid, den die vorgetragenen Beispiele sichtlich bewegten, fügte den Reden Arndts und Böhms einen flammenden Appell an: „(I)ch habe mich hier hingestellt, um es laut hinauszurufen, daß, wenn diese Regierungen, nachdem diese Dinge nunmehr bekanntgeworden sind, weiter stillesitzen, sie offenbar die Aufgabe einer Regierung verkennen. Ich glaube, daß die Verfassungen der Länder ausreichende Möglichkeiten geben, hier trotz der Unabhängigkeit der Richter Wandel zu schaffen. In den Verfassungen der meisten Länder gibt es die Richteranklage, die vorsieht, daß Richter auch dann, wenn sie nicht einer bewußten Rechtsbeugung überführt werden können, ihres Amtes entsetzt werden können, wenn sie durch die Art ihrer Amtsführung zeigen, daß sie vom Geist der Demokratie keinen Hauch verspürt haben.“ ’? Er schlug vor, aus dem Wiedergutmachungsausschuß eine „zentrale Beschwerdestelle“ zu machen. Ganz ungehört blieb der Appell nicht. In Gerichten und Entschädigungsbehörden war man vorsichtiger und zum Teil wurden sogar die Dienstvorschriften geändert.
1955 gründete Schmid zusammen mit Max Dessauer und Ruth Fabian einen „Hilfsverein für die Opfer des Nationalsozialismus im Ausland“, der Gelder für den Bau eines jüdischen Altersheimes in Paris sammeln wollte. Dort lebten völlig vergessen deutsche jüdische Emigranten in elendsten Verhältnissen. Schmid hatte gehofft, daß von privater Seite Gelder gespendet würden, „gewissermaßen als ein Test dafür, inwieweit in Deutschland ein moralisches Bewußtsein für die Dringlichkeit der Schuld vorhanden ist, die es noch einzulösen gilt“ #°. Aber mit den privaten Spenden kam man nicht sehr weit. So veranlaßte er, daß im Haushaltsplan für das Rechnungsjahr 1956 eine Million DM zum Bau eines Witwen- und Altersheim zur Verfügung gestellt wurden, das dann 1957 in Limours errichtet wurde*‘. Er kümmerte sich bis zu seinem Tod um das Altersheim und bekam von dort auch bewegende Dankesbriefe. Solche konkrete Hilfe wog für ihn fast mehr als manch zäh erkämpfter Erfolg in der Bonner Politik*. Er war ein Mensch, der mitlitt, weil er selbst litt, und deshalb einen starken Impuls hatte, anderen zu helfen.
Zu der Trauer über den Holocaust kam bei Schmid die Trauer über das Ende der deutsch-jüdischen Kultursymbiose, wie er sie im Kreis um Wolfgang Frommel in den 30er Jahren erlebt hatte. Die Juden waren für ihn ein Teil der deutschen Kulturnation, für deren Niedergang er die Vertreibung der Juden aus Deutschland verantwortlich machte*. Immer wieder versuchte er nach 1945 jüdische Emigranten nach Deutschland zurückzuholen. Es war oft schwer, sie zur Rückkehr zu bewegen, denn viele fürchteten ein Wiederaufleben des Antisemitismus.
In den Anfangsjahren war auch Schmid sich nicht sicher, ob der alte Geist nicht unter der Decke noch fortlebt. Die Namen Hedler und Veit Harlan. ließen zu Beginn der soer Jahre alle hochschrecken, die den Antisemitismus noch nicht für überwunden hielten. Veit Harlan gehörte zu den Starregisseuren des Dritten Reichs. Protegiert von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels hatte er u.a. den antisemitischen Propagandafilm Jud Süß gedreht. 1950 vom Schwurgericht Hamburg von der Anklage des Verbrechens gegen die Menschlichkeit freigesprochen, betätigte sich Veit Harlan auch in der Bundesrepublik als Filmregisseur. In zahlreichen Städten kam es zu Protestdemonstrationen und Boykottaufrufen gegen die Harlan-Filme. Carlo Schmid gab im Bundestag eine persönliche Erklärung zu der Aufführung des Harlan-Filmes „Immensee“ in Bonn ab. Es-war-das einzige Mal während seiner langjährigen parlamentarischen Laufbahn, daß er das Wort zu einer persönlichen Erklärung ergriff. Für ihn war der Fall Harlan ein Skandalon: „Es ist eine Schande, daß die Machwerke dieses Mannes in Deutschland überhaupt gezeigt und besucht werden können. Manche berufen sich darauf, daß es keine Gesetze gebe, die es ermöglichten, die Vorführung von Filmen dieses Mannes zu untersagen. (…) Ich glaube aber, daß man dem wahren Rechte dient, wenn in diesem Hause dagegen Protest erhoben wird, daß ausgerechnet am Sitze des Parlaments, das in diesem Lande in ganz besonderem Maße der Hüter und Herold echter Toleranz zu sein hat, Filme eines Mannes aufgeführt werden, der zumindest indirekt mit dazu beigetragen hat, die massenpsychologischen Voraussetzungen für die Vergasungen von Auschwitz zu schaffen.“ + Beifall auf allen Seiten des Hauses. Im Bundestag erdreistete sich nur der SRP-Abgeordnete Franz Richter, der in Wirklichkeit Rößler hieß, und ein früherer NSDAP-Funktionär war, ganz unverhohlen antisemitische Reden zu halten. Er wurde 1952 festgenommen und wegen Urkundenfälschung zu ı8 Monaten Haft verurteilt.
Nicht weniger skandalös als das Auftreten Veit Harlans war der Freispruch des Abgeordneten der Deutschen Partei und früheren Kreisleiters der NSDAP Wolfgang Hedler durch das Landgericht in Neumünster im Frühjahr 1950. Hedler hatte in einer im November 1949 in Einfeld gehaltenen Rede die Widerstandskämpfer für die Niederlage im 2. Weltkrieg verantwortlich gemacht und Kurt Schumacher vorgeworfen, „soviel Aufhebens mit der Hitler-Barbarei gegen das jüdische Volk“ zu machen*‘. Nachdem Schmid gemeinsam mit Ollenhauer und Arndt im Bundestag eine Bestrafung der Richter von Neumünster wegen „Rechtsbeugung“ gefordert hatte, quillte seine Bundestagspost über mit Briefen, die seine „Richterschelte“ kritisierten*°. Bundesjustizminister Dehler malte die Gefahr einer Parlamentsjustiz an die Wand*’. Schmid antwortete ihm, daß eine größere Gefahr darin liege, die Rechtsprechung Menschen anzuvertrauen, die „keine positive Einstellung“ zur demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik haben, die statt Rückgrat zu beweisen, dem Druck der Straße weichen*°. Richter, denen das „Pathos und Ethos der Demokratie fremd“ sei, müßten aus dem Amt entfernt werden können. Hier habe die Unabhängigkeit der Justiz ihre Grenze*?. Letzten Endes war für Schmid das Richterproblem ein „Erziehungsproblem“. Das deutsche Erziehungswesen stehe vor der „großen Gegenwartsaufgabe“, die Bundesrepublik von den „Residuen des Wilhelminismus zu befreien“, dessen Geist eine Großzahl der Richter noch verpflichtet sei“.
Schmid selbst verstand sich als Erzieher und wollte einiges dazu beitragen, um die Denkwurzeln des Wilhelminismus auszurotten. Im Bundestag meldeten sich immer wieder Abgeordnete zu Wort, die sich auf das „Rechtsempfinden“ des deutschen Volkes beriefen. Schmid griff fast jedesmal in die Debatte ein, um zu zeigen, daß eine solche Denkweise im Widerspruch zur Idee der Aufklärung stand: „Aber ich möchte auf die Gefahr hin, daß Sie mir jedes Recht, mich künftighin noch einen Demokraten nennen zu dürfen, absprechen, sagen: in Dingen der Humanität, in Fragen der Beseitigung eingewurzelter Vorurteile und der Ausrottung blutiger Mythen mißtraue ich dem Plebiszit; da traue ich dem aufgeklärten Absolutismus eines Parlaments mehr zu.“5! Schmid verhehlte seine elitäre Einstellung nicht. Wer sich wie er zum Ziel setzte, die Deutschen zur Toleranz zu erziehen, durfte ihnen nicht nach dem Mund reden. Das tat er auch nicht, als sich 1950 die Gemüter über die Einführung eines Schund- und Schmutz-Gesetzes erhitzten. Selbst in der eigenen Partei gab es Befürworter. Die SPD-Fraktion konnte sich zu keinem absoluten Nein durchringen’?. Schmid protestierte trotzdem öffentlich und sehr entschieden gegen eine solche Neuauflage der Lex Heinze des Kaiserreichs. Verbot sei die beste Reklame. Die Freiheit dürfe die Gefahr nicht scheuen, wenn sie nicht Gefahr laufen wolle, die Freiheit der Kunst zu untergraben ®?. Für den Baudelaire-Übersetzer Carlo Schmid war ein Schund- und Schmutz-Gesetz ein Unding. Hatte nicht Baudelaire von den „Fleurs du mal“ gesagt: „Ich habe Schmutz geknetet und habe ihn in Gold verwandelt“? Hatten nicht dessen Werke auf dem Index gestanden? Auch einige von Schmids frivolen Chansons wären möglicherweise einem streng gefaßten Schund- und Schmutz-Gesetz zum Opfer gefallen. Ein solches Gesetz ließ nur eine Kunst zu, die durch die „Patina der Klassizität“ geschützt war. Schmid war mutig genug, um zu provozieren: „Sekuritätsstreben im Geiste schafft nicht Reinheit, sondern Dürftigkeit.“S* Die Banausen saßen überall.
Der Pen-Club, dem Schmid seit 1952 angehörte, beklagte wiederholt die behördliche Buchzensur. Schmid bat um Material, damit er intervenieren könne°®. Bundesinnenminister Lehr verstieg sich zu der Behauptung, daß die kabarettistischen Darbietungen Werner Fincks „teilweise an die Grenze von Tatbeständen des Strafrechtsänderungsgesetzes“ gingen°®. Auftritte Fincks in Bonn wurden vereitelt. „Warum hat die Presse nicht aufgeschrien, als das Bonner ‚Metropol‘ den Drohungen wich und Werner Finck mit seinem Sketsch ‚Hut ab, Helm auf‘ absagte“, fragte Schmid die Journalisten in einem der Kölner Mittwochsgespräche”. Er selbst tat es. Er schrie auf, wo immer Minister glaubten, der Kunst einen Maulkorb verpassen zu müssen. Wenn es Minister waren, die der SPD angehörten, um so schlimmer. Als der sozialdemokratische Kultusminister Baden- Württembergs Gotthilf Schenkel sich in einem Vokabular, das an vergangene Zeiten erinnerte, über die moderne Kunst äußerte und obendrein Hliermann Hesse zu verstehen gab, daß er ihn im Grunde für einen Jugendverderber hielt, war Schmid sich mit Heuss einig, daß etwas gegen diesen „Gutedel“ unternommen werden müsseS°. Da die eigene Partei sich nicht rührte, griff er, obwohl Schenkel als Kultusminister sein Vorgesetzter war, Selbst zur Feder und mahnte: „Es darf nicht wieder so werden, daß in Deutschland als Kunst gilt, was den Ministern gefällt.“ 5? Als politische Bewegung hatte der Nationalsozialismus nach 1945 keinerlei Chance mehr, sich durchsetzen, aber auf dem Gebiet der Kunst lebte die Intoleranz fort. So sah sich Schmid immer von neuem gezwungen, aufklärerisch zu wirken, politische Pädagogik zu treiben, eigentlich Selbstverständliches zu wiederholen, um einen Bewußtseinswandel herbeizuführen. Es gab wenige, die ihn dabei unterstützten, obwohl doch allen hätte klar sein müssen, daß man die in der DDR ausgeübte Zensur nur attackieren konnte, wenn man selbst die kulturelle Freiheit förderte.
Zu Beginn der soer Jahre war Schmid ein engagierter Mitarbeiter des Kongresses für kulturelle Freiheit, zu dessen Gründungsvätern er zählte. Auf der Kulturkonferenz der Europäischen Bewegung im Dezember 1949 in Lausanne war man übereingekommen, „daß unabhängige Persönlichkeiten von hohem geistigen Rang die Intellektuellen des freien Teils der Welt zu einer Demonstration gegen die in Ost und West bestehende Unterdrückung der Freiheit des Geistes aufrufen sollten“ °. Als der Kongreß für kulturelle Freiheit sich am 26. Juli 1950 in Berlin versammelte, war der Koreakrieg ausgebrochen. Die Veranstaltung, an der fast ıso Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler und Politiker teilnahmen, wurde zu einer mächtigen Demonstration gegen die Unterdrückung der Menschen in den kommunistisch regierten Ländern. Schmid schloß u.a. Freundschaft zu Francois Bondy, Ignazio Silone und Man&s Sperber, die wie er Dichter und Politiker zugleich waren. Silone und Sperber, mit dem er bis in die 7oer Jahre noch einen regen geistigen Austausch pflegte, waren politische „Konvertiten“. Sie hatten sich für die Idee des Kommunismus aufgeopfert und sich dabei die Hände schmutzig gemacht. Gebrochene Menschen, die zu entschiedenen Gegnern gegen alle Formen des Totalitarismus geworden waren. Schmid schätzte das intellektuelle Gespräch mit ihnen. Es gab aber auch eine geistig-seelische Verwandtschaft. Die Neigung, sich für eine große Menschheitsidee aufopfern zu wollen, war dem Künder des Neuen Reichs nicht fremd.
Der Kongreß war nicht nur ein Forum der Solidarität mit den Intellektuellen, denen ihr Recht auf freie Meinungsäußerung geraubt worden war, sondern auch ein Warnruf gegen die Verführbarkeit der Intellektuellen durch Ideologien. „Die Verteidigung der kulturellen Freiheit verpflichtet uns heute unseren Beitrag zur Entwicklung einer Kultur zu leisten, welche die von der gegenwärtigen Weltrevolution aufgeworfenen Probleme geistig bewältigt“, lautete ein zentraler Punkt des in Berlin verabschiedeten Manifests°‘. Schmid wurde in das internationale Exekutivkomitee und zum Vorsitzenden des deutschen Ausschusses des Kongresses für kulturelle Freiheit gewählt. Er suchte nach Möglichkeiten, die Kongreßarbeit mit der staatsbürgerlichen Bildungsarbeit zu verbinden“. Schon in seiner Schlußrede auf dem Kongreß in Berlin hatte er erklärt, daß man dem „508, der von Osten her auf Westeuropa wirkt“, nur entgegentreten könne, wenn man aus „dem Untertan des Wirtschaftsprozesses einen Bürger macht“®. Das war auch das beste Abwehrmittel gegen das Wiederaufleben der NS-Ideologie. Der Kongreß hatte nicht nur eine antikommunistische Stoßrichtung.
1953 zog sich Schmid aus der aktiven Kongreßmitarbeit zurück. Er hatte die pädagogische Wirkung der Tagungen, Seminare und Broschüren des Kongresses überschätzt, wie er überhaupt die Macht der Pädagogik immer überschätzte. Er war enttäuscht, daß die Arbeit keine vorweisbaren Erfolge gezeigt hatte, und klagte, daß der deutsche Ausschuß des Kongresses nur aus „Kränzchen und Konventikelchen“ bestehe‘%. Einige Mitglieder des Ausschusses hatten zudem gemeint, daß es nicht vorteilhaft sei, daß eine parteipolitisch so exponierte Persönlichkeit Vorsitzender des deutschen Ausschusses des Kongresses ist‘S. So fühlte er sich obendrein noch gekränkt und reagierte darauf wie so oft überaus gereizt. Distanziert hat er sich von der Arbeit des Kongresses nie, auch nicht, als man munkelte, der CIA habe ihn gefördert.
Er räumte der geistigen Auseinandersetzung mit den totalitären Bedrohungen von rechts und von links Vorrang ein vor der strafrechtlichen Verfolgung der „Feinde der Demokratie“. Freilich, an der Ausarbeitung des ersten Strafrechtsänderungsgesetzes nahm auch er aktiv Anteil. Es war neben .der Wiedergutmachungsgesetzgebung die einzige Materie, mit der er sich im Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht beschäftigte. Die Panik vor einem kommunistischen Umsturz hatte auch ihn ergriffen. Bei der Formulierung der Republikschutzbestimmungen war er weniger liberal als sein Parteifreund Adolf Arndt und näherte sich des öfteren der Regierungsposition an°. Nach der Verabschiedung des Gesetzentwurfes konstatierte er dann allerdings selbst, daß die Richter es schwer haben werden, das Gesetz richtig und angemessen anzuwenden‘”. Es wurde zu einer einseitigen Waffe gegen die Kommunisten, gegen die unverhältnismäßig hohe Strafen verhängt wurden. Als nach dem Verbot der KPD im Jahre 1956 gegen die Kommunisten in einer Weise vorgegangen wurde, die eher dem Geiste des Jahres 1933 entsprach als dem eines demokratischen Staates, gehörte Schmid zu den ersten, die eine Änderung der geltenden Gesetze verlangten‘®.
Scharf auf dem linken und blind auf dem rechten Auge war er nicht, wie einige mutmaßten, denen er zu oft betonte, daß man den „kleinen Pg’s den Weg zur positiven Mitarbeit im Staat öffnen“ solle®. Wenn man sie ins Abseits drängte, bestand die Gefahr einer Radikalisierung. In diesem Punkt wußte er sich mit Kurt Schumacher einig, der auch Schmids Bemühungen um die Integration der ehemaligen HJ-Führer und den Aufbau des Jugendsozialwerks rückhaltlos unterstützt hatte. Daß Schmid darüber „ein mutiges Wort nach draußen sprechen“ wollte, ging Ollenhauer aber dann entschieden zu weit. Die SPD müsse die „Partei der Opfer des Faschismus“ bleiben’°. Vermutlich hatte Ollenhauer mit seinen Vorbehalten sogar recht. Der Einsatz für die ehemaligen HJ-Führer wäre in der Öffentlichkeit genauso mißinterpretiert worden, wie er von späteren Historikern mißinterpretiert wurde, die darin eine Förderung des Rechtsradıkalismus sehen wollten”‘.
Auseinander gingen die Meinungen in der SPD auch über die Haltung gegenüber den Angehörigen der Waffen-SS und den ehemaligen Berufssoldaten. Schmid wandte sich in Übereinstimmung mit Kurt Schumacher gegen eine Kollektivverurteilung der Waffen-SS’* und der ehemaligen Berufssoldaten, die ihre Mitarbeit an der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik von einer Beendigung der Kollektivschuldvorwürfe abhängig machten. Schmids Freund Speidel gehörte zu denen, die eine Ehrenerklärung für die deutschen Berufssoldaten erwarteten”3. Im April ı95ı gaben die Fraktionen des Deutschen Bundestages die gewünschte Ehrenerklärung ab. Die Schmidsche war weitaus zurückhaltender als die Adenauers, der das Kapitel einer Mitschuld der Wehrmacht ein für allemal beenden wollte und den Prozentsatz der wirklich Schuldigen für außerordentlich klein erklärte”*. Schmid, der mit Sorge die Neubildung von Stahlhelmformationen registrierte, wollte keinen Freibrief für Militaristen ausstellen: „Die Ehre des deutschen Soldaten ist nichts, das ausschließlich auf die Vergangenheit hin anzusprechen wäre; diese Ehre gilt es heute noch zu realisieren, dadurch daß man zu dem heutigen Staat, in seinem Lande wirkend, gebend in das Treueverhältnis tritt, auf das man — mit Recht – seine Ansprüche gründet.“ 75
Als fünf Jahre später der Leiter der Marineabteilung im Verteidigungsministerium Karl Adolf Zenker Doenitz und Raeder zu Vorbildern für die zukünftige Bundeswehr erklärte, war es Schmid, der im Bundestag dessen Entlassung forderte, denn Zenker habe den „Geist der Menschlichkeit, der Menschenwürde und der Menschenrechte“, an dem sich demokratische Streitkräfte auszurichten haben, untergraben”®. Nur wer sich dem Ideal des Staatsbürgers in Uniform verpflichtet fühle, habe ein Recht auf Wiederherstellung seiner Ehre. Die Verteidigung Zenkers durch Angehörige der Regierungskoalition beweist, daß das so selbstverständlich nicht war.
Heftig umstritten innerhalb der SPD war Schmids Intervention zugunsten der Landsberg-Häftlinge. In Landsberg saßen die in den Nürnberger Nachfolgeprozessen verurteilten Kriegsverbrecher ein. 28 von ihnen waren zu Tode verurteilt worden. Einer von ihnen war Martin Sandberger, der Tübinger NS-Studentenführer, dem es Schmid in den dreißiger Jahren zu verdanken hatte, daß er nicht in die Hände der Gestapo geriet. Sandberger hatte in Estland das Kommando zu Massenerschießungen gegeben’”. Schmid kümmerte sich seit 1949 um die Landsberg-Gefangenen”‘, vor allem Sandbergers wegen, in dessen Schuld er sich glaubte. Der Mörder Sandberger verblaßte bei ihm hinter dem Retter Sandberger. Die in den Nürnberger Nachfolgeprozessen gefällten Urteile waren allgemein umstritten”, So konnte Schmid rechtliche Erwägungen geltend machen, als er McCloy bat, die ergangenen Urteile noch einmal zu überprüfen. Kurt Schumacher erklärte sich Anfang 1951 einverstanden damit, daß Schmid und einige weitere Mitglieder der SPD-Fraktion McCloy um die Begnadigung der Landsberg-Häftlinge ersuchten. Schmid argumentierte gegenüber dem amerikanischen Hochkommissar mit dem Grundgesetz in der Hand: „War der Entschluß des deutschen Volkes, auf die Todesstrafe grundsätzlich zu verzichten, gut, dann müssen die Galgen in Deutschland abgebrochen werden, ungeachtet der Scheußlichkeit vergangener und zukünftiger Verbrechen.“ 8°Am 31. Januar 1951 begnadigte McCloy 21 der 28 zum Tode Verurteilten. Unter den Begnadigten befand sich auch Sandberger, der wie die anderen Landsberg-Häftlinge auch 1958 aus der Haft entlassen wurde. Schmid hatte sich schon zuvor bei McCloy für die Freilassung Sandbergers eingesetzt°‘. Gerechtfertigt war diese Milde, die einem übertriebenen persönlichen Schuld- und Dankgefühl entsprang, nicht
Als Schmid McCloy auf das Grundgesetz verwies, wollte er auch zum Ausdruck bringen, daß die Aufarbeitung der Vergangenheit nur Sache der Deutschen selbst sein konnte. Dies erklärt auch seine Haltung in der Naumann-Affäre, mit der er sich in SPD-Kreisen viel Kritik einhandelte. Der ehemalige Staatssekretär im Goebbelschen Reichsprogandaministerium Werner Naumann war in der Nacht vom 14. auf den rs. Januar 1953 auf Veranlassung des britischen Hochkommissars Kirkpatrick zusammen mit sechs weiteren Teilnehmern des von ihm gegründeten „Freundeskreises für Wirtschaft und Kultur“ verhaftet worden. Die Briten fürchteten, daß es sich bei dem Naumann-Kreis um einen konspirativen Zirkel handle, der durch Unterwanderung der Lizenzparteien die Machtergreifung in der Bundesrepublik vorbereite®?. Schmid verurteilte ebenso wie die Bundesregierung das Vorgehen der Briten: „Keinesfalls (…) kann es Sache irgendeiner Militärregierung, die sich zur Demokratie bekennt, sein, zu bestimmen, wer sich in Deutschland politisch betätigen darf und wer nicht.“®3 Die Parteien müßten bemüht sein, die ehemaligen Nationalsozialisten in ihre Reihen aufzunehmen, um sie nicht in den „Schmollwinkel“ zu treiben, in dem sie der Radikalisierung zugetrieben würden**.
Nun war Naumann kein kleiner Pg., und Schmid wurde sonst nicht müde, zu betonen, daß führende ehemalige Nationalsozialisten sich politische Zurückhaltung auferlegen müßten. Wiederholt hatte er die Bundesregierung wegen der zahlreichen „Ehemaligen“, die in den Bundesministerien saßen, angegriffen®®. Buhlte Schmid um die Stimmen der Ehemaligeng’wie ihm in der Presse und in SPD-Kreisen vorgeworfen wurde?°® In der SPD nahm man die Naumann-Affäre zum Anlaß, um der Bundesregierung vorzuhalten, daß sie durch „ihr aktives und passives Verhalten“ das Eindringen der Nationalsozialisten „in politische, wirtschaftliche und amtliche Positionen“ ermöglicht habe”. In der Debatte über die Naumann- Affäre im Bundestag spendete Schmid nicht seiner eigenen Partei, sondern der Bundesregierung Beifall®®. Hielt er die Vorwürfe seiner Partei, die Bundesregierung fördere den Neonazismus für unberechtigt? Oder fürchtete er, daß solche Vorwürfe im Ausland Mißtrauen hervorriefen und die Identifizierung des deutschen Volkes mit der Bundesrepublik er schwerten? Die letztgenannten Gründe spielten vermutlich eine entscheidende Rolle für Schmids Haltung in der Naumann-Affäre, die im Widerspruch zu seinen sonstigen Äußerungen stand”.
Seine Kampfansage gegenüber dem Neonazismus hatte er nicht zurückgenommen. „Keine Demokratie kann ohne Wachsamkeit bestehen“, war eine ständig von ihm wiederholte Devise?®. Wachsamkeit verlangte er vor allem von den Bürgern der Bundesrepublik. Der Proteststurm, der sich im Sommer 1955 gegen die Ernennung des rechtsradikalen Kreisen nahestehenden FDP-Politikers Schlüter zum Kultusminister Niedersachsens erhob, war für Schmid „ein Markstein zu einem guten Wege“? ‚. Die Schlüter- Affäre zeigte, daß auch bei den Deutschen der Untertanengeist langsam einem demokratischen Bewußtsein wich. Adenauer, noch ganz dem obrigkeitsstaatlichen Denken des Kaiserreichs verhaftet, mißfiel es, daß Schmid „Unruhe“ zur „Bürgerpflicht“ erklärte??. Schmid selbst war kein Freund des Plebiszits, aber er hielt, weil er im Nationalsozialismus eine Folge der Massengesellschaft sah, das aktive politische Engagement der Bürger für die beste Gewähr gegen die totalitären Verführungen von rechts und links. Die aufgeklärte Bürgergesellschaft war sein Ideal. Er selbst wirkte als Aufklärer und politischer Pädagoge. Als Präceptor Germaniae gewann er Ansehen. Sein Name wurde in einem Atemzug mit dem Heuss’ genannt. Nur Außenstehende konnten glauben, daß ihn diese Rolle befriedigte, ihm ganz und gar auf den Leib geschnitten sei. Er war in die Politik gegangen, um seine Utopien und Visionen zu verwirklichen, um an führender Stelle einer anderen Form von Politik zum Durchbruch zu verhelfen. Dazu brauchte er ein Amt und den zähen Willen, sich innerhalb seiner Partei durchzusetzen, in der noch viel Ballast über Bord zu werfen war. Daß er es als Außenseiter schwer haben würde, dürfte ihm klar gewesen sein. Aber er hatte doch gehofft, daß er sich durch seine geistige Überlegenheit bald Anerkennung verschaffen könne.
Die Partei ist nicht „geistige Heimat“
Die programmatische und organisatorische Erneuerung der SPD war 1950 kaum weiter fortgeschritten als 1947. Die auf der Kulturkonferenz in Ziegenhain in Gang gebrachte Programmdebatte wurde hinter den verschlossenen Türen des kulturpolitischen Ausschusses weiter geführt. Schmid beteiligte sich nicht daran. Er war viel zu ungeduldig, um sich weitschweifige Diskussionen anzuhören, die sich oft nur im Kreise drehten. Er hatte schließlich besseres zu tun, als seine Zeit zu versitzen und zu verschwätzen. Daß ihm die Parteireform viel zu langsam voranging, war bekannt und brachte ihm Mißtrauen von allen Seiten ein. Nicht nur bei den alten Parteifunktionären, auch im Parteivorstand gab es Vorurteile gegen den Newcomer, diesen elitären Professor, der sich so schwer einordnen ließ, der aber ganz offensichtlich der Partei eine Reform an Haupt und Gliedern zu verordnen gedachte.
Gleich bei mehreren Parteivorstandsmitgliedern kam Argwohn auf, als bekannt wurde, daß Schmid auf dem Hamburger Parteitag im Mai 1950 das kulturpolitische Hauptreferat halten sollte. Henßler schlug Eichler als Referenten vor, denn in der Öffentlichkeit entstehe immer mehr der Eindruck, „daß neben Schumacher nur noch Carlo Schmid zu wichtigen Problemen Stellung nehmen könne“ !. Kurt Schumacher wischte Henßlers Argument vom Tisch. Carlo Schmid sei inzwischen „als Verfassungsexperte hinter Arndt und Zinn zurückgetreten“ ?. Er dekretierte Schmid als Referenten, wobei er mit einem etwas abschätzigen Unterton hinzufügte, daß dieser „unzweifelhaft eine ansprechende Art (habe), zu den kulturpolitischen Problemen die Haltung der Partei darzustellen“ 3. Der Parteivorsitzende hatte aus wohlüberlegten Gründen Schmid als Referenten ausersehen. Er wollte seinen Rivalen vom Gebiet der Außenpolitik auf das der Kulturpolitik abschieben, wo er Intellektuelle und bürgerliche Wählerschichten für die SPD gewinnen konnte. Der „Schöngeist“ Schmid sollte als bürgerliches Aushängeschild fungieren. Der Nelsonianer Eichler war zwar kein Marxist, aber er war tief in den Traditionen der Arbeiterbewegung verwurzelt. Eine große Anziehungskraft auf bürgerliche Wähler übte der sozialdemokratische Cheftheoretiker nicht aus*. Schoettle, der mit Carlo Schmid nicht gut konnte, murrte. Eine „professorale Glanzleistung“ Schmids müsse auf jeden Fall „verhindert“ werden. Schmid sollte nicht zum Star des Parteitages werden und er sollte auch nicht über die Köpfe der vielen Delegierten hinwegreden.
Schmid freilich dachte überhaupt nicht daran, den Professor in sich zu verleugnen. In seinem Referat über „Die SPD vor der geistigen Situation dieser Zeit“ nahm er wenig Rücksicht auf den geistigen Horizont der vielen Parteitagsteilnehmer. Es war zumindest im ersten Teil mehr der Versuch einer Selbstverständigung als der Auftakt zu einer programmatischen Debatte. Er selbst wies einleitend darauf hin, daß er „keine Programmdebatte auslösen“ wolle, „sondern eine Debatte über die Voraussetzungen, von denen aus dereinst die Programmdebatte zu führen sein wird“. Eine tour d’horizon über die Wissenschaftsgeschichte, in der er den historischen Materialismus zu widerlegen versuchte, bildete den Einstieg ins Thema. Sorel, Freud, C.G.Jung und Max Weber wurden als Autoritäten zitiert, um darzulegen, daß der Mensch „nicht ausschließlich das Produkt der materiellen Umwelt“ ist”. Und schließlich konnte Karl Marx selbst als „der lebendigste Beweis für die Richtigkeit des Wortes Hegels“ genommen werden: „Ist erst einmal das Reich der Vorstellungen revolutioniert, so hält das die Wirklichkeit nicht aus“°®. Die Entfremdungskritik des jungen Marx hatte nichts an Aktualität eingebüßt. Auch die Menschen des 20. Jahrhunderts litten darunter, „daß durch die Mechanisierung der Produktionsverhältnisse eine allgemeine Mechanisierung der Lebensverhältnisse überhaupt eingetreten ist, als deren Folge der Mensch sich selber entfremdet wurde“. Der romantisch-ästhetische Protest gegen die Moderne verband Schmid, der kein Marxist war, mit dem jungen Marx, auf den er sich gern und oft berief. Freiheit und Selbstverwirklichung verstand der Existentialist Schmid als etwas dem Menschen Aufgegebenes: „Jeder Mensch ist gezwungen, sich für eine Ethik zu entscheiden und hat mit der Entscheidung für die Folgen auch dieser allgemeinen Grundentscheidung einzustehen.“’° Schmid versuchte den Existentialismus mit der wissenschaftlichen Analyse sozialökonomischer Tatbestände zu verbinden. Er fragte sich, wie sich der Existentialismus und der Emanzipationskampf der Arbeiter vereinbaren ließe, wie der solitaire zum solidaire wurde. Das war die Frage, die ihn persönlich bewegte. Bei den Delegierten des Parteitages fand seine These, daf3 der Mensch frei sei, „nicht dort, wo er erträglich behandelt wird, sondern wo er selbst die Formen und Inhalte seines Lebens gestalten kann“, nur verhaltenen Bei- Zallık
Der zweite Teil des Referates war verständlicher. Die SPD brauche kein Dogma, aber eine „Doktrin“, ein Koordinatensystem, auf das die konkrete Situation bezogen werden kann, so daß „alle Einzelentscheidungen, die die Partei trifft, sich zu einer Linie aufreihen lassen, die vom jeweiligen Standort aus nach dem Ziele weist“ ‚*, Weil die Partei keine „Ersatzkirche“ sei, könne sie keine Aussagen über den letzten Sinn des Daseins machen und somit auch weder Ja noch Nein zu Religion, Kirche und Christentum sagen‘?. Was wie eine Binsenwahrheit klingt, mußte immer wieder gesagt werden, denn noch immer gab es Parteifunktionäre, die sich kirchenfeindlich äußerten’*. Einige Genossen fühlten sich auch sogleich vor den Kopf gestoßen, als er erklärte, daß die Partei dem einzelnen nicht die „letzten Entscheidungen abnehmen“ und auch nicht das bieten könne, „was man eine geistige Heimat nennt“. Zur „geistigen Heimat“ werde die Partei erst dadurch, daß jeder sich „an seine persönliche Entscheidung wagt und dann für die Entscheidung einsteht, für die sich die Partei ausgesprochen hat“ 5. Wer sich dem einmal gebildeten Parteiwillen nicht zu beugen vermöge, der habe in den „Schatten“ zu treten’,
Schmid hatte sein Verhältnis zur SPD dargestellt, das freilich nicht dem der Mehrheit der Parteitagsdelegierten entsprach. Außerordentlicher, starker und lang anhaltender Beifall wurde dem Referenten trotzdem zuteil. Von den nachfolgenden Rednern hatte anscheinend nur der Mitbegründer des SDS Heinz-Joachim Heydorn die existentialistische Herausforderung des Schmidschen Referates ganz begriffen‘?. Für die meisten war das Referat zu philosophisch-abstrakt und im Grunde auch zu unpolitisch. Willy Brandt bemängelte nicht ganz zu Unrecht, daß Schmid zu wenig auf die Gefahren, die sich durch die „neuen politischen und wirtschaftlichen Machtzusammenballungen“ ergeben, eingegangen war. Brandt wollte, daß in der Programmdebatte die Probleme „Technik der Machtbehauptung und der Massenbeeinflussung“ und der Verbürokratisierung des gesellschaftlichen Lebens stärker berücksichtigt werden’®. Auch Fritz Erler übte berechtigte Kritik. Er meinte, Schmid habe zu wenig die Möglichkeiten der SPD ausgelotet, ein ihr „feindliches gesellschaftlich-geistiges Klima zu verändern“ ‚?. Eichler sprach vermutlich vielen Traditionalisten aus dem Herzen, als er Schmid vorhielt, aus der SPD „eine x-beliebige Partei“ gemacht zu haben, obwohl ihr doch aufgegeben sei, die großen Menschheitsideale zu verwirklichen”, Der frühere Vorsitzende des ISK glaubte, daß die SPD auf den „Kern einer Weltanschauung“, auf eine „Übereinstimmung im Sittlichen und Moralischen“ nicht verzichten könne, die dem „Wunschbild der geistigen Heimat“ nahekomme?“. Eichlers Verhältnis zur Partei und sein Verständnis von Sozialismus ließ sich mit dem Schmids nicht vereinbaren. Es wundert nicht, daß sich Schmid an der Arbeit der von Eichler geleiteten Programmkommissionen nicht beteiligte. Es gab kaum sachliche Gemeinsamkeiten und schon gar keine persönlichen: Eichler war Antialkoholiker und Vegetarier. 1952 schied Schmid aus dem kulturpolitischen Ausschuß aus, nachdem der Parteivorstand Arno Hennig als Vorsitzenden des Ausschusses abgesägt hatte. Schmid war verärgert über das Verhalten der Parteiführung gegenüber Hennig”.
Erlers Einwände ließ Schmid gelten: „Es ist richtig, wir müssen (…) die Argumente finden, die den Ohren der Menschen dieser Zeit am angepaßtesten sind. Aber vielleicht werden unsere Argumente weniger wichtig sein als die Impulse, die von uns ausgehen und weniger wichtig als unsere Glaubwürdigkeit.“ Schmid war, das konnte man auch seinem Referat entnehmen, mittlerweile skeptisch geworden, ob es überhaupt ratsam war, ein Programm im alten Stil zu entwerfen. Hatten die bisherigen Programme die Partei nicht allzu lange davon abgehalten, die eigentlichen Aufgaben in Angriff zu nehmen? Ein kurzes konkretes Regierungsprogramm erschien ihm dringlicher”*.
Zunächst einmal mußte die in der Partei noch immer vorherrschende Mentalität der Lager- und Solidargemeinschaft überwunden werden. Der Widerstand dagegen war zäh. Seit er sich nicht mehr so richtig um den Landesverband Württemberg-Hohenzollern kümmern konnte, gewannen auch dort die Traditionalisten wieder an Oberwasser. Im Frühjahr 1951 redete er den schwäbischen Parteifreunden ins Gewissen: „Wir werden in den nächsten Jahren erleben, daß die Zahl der Parteimitglieder sinkt und die der Wähler steigt. Die Zeit, in der die Menschen glaubten, die Beziehung zu einer politischen Stellungnahme erfordere auch den Eintritt in eine Partei, ist vorüber. Wenn die Anzahl unserer Mitglieder natürlich auch eine Frage auf Leben und Tod sein kann, so müssen wir doch das Hauptaugenmerk unserer Arbeit darauf legen, Wähler zu gewinnen.“ *°
Nur langsam gelang es, Kontakte zu anderen gesellschaftlichen Gruppen herzustellen. Befriedigend war das Verhältnis zur evangelischen Kirche, genauer gesagt, zum Bruderrat der evangelischen Kirche. Schmid hatte, ungeachtet seines römisch-katholischen Taufscheins, an den Aussprachen zwischen der SPD und dem Niemöller-Flügel der EKD teilgenommen. Er suchte auch das Gespräch mit Landesbischof Lilje und dem Bevollmächtigten des Rates der EKD bei der Bundesregierung in Bonn Hermann Kunst”. Weitaus mühsamer war es, Verbindungen zur katholischen Kirche herzustellen. Auch Schmid tat sich da schwer. Als die katholische Kirche 1950 das Dogma von der leiblichen Himmelfahrt Marias verkündete, vermutete Schmid dahinter eine ausgesprochen politische Absicht: „Man wollte sehen, wieviel die nicht katholische Welt sich zumuten läßt“. Hermann Kunst schrieb er, daß der Protest der evangelischen Kirche gegen das neue Dogma entschiedener hätte ausfallen müssen?”. Ebenso gespannt wie das Verhältnis zur katholischen Kirche war das Verhältnis der SPD zur Wirtschaft. Schmid hatte Kontakt zu Otto A. Friedrich, dem Vorsitzenden der Phoenix-Gummi-Werke A.G., geknüpft und diesen gegenüber der SPD aufgeschlossenen Unternehmer auch mit Kurt Schumacher zusammengebracht”®. Doch das reichte nicht aus, um das Mißtrauen zwischen SPD und Wirtschaft abzubauen.
Besonders zornig war Schmid, daß sich die Partei so wenig um die Jugend und die Rekrutierung des Begabtennachwuchses kümmerte. Schmid mahnte die Parteifreunde, sich nach fähigem Nachwuchs für die Stellen in der Ministerialbürokratie umzusehen. Wenn man warte, „bis die Partei im Wege von Schulungskursen Ministerialdirektoren gemacht hat“, müsse man „lange warten“ ?%. Die schwäbischen Parteifreunde bekamen zu hören, daß die „Vorstellung vom südwürttembergischen Kadettenkorps, dem man aufgrund des Parteiadels des Vaters angehöre, endlich verschwinden“ müsse3°.
Schmids Kritik war berechtigt, aber so wie er sie vortrug, brachte sie ihm den Vorwurf der Arroganz ein. Mit seinem bissigen Sarkasmus machte er sich Feinde in der Partei und in der Fraktion, wo er gern zu verstehen gab, daß ihm die ganze Diskussion viel zu stupide war3″. Er beteiligte sich auch höchst selten an der Fraktionsdiskussion, nicht zuletzt deshalb, weil die wichtigen Entscheidungen oft schon gefallen waren, ehe man sich in der Fraktion die Köpfe darüber heiß redete3?, und eine freie Aussprache unter einem Fraktionsvorsitzenden Kurt Schumacher nicht möglich war. Seine Egozentrik machte den Umgang mit ihm nicht immer leicht. Sein geistiger und persönlicher Habitus stempelte ihn zum Außenseiter. Seine Bildung wurde bewundert, aber mit dem „Stefan-George-Mann“ konnte man nichts anfangen, und manchmal trug er auch seine Bildung vor sich her wie ein Schild, um von seiner inneren Zerrissenheit abzulenken. Sein Pathos wirkte pompös und übertrieben. Je frustrierter er war, um so mehr flüchtete er sich in Selbststilisierungen. Man hörte dem Causeur gern zu, aber nahm ihn doch nicht ganz ernst. Daß er dichtete, anstatt Akten zu studieren, machte ihn zum Kuriosum und galt obendrein bei nicht wenigen in der Partei als unseriös. Sein großzügiger Lebensstil und sein unkonventionelles Privatleben erregten Anstoß. Der Künstler neigte zu einem €pater le bourgeois, das bei den Genossen Unverständnis und Entrüstung hervorrief. Für Kurt Schumacher und für viele andere in der Partei war er, unabhängig von der politischen Einschätzung, eine Art „Paradiesvogel“*, auf dessen Kenntnisse und Erfahrungen man freilich nicht verzichten wollte. Aber wer konnte ihm schon folgen, wenn er politische Probleme philosophisch-literarisch anging. Er sei „kein Handwerker der Politik“, sagte er selbst von sich?5. Daß er an interfraktionellen Gesprächskreisen teilnahm, erregte Arwohn?®. Er stand immer etwas im Verdacht, mit dem Klassenfeind zu kooperieren.
Die Parteireformer, die auf ihn gehofft hatten, waren bitter enttäuscht. Daß er sich Kurt Schumacher unterordnete, sich dem Parteiwillen beugte, konnten sie nicht verstehen. Sein stetes Bemühen, aufgerissene Gräben zuzuschütten, die Polarisierungen zu dämpfen, wurde nicht honoriert. Als Verteidiger der Parteilinie verhedderte er sich in Widersprüche. Standpunktlosigkeit wurde ihm vorgeworfen, Unsicherheit in der Beurteilung politischer Vorgänge?’. War seine Überanpassung fehl am Platz, wie ein verfasserloser vertraulicher Informationsbericht aus dem Jahre 1952 meinte? 3° Gewiß, die Rolle des braven Parteisoldaten nahm ihm niemand ab, und er spielte sie manchmal auch nicht besonders gut. Aber wie hätte er, der nicht einmal über eine Hausmacht verfügte, sich gegen Kurt Schumacher und den Parteiapparat durchsetzen sollen? Er befand sich in einer geradezu tragischen Situation. Er sah, daß er ins zweite Glied abgedrängt wurde und wußte kein Mittel, sich dagegen zu wehren??. Mag sein, daß mehr Konfliktbereitschaft seine Position gestärkt hätte, aber der Partei hätte sie geschadet, und Schmid war Anfang der soer Jahre nicht sicher, daß Bonn nicht doch Weimar würde.
„Als Kurt Schumacher am 20. August 1952 starb, war Schmid schon lang kein Thronprätendent mehr. So mag er bei der Nachricht über dessen Tod tatsächlich Trauer empfunden haben. Er mag Kurt Schumacher manchmal gehaßt haben wegen des außenpolitischen Irrwegs, den er der Partei zu gehen befahl. Ein „Unglück“ für die Partei soll er ihn einmal genannt haben*#°. Aber er bewunderte ihn auch wegen seines unbeugsamen Führungswillens und seiner Leidensfähigkeit, die für den Baudelaire-Liebhaber Schmid die größte Gnade war. Der Bürgersohn Schumacher hatte die Notwendigkeit einer Parteiöffnung zumindest erkannt, und ihm folgten die Parteitraditionalisten fast widerspruchslos. Schmid wußte mittlerweile, wie schwerfällig der Parteiapparat war. So verband er mit dem Tod Schumachers keine Hoffnung auf eine Änderung der parteipolitischen Linie. Etwas Verbitterung schwang trotzdem mit, als er in späteren Jahren feststellte: „Seine Worte blieben lebendig und auch der Geist, den er der Partei eingeflößt hatte. Manchen wurden Wegweisungen, die er gegeben hatte, zu Glaubensartikeln eines dogmatischen Katechismus.“ *‘
Daß Ollenhauer die Nachfolge Schumachers antrat, war ausgemachte Sache. Schmids Name wurde nicht einmal in Erwägung gezogen. Allein Francois-Poncet bedauerte zutiefst, daß Schmid nicht als Nachfolger vorgeschlagen wurde. Aber auch er mußte sich eingestehen, daß sein Wunschkandidat innerhalb der Partei zu umstritten war, um sich durchzusetzen*. Für die Franzosen blieb es aber unbegreiflich, daß ein Mann vom geistigen Format Schmids ins politische Abseits gestellt wurde. Ollenhauer, der Emporkömmling aus der Arbeiterbewegung, war die lebendige Verkörperung der Parteitradition. Für Schmid war er der geborene Parteivorsitzende, aber kein zukünftiger Bundeskanzler. Daß Ollenhauer ein Biedermann sei, stand in allen Zeitungen*. Schmid hat ihn nie so apostrophiert, obwohl Ollenhauer kein adäquater Gesprächspartner für ihn war. Sokratische Dialoge konnte er mit ihm nicht führen. Persönlich mochte er ihn ganz gern**. Der neue Parteivorsitzende war humorvoll und fair und wie Schmid ein Mann des Kompromisses, hielt allerdings zäh an einmal eingenommenen politischen Überzeugungen fest. Ollenhauer war nicht der Mann, der die von Schmid gewünschte Parteireform vorantrieb. Die Parteifunktionäre bekamen durch ihn Auftrieb, die Parteiorganisation wurde durch ihn gestärkt. Gleich in der ersten Parteivorstandssitzung nach Schumachers Tod schlug er vor, daß künftig der Parteivorstand alle zwei Wochen tagen solle*S
In der Sitzung suchte man verzweifelt nach einem Stellvertreter für Ollenhauer. Auch Schmids Name fiel*°. Aber Gott bewahre ihn davor! Dessen Hauptaufgabe war die Koordinierung der Arbeit im Parteivorstandsbüro. Eine Menge Organisationsaufgaben kamen auf den zweiten Vorsitzenden zu und obendrein hatte er den Friedensstifter bei innerparteilichen Streitigkeiten zu spielen. Das war Schmids Sache nicht. Er sprach sich dafür aus, ein Schattenkabinett wie in England zu bilden?”. Die Rolle des Schattenaußenministers wäre ihm wie auf den Leib geschnitten gewesen. Aber im Parteivorstand konnte man sich für seine Idee nicht begeistern.
Auf dem Parteitag in Dortmund Mitte September wurde Erich Ollenhauer mit überwältigender Mehrheit zum Parteivorsitzenden gewählt, der Fraktionssekretär Wilhelm Mellies aus Verlegenheit, weil man niemanden besseren fand, zu seinem Stellvertreter. In der Presse war gelegentlich von einer Abhalfterung Schmids die Rede, von einem Einflußverlust der Intellektuellen innerhalb der SPD*°. Dem konnte man kaum widersprechen. Schmid mußte den Parteitag als eine schwere Niederlage empfinden. Man hatte ihn gezwungen, darzulegen, warum er sich dem Parteiwillen gebeugt hatte und die Teilnahme am Empfang der Volkskammerdelegation abgesagt hatte*?. Sein kurzer Beitrag zur Außenpolitik war, wie Francois- Poncet zu Recht kritisierte, völlig „diffus“ 5°. An wohlmeinenden Außenstehenden, die ihm Erfolg wünschten und ihm den Rücken zu stärken versuchten, fehlte es nicht‘‘. Er aber war niedergeschlagen und sah in dem ganzen politischen Geschäft nur noch ein „Wassertreten“ 5?
Nach und nach ließ sein politischer Einsatz nach. Er ließ die Zügel hin und wieder streifen. Gewiß, die Partei hatte ihn auch überfordert bzw. er selbst hatte sich zuviel aufgebürdet. Wie sollte er die Aufgaben und Ämter noch alle miteinander vereinbaren? Bundestagsvizepräsident, Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, Mitglied des Ausschusses für Verfassungsrecht und Rechtswesen, stellvertretendes Mitglied des Ausschusses für Verfassungsschutz, Mitglied des Partei- und Fraktionsvorstandes und zahlreicher Parteiausschüsse und -gremien, bei deren Sitzungen er freilich nur selten anwesend war. Als Redner wurde er von der Partei landauf, landab geschickt. Die nötigen Außenkontakte sollte er herstellen. Die Genossen im Südwesten waren ungehalten darüber, daß er sich dort sö wenig sehen ließ. Dabei dachte er unentwegt an seine schwäbische Heimat. Den Kampf um den Südweststaat hatte er im Bundestag auszufechten. Sein Schwabenherz schlug heftig. Selten agierte er im Bundestag so kämpferisch wie in der Südweststaatsfrage. Selbstverständlich gehörte er auch dem Bundestagsausschuß für innergebietliche Neuordnung an°3. Und obendrein war er auch noch Professor in Tübingen. Samstags und montags brachte er den dortigen Studenten die Grundbegriffe des Völkerrechts bei. Sechs Stunden brauchte er um die Wegstrecke Bonn-Tübingen zurückzulegen.
Obwohl er es zu verbergen versuchte, merkte fast jeder, daß seine Gesundheit ziemlich lädiert war. „Die Bonner Mühlen zermahlen diese Männer und sie mahlen rascher als die Mühlen Gottes“, schrieb Erich Kuby nach einem Besuch bei Schmid in der „Süddeutschen Zeitung“°* . Bereits Anfang 1952 hatte Lydia Schmid Ollenhauer eindringlich gebeten, ihren Mann davon zu überzeugen, daß er dringend ausspannen müsse. Er sei” völlig erschöpft. Ollenhauer hatte das auch schon festgestellt, glaubte aber, auf die Mitarbeit seines Parteifreundes nicht verzichten zu können. In der Sommerpause konnte er sich nicht ausruhen, sondern mußte sich einer martialischen Abmagerungskur in Berchtesgaden unterziehen. Erich und Marta Ollenhauer, die ihm Urlaubsgrüße aus Österreich übersandt hatten, schilderte er halb scherzhaft, halb ernst seine Qualen: „Ich (…) bekomme seit ro Tagen nichts als drei Tassen Tee und eine Flasche Sprudel ä 24 Stunden und habe dazu 4-5 Stunden bergauf, bergab durch Wälder, Wiesen und Fels zu rennen und in den Zwischenstunden zerfleischt mich eine Masseuse mit Armen wie Feuerwehrschläuche. Im September wollte er wieder in Bonn sein, der Stadt, der er an manchen Tagen am liebsten den Rücken zugekehrt hätte.
Gelegentlich mag er mit diesem Gedanken gespielt haben. Sein Amt als Justizminister Württemberg-Hohenzollerns gab er erst im Mai 1950 nach mehrmaligem Drängen Gebhard Müllers auf‘. Der für seinen Geiz bekannte Ministerpräsident Württemberg-Hohenzollerns mochte es nicht einsehen, daß Schmid ein Ministergehalt einsteckte, obwohl er nie im Lande war. Im Mai 1951 schlug die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Tübingen Schmid als Richter für das Bundesverfassungsgericht vor. Er hatte sich mit der Nominierung einverstanden erklärt‘. Die Bundesregierung beschloß einen Monat später, Schmid das Amt des Vizepräsidenten am Bundesverfassungsgericht anzutragen‘”. Dehler übermittelte den Vorschlag: „Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen zu sagen, wie sehr ich aus meiner Verantwortung für die Wirksamkeit des Bundesverfassungsgerichts es begrüßen würde, wenn Sie diesem Kollegium an hervorragender Stelle angehören könnten.“°‘ Politisches Kalkül mag dahinter gestanden haben. Wenn Schmid das Amt des Vizepräsidenten am Bundesverfassungsgericht übernahm, würde er vielleicht seine Partei zur Räson bringen, die durch den Gang nach Karlsruhe die Außenpolitik der Bundesregierung zu bremsen versuchte. Schon im Frühjahr 1950 scheint Adenauer allen Ernstes erwogen zu haben, Schmid zum Generalkonsul in Paris zu machen, um ihn für seine Europapolitik einzuspannen‘, Er ging weder nach Karlsruhe noch nach Paris. Trotz aller Frustration konnte er von der Politik nicht lassen. Wahrscheinlich hatten die Parteifreunde ihn auch am Portepee gefaßt. Sein Rückzug aus der Bundespolitik wäre als ein Zeichen dafür gewertet worden, daß die SPD zu Recht als engstirnige Funktionärspartei angesehen wurde.
Im November 1952 wurde ihm von verschiedenen Seiten das Amt des Kultusministers in Stuttgart in Aussicht gestellt. Doch so attraktiv war der Posten nicht, wie es auf den ersten Blick schien. Die SPD-DVPGB/ BHE-Koalition in Baden-Württemberg stand auf wackeligen Beinen. Es konnte durchaus sein, daß er das Amt in kürzester Zeit wieder verlieren würde. Ein solches Risiko wollte er dann doch nicht eingehen“. Victor Renner, einer der wirklichen Freunde Schmids, unternahm in Stuttgart zaghafte Versuche, mit der CDU ins Geschäft zu kommen. Ein Ministerposten in Baden-Württemberg in einer Großen Koalition aus CDU und SPD hätte Schmid eine solide Hausmacht verschafft“+. Die Freunde im Südwesten beklagten Schmids Einflußverlust in Bonn nicht weniger als die Franzosen, die noch immer beeindruckt waren von dem „exzellenten“ Regierungschef Württemberg-Hohenzollerns‘S.
In Bonn unterhielt sich der Französische Hochkommissar mit Schmid über die Möglichkeit einer Großen Koalition. An eine Mehrheit der SPD glaubte der die Dinge nüchtern betrachtende sozialdemokratische Außen seiter nicht. Allenfalls mit einem Stimmenzuwachs der SPD sei zu rechnen. Ministerposten seien noch nicht vergeben worden. Nur von Herbert Wehner als Innenminister sei einige Male die Rede gewesen“. Schmid mag dies bewußt eingeflochten haben. Auch Francois-Poncet wünschte sich keinen Außenminister Wehner. Der französische Hochkommissar trat zum großen Arger Adenauers ganz offen für die Bildung einer Großen Koalition in Bonn ein”, wohl nicht zuletzt, weil er Schmid in einem zukünftigen Kabinett als Minister sehen wollte. Das war alles Wunsch, aber nicht Realität.
Am Sonntag, den 15. Februar 1953 platzten erst einmal alle Hoffnungen Carlo Schmids. An diesem Unglückstag ging er mit fast 40° Fieber ins Stuttgarter Rundfunkhaus, um sich in der Sendereihe „Vom Hundersten ins Tausende“ mit dem Frankreich-Kenner Friedrich Sieburg über dieses und jenes zu unterhalten. Schmid hatte vor dem Gespräch Tabletten genommen und trank während des Gesprächs mehr Whisky, als für ihn gut war. Nach Ende der offiziellen Aufnahme plauderte man privatim weiter. Schmid ließ seinem Frust freien Lauf und machte aus seiner abgrundtiefen Abneigung gegen den Intendanten des Süddeutschen Rundfunks Fritz Eberhard keinen Hehl. Dieser Eberhard sei doch der „letzte Dreck“. Dann folgten noch einige Schläge unter die Gürtellinie, die nicht zitierfähig sind°®. Weil Schmid nun einmal am Schimpfen war, kam auch noch Alex Möller, der damalige Vorsitzende des Verwaltungsrates des Stuttgarter Rundfunks, an die Reihe. „Typus des Opportunisten“, des Apparatschiks“. Wenn der Möller nicht „irgendwelche Flecken“ gehabt hätte, wäre er „Gauleiter“ geworden”.
Schmid hatte sich einen fürchterlichen Faux-pas geleistet. Aber alles wäre nicht so schlimm gewesen, wenn die Tontechniker nicht ohne Wissen der Gesprächsrunde das Magnetband hätten weiterlaufen lassen. Einige Tage später waren Schmids Entgleisungen in allen Tageszeitungen zu lesen. Aber damit nicht genug. Die Zeitungen wußten zu berichten, daß er Ollenhauer einen „kleinen Maurergesellen mit Spatzengehirn“ genannt habe und Schoettle vorgeworfen habe, er sei „dumm und korrupt“ 7°, „Ertrinkt Carlo Schmid in seinen Rundfunkwellen“; „Als SPD-Politiker nicht mehr tragbar“; „Stolpert Carlo Schmid über Rundfunk-Tonband“, so rauschte es’dur£h den Blätterwald”‘.
Schmid hatte sich sofort, nachdem ihm seine Äußerungen zur Kenntnis gebracht worden waren, bei Möller und Eberhard in aller Form entschuldigt7?. Möller, dem nichts Menschliches fremd war, nahm die Entschuldigung an und bat, die Tonbänder nicht abspielen zu lassen”?. Schmid hat sein ganzes Leben Möller für diese Noblesse gedankt’*. Die beiden wurden später gute Freunde. Fritz Eberhard genügte die Entschuldigung nicht. Er startete einen haßerfüllten Rachefeldzug gegen Carlo Schmid. Die angeblichen Äußerungen Schmids über Ollenhauer und Schoettle waren böswillig von ihm aufgesetzte Falschmeldungen’5. Der Name Schoettle war in dem Gespräch nicht einmal gefallen. Auch Ollenhauer hatte er nichts Böswilliges nachgesagt. Er berichtete lediglich über ein Gespräch mit dem Parteivorsitzenden: „Der Erich Ollenhauer kommt zu mir am Freitag und sagte: Carlo, du überleg dir mal übers Wochenende, weißt du nicht ein paar Leute, die gar nichts mit Politik zu tun haben, sondern die einfach Leute sind, die geistig etwas bedeuten, die vielleicht bereit sein könnten, ein Mandat für uns im Bundestag anzunehmen. Die Leute brauchen gar keine Sozialdemokraten zu sein.“ 7° Ollenhauer hatte das vermutlich nicht gesagt, aber skandalös oder sensationell war diese Parteikritik nun wirklich nicht. Daß Schmid zu viele bornierte Parteifunktionäre in der Fraktion saßen, pfiffen die Bonner Spatzen längst schon von den Dächern. Ein Skandalon waren die von Fritz Eberhard lancierten Falschmeldungen. „Die Welt“ sah auch in der ganzen Angelegenheit nicht eine Affäre Carlo Schmid, sondern eine Affäre Fritz Eberhard’”.
In der Partei und Fraktion wurde Schmid auf die „Schandbank“ gesetzt”°, und er setzte sich, von Schuldgefühlen getrieben, auch selber darauf. Man nötigte ihn, vor der Fraktion eine förmliche Entschuldigung abzugeben, in der er seine Äußerungen als „schwere Kränkung“ bezeichnete, für die er sich auch gegenüber der Partei entschuldige. Die politische Grundlinie der SPD halte er für „richtig, habe sie immer vertreten und werde sie immer vertreten“. Bei der ganzen Angelegenheit habe die „Rücksicht“ auf seine „Person auszuscheiden“. Es komme darauf an, „weiteren Schaden von der Partei abzuwenden“7®. Schmid war bereit, sein Mandat niederzulegen“°. Wenn Ollenhauer nicht seine schützende Hand über ihn gehalten hätte, wäre es vermutlich auch zum Parteiausschluß gekommen“. Mit Stimmenmehrheit nahm die Fraktion die Entschuldigung Schmids an.
„Am Marterpfahl.“ Die „Rothäute“ bestrafen das „Bleichgesicht Carlo“ dafür, „daß es einen Stammesangehörigen ‚stinkende Krähe‘ genannt hatte“, so zeichnete ein mit spitzer Feder bewaffneter, scharfsinniger Karikaturist den ganzen Vorfall”?. Das traf den Nagel auf den Kopf. Es gab viele, die dem ungeliebten Außenseiter gern einen Eselstritt gegeben hätten. Schmids couragierte Mitarbeiterin Mathilde Alt schrieb ohne sein Wissen auf die Rückseite eines seiner Briefe: „Gegen meinen Herrn wird auf jeden Fall garız schön hintenherum gehetzt. Die Herren meinen, nach der Stuttgarter Affäre sei er nicht mehr tragbar.“®% Schmid war total deprimiert, zermürbt und mit den Nerven am Ende. Aber den Rücken wollte er der Partei nicht kehren. Einigen Briefeschreibern, die ihm dazu rieten, antwortete er: „(W)enn man eine Idee bejaht, muß man auch das Instrument bejahen, das diese Idee sich geschmiedet hat.“ %+ Zum Gegenschlag holte er, von Schuldgefühlen zerknirscht, nicht aus. Er hätte es gekonnt, und es wäre möglicherweise ein Befreiungsschlag gewesen. In den führenden Tageszeitungen bewertete man den Skandal ganz anders als in der SPD.In der „Süddeutschen Zeitung“ konnte man am s. März lesen: „Parteidisziplin in Ehren. Aber wieso war es eigentlich ein Vorfall? Für den parteipolitisch neutralen Beobachter besteht der Vorfall darin, daß hier die glänzend begonnene Karriere eines glänzend begabten Mannes einen für alle Beteiligten beschämenden Rückschlag erlebt.“®5 Der CDU-Abgeordnete Bucerius brachte einen Gesetzentwurf im Bundestag ein, durch den das unbefugte Aufzeichnen von Privatgesprächen unter Strafe gestellt werden sollte°®
Auch einige Parteifreunde aus dem Südwesten und der DGB-Ortsausschuß Stuttgart, der erfahren hatte, daß Eberhard an Freund und Feind die belastenden Tonbänder versandt hatte, stellten sich auf Schmids Seite” 7. Fritz Eberhard hatte in seiner blinden Raserei auch gleich drei Mitarbeiter des Südwestfunks entlassen, weil sie Schmid bei der Unterhaltung nicht widersprochen hatten. Der DGB unterstützte die drei bei ihrer Klage auf Kündigungswiderruf. Schmid setzte sich bei Grimme dafür ein, daß die drei beim NWDR eine Anstellung bekamen°°. Treue bekundeten auch die Mannheimer Sozialdemokraten. Sie votierten einmütig dafür, Schmid wieder als Direktkandidaten aufzustellen. Mannheims Bürgermeister Trumpfheller hatte sich schon gleich nach der Affäre bei Ollenhauer für Schmid verwandt”. Was Mannheims Parteisekretär Ott schrieb, war Balsam für Schmids wunde Seele: „Meine Meinung ist die, daß jene Genossen, die den Kram an die große Glocke hängten (…), der Partei mehr schadeten als demjenigen, den sie treffen wollten, und wenn schon Kritik geübt wird, dann gehört sie dort ebenso deutlich ausgesprochen. Mit dieser Auffassung stehe ich nicht allein, und wenn schon eine Erregung bei den Genossen festzustellen war, dann wegen der unqualifizierten Art, wie man die Dinge ins Rollen brachte.“ °
Gut, daß ihm die Mannheimer die Stange hielten, denn einen Listenplatz bekam er nicht. Max Denker und Schoettle nutzten den Vorfall, um persönliche Animositäten auszutragen. Der Bezirksvorstand Südwest mißbilligte auf ihr Betreiben Schmids Äußerungen und erklärte sich mit Eberhard solidarisch?‘. Zur Strafe wurde sein Name nicht auf die Landesliste gesetzt. Als die Wahl näherrückte, bekam man es in der Partei mit der Anigstzu tun. Ollenhauer und Mellies waren erschrocken, daß Schmid nicht durch die Liste abgesichert war. Die Wähler mufßsten glauben, die Partei entwickle sich zu einer reinen Arbeiterpartei zurück, zumal auch Arndt, Seuffert und Gülich schlechte Listenplätze zugewiesen bekommen hatten?”. Ollenhauer forderte eine Korrektur der Landesliste. Schmid bat, nichts dergleichen zu unternehmen”. Vermutlich wollte er den Parteifreunden beweisen, daß er kraft seiner Persönlichkeit und nicht dank der Partei gewählt wurde. Mannheim galt als sicherer SPD-Wahlkreis. Aber er konnte nicht wissen, ob nicht einige Wähler ihm für seinen Fehltritt einen Denkzettel verpassen würden. Er ging das Risiko ein.
Wie schon 1949 war er bestrebt, den Wahlkampf sachlich zu führen, zugeschnitten auf die Mentalität der kleinen Leute. Bereits Anfang 1953 hatte er den Parteivorstand davor gewarnt, den Wahlkampf unter der Remilitarisierungsparole laufen zu lassen. Damit treibe man die Wähler nur Heinemann und Helene Wessel zu. „Argumente wie: Steuerreform erbrachte den Einkommen von 1200,- DM 6 DM Ermäßigung, denen von 60.000,- 6000 wirk(t)en viel besser. “%* Trotz guter Vorsätze ließ sich die SPD am Ende wieder auf das Feld der Außen- und Deutschlandpolitik locken und drosch auf die CDU mit Pauschalvorwürfen wie „Unternehmermillionen kaufen politische Macht“ ein?s. Schmid versuchte es in seinem Wahlaufruf von Anfang September mit Ehrlichkeit: „Auch eine sozialdemokratische Regierung wird nicht imstande sein, im Laufe der nächsten vier Jahre das Paradies auf Erden zu schaffen.“ Aber sie wird für Vollbeschäftigung, soziale Steuerpolitik und sozialen Lastenausgleich sorgen. Die SPD sei weder religions- noch kirchenfeindlich und habe sich schon seit einiger Zeit aus einer reinen Arbeiterpartei zu einer „umfassenden Volkspartei“ gewandelt?®. Schmids Wahlkundgebungen hatten nach denen Adenauers den meisten Zulauf?”. Beim Wahlvolk war er populärer denn je. So wie die Wahlkundgebungen verliefen, konnte er einigermaßen zuversichtlich sein, wieder in den Bundestag einziehen zu können.
Ein Dichter im Bonner Treibhaus
1953 erschien ein Roman, der bald zum Roman der frühen Bundesrepublik werden sollte: „Das Treibhaus“ von Wolfgang Koeppen. In einem Vorwort schrieb der Autor: „Der Roman Das Treibhaus hat mit dem Tagesgeschehen, insbesondere dem politischen, nur insoweit zu tun, als dieses einen Katalysator für die Imagination des Verfassers bildet. Gestalten, Plätze und Ereignisse, die der Erzählung den Rahmen geben, sind mit der Wirklichkeit nirgends identisch.“‘ Rein zufällig aber ist die Ähnlichkeit mit lebenden Personen nicht. Man braucht nicht viel Phantasie, um in dem Kanzler Adenauer und in dem Oppositionsführer Knurrewahn Kurt Schumacher wieder zu erkennen. Die beiden politischen Hauptprotagonisten der frühen Bundesrepublik sind aber nicht die Hauptpersonen des Romans: Das ist der Abgeordnete Keetenheuve, der in die Politik ging, um „der Nation neue Grundlagen des politischen Lebens und die Freiheit der Demokratie zu schaffen“. „Er wollte Jugendträume verwirklichen, er glaubte damals an eine Wandlung, doch bald sah er, wie töricht dieser Glaube war, die Menschen waren natürlich dieselben geblieben, sie dachten gar nicht daran, andere zu werden, weil die Regierungsform wechselte (…)“*. Daß Koeppen an Schmid dachte, als er Keetenheuve erfand, steht außer Frage. Gewiß, Schmid war nicht wie Keetenheuve ein Radikalpazifist, der die Wiederbewaffnung bedingungslos ablehnte, und er belegte auch nicht wie dieser die Adenauer-Ära mit dem Pauschalvorwurf, sie sei „restaurativ“. Aber er war wie Keetenheuve ein „Schwimmer, der gegen eine starke Strömung zum Ufer schwimmt“, der sich schließlich jedoch dreinfügte, „sich zum Haufen der Fraktion zu halten, mitzulaufen“, obwohl er dort als ein enfant terrible galt’. Schmid bemerkte in späteren Jahren einmal verbittert: „Wer immer gegen den Strom schwimmt, kommt nie ans Ziel.“
„Die Fachmänner marschierten auf alten Wegen in die alten Wüsten.“ Keetenheuve war ein „Dilettant in der Poesie und ein Dilettant in der Politik“3. Schmid bezeichnete sich wiederholt als „dilettante“, um sich gegen den Fachmann, der für ihn immer eine „Knote“ war, abzugrenzen. Manchmal fürchtete er, in Bonn selbst ein „Knote“, ein sturer Berufspolitiker, zu werden‘. Keetenheuve übersetzt Baudelaire, weil er selbst ein Saturnier war, einer auf dem das Martyrium des Zweifels lastete: „An jeder Entscheidung hingen tausendfache Für und Wider, Lianen gleich, Lianen des Urwalds, ein Dschungel war die praktische Politik.“ Die „Sinnlosigkeit seines Tuns“ war Keetenheuve „klar“”. Auch Schmid befielen, seit er in Bonn war, Zweifel, ob er recht daran getan hatte, in die Galeere Politik einzusteigen. Aber man konnte nicht aussteigen, „wenn man nicht ein schlechter Kerl sein“ wollte®.
Koeppen, der Dichter und partisan de tristesse, beschreibt das Scheitern eines Intellektuellen und Künstlers, der die Welt „zerdachte“, „die ihn trug“?. Schmid war mehr Realist als Keetenheuve, weil er die Utopie schon immer an der Realität gemessen hatte, weil der Jurist dem Künstler geistige Zügel anlegte, so daß er in der Politik als Verantwortungsethiker handelte. Aber die Politik genügte ihm genauso wenig wie seinem Bruder im Roman. Er war noch nicht ein Jahr in Bonn, da klagte er schon: „Es ist allmählich so, daß ich glücklich bin, wenn ich im Laufe eines Monats einmal eine halbe Stunde habe, in der ich mich mit mir selber beschäftigen kann. Lange kann ich dieses Leben nicht mehr aushalten.“ ‚° Stefan Burschewski, mit dem er in Lille Dante, Hölderlin und George gelesen hatte, schrieb er: „Es geht mir nicht sehr gut, ich bin schwer getroffen durch einen großen Verzicht, den ich leisten muß.“!! Keetenheuve trieb die Melancholie in den Selbstmord, Schmid befreite sich von ihr, indem er dichtete. Er war zu einem Doppelleben gezwungen. Aktenberge dienten als Tarnung, wenn er in langweiligen Sitzungen des Auswärtigen Ausschusses Gedichte verfaßte, anstatt sich an der Diskussion zu beteiligen’”. Auf Konferenzpapier der Interparlamentarischen Union findet man Liebesgedichte‘?.
Wie schon in Lille bannte er auch jetzt die Melancholie, die ihn quälte, indem er sie zum Thema seiner Gedichte machte. Januar, Februar, März,
Herbst sind die Gedichte eines Gedichtzyklus von ihm überschrieben. Der Sommer, die Zeit der Reife und Erfüllung, fehlt. Die Jahreszeit, die Lebenszeit ist, ist ein ewiges stirb und werde, Schmids condition humaine. Im Aufbruch liegt das Scheitern bereits beschlossen. Das mit Februar überschriebene Gedicht schließt mit der Strophe’*
Noch ist nicht zeit. Die hoffnung will noch schlafen. Die trauer stöhnt in jedem neuen wehen. Ein vogel schreit: er hat mein herz gesehen. Das arglos deines lächelns schwerter trafen.
Für den Leidenden wird das Lächeln des Glücklichen zum Schmerz, der peinigt. Auch im Saatmonat März keimt keine Hoffnung auf, denn die Welt ist ein ewiger Kreislauf:
Kein ton im lande als der sterne leid Das jauchzend ewige wiederkehr verkündet Und einer krähe schrei der mich beschied Das alles dies in neue tode mündet.
Schon im Frühjahr kündigte sich der Herbst an. Der Sommer bleibt aus. Aber die Hoffnung auf sein Kommen im Jahr darauf ist noch nicht ganz versiegt. Der Gedichtzyklus endet mit dem Appell, vor der Öde des Daseins nicht zu kapitulieren:
Nun härte dich mein herz! Du wirst sonst nie Das kreuz von eis für neuen sommer sprengen. Flieh aus dem herbst damit dich nicht versengen Die schwarzen sonnen der melancholie!
Variationen des gleichen Themas. Aber der Ton wird schmerzerfüllter, die Oxymora noch schärfer, schneidender. Die Metapher von den „schwarzen Sonnen der Melancholie“ wird fast schon zum Stereotyp. Der Saturner lebt in der Eiszeit, verbannt von. den anderen, denen er sein Herz verbirgt. Schmid hatte viele Freunde, er sehnte sich nach Freundschaft, aber hatte er einen richtigen Freund?’S „Freunde, im alten Sinne, gibt es nicht mehr oder kaum mehr und die wenigen, die man hat, bekommt man nicht mehr zu sehen und noch weniger zu sprechen.“ ‚° Im Grunde war Schmid ein einsamer Mann. Es blieb die Zwiesprache mit den Dichtern. Noch immer übersetzte er. Die große Dichtung erschloß sich ihm so besser als durch rationales Deuten. Überhaupt standen Dichtung und Denken bei ihm in engem Zusammenhang.
Die Sonette des Künstler-Dichters Michelangelo lagen auf seinem Schreibtisch. Michelangelo, neben Raffae! im 19. Jahrhundert als Lichtgestalt verehrt, war nach der Jahrhundertwende von Rilke und vom George-Kreis auch als Dichter entdeckt worden. Rilke und der Georgeaner Max Kommerell hatten Nachdichtungen der Sonette des großen Italieners verfaßt’7. Michelangelo hatte in der Platonischen Akademie in Florenz das Dichten gelernt. Die neuplatonische Vorstellung von Schönheit und Liebe stand im Zentrum seiner Dichtung. Was für Dante Beatrice war, war für Michelangelo Vittoria Colonna, die Altersliebe des Künstlers. Schmid übertrug aus der Vielzahl der Gedichte des italienischen Meisters die Nachtgedichte und die Vittoria Colonna gewidmeten. Traum und Eros, Sinnlichkeit und Formtrieb, die Verewigung der Schönheit in der Kunst war ihr Thema. Was Kunst für Schmid bedeutete, zeigt am besten seine Übertragung des Sonetts „An Vittoria Colonna“ ‚®:
Wie kann denn sein – o – herrin, was uns allen Das wissen sagt: es dauert längere frist Ein bild – dess leben nur im steine ist Als der es schuf: der wird zu staub zerfallen
Vor ihrer wirkung muss die ursach weichen Drum wird natur vom kunstwerk überwunden. Ich weiß es – der im schönen bild gefunden Dass vor dem werke zeit und tod verbleichen.
So kann ich wohl ein langes leben wahren Uns beiden – bild’ in farben oder steinen Ich künstlich unserer angesichte paar.
Sind wir dann tot – wird man nach tausend jahren Noch sehn wie schön ihr wart und ich in peinen Und dass euch lieben keine torheit war.
Michelangelo zu übersetzen, verlangte ein großes Sprachvermögen. Max Kommerells Übersetzungen kamen zwar dem Wortsinne nahe, aber sie hatten einen stark literarischen Einschlag. Rilke vergeistigte die Lyrik des Italieniers. Hinter der Melodik der Verse verschwand die „terribilitä“ des Renaissancekünstlers. Rilke hatte eine andere Seelenlage als Michelangelo. Die Schmids war der des italienischen Meisters, der ein Melancholiker way, ähnlich.
„Im Warten — wie einst geschrieben. 28. IX. 1954“. In London tagte die Neunmächtekonferenz. Carlo Schmid übersetzte an diesem Tag Sapphos berühmtestes Gedicht: die Ode an Aphrodite‘?. Die Dichterin wendet sich an Aphrodite, die zusammen mit Eros zu den großen Daseinsmächten gehört, und bittet sie um die Zuwendung einer ihrer Schülerinnen:
Komm, ach komm! und löse auch jetzt vom Herzen Mir die Angst! Stille noch heut des Herzens Sehnen! Sei, Gewaltige, einmal mir noch Helfende Freundin!
So lauten in der Übersetzung Schmids die eindringlichen Schlußverse der Ode. Die frühgriechische Dichterin eines erzieherischen Eros ließ ihn für einige Stunden den tristen Bonner Alltag vergessen. Nach Beendigung seiner Michelangelo-Übersetzungen trug er die Gedichte Sapphos bei sich. Er übersetzte mehrere ihrer im Altertum bewunderten, später oft mißverstandenen Verse”. Die dichterischen Motive, die Schmid fesselten, waren noch dieselben wie in den 30er und 4oer Jahren. Mit Wolfgang Frommel war er noch immer befreundet. Eine Aura der Erhabenheit scheint dessen Besuche in Bonn umgeben zu haben”. Das Gefühl zum „geheimen Deutschland“ zu gehören, war wohl noch nicht ganz geschwunden.
In der Bonner Anfangszeit scharte er einen kleinen Kreis jüngerer Bundestagsabgeordneter um sich, mit denen er Dante, Hölderlin und Goethes Faust las und interpretierte oder, besser gesagt, lesen und interpretieren wollte, denn sehr erfolgreich war sein Versuch der ästhetischen Erziehung offensichtlich nicht. Fritz Erler soll schon nach einigen Abenden weggeblieben sein”. Er war vermutlich keine Ausnahme. Die Jugend, die in der Arbeiterbewegung groß geworden war, oder zu der sogenannten pragmatischen Nachkriegsgeneration zählte, suchte Sinnvermittlung und Selbstverständigung nicht in der Literatur. Schmids Zuhörer in Lille mögen noch für Hölderlins Hesperien und Fausts Gang zu den Müttern empfänglich gewesen sein. Die Bonner Nachwuchsgeneration hatte sich voll und ganz der Politik verschrieben. Wer eine Karriere in Bonn plante, wollte Berufspolitiker sein, während Schmid den Typus des Berufspolitikers ganz in Übereinstimmung mit George, aber auch den idealistisch gestimmten Kreisauern um Helmuth James von Moltke für die geistige Enge und Phantasielosigkeit der Politik verantwortlich machte. Für die verlorene Generation nach dem ı. Weltkrieg war Literatur etwas Existentielles, ein Stück Selbstauseinandersetzung. Vor 1933 schieden sich die Geister an Stefan George. Nach 1945 sprach niemand mehr von ihm, und wenn, dann wurde er vorschnell in die Ahnenreihe des Nationalsozialismus eingereiht. Für die junge Generation, die nach 1945 in die Politik ging, gehörte Literatur zum Kanon klassischer Bildung. Schulwissen aber konnte man aus Schmids abendlichen Lesungen nicht mit nach Hause nehmen. Seine Interpretationen waren zum Teil selbst wieder Dichtungen. Schmid tat sich schwer, diesen Wertewandel zu begreifen. Seine Klagen über den Pragmatismus der Adenauer-Ära waren emphatisch und zahlreich?3. Er war Erzieher aus Leidenschaft. Sogar eine Wand hatte er in seiner kleinen Zweizimmer-Wohnung herausbrechen lassen, damit die gesellige Runde mehr Platz hatte”*. Gram war er keinem wegen des Desinteresses an den Dichterlesungen. Für einige wurde er trotz allem zum geistigen Mentor, bei dem man sich Rat holen konnte und in dessen Büro man ein „Stück Behausung“ fand?°.
Den Musen zugetan war im biederen Bonn neben Schmid nur der erste Bundespräsident. Die beiden Musensöhne tauschten einige Male Gedichte aus. Auch Heuss’ Nichte Ulla Galm beteiligte sich einmal zur großen Freude Schmids an dem Spaß‘. Es war eine heitere Zweckartistik ohne tieferen Gehalt. Sie diente dem Amusement genauso wie Schmids zahlreiche Elegien, die er auf parlamentarischen Abenden zum Besten gab, wo er sich ausnahmsweise öffentlich zu seinem Dichtertum bekennen durfte? 7. Ein Ringelnatz in Bonn. Er trat auch jetzt wieder als Possenreißer auf, wenngleich als ein todtrauriger, der beklagte, daß die Musen ihm in Bonn den Rücken zukehrten®:
Ich aber lasse das Rufen zu euch, ihr Musen Und daß ihr In dieser Stadt lieber schlaft, dieses versteht, wer sie Kennt.
Aber ganz den Musen abgewandt, war diese verschlafene Bundeshauptstadt doch nicht. Im Bonner Bürgerverein wurde Anfang der soer Jahre Lope de Vegas „Die kluge Närrin“ gespielt – in der Übersetzung von Schmid”. Er freute sich, daß man sich seines Kunstwerks annahm und verteilte nicht ohne Stolz Freikarten für die Aufführung?°. Kölner Studenten konnten ihn sogar dazu überreden, ihnen seine in Lille verfaßten Chansons zur Verfügung zu stellen?‘. Noch hatte es die Politik nicht geschafft, ihm die Freude am Schau-Spiel und am Reimen zu verderben. Melancholie und Tristesse ließen Schmid nicht zum Trauerkloß werden. Das Lachen im Weinen hatte er auch in Bonn nicht verlernt. Sein Witz und Esprit machten ihn zum Mittelpunkt jeder Gesellschaft. Wenn es abends in bunter Gesellschaft lustig zuging, konnte Schmid stundenlang alte Reservelieder singen??. Ziemlich falsch soll er sie gesungen haben’. In seinem Bonner Büro traf sich die Welt’*. Das Gespräch mit ihm war immer interessant und anregend, selbst wenn die dichterische Phantasie manchmal mit ihm durchging. Er freilich klagte, daß es schrecklich sei, als eine Kuriosität zu gelten’. Irgendwie geriet er doch immer in den Verdacht, kein seriöser Politiker zu sein
Er schimpfte auf Bonn, auf diese „Provinzstadt, die sich aufbläst, in def weniger geistige Bewegung ist als in irgendeiner vergleichbaren anderen Stadt (…), in der sich jeder vor jedem abkapselt, in der keiner mit irgendeinem je in Berührung kommt, es sei denn, er sei von alters her mit ihm befreundet“3 °, Die Reutersiedlung, in der ihm eine kleine Wohnung zugewiesen worden war, war ein schnell fertiggestellter Neubaukomplex von Kleinwohnungen, die überaus hellhörig waren, und das im spießigen Bonn. Nach Tübingen kam er, wenn überhaupt, nur noch am Wochenende. Bonn hatte ihn so in Anspruch genommen, daß er nicht in jedem Semester Vorlesungen angeboten hatte. Schlimmer als die Stadt waren die Frustrationen des politischen Alltags, die Bonner Politik. Doch Aussteigen war auch keine Lösung, und man durfte es auch nicht, wenn man nicht ein „schlechter Kerl“ sein wollte. Und manchmal schliefen auch in Bonn die Musen nicht. Dann holten sie für „die Zeit eines Traums“ den „Verbannten“ heim”.
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