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1896-1979 eine Biographie : Vernunftehe auf Zeit: Die Große Koalition (1966-1969) nicht feritg

Am Portepee gefaßt: Bundesratsminister wider Willen

„Friedel, man hat mich am Portepee gefaßt. Ich bin Minister.“ Ganz kleinlaut, wie einer, der verloren hat, teilte Schmid am Nachmittag des 30. November seiner Mitarbeiterin Friedel Ahlgrimm mit, daß er sich hatte überreden lassen, das Ministerium für Angelegenheiten des Bundesrates zu übernehmen‘. Brandt und Wehner hatten ihn bekniet. Sie wollten ihn im Kabinett haben. Wehner hatte es wie immer verstanden, ihm ins Gewissen zu reden: „Carlo, auf der Ministerliste der ersten Regierung, an der Sozialdemokraten beteiligt sind, kann der Name Carlo Schmid nicht fehlen.“* Er fühlte sich in die Pflicht genommen und willigte ein. Die Parteifreunde waren erleichtert’. Erler schrieb ihm vom Krankenbett aus einen Dankesbrief: „(M)ir ist bewußt, welch ein Opfer Du bringst, wenn Du noch einmal in die Detailarbeit eines Ressorts einsteigst. Wir sind aber alle froh, daß Du mit Deiner Persönlichkeit unseren Einfluß in der neuen Bundesregierung kräftig verstärkst und für viele Menschen draußen im Lande zusätzliches Vertrauen zu uns und zur Regierung mobilisierst.“ + Zu alt, um ein Ministeramt zu bekleiden, fühlte er sich trotz der Altersgebresten, die ihm zu schaffen machten, eigentlich nicht. Aber gelockt hätte ihn das Ministerium für wissenschaftliche Forschung, aus dem er ein Bildungsministerium hatte machen wollen. Nun war bei dem Schacher um die Ministerämter, das Forschungsministerium, an dem zunächst Brandt Interesse gezeigt hatte, an die CDU gefallen. So blieb für ihn nur das Bundesratsministerium, das seit jeher ein Verlegenheitsministerium zur Wahrung des Koalitionsproporzes war. Es fehlte auch nicht an spöttischen . Stimmen, die es sich nicht nehmen ließen, darauf hinzuweisen, daß die SPD seit 1949 stets für die Auflösung des Bundesratsministeriums eingetreten war, jetzt aber plötzlich sehr viel Wert auf dessen personelle Besetzung legte. Schmid selbst hatte sich in früheren Jahren an der Polemik gegen das überflüssige Proporzministerium beteiligt‘. Daß die in die Opposition abgedrängten Freien Demokraten bei den nächsten Haushaltsberatungen einen Antrag auf Streichung des Ministeriums stellen würden, war so sicher wie das Amen in der Kirche’. Am ı. Dezember wurde er, der im Parlamentarischen Rat zu den entschiedensten Bundesratsgegnern gehört hatte, zum Minister für Angelegenheiten des Bundesrates vereidigt. Als die Journalisten ihn kurz nach seiner Vereidigung zum Minister mit der Frage bombardierten, was er denn aus dem Amt machen wolle, war er ziemlich ratlos. Ihm sei schließlich nicht an der „Wiege gesungen worden“, daß er Bundesratsminister werde‘. In der Sitzung des Bundesrates am 2. Dezember wurde er freudig begrüßt. Seine Rede war auffallend kurz. Er versicherte, daß er sich als Anwalt des Föderalismus verstehe. Durch den längst notwendig gewordenen kooperativen Föderalismus werde die Bedeutung der Länder nicht zurückgehen, sondern wachsen‘. Am 3. Dezember gab es erst einmal ein großes Fest, das ihn für einen Moment all seine Sorgen wegen des neuen Amtes vergessen ließ. Die zahlreichen Beweise der Anerkennung und des Dankes, die er zu seinem 70. Geburtstag von Parteifreunden und -gegnern, vom In- und Ausland erhielt, bedeuteten ihm eine wichtige Selbstbestätigung’°. Er brauchte das Lob und die Bewunderung der anderen, damit die Selbstzweifel nicht Überhand nahmen. Geburtstagswünsche waren für ihn ein Zeichen der Freundschaft. Seine Freunde wußten es und schrieben deshalb seinen Geburtstag ganz groß in den Kalender, um ihn ja nicht zu vergessen. Je älter er wurde, je rarer wurde die Zahl der Freunde und politischen Weggefährten. Als Fritz Erler im Februar 1967 seinem schweren Leiden erlag, traf dies seinen einstigen Mentor schwer“. Er hatte immer gehofft, daß Erler einmal an führender Stelle die Geschicke der Bundesrepublik leiten werde. Jahrelang hatten sie eng zusammengearbeitet, um aus der SPD eine Volkspartei zu machen. Erler hatte großen Anteil daran, „daß Staat und Arbeiterschaft zusammenfinden konnten“, daß der „klassische Antimilitarismus“ der Sozialdemokratie überwunden wurde‘?, Seit Ende der soer Jahre hatte man sich des öfteren über den von der SPD einzuschlagenden politischen Weg gestritten und „gerauft“, aber der gegenseitigen Freundschaft hatte dies keinen Abbruch getan‘?. Ein halbes Jahr nach Erler starb Paul Löbe, der für Schmid eine Art väterlicher Freund gewesen war, der ihn stets aufgemuntert hatte, wenn er sich nach harten Auseinandersetzungen in der Partei fragte, ob es überhaupt noch einen Sinn habe, in der Politik zu bleiben. Im Juli 1967 stand er am Grab Thomas-Dehlers, mit dem ihn über die Parteigrenzen hinweg ein großes menschliches und politisches Einverständnis verbunden hatte. Den Nachruf auf Thomas Dehler schrieb Schmid als wär’s ein Stück seines Lebens. Er beschrieb seinen Freund als jemand, „der den Stein weit nach vorne warf und lief, ihn aufzufangen, ohne sich umzuschauen, ob andere ihm folgen. Es folgten ihm nicht viele, und das war es, was die Auguren seinen Mangel an ‚fortune‘ nannten.“ ‚* Galt das nicht auch für Carlo Schmid? – War nicht auch er der SPD immer weit vorausgeeilt, hatte sie aber nur selten mitziehen können? Jetzt, da die SPD endlich in der Regierung saß, gehörte er nicht mehr zur ersten Garnitur der Partei und mußte sich mit einem Verlegenheitsministerium begnügen.

Immerhin, die ersten Kabinettssitzungen ließen sich gut an. Man redete frank und frei. Die Konflikte wurden nicht vertuscht’°. Mit Kurt Georg Kiesinger hatte er schon in den soer Jahren des öfteren die Klinge gekreuzt, nicht um Gräben aufzureißen, sondern um einen gemeinsamen außenpolitischen Nenner zu finden. Kennengelernt hatte er ihn schon Ende der 4oer Jahre in Tübingen. Kiesinger war damals CDU-Landesgeschäftsführer in Württemberg-Hohenzollern’®. Den beiden Schwaben in Bonn wurde eine gewisse Seelenverwandtschaft nachgesagt. Von bösen Zungen wurden sie als Schöngeister verspottet, die das Aktenstudium nicht liebten. Ihre staatsphilosophischen Dialoge über den Kabinettstisch hinweg wurden oft kolportiert, so daß man fast glauben könnte, Tocqueville sei das einzige Thema der Kabinettssitzungen gewesen’”. Ihre gelegentlich eingestreuten kulturkritischen Betrachtungen über den Zerfall der Staatsautorität mögen die meisten anderen Kabinettskollegen, die an einer schnellen Erledigung der Tagesordnung interessiert waren, gelangweilt haben. Weder Schmid noch Kiesinger ließen sich durch die ungeduldigen Mahner beirren. Im Mai 1969, als sich die Zeit der Großen Koalition schon zu Ende neigte, schrieb Kiesinger Schmid: „Ich kenne Ihre Sorgen um diesen Staat. Sie sind so sehr auch die meinen, daß der Unterschied unserer politischen Zugehörigkeit fast bedeutungslos wird. Wir wollen weiter zusammenwirken im Gewimmel der vielen, die gern von der Hand in den Mund leben.“’® Wenn man den Satz liest, könnte man den Eindruck gewinnen, daß Kiesinger und Schmid die großen politischen Wegmarken setzten, während die anderen sich in der Tagespolitik verloren. Dem war nicht so. Schmid war im Kabinett ein Hinterbänkler, der auf den Gang der politischen Entscheidungen nur wenig Einfluß hatte und wohl nicht allzu häufig in die Beratungen eingriff‘?. Die Achse des Kabinetts bildeten, zumindest in der Außen- und Deutschlandpolitik, Kiesinger und Wehner”, Weil bei der geplanten Neuordnung des Verhältnisses von Bund und Ländern die Finanzreform ganz obenan stand, war Carlo Schmid auf eine ständige gute Zusammenarbeit mit Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller und Bundesfinanzminister Franz-Josef Strauß angewiesen. Die beiden, die im Journalistenjargon bald Plisch und Plum hießen, führten ihn in die Geheimnisse der Finanz- und Wirtschaftspolitik ein. Er gehörte nämlich zu den Leuten, die nicht einmal ihre Steuererklärung selbst machen konnten. Ganz wohl fühlte er sich im Finanzkabinett nicht. Manchmal fluchte er über das „Hexeneinmaleins“, das man ihm dort beizubringen versuchte?‘. Franz-Josef Strauß deckte ihn mit einschlägiger Literatur und seinen eigenen Produkten zur Finanzproblematik ein. Die beiden waren inzwischen Duzfreunde geworden. Wenn es den überzogenen bayrischen Föderalismus einzudämmen galt, konnte Schmid auf Strauß’ Hilfe vertrauen. Dafür verriet ihm Schmid schon einmal ein bewährtes Hausmittel gegen gesundheitliche Molesten””. Schmid verkannte die Bedeutung ökonomischer und finanzieller Probleme nicht. Es kam sogar vor, daß er Karl Schiller mahnte, endlich ein finanz- und wirtschaftspolitisches Programm auszuarbeiten, damit die von der SPD geplanten politischen Aufgaben und Ziele auch in die Praxis umgesetzt werden konnten. Die Einrichtung eines Finanzplanungsrates wurde nicht zuletzt von ihm vorangetrieben. Im Wissenschaftskabinett fühlte er sich zu Hause. Allerdings mußte er immer aufpassen, daß er nicht Themen an sich riß, die in das Gebiet fielen, die Bundesforschungsminister Stoltenberg als „chassegard&e“ betrachtete. Er wollte auf keinen Fall mit dem Bundesforschungsminister Ärger bekommen**. So war sein Wirkungskreis innerhalb des Kabinetts eng begrenzt. Im Bundestag mußte er außer bei den Haushaltsberatungen nie Rede und Antwort stehen. So konnte er mit gutem Gewissen, während er auf der Regierungsbank saß, an der Übersetzung von Malraux’ Anti- Memoiren arbeiten. In seiner Dienstvilla an der Bonner Adenauer Allee 120 hatte er sich inzwischen häuslich eingerichtet. Manchmal kam ein zahmer Spatz geflogen, den er fütterte, falls er nicht gerade auf einer der vielen Sitzungen und Konferenzen weilte”’. Aus nicht einmal so Beamten und Angestellten bestand das Ministerium. Zunächst war er erschrocken gewesen über den Beamtenstab, den er dort antraf. Das Ministerium war lange Zeit eine Pfründe der Deutschen Partei gewesen, die ihre Mitglieder mit Beamtenstellen versorgt hatte. Er setzte durch, daß er einen Staatssekretär bekam: Friedrich Schäfer, den er schon aus Tübinger Zeiten kannte. Als Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion hatte sich Schäfer seit 1961 mit der Koordinierung der Bundes- und Landespolitik der SPD befaßt und war so mit den anfallenden Problemen bestens vertraut”. Schäfer übernahm es, mit den Ländern über die strittigen Details der Finanzreform zu verhandeln, mit denen sich Carlo Schmid nur ungern abgab. Schmid betrachtete sich als eine „Art Minister des Äußern im Innern“ ?7, Er hatte die undankbare Aufgabe, die Differenzen zwischen Bund und Ländern und zwischen den Ländern über die notwendig gewordene Neugestaltung des Bund-Länder-Verhältnisses zu entschärfen. Den Föderalismus begrüßte er, weil er in ihm ein Element zusätzlicher Gewaltenteilung sah. Gleichwohl hielt er die Einführung von Gemeinschaftsaufgaben für alle Bereiche, die sich auf Länderebene nicht sinnvoll regeln ließen, für unumgänglich. Selbstverständlich lagen ihm der Ausbau der Hochschulen und eine Rahmenplanung bei der Hochschul- und Bildungspolitik ganz besonders am Herzen. Der seiner Meinung nach überzogene Kulturföderalismus war ihm schon lange Zeit ein Dorn im Auge. Bei seinen Überlegungen zum kooperativen Föderalismus stützte er sich auf das sogenannte Troeger-Gutachten. Unter Vorsitz des Bundesbank

vizepräsidenten Heinrich Troeger hatte 1964 eine von Bundeskanzler Erhard und den Ministerpräsidenten der Länder eingesetzte Kommission die Ausarbeitung eines Gutachtens zu der notwendig gewordenen Finanzreform übernommen. Neben der Institutionalisierung von Gemeinschaftsaufgaben wurde in dem Gutachten die Herstellung eines großen Steuerverbundes empfohlen, durch den eine gleichmäßige Beteiligung von Bund und Ländern an der Aufkommensverteilung der großen Steuern geschaffen werden sollte”®. Schmid war sich von Anfang an darüber im klaren, daß es schwer sein würde, das Einverständnis der Länder hierfür zu erreichen. Schon bei einer der ersten routinemäßigen Zusammenkünfte hatten die Länderbevollmächtigten ihm zu verstehen gegeben, daß ein ohne ausreichende Konsultation der Länder verabschiedeter Gesetzentwurf zur Finanzreform auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen werde”. So schlug Schmid vor, erst einmal innerhalb der einzelnen Parteien einen Klärungsprozeß herbeizuführen. Mit den Bevollmächtigten der deutschen Länder beim Bund traf er sich jeden Mittwochnachmittag zur Dämmerstunde in Zimmer 13 des Bundesrates, um sie über die vorangegangene Kabinettssitzung zu informieren. Nach Artikel 53, Abs. 3 des Grundgesetzes hatte die Bundesregierung den Bundesrat über die Führung der Geschäfte auf dem laufenden zu halten. Schmids Vorgänger Alois Niederalt hatte diese Informationspflicht nicht sonderlich ernst genommen. Seine wöchentliche Berichterstattung wurde von den Länderbevollmächtigten als „Onkel Alois Märchenstunde“ verspottet3°. Seit Schmid Bundesratsminister war, wurden die Länderbevollmächtigten in aller Ausführlichkeit über die Kabinettssitzungen unterrichtet. Akribisch genau wie ein Protokollführer stenographierte er in jeder Kabinettssitzung mit, was seine Ministerkollegen berieten. So konnte er den Länderbevollmächtigten wortgetreu berichten, was in der vorangegangenen Kabinettssitzung erörtert, geplant und beschlossen worden war°‘. Mit entwaffnender Offenherzigkeit versuchte er, das Vertrauen der Länderbevollmächtigten zu gewinnen. So erfuhren die Länderbevollmächtigten am Nachmittag des 19. Juli 1967 nicht nur den Inhalt des am gleichen Tag vom Kabinett verabschiedeten Finanzreformprogramms, sondern auch, daß von den neun dort vorgesehenen Gemeinschaftsaufgaben sechs als „Spielmaterial“ gedacht waren??. Nur an drei Gemeinschaftsaufgaben wolle die Bundesregierung unabdingbar festhalten: dem Hochschulbau, den Maßnahmen zur Regelung der regionalen‘ Wirtschaftsstruktur und der Verbesserung der Agrarstruktur. In seinen öffentlichen Stellungnahmen war Schmid etwas zurückhaltender. Dort schränkte er die neun Gemeinschaftsaufgaben auf sechs ganz besonders wichtige ein33, Strauß soll ihm Vorwürfe gemacht haben, weil er die Verhandlungsposition der Bundesregierung verraten hatte‘. Ganz ernst kann es Strauß nicht gemeint haben. Die Strategie der Bundesregierung war so durch

sichtig, daß sie von den Ländern auch ohne Schmids Indiskretion erkannt worden wäre. Nach einer Rundreise durch die Hauptstädte der Bundesländer, einigen Dämmerschoppen mit den Regierungschefs der Länder und einigen Weinproben in der Landesvertretung Baden-Württembergs, die der immer gastfreundliche Adalbert Seifriz veranstaltete, hatte Schmid nur noch mit Bedauern feststellen können, daß selbst bei zähen Verhandlungen mit den Ländern mehr als drei Gemeinschaftsaufgaben nicht durchzusetzen waren. Anfang 1968 einigten sich Bund und Länder auf die drei vorgesehenen Gemeinschaftsaufgaben, die heute noch in Artikel gra des Grundgesetzes stehen. Schmid wäre es lieber gewesen, wenn man auch die Förderung der Forschungseinrichtungen außerhalb der Hochschulen, den Ausbau der Verkehrseinrichtungen und die Förderung des sozialen Wohnungsbaues zur Gemeinschaftsaufgabe erklärt hätte’. Die Länder waren jedoch in diesen Bereichen zu keinerlei Konzessionen bereit. Bei den SPD geführten Ländern war der Widerstand nicht geringer gewesen als bei den Ländern, in denen die CDU/CSU die Mehrheit hatte. Der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Helmut Schmidt entrüstete sich, daß die SPD-Landesregierungen sich nicht an die Parteitagsbeschlüsse hielten. Schließlich war auf dem Dortmunder Parteitag 1966 die Einführung von neun Gemeinschaftsaufgaben beschlossen worden’. Er hatte bald noch mehr Grund zur Klage. Bei den Verhandlungen um den großen Steuerverbund und Finanzausgleich waren es die SPD regierten Länder, die am heftigsten gegen die Vorschläge der Bundesregierung protestierten. Die finanzstarken Länder, in denen fast überall die SPD die Regierung stellte, verteidigten mit Zähnen und Klauen ihren Besitzstand. Nach zähen Kämpfen konnte im Frühjahr 1969 ein Kompromißvorschlag gefunden werden, der u.a. die Einbeziehung der Umsatzsteuer in den Steuerverbund und eine Umsatzsteuer-Vorabverteilung vorsah. Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Alex Möller, der niedersächsische Finanzminister Alfred Kubel und der Hamburger Bundesratssenator Ernst Heinsen hatten großen Anteil daran, daß die Differenzen zwischen den Ländern und zwischen dem Bund und den Ländern überwunden werden konnten?”. Carlo Schmid hatte weder genug Autorität in der SPD noch genügend finanzpolitische Sachkompetenz, um die Bund-Länder-Verhandlungen über den großen Steuerverbund maßgebend zu beeinflussen und die SPD regierten Länder von ihrem Blockadeverhalten abzubringen. Das hatte selbst Willy Brandt als Parteivorsitzender vergeblich versucht’*. Der Bundesratsminister redete im Bundesrat und bei den zahlreichen Bund-Länder- Besprechungen, bei denen er mit am Verhandlungstisch saß, den Landesfürsten und -bevollmächtigten ins Gewissen, indem er ihnen vor Augen hielt, daß ihr Verhalten dazu führe, daß große Reformen überhaupt nicht mehr möglich seien?®. Der Föderalismus würde so zum Hemmnis für eine fortschrittliche Bundespolitik. Schmids staatspolitische Überlegungen und Mahnungen wogen wenig, wo es um nacktes Interessenkalkül ging. Mit dem Alter nahm der Pessimismus bei ihm zu. So gab er manchmal die Dinge schon verloren, ehe sie es waren. Im Sommer 1967 prophezeite er resigniert, daß die Länder sich wohl nie dazu bereit fänden, dem Bund eine Rahmenkompetenz in der Schul- und Hochschulpolitik einzuräumen#°, Schließlich wurde in Artikel grb des Grundgesetzes doch ein Zusammenwirken von Bund und Ländern bei der Bildungsplanung und bei der Förderung von Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaftlichen Forschung von überregionaler Bedeutung postuliert. Im Arbeitskreis zur Beratung des nationalen Bildungswesens, in der Bund-Länder-Kommission für Fragen der Hochschul- und Wissenschaftsfinanzierung und in der Bund-Länder-Gruppe für Hochschulfragen konnte er einiges dazu beitragen, daß die bestehenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine Zuständigkeit des Bundes auf diesem Sektor ausgeräumt werden konnten*‘. Jetzt bedurfte es nur noch des Mutes der Bildungspolitiker, dessen Fehlen Schmid gar nicht genug beklagen konnte. Das Verlegenheitsministerium machte mehr Arbeit, als die Außenstehenden glaubten. Carlo Schmid nutzte die Presse, um das schlechte Image, das das Amt in der Öffentlichkeit hatte, zu verbessern. Es ärgerte ihn, wenn man über seine Tätigkeit nur milde lächelte*?. Schließlich eilte er von Besprechung zu Besprechung. Und nur selten stellte sich am Abend das Gefühl der „travail bien fait“ ein®. Viel Zeit raubten ihm die Besprechungen mit der katholischen Kirche über die Weitergeltung des Reichskonkordats und die Einführung der Gemeinschaftsschule. Sie waren aber wenigstens erfolgreich. Gleich zu Beginn der Großen Koalition war Schmid von Brandt und Kiesinger gebeten worden, im Schulstreit zwischen dem Vatikan und den Ländern seine Vermittlerdienste anzubieten. Die Zeiten, da die SPD die Gültigkeit des Reichskonkordats in Frage stellte, waren längst vorbei. Willy Brandt gab die Maxime aus: keine „Kulturkampfatmosphäre“ schaffen. Schmid versuchte die SPD-Landesregierungen und -fraktionen von diesem Grundsatz zu überzeugen. Gleichzeitig nahm er Kontakt zum Weihbischof von Münster Heinrich Tenhumberg auf, der seit 1966 Leiter des Katholischen Büros in Bonn war. Die Gespräche mit ihm und zwei längere Unterredungen mit dem Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz Kardinal – Döpfner im Februar und März 1967 ließen ihn Hoffnung schöpfen, daß die Position der katholischen Kirche nicht so starr war, wie der Schulstreit in Baden- Württemberg vermuten ließ. In Baden-Württemberg hatten die Bischöfe von Rottenburg und Freiburg einen Rechtsstreit gegen das unter Ministerpräsident Filbinger verabschiedete Schulgesetz, in dem die Simultanschule zur Regelschule erklärt wurde, angekündigt. Bisher waren nur

in Nordwürttemberg und Nordbaden dank der von Schmid 1045/46 entwickelten Schulartikel die Schüler gemeinschaftlich unterrichtet worden. Carlo Schmid, der wieder einmal in die Rolle des ehrlichen Maklers schlüpfte, gelang es, den Konflikt zu entschärfen. Die katholische Kirche zeigte sich konzessionsbereit, wollte allerdings nicht hinnehmen, daß bei Neuregelungen des Schulwesens das Konkordat nur wie ein „Fetzen Papier“ behandelt wurde*5. Das Beispiel Baden-Württemberg durfte nicht Schule machen. In Nordrhein-Westfalen und Bayern war ebenfalls ein Streit zwischen Befürwortern und Gegnern der Bekenntnisschule ausgebrochen. In Bayern hatte die SPD ein Volksbegehren für die Einführung der Gemeinschaftsschule gestartet, obwohl Carlo Schmid nachhaltig davor gewarnt hatte“. Er wollte eine gütliche Einigung herbeiführen, „Husarenritte“ gegen die katholische Kirche möglichst vermeiden?”. Seiner Ansicht nach ließ sich der Streit am besten dadurch beilegen, daß man sich auf Grundsätze eines zeitgemäßen Staatskirchenrechts einigte. Zusammen mit Bundesinnenminister Paul Lücke erwog er Möglichkeiten einer entsprechenden Grundgesetzänderung. Beide ließen jedoch von ihrem Plan bald wieder ab, nachdem Kiesinger festgestellt hatte, daß die Zeit hierfür noch nicht reif sei*. – Immer wieder scheiterten seine Vorschläge am fehlenden Mut der anderen. So blieb nur der Weg, sich zu einem praktischen Schulkompromiß durchzuringen. Tenhumberg und Döpfner hatten sich für Gespräche mit der SPD sehr aufgeschlossen gezeigt. Wenn man die Dinge gemeinsam beriet, konnte nicht nur der leidige Schulstreit geschlichtet werden, sondern auch das Verhältnis zwischen SPD und katholischer Kirche weiter verbessert werden*?. Wehner erklärte sich mit Schmids Vorhaben sofort einverstanden. Im Juni beauftragte der Parteivorstand Schmid mit der Leitung und Koordinierung der zwischen SPD und katholischer Kirche geplanten Gespräche. Da ihm die Treffen wichtig erschienen, nahm er es in Kauf, sich nun auch noch mit organisatorischen Aufgaben herumschlagen zu müssen. >: Am 7. Juli kam es im Katholischen Büro in der Kaiser-Friedrich-Straße in Bonn zu einem ersten Meinungsaustausch. Die SPD maß den Gesprächen «einiges Gewicht bei. Neben Schmid beteiligten sich u.a. Wehner, Leber, Heinz Kühn und Waldemar von Knoeringen an den Besprechungen. Auf katholischer Seite nahm neben Tenhumberg auch Prälat Hanssler vom Zentralkomitee der katholischen Kirche teil, den Schmid aus Tübinger Zeiten gut kannte. Die Gespräche nahmen einen guten Verlauf5°. Bereits im Frühjahr 1968 konnte man sich über die wichtigsten Grundsätze und Prinzipien eines Schulkompromisses einigen. Um eine Kulturkampfatmosphäre zu vermeiden, war Schmid den Vertretern der katholischen Kirche weit entgegengekommen. Doch das wichtigste Ziel wurde erreicht: die Abschaffung der konfessionellen Zwergschule. Die Gliederung des Schulwesens sollte sich nunmehr nach den „pädagogischen und schulorganisatorischen Erfordernissen“ richten‘‘. Das bedeutete die Einführung der christlichen Gemeinschaftsschule als Regelschule, für deren Durchsetzung Schmid schon in den Jahren 1945/46 gestritten hatte. Den Vertretern der katholischen Kirche war es gelungen, den christlichen Charakter des Unterrichts zu sichern. Kritiker monierten, daß der Schulkompromiß realiter die Einführung einer „ökumenischen Bekenntnisschule“ bedeute‘”. Angesichts der von der Außerparlamentarischen Opposition ausgelösten kulturellen Umwälzungen waren solche Bedenken grundlos. Von dem Schulkompromiß, der doch im Grunde bahnbrechend war, sollte schon bald niemand mehr reden. Auch Schmid maß ihm nur sekundäre Bedeutung bei. Ihn trieb die Sorge um die Entwicklung der bundesdeutschen Demokratie um, die sein Denken mehr gefangennahm als die Aufgaben seines Ministeramtes, die er zwar nie vernachlässigte, aber doch eher mit der linken als der rechten Hand versah.

Studentenunruhen und Hochschulreform

Keine Entscheidung war in der Nachkriegsgeschichte der SPD so umstritten gewesen wie die Bildung der Großen Koalition. Das Erich-Ollenhauer- Haus wurde von Protestresolutionen überschwemmt. Carlo Schmid wurde von Journalisten bedrängt, die seine Meinung zu den eingegangenen Protestresolutionen wissen wollten: „Dreitausend Stänkerer verlieren wir, dreihunderttausend neue Wähler gewinnen wir.“‘ Schmid hatte laut gedacht. Eine diplomatischere Antwort wäre besser gewesen. In der Parteivorstandssitzung wurde er wegen seiner unbedachten Äußerung arg gezaust. Er versuchte seine Ausführungen richtigzustellen?. Anscheinend war er nun über seine eigenen Worte erschrocken. Den Protest hatte er kommen sehen. Brandt hatte er dringend davon abgeraten, den Koalitionsbeschluß durch einen außerordentlichen Parteitag absegnen zu lassen’. Man mußte damit rechnen, daß die Mehrheit des Parteitages die Entscheidung für die Große Koalition ablehnte und damit die Parteispitze desavouierte. Brandt war der Auffassung, daß die Proteste nicht auf die leichte Schulter genommen werden sollten. Die Partei dürfe auf keinen Fall ein „Anhängsel der Regierungspolitik“ werden*. Carlo Schmid war wohl insgeheim ganz froh, daß die Partei nun in die Zucht der Regierungsverantwortung genommen wurde. Dem Obrigkeitsstaat hatte er lange Jahre den Kampf angesagt und sich über jede Manifestation einer liberalen Öffentlichkeit gefreut. Die nun entstehende außerparlamentarische Protestbewegung verfolgte er jedoch mit äußerster Reserve. Er hatte den Eindruck, daß das geäußerte Unbehagen

„weniger eine Sache der Reflexion als die Sache eines gekränkten Gefühls“ war. Verstehen konnte er die rebellierenden Jugendlichen schon, aber billigen konnte er ihre Aktionen nicht, schon gar nicht, wenn sie zu Mitteln der Gewalt griffen. Auf die leichte Schulter wollte auch er den Protest nicht nehmen. Auf der Mitte November 1967 stattfindenden Bundeskonferenz der SPD versuchte er eine Brücke zu den Koalitionskritikern und der aufmüpfigen Parteijugend zu schlagen, die in der Bildung der Großen Koalition einen Verrat an einer hundertjährigen sozialistischen Tradition der SPD sah. Er zeigte Verständnis für die protestierende Jugend, denn er wollte sie für die SPD zurückgewinnen: „Dieser Zustand der Malaise, der Verdrossenheit — Staats-, Gesellschafts-, Parteiverdrossenheit, oder wie man es nennen will, ist ernst zu nehmen. Ich nehme ihn sehr ernst, auch dort, wo die Verdrossenheit sich gelegentlich kindisch äußert – oder wo sie sich exaltiert äußert. Die Form, wie sie sich äußert, ist nicht gleichgültig, aber eine schlechte Form ist für uns kein Alibi dafür, daß wir uns nicht darum kümmern, und daß wir sie nicht ernst nehmen.“ 7 Er konnte die Verdrossenheit dieser Jugendlichen, die gegen die Wohlstandsgesellschaft und gegen die entfremdeten Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Industriegesellschaft aufbegehrten, nachempfinden. Gehörte er doch selbst zu den unaufhörlichen Kritikern der modernen Konsumgesellschaft. Den Antietatismus der Koalitionsgegner versuchte er damit zu erklären, daß den Deutschen die nationale Identität-fehle®. Er forderte den Mut zur Utopie’, wobei er sich auf Ernst Bloch berief, der bald zu einem der Kirchenväter der Studentenbewegung avancierte. Mit Bloch, für den er große Wertschätzung trug, war er befreundet. Dessen Hoffnungsbilder und Tagträume waren auch die seinen’®. War doch der Tübinger Philosoph dem deutschen Bildungskanon ähnlich innig verbunden wie er selbst. Bloch freilich propagierte die revolutionäre Veränderung, während Schmid auf die ästhetische Erziehung vertraute und als Politiker ‚ nach den Prinzipien einer Verantwortungsethik handelte. Schmid mußte sich sagen lassen, daß über die Utopie, die ihm vorschwebte, in der SPD nicht gesprochen werde. Die meisten jüngeren Sozialdemokraten waren mit seiner Interpretation des außerparlamentarischen Protestes nicht einverstanden“. Ihnen war Schmids Utopie zu abstrakt, zu gesellschaftsfern. Seine Hoffnungsbilder waren der Dichtung entnommen. Die „Leuchttürme“, von denen er sprach, hatte Baudelaire in seinem gleichnamigen Gedicht errichtet’”. Funken der Menschlichkeit in einer Welt der Beziehungslosigkeit. Die junge Protestgeneration, die _ auf eine Veränderung der Gesellschaft drängte, begriff die autonome Kunst als ein Relikt des Bildungsbürgertums. Sie konnte sich nicht für die Vision eines Dichterstaates begeistern, der Schmid noch immer nachtrauerte.

Als er im August 1967 den Goethepreis der Stadt Frankfurt verliehen bekam, wählte er als Thema seiner Rede: „Kann einer, der im Geiste Goethes leben möchte – wissend wie Goethe über Staat und Demokratie dachte – sein Leben daran setzen, einen demokratischen Staat zu errichten, ohne Goethe dabei untreu zu werden?“ ‚3 Schmids Antwort lautete: ja. Der Dichter, der in die Politik ging, verstand sich als Sand im politischen Getriebe der Zeit. Er wollte „in einer Zeit, da die Technokraten so viel gelten, einen Staat schaffen“, „der kein Apparat ist, sondern ein Lebendiges, das Geist beseelt und die Macht des Geistes lenkt.“ ‚* Schmid kam immer wieder auf die Utopie des Dritten Humanismus zurück. Auch jetzt, da das Establishment zur Zielscheibe der Kritik wurde, scheute er sich nicht, die Notwendigkeit einer Elite zu betonen: „Es kann gerade eine Demokratie auf die Dauer nicht leben, ohne eine Elite, die sich dem Schicksal der Nation tätig und leidend verbunden weiß.“ ‚5 Seine Zuhörer in der Paulskirche, alles Angehörige des vielgeschmähten Establishments, spendeten Beifall. Die Kritiker des Establishments warteten draußen. Als Schmid die Paulskirche verließ, wurde er mit Rufen wie „Preisochse“ und „Nieder mit Goethe“ empfangen’. Die Klassiker und die Poesie pure waren verpönt. Kunst und Wissenschaft wurden zur Magd der Politik. Schmids Kritik an den rebellierenden Studenten wuchs, je mehr diese sich einer neomarxistischen oder, wie er im Rückblick meinte, neoanarchistischen Ideologie verschrieben. 1960 hatte er noch geklagt, daß die Jugend so konformistisch sei!’. Die skeptische Generation war ihm zu pragmatisch. Doch sie lauschte gebannt seinen Vorlesungen über die großen Gestalten und Ideen, die die Geschichte bewegten. Und er selbst hätte sich von nichts und niemanden davon abbringen lassen, einmal wöchentlich in Frankfurt Studenten zu belehren. Solange man ihn am Betreten des Katheders nicht hindere, werde er Vorlesungen halten, teilte er im Dezember 1966 dem Hessischen Kultusminister Ernst Schütte mit’. Mit der Übernahme des Bundesratsministeriums mußte er aus dem Hessischen Landesdienst ausscheiden. Er las weiter, ohne Gehalt dafür zu beziehen, denn er mochte die vielen Studenten, die in seine Vorlesungen kamen, „nicht im Stich lassen“ ‚9, Noch war es ruhig an den Universitäten. Der Vorlesungsbetrieb verlief trotz der zahlreichen Proteste und Aufrufe gegen die Notstandsgesetzgebung, zu denen es schon vor Bildung der Großen Koalition gekommen war, geregelt. Wegen der Notstandsgesetzgebung hatte Schmid schon erregte Auseinandersetzungen mit Vertretern des Sozialistischen Hochschulbundes (SHB) gehabt, die er vergeblich von der Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung des Notstandsfalles zu überzeugen versucht hatte”°. Im Wintersemester 1966/67 bot er an der Frankfurter Universität ein Seminar über Ausnahmezustand und Verfassungsordnung an?‘. Eine sachliche Diskussion über die Notstandsgesetze konnte Vorurteile und Mißverständnisse beseitigen. Das Seminar scheint ohne größere Zwischenfälle verlaufen zu sein. Erst ein Jahr später wurde die Frankfurter Universität zu einer Hochburg des SDS. Hans Jürgen Krahl und Frank Wolff, beides Hauptwortführer der anti-autoritären Linken, waren im Frankfurter SDS zu charismatischen Führergestalten avanciert. Sie schreckten auch vor militanten Aktionen nicht zurück. Durch Go-Ins und Sits-Ins hoffte man den repressiven Charakter der Hochschulen und der bundesdeutschen Demokratie ins öffentliche Bewußtsein rücken zu können. Die etablierte Trennung von Politik und Wissenschaft sollte aufgehoben werden. Die Konfrontation wurde gesucht. Wer bot sich da besser an, als Carlo Schmid, der Minister der Großen Koalition und Befürworter der Notstandsgesetzgebung? Am 17. November 1967 verteilte der SDS vor der Mensa der Johann-Wolfgang- Goethe-Universität Flugblätter, in denen zum Go-In in die Vorlesung Schmids, Montag am 20. November aufgerufen wurde. Treffpunkt 11.30 Uhr, Hörsaal VI. Der Professor, der den Studenten Demokratie dozierte und als Minister der Großen Koalition „den Notstand der Demokratie“ praktizierte, sollte „zur Rede“ gestellt werden??. Der Rektor der Universität Walter Ruegg, der ein entschiedener Gegner des SDS war, nannte die geplante Aktion eine „Einübung faschistischer Terrormethoden“ und drohte dem SDS einen Rechtsstreit wegen Hausfriedensbruch an?3. Carlo Schmid wurde von Ruegg und einigen anderen Angehörigen der Universität gebeten, die Vorlesung ausfallen zu lassen, um der Universität Unannehmlichkeiten zu ersparen. Schmid dachte gar nicht daran, dem SDS diesen Triumph zu gönnen. Er suchte seinerseits die Konfrontation, um den SDS in die Schranken zu weisen. Ein Zurückweichen hätte er, der ein sehr stark ausgeprägtes Gefühl der Selbstachtung hatte, als entwürdigend empfunden. Durch Provokationen fühlte er sich stets herausgefordert. Der Hörsaal VI der Frankfurter Universität war total überfüllt, als Sehmid am 20. November ı1 Uhr ct. seine Vorlesung über Theorie und Praxis der Außenpolitik begann”. Zahlreiche Studenten hatten keinen Einlaß gefunden. Um 11.40 Uhr drangen ungefähr 30 Angehörige des SDS durch die zunächst versperrten Hintertüren in den Hörsaal ein, besetzten das Podium und forderten Schmid zu einer Diskussion über die Notstandsgesetzgebung auf, was er entschieden ablehnte: „Ich lasse mich zu Diskussionen nicht nötigen.“ Die Agitatoren des SDS hatten vermutlich nicht damit gerechnet, daß nur ein kleiner Teil der Studenten sich mit ihnen solidarisierte. Die Mehrheit der etwa 1000 Zuhörer reagierte mit Buh-Rufen und Pfeiffen auf die Aktion des SDS. Carlo Schmid versuchte die Vorlesung fortzusetzen, wurde aber immer wieder durch Sprechchöre unterbrochen. „Notstandsminister, Notstandsminister“ wurde skandiert. An die Wandtafel wurden Parolen wie „Diskussion statt einer Vorlesung der Belanglosigkeit“ und „Notstand ist Nötigung“ geschrieben, die lautstark beklatscht wurden. Von den Hörerbänken ertönten Gegensprechchöre: „SDS raus.“ Der ı. Vorsitzende des Frankfurter Asta mühte sich vergeblich darum, den SDS zu einem Verlassen des Podiums zu bewegen. In der Vorlesungspause stimmte die Mehrheit der anwesenden Studenten gegen eine Diskussion mit dem SDS, der seine Aktion trotzdem fortsetzte. Carlo Schmid konnte sich auch in der zweiten Hälfte der Vorlesung kaum oder gar nicht verständlich machen. Als er um ı3 Uhr seine Vorlesung beendete, zollte ihm die Mehrheit der Anwesenden großen Beifall. Die meisten Studenten waren dankbar, daß hier ein Ordinarius dem SDS die Stirn geboten hatte. Frank Wolff und Hans Jürgen Krahl hatten große Mühe, das Vorgehen des SDS zu rechtfertigen. Der Asta-Vorsitzende mißbilligte die Aktion. Der SDS zog keine Lehre aus seiner gescheiterten Demonstration. Noch am selben Tag rief er zum Go-In in die Vorlesung des „Pseudo-Marxisten Fetscher“ aufs. Daß Fetscher dem SDS mehr entgegenkam als Schmid, wurde ihm nicht honoriert”. Schmid wußte sich mit Walter Ruegg einig, daß die Nachgiebigkeit der Professoren gegenüber dem SDS mit dazu beitrug, daß der SDS an den Hochschulen Anhänger gewinnen konnte. Ruegg plante eine Strafanzeige gegen den SDS wegen Hausfriedensbruch und Nötigung. Schmid riet davon ab. Ruegg hätte gut daran getan, auf ihn zu hören. Der Prozeß vor der ı2. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt ging verloren. Unter Hinweis auf die in Artikel 5 des Grundgesetzes verankerte Meinungsfreiheit erklärten die Richter das Verhalten des SDS als nicht strafwürdig. Da die Vorlesung Politik zum Inhalt gehabt habe, konnten die Beschuldigten bei den eingeschriebenen Hörern Interesse an einer Diskussion über die Notstandsgesetzgebung voraussetzen”. Die Urteilsbegründung mutet reichlich fadenscheinig an, wenn man bedenkt, daß der SDS seine Aktion auch dann nicht abbrach, als er von der Mehrheit der Hörer dazu aufgefordert wurde. Schmid war betroffen, daß man über das Frankfurter Go-In im Bundestag nicht ein Wort verlor”. Für ihn war die Konfrontation mit dem SDS nicht nur ein Erfolgs-, sondern auch Schockerlebnis. Erinnerungen an die 30er Jahre wurden wieder wach. Er war überzeugt, daß die „Rädelsführer“ des studentischen Protests die Absicht hatten, den „Staat zu diskreditieren, ihn bei jeder Gelegenheit herauszufordern, um dem Fernseh- und Spiegel-Publikum zu zeigen, wie widerstandslos sich die Verantwortlichen ins Gesicht schlagen lassen oder wie hilflos sie nach dem Polizeiknüppel schreien, um zu verteidigen, was sie die Demokratie nennen.“ So richtete er einen Appell an das Bundeskanzleramt, den Angriffen auf Rechtsstaat und Demokratie mit Entschiedenheit entgegenzutreten. Auch ein demokratischer Staat mußte mit Autorität durchgreifen, wenn seine Gesetze verletzt wurden3°, Die von den Hauptwortführern des SDS propagierte unmittelbare Demokratie wurzelte nach Schmids Dafür

halten in einer Elitetheorie, die zur Einrichtung rechter und linker totalitärer Regime geführt habe?‘. Schmid gehörte einer Generation an, für die das Ende der Weimarer Republik eine traumatische Erfahrung war. Lang und breit war er in seinem Bericht an den Bundeskanzler, der die Minister um ein Expose für seine Erklärung zur Lage der Nation ersucht hatte, auf die Gefahren eingegangen, die dem demokratischen Rechtsstaat durch die Außerparlamentarische Opposition drohten. Er war erschrocken über die Radikalisierung der Studenten, die er sich überhaupt nicht erklären konnte. In der Parteivorstandssitzung im Dezember 1967 hegte er den Verdacht, daß die militanten Teile der Studentenbewegung von „bestimmten Kreisen“ gefördert würden??. Wahrscheinlich vermutete er eine Unterstützung durch die DDR. So sprach er sich für eine Wiederzulassung der KPD aus, weil die Systemgegner dann unter ihrer „Firma marschieren“ müßten und nicht mehr „wild die Linke spielen“ konnten’. Dabei verkannte er, daß die anti-autoritäre Linke mit den traditionellen Parteikommunisten nichts zu tun haben wollte. Von einer pauschalen Etikettierung der Studentenbewegung als „linksfaschistisch“ hielt er nichts’*, wenngleich sich ihm der Vergleich zu den 30er Jahren aufdrängte. Für den Protest der Studenten gegen die verkrusteten Hochschulstrukturen hatte er durchaus Verständnis. Er selbst hatte Anfang der 6oer Jahre den Studenten geraten, an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Parteiführung hatte er gemahnt, das Gespräch mit dem SHB nicht abreißen zu lassen’. Bei der ersten Debatte über die Hochschulreform im Bundestag im November 1967 bat er seine sozialdemokratischen Abgeordnetenkollegen inständig, vollständig zu erscheinen, um der studentischen Jugend zu demonstrieren, daß man sich um ihre Probleme kümmerte. Er hatte sogar Sympathie für einen Mann wie Rudi Dutschke, der mit existentiellem Ernst für die Sache der Revolution einstand und nicht nur Revolutions- – theater spielte. Als im Dezember 1967 Thielicke Dutschke einen „Demagogen“ nannte, erklärte er öffentlich, daß ihm Dutschke besser gefalle als mancher „brave Stubenhocker“7 . In einigen Ortsvereinen des Ruhrpotts herrschte helle Empörung, daß ein konservativer Sozialdemokrat wie Schmid lobende Worte für den radikalen Studentenführer übrig hatte. Der SPD-Ortsverein Duisburg war so entrüstet, daß er Schmid sofort ein Telegramm schickte: „Herzliches Beileid, daß Sie Sympathien für den Gammler Dutschke empfinden. Damit haben Sie es bei allen schaffenden Sozialdemokraten verschissen.“ 3? Die spießbürgerliche Verurteilung der Studenten mißfiel Schmid nicht weniger als deren Libertinage. Obwohl er die Protestaktionen verurteilte, wollte er Verständnis wecken und nicht die kleinbürgerlichen Ressentiments gegen die Studenten noch schüren. So erklärte er hin und wieder, daß er vor so Jahren zu diesen radikalen protestierenden Studenten gehört hätte”. Insgeheim freilich klagte er, daß

Cordhosen und Bärte an die Stelle von Bildung getreten seien*°. Auf das Fallen der sexuellen Tabus reagierte er äußerst prüde‘. Sorge bereitete ihm, daß die protestierenden Studenten in den öffentlichen Medien so viel Aufmerksamkeit und Beifall fanden. Nach und nach gewann er den Eindruck, „daß die Massenmedien – von den Illustrierten angefangen, über das Theater bis zu den Fernsehanstalten – sich geradezu in den Dienst der Verfälschung der Begriffe gestellt“ hatten*?. Die politischen Verhältnisse im Ostblock wurden nicht mehr bei ihrem Namen genannt. Fernsehsendungen wie Panorama und Wochenzeitschriften wie „Der Spiegel“ stimmten in die Kritik am „Establishment“ ein, während er dort trotz seiner Freundschaft zu Rudolf Augstein zum konservativen Buhmann wurde*. Er machte weniger den rebellierenden Studenten Vorwürfe als dem „Establishment“, das die Regelverletzungen der Studenten guthieß, und dem Staat, der die Mißachtung der Gesetze hinnahm. Als sich Anfang Januar 1969 in der Heidelberger Universität einige Studenten, die eine Vorladung vor Gericht hatten, verbarrikadierten, ohne daß die Polizei einschritt**, war er so ungehalten darüber, daß er durch einen langen verzweifelten Brief Kiesingers Urlaubsfrieden störte: „Ein Staat geht zugrunde, wenn die für ihn verantwortlichen Organe nicht mehr den Mut aufbringen, das zur Durchsetzung der Gesetze Notwendige zu tun.“ * Der wachsende Zerfall der Autorität des Staates war ein Thema, das ihn nicht mehr losließ. Er fürchtete die Demokratie der Straße. So näherte er sich bei seiner Argumentation manchmal fast wieder einem absolutistischen Staatsverständnis an. Die SPD war eingeklemmt zwischen protestierender Jugend und Großer Koalition. Uneingeschränkt positiv wurde die Studentenbewegung nur von Adolf Arndt beurteilt, der sie als Aufstand gegen das deutsche „Obrigkeitsdenken“ verstanden wissen wollte. Den konservativen Gegenpol zu Adolf Arndt bildete Helmut Schmidt. Für ihn unterschied sich die „Demolierung von Rektoratszimmern oder von Kaufhäusern oder Gewerkschaftsbüros oder Parteibüros“ in keiner Weise „von dem Verhalten von SA-Trupps vor 30 oder 35 Jahren“ #7, Willy Brandt stand zwischen den Fronten*. Er mußte als Parteivorsitzender die Partei für die Große Koalition gewinnen und durfte zugleich die protestierende Jugend, die der SPD nahestand, nicht vor den Kopf stoßen. Auf dem Nürnberger Parteitag im März 1968 wurde die Große Koalition nur mit knapper Mehrheit gebilligt. Der Parteitag hatte tumultartig begonnen. Willy Brandt und Herbert Wehner waren auf dem Weg zur Nürnberger Meistersingerhalle tätlich angegriffen worden. Schmid stemmte sich im Windfang der Haupteingangstüre zur Meistersingerhalle den eindringenden Demonstranten entgegen und versuchte mit ihnen zu diskutieren. Sein Gesicht war schweißüberströmt*?, In seiner Erregung soll er Journalisten gegenüber geäußert haben: „Dem Parteiteitag konnte gar nichts Besseres

passieren, als daß einige von uns ein wenig verdroschen wurden.“ 5° Ihm war die Haltung der Parteispitze gegenüber der Außerparlamentarischen Opposition zu nachgiebig. Er fürchtete, daß die „Linken“ auch in der Partei die Oberhand gewannen. Es wurde gemunkelt, daß eine Liste mit Namen kursiere, vor deren Wahl in den Parteivorstand abgeraten wurde. Auch sein Name soll darauf gestanden haben‘. Er brauchte sich um seine Wiederwahl nicht zu sorgen. Die Verbitterung über die Demonstranten war groß, so daß es zu einem Ruck nach rechts auf dem Parteitag kam. Helmut Schmidt mußte nicht länger bangen, daß sein Freund Carlo Schmid als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft C nicht genügend Autorität habe, um die Diskussion über die Notstandsgesetzgebung in die gewünschten Bahnen zu lenken’?. Schmid konnte die Debatte laufen lassen. Nach seiner nicht gerade sehr besonnenen Äußerung zu Beginn des Parteitages war er sichtlich bestrebt, keine weiteren Gräben aufzureißen. So schwieg er, als Günter Grass sich über die nationalsozialistische Vergangenheit von Lübke und Kiesinger ausließ. Erst nachdem er dazu aufgefordert wurde, distanzierte er sich am Schluß der Sitzung der Arbeitsgemeinschaft vorsichtig von den Grass-Äußerungen’’. Ihm konnte nicht daran gelegen sein, einen Mann wie Grass, der der Großen Koalition ablehnend gegenüberstand, der SPD noch mehr zu entfremden. Die verabschiedete Entschließung zur Notstandsgesetzgebung gab der SPD-Bundestagsfraktion grünes Licht für die Zustimmung zu dem heftig umstrittenen Notstandsrecht. Mehr Schlagzeilen als der Beschluß über die Notstandsgesetzgebung machte die Vertagung der Entscheidung über das Mehrheitswahlrecht. Es wurde mit Erstaunen vermerkt, daß Schmid sich in die Diskussion nicht einmischte, obwohl er ein entschiedener Befürworter des Mehrheitswahlrechts war, in dem er ein probates Mittel sah, um extremistische Strömungen von rechts und links einzudämmen. Er schwieg nicht nur, weil ‘ er müde und erschöpft war. Ihm war schon vor dem Parteitag klar, daß die geplante Einführung des Mehrheitswahlrechts ad acta gelegt würde. Das Schielen auf den potentiellen Koalitionspartner FDP war seines Erachtens nur ein Grund dafür – und nicht der wichtigste. Hauptgrund für den Verzicht auf das Mehrheitswahlrecht sei vielmehr der schlichte Tatbestand, daß dessen Einführung für viele Abgeordnete „politischer Selbstmord“ sei. Ohne Absicherung durch die Landesliste hatten sie keine Chance, in den Bundestag zu gelangen°*. Nüchtern resignative Töne verdrängten bei Schmid die Empörung der früheren Jahre. Da er eher mit Befürchtungen als mit großen Erwartungen zum Nürn- _ berger Parteitag gefahren war, war er mit dessen Verlauf recht zufrieden. Nach der Verabschiedung der Notstandsgesetze ließen die Aktivitäten der Außerparlamentarischen Opposition nach. An der Frankfurter Universität freilich führte weiterhin der SDS das Wort. Institute und Seminarräume wurden besetzt und mußten durch die Polizei geräumt werden. Die großen Vorlesungen wurden systematisch gestört. Carlo Schmid sagte seine für das Wintersemester 1968/69 angekündigten Lehrveranstaltungen ab. Er nannte Zeitmangel als Grund und stellte sogar in Aussicht, im Sommersemester 1969 wieder zu lesen’. Er kündigte auch im Vorlesungsverzeichnis Lehrveranstaltungen an, hielt aber keine mehr ab. Der Abschied von der Hochschule fiel ihm nicht leicht. Seine „Leidenschaft, zu lehren“, hatte nicht nachgelassen. Aber er merkte, daß das, was er lehrte, bei den Studenten, die in seinen Vorlesungen und Seminaren saßen, überhaupt nicht mehr ankam. Die Studenten sprachen eine andere Sprache als er – eine Sprache, die nach seinem Dafürhalten auf das „Spiegel-Alphabet und den Politologenjargon“ reduziert war‘. Gesellschafts- und Ideologiekritik war in den sozialwissenschaftlichen Seminaren das bevorzugte Thema. Betroffen stellte er fest, daß das, was er unter Bildung verstand, nicht mehr gefragt war°’. Was sollte er da noch an der Universität? Auf die Politologen war er ganz besonders schlecht zu sprechen. Bärbeißig raunte er, „daß es vielen Politologen guttäte, das Postulat ihres Kirchenvaters Karl Marx zu erfüllen: nämlich ihre Philosophie in politische Realität zu verwandeln. Manchem täte es gut, wenn er damit in seinem Dorfe anfinge.“ 5? Kopfschüttelnd mußte er auch zur Kenntnis nehmen, daß seine Frankfurter Kollegen den studentischen Forderungen nach einer sogenannten Drittelparität in den Selbstverwaltungsgremien der Universität willfährig nachgekommen waren. Auf diese Forderung schien sich die ganze Bildungs- und Hochschulreform zu verengen. In den verschiedenen Kabinettsausschüssen für Hochschulfragen und Bildungsplanung und im bildungspolitischen Ausschuß des Parteivorstandes der SPD hatte Schmid noch einmal darauf insistiert, ein klares Bildungsziel zu formulieren, da ansonsten die Schul- und Hochschulreform in Ansätzen stecken bleibe®. Vom Bund müsse ein Minimalkanon für die verschiedenen Stufen des Bildungs- und Ausbildungswesens aufgestellt werden. Anfang 1968 bat er Kiesinger, in seiner Erklärung zur Lage der Nation ausdrücklich auf dieses Problem einzugehen“. Bei Kiesinger konnte er hoffen, ein geneigtes Ohr zu finden. Dessen Vorstellung von Bildung deckte sich weitgehend mit der seinen. Er selbst hatte Kiesingers Idee, Beamtenschulen nach dem Vorbild der Grandes Ecoles zu schaffen, nachhaltig unterstützt‘‘. Kiesinger und Schmid mochten sich einig sein. Die Bildungspolitiker waren es nicht. Weder in den zuständigen Kabinettsausschüssen noch im bildungspolitischen Ausschuß der SPD kam die Diskussion voran. Brandt klagte, daß die SPD ihr Erstgeburtsrecht in der Bildungspolitik nicht einmal für ein Linsengericht verkauft, sondern einfach liegen gelassen habe, wo es andere aufsammeln°?. Schmid paßte die ganze Richtung nicht, die die SPD in der Bildungspolitik eingeschlagen hatte. Er hielt es für verfehlt, der

expansiven Entwicklung der Studentenzahlen nicht gegenzusteuern. Das konnte man am besten, wenn man die Leistungskriterien hochschraubte. Er stimmte mit den Christdemokraten völlig überein, wenn sie warnten: „Es darf keine Nivellierung nach unten geben.“ % Überhaupt nicht begreifen konnte er, daß einige SPD-Kultusminister sich dazu hergaben, die Drittelparität an den Universitäten gesetzlich zu verankern. In seinen Augen war dies schlichtweg „Unfug“ %. Als er hörte, daß das Thema Drittelparität am 8./9. November 1968 auf der Tagesordnung des bildungspolitischen Ausschusses der SPD stand, sagte er seine geplante Teilnahme an der Feier des 20. Jahrestages des I. Haager Kongresses kurzerhand ab°S. Kampfentschlossen kam er am 8. November zusammen mit Friedrich Schäfer in den Ausschuß. Das Ergebnis der Beratungen glich eher einer Niederlage für ihn als einem Sieg. Beschlossen wurde die Errichtung von differenzierten und integrierten gestuften Gesamthochschulen, für deren einheitliche Verwaltung ein für sechs Jahre gewählter Präsident zuständig war. Die Fakultäten sollten in Fachbereiche umgewandelt werden. Im satzungsgebenden und den Präsidenten wählenden Konzil sollten Professoren, Assistenten und Studenten „drittelparitätisch“ vertreten sein, im Senat und in den Fachbereichsräten im Verhältnis 5:3:2°°. Das war zwar keine Drittelparität, aber doch ein klarer Beschluß zugunsten der Gruppenuniversität. Schmid wünschte sich keine Demokratisierung der Hochschule nach dem Modell der Drittelparität, sondern mehr staatlichen Einfluß auf die Hochschulen, weil seines Erachtens nur so die Selbstherrlichkeit universitärer Selbstverwaltungsgremien eingeschränkt und einheitliche Studienordnungen und -bedingungen geschaffen werden konnten‘. Mit dieser Forderung machte er sich nicht nur die Studenten, sondern auch die Professoren zum Gegner. Im März 1969 schöpfte er noch einmal Hoffnung, daß die Universitäten “ vor ihrem Untergang bewahrt werden könnten. In der Senatssitzung der Max-Planck-Gesellschaft am 7. März stieß die geplante Demokratisierung der Hochschulen auf Skepsis bis Ablehnung. Der Präsident der Max- Planck-Gesellschaft Adolf Butenandt war erbost über die Parteien, die den Universitäten für die Wiedergesundung Kuren verschrieben, „die geeignet sind, den Patienten zu Tode zu therapieren“ 68, Schlagworte wie „Abschaffung des hierarchischen Prinzips“, „Götterdämmerung der Ordinarien“, „Mitbestimmung aller Gruppen nach festgelegten Paritäten“ beherrschten, wie Butenandt besorgt und erregt konstatierte, die Diskussion in einer Weise, „daß sie bis in die politischen Gremien hinein fast die Wirkung von Zwangsvorstellungen erreicht“ hätten. Entscheidungen über Forschungsthemen und -methoden könnten nicht durch Gremien getroffen werden, „deren Mitglieder zum Teil eine völlig unzureichende Qualifikation haben“ ©.

Butenandt hatte den letzten Satz noch gar nicht recht ausgesprochen, da pflichtete Carlo Schmid ihm schon bei. Er riet Butenandt, sich mit seinen Ansichten an die Öffentlichkeit zu wenden. Ein autoritatives Wort des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft sei in der gegenwärtigen Lage „überaus nützlich“7°. Nicht nur die Parteien, auch und vor allem die Professoren, die dem Druck der Straße ebenso nachgaben wie die Parteien, müßten kritisiert werden. Schmid, der das unpolitische Bildungsbürgertum lange Zeit angeklagt hatte, warnte nun vor einer Politisierung der Universitäten. „Die gesellschaftliche Funktion der Universitäten bestehe in erster Linie im Forschen, Lehren und Lernen.“”‘ Dann verfing er sich in einer Behauptung, mit der er ungewollt seine eigene Tätigkeit als Professor und Politiker in Frage stellte: „Eine wissenschaftliche und politische Betätigung schließen sich weitgehend aus, denn man könne sich nur der einen oder anderen voll widmen.“?? Sein Alptraum war der politisierende Professor, der womöglich das Katheder dazu benutzte, um zur Systemveränderung aufzurufen. Seit er aktiv in der Politik war, hatte er niemals vom Katheder aus Politik betrieben. Schmids Vorschlag, die Max-Planck-Gesellschaft solle in einer öffentlichen Verlautbarung sich gegen die geplante Demokratisierung der Hochschulen wenden, fand große Zustimmung. Er dürfte sich darüber im klaren gewesen sein, daß er mit dieser Empfehlung seiner eigenen Partei in den Rücken fiel, die inzwischen ihre Grundsätze zur Hochschulreform veröffentlicht hatte. Aber die Zukunft der Universitäten war ihm wichtiger als die Schonung der eigenen Partei vor Kritik. Vielleicht konnte die Partei durch eine deutliche Kritik der Max-Planck-Gesellschaft zur Räson gebracht werden, wenn sie schon nicht auf ihn hörte. Am 6. Mai 1969 gaben die Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Westdeutschen Rektorenkonferenz eine gemeinsame Presseerklärung über die „Gefahr für die Forschung an den Universitäten“ ab. Die Einwände und Bedenken gegen die geplante Hochschulreform wurden sehr offen vorgetragen. Durch die Hochschulreform drohe die Universität „politischer Selbstzweck“ zu werden. „Maximen, die im politischen Bereich ihre Gültigkeit haben“, dürften nicht „unmittelbar auf die Universitäten übertragen“ werden, weil dies die Forschung lähme. Die Folge wäre die Abwanderung der Forschung aus den Universitäten und damit deren Zerstörung”. In der SPD war man konsterniert über die Erklärung der drei Präsidenten”*. Bisher war das Verhältnis zu den drei Wissenschaftsorganisationen ausgezeichnet gewesen, deren Forderungen man oft zum politischen Programm erhoben hatte. Carlo Schmid schwieg. Ein Donnerwetter wäre über ihn hereingebrochen, wenn die Parteifreunde gewußst hätten, daß er einer der Miturheber der Erklärung war. Die offene Konfrontation versuchte er auch diesmal zu vermeiden. Als sich das SPD-Präsidium am ı1. Juni 1969 im Erich-Ollenhauer-Haus mit den Präsidenten der Max- Planck-Gesellschaft, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, des Wissenschaftsrates und der Westdeutschen Rektorenkonferenz zu einem Spitzengespräch über Fragen der Hochschulreform und -gesetzgebung traf, fehlte Carlo Schmid. Die Vertreter der Wissenschaftsorganisationen verteidigten die Erklätung und kritisierten, daß den Vorschlägen des bildungspolitischen Ausschusses der SPD „im wesentlichen ein klares Bild dessen fehle, was man sich unter einer Universität jetzt und in Zukunft vorstelle“ 75, Schmids Worte! Wie oft hatte er dies den Mitgliedern des Ausschusses und den Kultusministern vorgehalten. Brandt und Alex Möller verteidigten den Reformplan des bildungspolitischen Ausschusses: „Kennzeichen des demokratischen Prozesses sei, daß die Laien von den Experten überzeugt werden müßten.“ ”° Die umstrittenen Vorschläge sollten aber noch einmal überprüft werden. Eine Demokratisierung des Forschungsbetriebes sei ohne Zweifel problematisch. Schmid konnte sich nur an die Hoffnung klammern, daß die SPD aufgrund der öffentlichen Kritik von ihren Reformplänen wieder Abstand nahm. Ihm selbst blieb nur die Rolle des Don Quichotte, der in regelmäßigen Abständen seine Monita wiederholte, ohne damit auf irgendwelche Resonanz zu stoßen.