1896-1979 eine Biographie : Euphorischer Neubeginn im Südwesten 1945 – 1947
Tübingen 1945: Eine Provinzstadt soll Metropole werden
In den frühen Morgenstunden des 19. April wurde Tübingen durch die s. französische Panzerdivision unter General Mozat besetzt. Kreisleiter Hans Rauschnabel und Ernst Weinmann, der Oberbürgermeister Tübingens, hatten kurz vor dem Einmarsch der französischen Truppen die Flucht ergriffen. Die Einnahme Tübingens erfolgte kampflos, obwohl es auch dort in den letzten Tagen noch zu einem Befehlsgebungswirrwarr gekommen war, das fast zu einer Katastrophe geführt hätte. Schließlich gelang es, Tübingen zur Lazarettstadt zu erklären und so eine Zerstörung zu verhindern‘. Einheitliche Richtlinien für die Besetzung Deutschlands hatten die Franzosen im April 1945 noch nicht. Es gab zahlreiche Pläne, aber keine einheitliche Planung der Besatzungspolitik. Diejenigen, die eine „Politik der Pfänder“ betreiben wollten, hatten die Mehrheit hinter sich. Die Mitarbeiter der Militärregierung mußten im Sommer 1945 erst noch ausgebildet werden. Die Besatzungsverwaltung war ein Sammelbecken von Persönlichkeiten unterschiedlichster Provenienz und politischer Haltung gegenüber den Deutschen?. Die Mehrzahl der einmarschierenden Soldaten – unter ihnen waren zahlreiche Marokkaner, Algerier und Berber — machte sich die Devise zu eigen: „Le boche payera.“
In den ersten Besatzungstagen kam es zu zahlreichen Vergewaltigungen – und Plünderungen durchziehender marodierender Truppen. Maßlose Requirierungen wurden angeordnet. Alle Kraftfahrzeuge wurden beschlagnahmt, Bibliotheken und Institute nach wertvoller Literatur und teuren Geräten durchsucht. Ausgehsperren wurden verhängt und die Ablieferung von Wohnungsgegenständen, Rundfunkgeräten und Fotoapparaten verlangt. Schulen, Hotels und Kliniken dienten als Truppenquartiere, in die Villenviertel der Stadt zogen die Truppenstäbe ein’. Auch Carlo Schmids Haus auf der Waldhäuser Höhe wurde von Einquartierungen nicht verschont. Zuerst kamen Marokkaner ins Haus, dann Algerier. Carlo Schmid mußte während der ersten Besatzungswochen mit Frau und Kindern in den Kellerräumen hausen. Eine Ausnahme gab es auch für ihn nicht, obwohl er schon bald zum wichtigsten Verhandlungspartner der Franzosen in Tübingen wurde.
Im Anfang war Carlo Schmid. In Tübingen herrschte Ratlosigkeit. So ergriff Schmid, der mit dem Neuaufbau am liebsten sofort begonnen hätte, die Initiative. Er ging noch am ersten Tag der Besetzung auf das Rathaus, um mit dem französischen Truppenkommandanten zu verhandeln. Die wenigen verbliebenen Rathausangestellten und der von den Franzosen eingesetzte Oberbürgermeister, Fritz Haufmann, standen der Situation völlig hilflos gegenüber. Für Schmid war sie nicht neu. Er hatte bereits vier Jahre in einem besetzten Land gelebt – nur die Rollen waren jetzt vertauscht. Auch in Lille war es zu uferlosen Requirierungen gekommen. Schon damals hatte er versucht, Plünderungen und wilde Beschlagnahmungen zu unterbinden. Das versuchte er auch jetzt wieder. Requirierungen sollten nur noch nach Vorlage eines von einem Truppenkommandanten ordnungsgemäß ausgestellten Requisitionsscheines erlaubt sein. Zugleich bemühte er sich um eine Aufhebung des verhängten Ausgehverbotes und eine Regelung der Einquartierungen. Nach Möglichkeit sollten Privathäuser mit wertvollen Bibliotheken von Masseneinquartierungen verschont bleiben*. Die französischen Besatzer, die sich mit dem hilflos eingeschüchterten Rathauspersonal kaum verständigen konnten, scheinen über Schmids Vermittlungsversuche froh gewesen zu sein. Bereits zwei Tage nach dem Einmarsch der Franzosen wurde er von der angeordneten Arbeitsdienstpflicht befreit und erhielt die Erlaubnis, sich innerhalb Tübingens frei zu bewegen‘.
Doch vor Denunziationen war auch er nicht gefeit. Sie grassierten in den ersten Besatzungsmonaten wie schon in den Jahren nach 1933. Es gab eine Reihe zwielichtiger Gestalten, die unter Mithilfe des französischen Militärs in Tübingen ein Terrorsystem zu errichten suchten und Dutzende ihnen unliebsamer Tübinger Bürger hinter Schloß und Riegel brachten‘. Auch Schmid wurde das Opfer einer solch böswilligen Intrige. Am >23. April wurde er auf offener Straße unter dem Verdacht, ein Werwolf zu sein, verhaftet. Bei dem Verhör, in dem er diesen Verdacht als „grotesk“ bezeichnete, muß er entsetzlich gedemütigt und verprügelt worden sein, worunter er, sensibel wie er war, noch lange litt”. Mangels anderer Unterbringungsmöglichkeiten wurde er in eine Toilette eingeschlossen und mußte damit rechnen, „liquidiert“ zu werden. In den Anfangswirren konnte es leicht passieren, daß jemand das Opfer brutaler Willkür wurde. Zwei Tage später war Carlo Schmid wieder frei. Studentenpfarrer Bernhard Hanssler gelang es, ihn aus seiner ungewöhnlichen Zelle zu befreien“. Inzwischen hatte auch eine Haussuchung stattgefunden, bei der seine Baudelaire-Übertragung gefunden wurde. Sie mag den Verdacht, er sgi ein Werwolf, vollends entkräftet haben.
Bereits am 19. April hatten ehemalige Mitglieder der SPD und KPD in Tübingen einen Antifaschistischen Ausschuß gegründet, der die Arbeit des Neuaufbaus in seine Hände nehmen wollte. Vorsitzender war zunächst Karl Kammer, vor 1933 Mitglied der KPD, der aber schon bald von dem ehemaligen Sozialdemokraten Wilhelm Baudermann abgelöst wurde. Unter seinem Vorsitz traf sich der sogenannte „Antifaschistische Block“ seit Ende April regelmäßig mittwochs in dem Altstadtlokal „Der Pflug“, das während der NS-Zeit das Stammlokal der Sozialdemokraten gewesen war?. Carlo Schmid schloß sich Ende April dem „Antifaschistischen Block“ an, denn er wollte verhindern, daß dieser sich zu einem Forum kommunistischer Agitation entwickelte. Zusammen mit seinem Freund Victor Renner und einigen anderen Mitgliedern des Juristenstammtisches der dreißiger Jahre wandelte er den „Antifaschistischen Block“ in eine „Demokratische Vereinigung“ um, in der die Mitarbeit von Angehörigen des Bürgertums willkommen war. So entstand eine Art inoffizieller Gemeinderat, der sich der in Tübingen anfallenden Probleme annahm. Die „Demokratische Vereinigung“ hatte kein ausgearbeitetes politisches Programm. Sie sorgte sich um die unmittelbaren Nöte: die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, die Verwahrlosung der Jugend, die Wiedereröffnung der Schulen, die „lebhaft alle Gemüter“ interessiert haben soll, und die politische Säuberung. Die ehemaligen Blockleiter wurden verpflichtet, Listen abzugeben, „woraus die Mitglieder des Blocks und ihre Funktionen in der Partei und in sonstigen Gliederungen der SS, SA und NSKK ersichtlich waren“ ‚°, Manchmal versammelte sich auch ein kleiner Kreis im Eßzimmer der Familie Schmid, um Probleme des Neuaufbaus zu beraten“.
Schon in den ersten Wochen wurde Carlo Schmid zur dominanten Persönlichkeit in der „Demokratischen Vereinigung“. Alles hatte noch provisorischen Charakter. Durchsetzungsfähigkeit hing von persönlichen Beziehungen ab. Schmid hatte aufgrund seiner ausgezeichneten Französisch- Kenntnisse und seinen Erfahrungen in der. Besatzungsverwaltung schon bald engen Kontakt zur französischen Besatzungsmacht. Für Corbin de Mangoux, den späteren Kabinettsdirektor des Gouverneurs von | Württemberg-Hohenzollern, war er der Sprecher der Tübinger Bürger. Mangoux, dem Rache- und Vergeltungsgedanken fernlagen, der das Besatzungsregime in Tübingen gern in geordnete Bahnen leiten wollte, ließ sich‘ von’ dem ehemaligen Militärverwaltungsrat in Lille informieren und beraten. Schmid hatte den Zugang zu den Machthabern. Ohne ihn hätte, er sich nicht so leicht durchsetzen können. Er war ein Neuling in der Politik. Er war nicht wie so viele Nachkriegspolitiker bereits vor 1933 in Amt und Würden gewesen. Einige betrachteten den Newcomer mit Argwohn. Von seinen Gegnern wurde er schon bald als „Mann der Franzosen“ denunziert‘?.
Die Mehrzahl der Tübinger Bürger und die große Mehrheit der „Demokratischen Vereinigung“ schätzte seine Bemühungen um eine Zusammenarbeit mit den Franzosen, durch die die Härte des Besatzungsregimes zumindest etwas abgemildert wurde. Zu den Hauptanliegen der „Demokratischen Vereinigung“ gehörte neben den unmittelbaren Versorgungsproblemen die Besetzung der kommunalen Ämter. Die alten Nationalsozialisten sollten möglichst schnell aus ihren Ämtern entfernt werden. Eine Neubesetzung der Ämter durch Kommunisten war unerwünscht. Schmid machte keinen Hehl aus seiner antikommunistischen Einstellung. Eine Zusammenarbeit mit Kommunisten kam für ihn nicht in Frage. Genug, daß in der „Demokratischen Vereinigung“ auch Kommunisten saßen. Nach einigen Mitte Mai mit der örtlichen französischen Militärverwaltung geführten Verhandlungen erhielt die „Demokratische Vereinigung“ die Erlaubnis, aus ihrer Mitte einen Gemeinderat zu wählen. Er konstituierte sich am 25. Mai und ernannte Carlo Schmid zum Vorsitzenden. Er regte eine Bevölkerungs- und Wohnraumzählung an, die Anfang Juli auch durchgeführt wurde’3. Das war die einzige Maßnahme, die von dem Gemeinderat ausging, denn er tagte nur einmal am 25. Mai, dem Tag, an dem er sich konstituierte. Auf. Befehl übergeordneter französischer Militärbehörden wurde er bereits sechs Tage später wieder aufgelöst. Dort war man der Meinung, daß sich der Neuaufbau von oben nach unten vollziehen müsse. Spontane Initiativen von unten waren verpönt, denn es herrschte die Überzeugung vor, daß die Deutschen zur Demokratie erst noch erzogen werden müfßsten’*. Vielleicht war es gut so. Schmid wäre sonst möglicherweise als Oberbürgermeister Tübingens in die Geschichte eingegangen.
Er ließ sich durch den Rückschlag nicht entmutigen. Er drängte weiter auf die Beseitigung der ehemaligen Pgs. aus den kommunalen Ämtern. In einer Zeit, in der es keine überregionalen Behörden gab, waren der Bürgermeister und der Landrat die beiden wichtigsten Amtsträger. Tübingens Oberbürgermeister Fritz Haufßmann war alt und krank und seiner Aufgabe in keiner Weise gewachsen. Hart ging Schmid mit Landrat Friedrich Geißler ins Gericht. Dieser habe es versäumt, die nationalsozialistischen Bürgermeister in seinem Kreis zu entfernen und sei „reaktionären Kräften“, die sich überall schon wieder bemerkbar machten, nicht entgegengetreten. Das Amt des Landrats verlange „größte Gewissenhaftigkeit“, die Geifsler vermissen ließ und die man auch nicht von ihm erwarten könne“, Energisch und zielsicher ging er die politischen Probleme, die geregelt werden mußten, an. Er selbst kam für die beiden Posten nicht in Frage. Als er seine Monita gegen Geißler in der „Demokratischen Vereinigung“ vortrug, war er schon Landesdirektofrü r Kultus in Stuttgart. Aber sein Freund Victor Renner war seiner Ansicht nach der rechte Mann für die beiden Schlüsselämter und so tat er alles, was in seiner Macht stand, daß Renner die Ämter bekam. Am 8. Juni wurde Renner Oberbürgermeister von Tübingen, Mitte Juli übernahm er auch das Landratsamt’° Ohne eine gezielte Personalpolitik ließ sich ein wirklicher politischer Neuanfang nicht erreichen. Einige redeten von Patronage und Kungelei’7”. Der unkonventionelle und kunstsinnige Victor Renner, der politisch ein unbeschriebenes Blatt war, entsprach ebensowenig wie Carlo Schmid dem biederen Habitus der Tübinger Bürger. Schmid wollte auf jeden Fall verhindern, daß die Parteiveteranen aus der Weimarer Republik in einflußreiche Stellungen gelangten und dort ihre alte Politik fortsetzten. Eine neue Elite sollte einen neuen Staat aufbauen. Seit Spätsommer 1945 führte die „Demokratische Vereinigung“ nur noch ein Schattendasein. Carlo Schmid referierte gelegentlich noch über seine Arbeit in der Landesdirektion in Stuttgart und im Tübinger Staatssekretariat“®. Er blieb der „Demokratischen Vereinigung“ bis zu ihrer Auflösung verbunden, obwohl er sie als Sprungbrett für eine politische Karriere schon längst abgeschrieben hatte.
Auch als Schmid in Stuttgart war, schlug sein Herz für Tübingen, insbesondere für die Universität, von deren Ruf der Ruf Tübingens abhing. Nachdem er schon vor Einmarsch der Franzosen einen Rektoratswechsel in Gang zu setzen versucht hatte, bemühte er sich sofort nach der Besetzung Tübingens um die Bildung eines Arbeitsstabes unbelasteter Professoren und Universitätsangehöriger, der am 20. April erstmals zusammentrat. Am 3. Mai bekam der Arbeitsstab die offizielle Sanktion des noch amtierenden Rektors Stickl‘?. Nach offizieller Terminologie war der Arbeitsstab „zur möglichst schnellen und reibungslosen Abwicklung und Erledigung der vielseitigen Verhandlungen mit der Besatzungsmacht“ gebildet worden. Er sollte sich täglich ıs Uhr zur Besprechung der anfallenden Aufgaben treffen. Schmids Hauptanliegen war die politische Selbstreinigung der Universität, denn er wollte die Entnazifizierung auf keinen Fall den Franzosen überlassen, die bereits am 3. Mai nach eigenem Ermessen acht Professoren verhaftet hatten, von denen einige überhaupt nicht zu den Belasteten zählten. Der Arbeitsstab protestierte ohne Erfolg gegen ihre Verhaftung und Verbringung in ein Internierungslager nach Balingen”. Selbst als Schmid im Oktober Vorsitzender des Staatssekretariats wurde, vermochte er nichts für sie zu tun.
Für die anvisierte Erneuerung der Universität standen Schmid Hans Rupp und Konrad Zweigert zur Seite, die beide Mitarbeiter des nach Hechingen ausgelagerten Instituts für ausländisches und internationales, Privatrecht waren. Zweigert wie Rupp teilten Schmids geistige Haltung und Lebenseinstellung. Auch Zweigert, der eine Zeitlang im Hause Schmid wohnte, war eine Künstlernatur und seinem Habitus nach ein Aristokrat mit sozialem Engagement, der Schwierigkeiten hatte, sich mit der modernen Massendemokratie abzufinden”‘. Rupps Einstellung unterschied sich kaum von der Zweigerts. Heuss nannte ihn später spöttisch die „Sevres-Tasse auf dem Vertiko der SPD“ ?*. Rupp und Zweigert waren ideale Mitarbeiter für Schmid, der nur mit Menschen zurechtkam, die eine ähnliche Lebenseinstellung hatten wie er.
Der Wechsel im Rektorat mußte schleunigst vollzogen werden, wollte man verhindern, daß die französischen Besatzer die Sache selbst in die Hand nahmen. Der amtierende Rektor Stickl freilich war nur schwer zu einem Rücktritt zu bewegen. Stickl ging es gegen die „nationale Ehre“, „ohne Zwang das zu tun, was die Besatzungsmacht wünsch(t)e“ *. Einen putschartigen Sturz des Rektors durch eine kleine Gruppe innerhalb der Universität lehnte Schmid ab. Die Neuorganisation habe von den Fakultäten aus zu erfolgen „auf breitester Grundlage mit aller Rücksichtnahme auf den Rektor, dem die Fakultät Achtung und Dank für seine charaktervolle Haltung und Führung der Geschäfte schuldet“ **. Er wollte mit den Vertrauenspersonen der einzelnen Fakultäten in Verbindung treten, um die Zustimmung der Fakultäten zur Absetzung Stickls zu erreichen. Außerdem mußte er Kontakt zu den zuständigen französischen Dienststellen aufnehmen, da ohne deren Genehmigung ein Rektoratswechsel nicht vollzogen werden konnte. Am 6. Mai erörterte die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität die rechtliche Problematik eines Rektoratswechsels. Carlo Schmid leitete die Diskussion. Es herrschte schließlich allgemein die Auffassung, daß die Rechtsgrundlage für die Amtsführung des bisherigen Rektors fortgefallen sei. Stickl sollte dieser Rechtsstandpunkt vorgetragen werden”. Einen Tag später wich Stickl dem Druck und legte das Rektorat nieder. Hermann Schneider, ein politisch überaus konservativer Germanist, übernahm das Rektorat. Er war offensichtlich der einzige gewesen, auf den man sich hatte einigen können. Die offizielle Wahl des Rektors erfolgte am ı9. Mai. In der Öffentlichkeit vertrat Hermann Schneider die Universität, inoffiziell kümmerte sich Carlo Schmid, der sich ständig mit Schneider beriet, um die Belange der Universität und war ihr Sprecher bei den Besatzungsbehörden. So lag der Neubeginn der Tübinger Alma mater in den Händen eines durchsetzungsstarken Privatdozenten, der noch nie in einem Universitätsgremium gesessen hatte. Es war keiner da, der ihm den Rang streitig machte, weil sich fast alle während der NS-Zeit kompromittiert hatten. Die Universität stellte ihm ein kleines Büro zur Verfügung, in dem er die Verhandlungen führen konnte”.
Schmid erwirkte bei der Militärregierung die Zustimmung für die Rückkehr der Universität zu der vor 1933 geltenden Universitätsverfassung, die während der NS-Zeit durch das Führerprinzip ersetzt worden war. Erstmals seit zwölf Jahren trat am ı1. Mai, also bereits drei Wochen nach dem Einmarsch der Franzosen, der Kleine Senat zusammen. Privatdozent Schmid wohnte der Sitzung als Vertreter der Dozenten bei. Die erforderliche Zustimmung des Großen Senats zu der neuen Zusammensetzung des Kleinen Senats lag nicht vor?”. Formale Ordnungsprinzipien konnten damals nur selten berücksichtigt werden. Der Große Senat konstituierte sich erst eine Woche später am 19. Mai und wählte „Landgerichtsrat Dr. Schmid“ per Akklamation zum Vertreter der Dozenten im Großen und Kleinen Senat. Man würdigte damit seine „großen Verdienste“, die er sich als „Mittelsmann zwischen Universität und Besatzungsbehörde“ erworben hatte”®. Im Juni 1945 wurde er zum außerplanmäßigen Professor ernannt. Die Einwände des Dozentenführers, so stellte man in der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät fest, seien nunmehr gegenstandslos”. Für Schmid war die Ernennung eine Art Wiedergutmachung.
Der Rektoratswechsel war vollzogen, die alte Universitätsverfassung war wieder hergestellt. Einer Wiedereröffnung der Universität stand nun eigentlich nichts mehr im Wege. In mehreren Mitte Mai geführten Gesprächen stellte der Tübinger Ortskommandant Metzger Schmid ihre baldige Wiederöffnung in Aussicht und gelobte sogar, die äußerste Zurückhaltung der französischen Besatzungsmacht bei der politischen Säuberung der Universität’°,
Noch keine Entscheidung war gefallen über die zukünftige Organisation der Studentenschaft. Die Tradition der Korpsstudenten war in Tübingen noch immer lebendig. Bereits Mitte Mai kam es zur Gründung einer „Vereinigung Tübinger Korpsstudenten“, die ihre offizielle Zulassung zu erreichen suchte?‘. Ende Mai/Anfang Juni erhitzte die Frage, ob die Burschenschaften wiederzugelassen werden sollten oder nicht, die Gemüter von Professoren, Dozenten und Studenten. Wenn Carlo Schmid allein zu entscheiden gehabt hätte, wären die Korporationen verboten worden. Schon als Student hatte er sich nicht an der Burschenherrlichkeit beteiligt. Dieses bornierte Gemeinschaftsleben war ihm zuwider. Jetzt plädierte er dafür, den Studenten existentiell herauszufordern: „Man muß ihn (…) vor das Nichts stellen, um ihm eine Chance zu geben, daß er etwas wird.“ 3” Er fürchtete, daß die Korporationen der HJ-Generation eine Zuflucht in ein neues Gemeinschaftsleben böten, so daß sie nicht zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst und mit der Vergangenheit gezwungen würden33. Durch die Wiederzulassung der Korporationen leiste man dem Entstehen eines reaktionären Klimas an der Universität Vorschub. –
Schmids Existentialismus stieß bei seinen Universitätskollegen auf wenig Verständnis. Sie konnten sich keine Universität ohne die alte Burschenherrlichkeit vorstellen und sprachen sich mehrheitlich für die Wiederzulassung der Korporationen aus. Schmid war verärgert. Sarkastisch stellte er fest, daß die zukünftige Universität in die „Gruppe Geist und Gruppe Bier“ geteilt werde’*. Er schätzte die geistige und seelische Verfassung der zukünftigen Studenten äußerst pessimistisch ein. Gegen die „Wiederzulassung einer allgemeinen Studentenvertretung hatte er größte Vorbehalte, weil er ihren Mißbrauch durch „geschlossene Gruppen“ befürchtete, die die Studenten erneut für eine totalitäre Weltanschauung vereinnahmen könnten. Allenfalls Fachschaften wollte er zulassen’. Auch hier wurde er überstimmt.
Durchsetzen konnte er sich dagegen mit seinem ehrgeizigen Plan, aus der Tübinger Brotuniversität eine Gelehrtenrepublik zu machen. Schon immer war er der Überzeugung gewesen, daß die Universitäten sich nicht damit begnügen dürften, Fachleute auszubilden, die in seinen Augen „völlige Banausen“ waren3°. Carlo Schmid wollte das alte Humboldtsche Universitätsideal wiederbeleben. Ohne eine rasche Entnazifizierung und die Berufung herausragender Gelehrter an die Universität war an eine Verwirklichung dieses Ideals nicht zu denken. Assistiert von Rupp und Zweigert erstellte der Landesdirektor für Kultus in Stuttgart Säuberungslisten, die er in Tübingen mit Rektor Schneider besprach. Eile schien auch deshalb geboten, weil im Sommer 1945 bei’ einigen Dozenten der abstruse Gedanke aufkam, zu einer „nationalen Erhebung“ aufzurufen?’. Am 4. und 19. Juli erfolgten die ersten Suspendierungen von belasteten Lehrkräften. 46 Mitglieder der Universität wurden einstweilig aus dem Dienst ‚entlassen?®. Auf Befehl der französischen Militärregierung wurden am 25. Oktober endgültig 40 Universitätslehrer und sonstige Mitarbeiter entlassen??. Das war immerhin fast ein Viertel des Lehrkörpers der Universität. Hätte man alle Pgs. hinausgeworfen, so hätten über drei Viertel der Lehrkräfte entlassen werden müssen. Derartige radikale Maßnahmen, für die sich einige während der NS-Zeit benachteiligte Professoren aussprachen, waren für Schmid inakzeptabel. Er wußte nur zu gut, in welcher Bedrängnis sich mancher Universitätskollege zum Parteieintritt entschlossen hatte.
Der Säuberungsbefehl der französischen Militärregierung war in Übereinstimmung mit den von Schmid vorgeschlagenen Entlassungen erfolgt. Schmid hatte sich zuvor mit dem französischen Kulturoffizier Rene Cheval über die Vorgehensweise bei der politischen Säuberung der Universität unterhalten. Sie waren beide der Meinung, daß Entlassungen nicht aufgrund bloßer Parteizugehörigkeit vorgenommen werden könnten. Jeder Fall sollte individuell beurteilt werden. Die politische Einstellung und das Verhalten während des NS-Regimes sollten die ausschlaggebenden Kriterien sein. Schmid hatte schwere Verantwortung auf sich geladen. Es gab schwierige Fälle, bei denen mit der „Apothekerwaage“ gemessen werden mußte. Zwei Beispiele sollen erläutern, wie er vorging. Der eine betraf einen evangelischen Theologen, der kein Pg. war: „Über seine große wissenschaftliche Leistung auf dem Gebiet des Neuen Testaments ist kein Zweifel möglich. Er hat sich jedoch in der Judenfrage, insbesondere durch seine Mitarbeit im Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschlands – Forschungen zur Judenfrage -, derartig kompromittiert, daß er als völlig untragbar für die Universität bezeichnet werden muß. Vorschlag: Dienstentlassung mit Ruhegehalt.“ Anders lautete das Urteil über einen Pg.: „Herr Prof. Dr. X ist ein vorzüglicher und hochgeschätzter Altphilologe, der stets ein aufrechter Gegner des Nationalsozialismus war. Wenn er aus einer gewissen Ängstlichkeit heraus sich doch noch zum Eintritt in die Partei hat überreden lassen, so ist ihm das weiter nicht nachzutragen. Sein Weggang würde einen wirklichen Verlust für die Universität bedeuten. Vorschlag: Wiedereinstellung.“ *° Schmid bemühte sich um ein Höchstmaß an Gerechtigkeit. Honoriert wurde ihm das nicht. Wer Säuberungslisten erstellt, schafft sich viele Feinde. So auch Schmid“. Kaum einer der Entlassenen akzeptierte den Säuberungsbescheid reumütig. Und es waren zumeist die entschiedenen Nationalsozialisten, die sich ungerecht behandelt fühlten. Robert Wetzel, der Schmids Ernennung zum außerplanmäßigen Professor verhindert hatte, beklagte, daß er das Opfer „autoritärer Kabinettsjustiz“ geworden seit,
Kämpfen mußte Schmid auch, um seine Berufungsvorschläge durchzusetzen. Mit Initiative und Tatkraft ging er daran, an der Tübinger Universität die geistige Elite Deutschlands zu versammeln. Für kurze Zeit wurde die Utopie einer Gelehrtenrepublik zur Wirklichkeit. Romano Guardini, katholischer Theologe, Philosoph und Ästhet, war einer der ersten, die Schmid für Tübingen zu gewinnen suchte. Es kostete einige Anstrengung, bis sich der überall hochgeschätzte Gelehrte, der auch einen Ruf nach München und Heidelberg erhalten hatte, zur Annahme der ihm angebotenen Professur in Tübingen entschied. Aber Schmid wollte ihn unbedingt in Tübingen haben und so erreichte er schließlich, daß die Fakultät Guardini eine „Professur ad hominem“ bewilligte, so daß er ganz nach freiem Ermessen seine Lehrtätigkeit gestalten konnte*. Er brauchte nicht nur Katholische Theologie zu lehren, sondern konnte auch in unnachahmlicherweise Rilkes „Duineser Elegien“ rezitieren. Guardini versammelte in Tübingen einen großen Kreis von Studenten um sich, für die er eine geistige Autorität wurde**. Ein geistiger Mentor der Studenten war auch der Heidegger-Schüler Wilhelm Weischedel, dem Schmid, der Weischedel freundschaftlich verbunden war, trotz aller Vorbehalte der Universität eine Dozentur verschaffte*‘. Heidegger selbst hätte er gerne nach Tübingen geholt. Das mag verwundern. Hatte sich doch der große Gelehrte während der NS-Zeit furchtbar kompromittiert. Doch sollte ein Denker wie Heidegger mit der Elle des Normalmaßes gemessen werden? „Wer groß denkt, muß groß irren“ — das war eine dreiste Selbstrechtfertigung des großen Philosophen und doch steckte in dem Satz auch ein Gran Wahrheit*°. Heideggers Existentialismus beeindruckte Schmid zu sehr, als daß er Heidegger seiner politischen Vergangenheit wegen das Recht, zu lehren, hätte absprechen können. Für Heidegger wäre ein Jugendtraum in Erfüllung gegangen, wenn er in der Hölderlin-Stadt hätte lehren können. Innerhalb der französischen Militärregierung bestanden durchaus Sympathien für Heidegger, in dem man einen deutschen Sartre erblickte. In der Fakultät wurde sofort Protest gegen eine Berufung Heideggers laut und auch innerhalb der französischen Militärregierung wuchsen bei einigen Mitgliedern die Bedenken*”. Schmid mußte nachgeben.
Noch eine Enttäuschung mußte er erleben. Der angesehene Bonner Romanist Ernst Robert Curtius hatte keinerlei Interesse an einem Lehrstuhl in Tübingen*°. Aber eine Reihe namhafter Gelehrter konnte er dann doch in das vom Krieg verschont gebliebene Tübingen locken: den Philosophen und Pädagogen Eduard Spranger, dessen Vorlesungen über Platon, Kant und den Deutschen Idealismus schon vor 1933 Tausende Hörer angezogen hatten, den Gräzisten und Althistoriker Walter F. Otto und den Theologen Helmut Thielicke, der allerdings schon bald in den Ruf geriet, ein „Kirchengoebbels“ zu sein*. Im Frühjahr 1946 wurde der Moraltheologe Theodor Steinbüchel Rektor der Universität, der dort als erster über Marx las. Auch zwei hervorragende Naturwissenschaftler konnte er an die Tübinger Universität binden. Alfred Kühn, Direktor des Kaiser- Wilhelm-Instituts für Biologie, und Adolf Butenandt, der 1939 den Nobelpreis für Chemie erhalten hatte und das Kaiser-Wilhelm-Institut für Biochemie leitete. Der Fortbestand der Kaiser-Wilhelm-Institute war gefährdet. Schmid versuchte ihn zu sichern, indem er den beiden Wissenschaftlern zu einem Lehrstuhl an der Universität verhalf. So konnte zugleich die Grundlage geschaffen werden für eine enge Kooperation von Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und Tübinger Universität. Er wollte aus Tübingen ein Zentrum der Kaiser-Wilhelm-Institute machen. Bereits im Juli 1945 suchte er nach Möglichkeiten, um die Institute finanziell zu fördern. Wenn Schmid jemals euphorisch war, so war es 1945. Er hatte dank einer Machtfülle, über die in normalen Zeiten kein Kultusminister verfügt, den Widerstand der Fakultäten zu überwinden vermocht und aus der Tübinger Universität eine der angesehensten Universitäten Deutschlands gemacht. Die französische Militärregierung, die dem erst 27jährigen Rene Cheval die Aufsicht über die Universität übertragen hatte, hatte ihm bei den Berufungen fast freie Hand gelassen. Noch später schwärmte er von dieser Zeit des „aufgeklärten Absolutismus“°, den es freilich nur im Bereich Erziehung und Bildung gab und auch da nur zu Beginn der Besatzungszeit.
Am 20. August durfte die Tübinger Theologische Fakultät als erste Fakultät in Deutschland den Lehrbetrieb wiederaufnehmen. Am 15. Oktober, einen Tag vor Einsetzung des Staatssekretariats für Württemberg- Hohenzollern, erfolgte die feierliche Wiedereröffnung der Tübinger Alma mater. Gouverneur Widmer hielt für die französische Militärregierung die Festrede. Er sprach Carlo Schmid aus dem Herzen, als er ausführte: „Die Tore dieser Universität, die sich heute öffnen, sollen die Schwelle zu einer besseren Welt sein, in der jeder am Prüfstein der Kunst und Wissenschaft sein wirkliches menschliches Maß finden kann.“ 5!
Schmid war voller Ideen, Pläne und Träume. Und für einen Moment konnte er sogar hoffen, daß diese Träume Wirklichkeit würden. Eine Kulturmetropole wollte er aus Tübingen machen, die Berlin um nichts nachstand. Freilich, er vergaß, daß Tübingen kulturell nur aufblühte, weil die anderen Städte noch in Schutt und Asche lagen. Er plante, Tübingen und Stuttgart zu einem großen Verlagszentrum zu machen. Die ehemals in Berlin, Leipzig und Jena beheimateten Verlagshäuser Reclam, Brockhaus, Insel, Eugen Diederichs und Matthiesen waren im Krieg zerstört worden. Schmid ließ nichts unversucht, um ihnen in Stuttgart oder Tübingen eine neue Unterkunft zu verschaffen”. Doch bei dem ganzen Vorhaben war der Wunsch zu sehr der Vater des Gedankens gewesen. Für die großen Verlage wie den Insel- und den Eugen-Diederichs-Verlag ließ sich in Tübingen keine geeignete Unterkunft findenS?. Immerhin: Der Reclam- Verlag konnte in Stuttgart angesiedelt werden, der Matthiesen-Verlag, die spätere Wissenschaftliche Buchgesellschaft, logierte für einige Jahre in Tübingen. Auch einige kleinere Verlage wie der Katzmann-Verlag und der Ernst-Wasmuth-Verlag fanden in Tübingen eine Bleibe. Im Frühjahr 1946 konnten der J.C.B. Mohr- und der Wunderlich-Verlag in Tübingen wiedereröffnet werden. So war aus Schmids ehrgeizigem Projekt doch noch einiges geworden.
Mit einem anderen Projekt scheiterte er völlig: Eine der Frankfurter Zeitung oder der Times vergleichbare Tageszeitung konnte in Tübingen nicht herausgegeben werden°*. Diesmal stellten sich die Franzosen quer, die zwar zunächst zustimmten, aber dann doch andere Pläne über die Neuorganisation der Presse entwickelten als Schmid, der mit dem französischen Presseoffizier Loutre überhaupt nicht zurechtkam°.
Der Mißerfolg ließ sich leicht wegstecken, erfüllte sich doch einer seiner liebsten Träume: Tübingen erhielt ein Theater, das in der Nachkriegszeit zu den besten Theatern Deutschlands zählte. Bereits im August wurden durch eine Kammerspielgruppe Kleists „Zerbrochener Krug“, Shaws _„Pygmalion“ und Ivers „Parkstraße 13“ aufgeführt. Im September erlebten die Tübinger dann ein Theaterereignis, das noch heute in den Annalen der Stadtgeschichte steht: die Freilichtaufführung von Romeo und Julia auf ‚dem Tübinger Marktplatz. Hannes Messemer spielte den Romeo. Einen Abend lang verwandelte sich Kunst in Leben und Leben in Kunst. Die Aufführung war eine Idee des Regisseurs Erich Peter Neumann, inszeniert wurde die Aufführung von Günter Stark und Wolfgang Müller. Kreiskommandant Oberst Huchon konnte von Schmid dazu überredet _ werden, die Ausgangssperren zu lockern. Wenn es um Kunst ging, konnten die französischen Besatzungsbehörden sehr großzügig sein.
Am 19. Oktober — Schmid war seit drei Tagen Vorsitzender des Staatssekretariats für Württemberg-Hohenzollern — wurde das Städtische – Schauspielhaus in Tübingen eröffnet. Carlo Schmid und Victor Renner “ konnten sich gegenseitig beglückwünschen. In kürzester Zeit hatte Tübingen dank ihrer Initiative ein Schauspielhaus bekommen, das noch dazu über ein erstklassiges Ensemble verfügte. Theodor Loos, Lotte Hardt, Anna Dammann, Erika von Thellmann und Hannes Messemer. 1946 konnte auch noch Elisabeth Flickenschildt für das Tübinger Theater gewonnen werden. In Lille hatte Schmid Kontakte zu maßgebenden Theaterleuten geknüpft, die ihm jetzt halfen, hervorragende Schauspieler nach Tübingen zu holen. Einige Schauspieler kannte er schon aus Liller Zeit: Lotte Hardt z.B., die in Lille mehrere Gastspiele gegeben hatte. Auch einige Schauspieler des Liller Fronttheaters folgten seinem Ruf nach Tübingen. Die Tübinger waren theaterfreudig. Ende 1945 hatte das Schauspielhaus Tübingen Einnahmen von 97000,- RM bei Ausgaben von 100. 000,- RM?7. Die Musikfreunde kamen auch nicht zu kurz. Ende 1945 verfügte Tübingen erstmals über ein ausgezeichnetes Kammerorchester.
Für kurze Zeit wurde Tübingen die Kulturmetropole Deutschlands. Ausnahmezeiten sind Chance und Herausforderung. Carlo Schmid wußte die Gunst der Stunde zu nutzen. Er machte die Universität zu einer Gelehrtenrepublik und Tübingen zu einem Zentrum der Musen. Für ihn war geistige Kost und das ästhetische Spiel ebenso wichtig wie das tägliche Brot. Es wäre ungerecht, ihm vorzuwerfen, er habe dem Spiel und der Schöngeisterei gefrönt, während Tübingens Kinder hungerten. Selbst Adenauer, im Vergleich zu Schmid gewiß eine prosaische Natur, meinte im Sommer 1945, daß die Stillung des Hungers und Dursts nach geistigen Werten ebenso wichtig sei wie die materielle Versorgung der Menschen, Im übrigen kannte Schmid auch die Prosa der wirtschaftlichen Verhältnisse: Requirierungen, Lebensmittelentnahmen, die in keinem Verhältnis zu den wirklichen Bedürfnissen der Besatzungsmacht standen, Demontagen, die die Industrie Württembergs zerstörten. Obwohl er wußte, wie zermürbend der tägliche Kleinkampf gegen eine Besatzungsmacht ist, wollte er ihn aufnehmen. Die Franzosen sollten aus Württemberg keine Ausbeutungskolonie machen. Auch deshalb übernahm er Mitte Juni 1945 das Amt des Landesdirektors für Kultus, Erziehung und Kunst in Stuttgart.
Eine Landesverwaltung im Widerstreit zwischen Amerikanern und Franzosen
In einem Wettrennen mit der amerikanischen Armee war es am >. April 1945 der französischen Armee unter General de Lattre de Tassigny gelungen, Stuttgart zu besetzen. Das widersprach Absprachen, die Amerikaner und Franzosen zuvor getroffen hatten, um die sich aber General de Gaulle wenig kümmerte. Stuttgart war ein territoriales Faustpfand, von dem aus man den Zugriff auf ganz Württemberg wagen konnte. Die Amerikaner freilich dachten gar nicht daran, den Franzosen Stuttgart und damit möglicherweise ganz Württemberg zu überlassen!. So versuchten die Franzosen faits accomplis zu schaffen und beauftragten bereits am ». Mai, zwei Wochen nach der Besetzung, den Stuttgarter Oberbürgermeister Arnulf Klett mit der Bildung von Landesdirektionen. Die Landesverwaltung sollte, das wurde ausdrücklich betont, nur einen vorläufigen Charakter haben. Für Klett war es nicht einfach, kompetente, unbelastete Persönlichkeiten zu gewinnen. Es mußte damit gerechnet werden, daß in Kürze die Amerikaner in Stuttgart das Sternenbanner hissen würden. Dann würde die französische Landesverwaltung abgesetzt werden und die Aussicht auf eine politische Karriere war erst einmal dahin. Bei den Amerikanern als Mann der Franzosen zu gelten, konnte einem nur schaden. Reinhold Maier, der frühere Wirtschaftsminister Württembergs, lehnte, obwohl er von Klett geradezu bestürmt wurde, sich der politischen Verantwortung nicht zu entziehen, die Übernahme eines Amtes ab. Klett setzte ihn trotzdem auf die Vorschlagsliste, die er am 21. Mai der französischen Militärregierung überreichte”. Schmids Name stand nicht auf der Liste. Wer kannte in Stuttgart schon diesen Landgerichtsrat und Privatdozenten, der vor 1933 keiner Partei angehört hatte und sich auch sonst kaum politisch hervorgetan hatte.
Bei der französischen Militärregierung fand Kletts Liste wenig Gefallen. Gar nicht einverstanden waren sie mit Theodor Bäuerle, den Klett als Landesdirektor für Kult und Erziehung vorgeschlagen hatte3. Bäuerle war bis 1936 Direktor des Vereins zur Förderung der Volksbildung und stand in engem Kontakt zu Eugen Rosenstock-Huessy. Er hatte vor 1933 keiner Partei angehört und war 1942 für einige Wochen von der Gestapo verhaftet worden. Es mag sein, daf$ die Franzosen keinen Unterschied zwischen – der Volksbildungsbewegung und der völkischen Bewegung zu sehen vermochten und deshalb gegen die Einsetzung Bäuerles als Landesdirektor “für Kult die größten Bedenken hatten. Von deutscher Seite kamen keine neuen Vorschläge. So mußten die Franzosen selbst nach einer Alternative für Bäuerle suchen. Die Wahl fiel auf Carlo Schmid. In der zweiten Juniwochg erfuhr er, daß? der Gouverneur für Württemberg General Schwartz wünschte, daß er die Landesdirektion für Kult in Stuttgart übernehme. Für Schwartz war der frankophil eingestellte Tübinger Privatdozent, der sich so tatkräftig für den Neuaufbau der Tübinger Universität einsetzte, der geeignete Mann. Er sah in ihm einen „actif collaborateur“°. Der Begriff Kollaborateur hatte damals keinen negativen Beigeschmack. Schwartz wollte damit nicht sagen, daß Schmid ein willfähriges Werkzeug der Franzosen sei. Seine Entscheidung für den politischen Newcomer war vermutlich von der Hoffnung begleitet, daß man auf dem Gebiet der Bildungs- und Kulturpolitik gut mit ihm zusammenarbeiten konnte, weil man sich über deren Inhalte und Ziele weitgehend einig war. Im übrigen wußte in Fragen der Besatzungspolitik niemand so gut Bescheid wie Schmid. So stand plötzlich, in allerletzter Minute Carlo Schmid auf der Liste der Landesdirektoren, ein Unbekannter, dessen Name kaum jemand richtig schreiben konnte. Argwöhnisch las man den Namen des Neuen. Wer war „Carl Schmidt“ ?°
Schmid scheint das Angebot mit einem lachenden und einem weinenden Auge vernommen zu haben. Weder wußte er, welche Kompetenzen er als Landesdirektor haben sollte, noch welche Dauer der Landesverwaltung beschieden sein sollte. Es war ein Wagnis, das Amt zu übernehmen. Er ging es ein. Wie sonst hätte er seine Pläne zu Erneuerung der Universität verwirklichen sollen? Wie sonst hätte er den Ausbeutungspraktiken der Franzosen entgegentreten können? Ein Tübinger Bürger, der einen „widerspenstigen“ Holzgaswagen besaß, bot sich an, ihn nach Stuttgart zu bringen. Nach einigen Zwischenfällen kam man dort auch an’. Am 13. Juni wurde die Landesverwaltung in Stuttgart eingesetzt. Fritz Ulrich, Reichstagsabgeordneter der SPD bis 1933, übernahm das Innenressort, Josef Beyerle, vor 1933 Landesvorsitzender des Zentrums und Justizminister Württembergs, das Justizressort. Die anderen sechs Landesdirektoren waren Politiker zweiter Garnitur, die nur im regionalen Umkreis bekannt waren?. Als die Landesdirektoren, ohne vorher die Franzosen um Erlaubnis gefragt zu haben, am 18. Juni erstmals zu einer gemeinsamen Sitzung zusammentraten, waren sie nicht sicher, ob weitere gemeinsame Sitzungen nicht verboten würden?. Josef Beyerle wurde einstimmig zum Sprecher der Landesverwaltung bei der französischen Militärregierung ernannt, nach deren Weisung die Landesverwaltung keinen Vorsitzenden haben durfte.
Die Landesdirektion für Kult fand Unterkunft in dem stark zerstörten Gebäude der technischen Hochschule in Stuttgart. Die meisten Räume waren ohne richtige Fenster und Türen, ohne Heizung und ohne geeignetes Mobiliar. Man saß auf Hockern und arbeitete an langen Zeichentischen. An manchen Stellen hatte die Decke infolge von Luftangriffen große Löcher, aus denen Staub und Steinbrocken herabrieselten’°, Die Besatzungsmächte taten alles, um die Arbeit noch schwieriger zu machen, als sie ohnehin schon war. Die Franzosen behandelten die Landesverwaltung wie eine nachgeordnete Behörde der Militärregierung!‘, die Amerikaner nahmen von der Landesverwaltung so gut wie keine Notiz. Sie verhandelten ausschließlich mit den Landräten. Carlo Schmid mußte sich immer wieder gegen ihre rigide Entnazifizierungspraxis zur Wehr setzen, die die Kultverwaltung völlig lahmgelegt hätte‘?,
Trotzdem scheint in dem Häuschen am Stuttgarter Sonnenberg, in dem Carlo Schmid zusammen mit Rupp, Zweigert und noch einigen anderen wohnte, eine „kreative Euphorie“ geherrscht zu haben’3. Im Bereich der Erziehungs- und Kulturpolitik gab es Freiräume, die sich zur Verwirklichung der eigenen Ideen nutzen ließen. Noch hatten die Franzosen kein eigenes ausgearbeitetes Konzept. Man mußte ihnen zuvorkommen. Schmid wußte, warum er die Erneuerung der Universität so energisch vorangetrieben hatte. Nicht weniger am Herzen lag ihm die Schulpolitik. War er doch Erzieher aus Leidenschaft und maß ebenso wie die französische Militärregierung der Erziehung grundlegende Bedeutung für den Aufbau und Erhalt eines demokratischen Gemeinwesens zu. Das schulpolitische Konzept, das er in den Sommermonaten 1945 entwickelte, wurde grundlegend für den Schulaufbau in Württemberg-Baden, bis Ende 1946 auch für den Württemberg-Hohenzollerns, wo sich jedoch die Verfechter der Konfessionsschule gegen den zähen Widerstand Schmids letztendlich durchsetzen konnten.
Die Frage „Wie hältst du es mit der Konfessionsschule?“ war damals eine Gretchenfrage nicht nur der Schulpolitik, sondern der Politik überhaupt, zumindest im Württembergischen. Im Badischen war die Simultanschule schon vor 1933 eingeführt worden. Schmid mußte damit rechnen, daß er sich die katholische Kirche zum Gegner machte, wenn er gegen ihren Willen die christliche Gemeinschaftsschule, für die er schon ein Konzept entwickelt hatte, durchsetzte. So führte er noch im Juni mehrere eingehende Informationsgespräche mit Vertretern der katholischen und der evangelischen Kirche. Er suchte das Einvernehmen mit den beiden Kirchen, denn ihm war klar, daß in einer orientierungslos gewordenen Gesellschaft die Kirche geistige Autorität und auch politischen Einfluß gewinnen würde.
Überaus ermutigend verlief der sn beim evangelischen Landesbischof Theophil Wurm in Großheppach am 19. Juni. Wurm war bereit, die Einführung der christlichen Gemeinschaftsschule zu akzeptieren, falls der Errichtung von konfessionellen Schulen in Gestalt von Privatschulen keine Hindernisse in den Weg gelegt würden und der Religions- “unterricht entsprechend den Vorstellungen der Kirche erteilt werden könne. Der Religionsunterricht, der in Württemberg während des NS-Regimes durch Weltanschauungsunterricht ersetzt worden war, sollte ordentliches Lehrfach werden’*. Dagegen hatte Schmid nicht das Geringste einzuwenden. Er versprach sogar eine großzügige Förderung der Privatschulen‘.
Die Gespräche, die er am 17. Juni und ı. Juli mit dem Bischof von Rottenburg Sproll und Vertretern der katholischen Kirche führte, endeten dagegen in völligem Dissens. Generalvikar Max Kottmann und Wilhelm Sedlmeier, der politische Referent Sprolls, stellten mit Ingrimm fest, daß Schmid sich im Punkte Konfessionsschule „nicht belehren“ lase3%, Sie hegten nicht ganz zu Unrecht die Befürchtung, „daß in Württemberg die Gemeinschaftsschule allerdings mit christlichem wohlwollenden Vorzeichen fast so etwas wie eine ausgemachte Sache“ sei’7. Schmid war den Vertretern der katholischen Kirche weit entgegengekommen. Er hatte mehrmals betont, daß auch er für eine christliche Erziehung eintrete. Vier Stunden Religionsunterricht wöchentlich, der von katholischen bzw. evangelischen Geistlichen erteilt werden sollte, gestand er der Kirche zu. Die Errichtung katholischer Privatschulen und eines Benediktinergymnasiums wollte er unterstützen. In katholischen Gegenden sollten die Lehrerstellen durch Katholiken besetzt werden. Die Konfessionalisierung der Lehrerbildung und der Schulen könne er aber nicht zulassen, schon deshalb nicht, weil die französische Besatzungsmacht ein Veto dagegen einlegen würde“°. Schmid versuchte verzweifelt doch noch zu einem Einverständnis mit seinen katholischen Gesprächspartnern zu kommen. So versicherte er ihnen: „Er habe nicht umsonst in den letzten Jahren viel Dante, das mittelalterliche Geistesleben studiert und er glaube, diese Dinge nicht bloß intellektuell verstanden, sondern existentiell ergriffen zu haben.“ ‚? Schmids religiöser Existentialismus interessierte seine Gesprächspartner wenig. Auch die Berufung Guardinis auf einen Lehrstuhl in Tübingen, die Schmid vierzehn Tage zuvor Sproll in Aussicht gestellt hatte”°, war kein Ersatz für die Wiedereinführung der Konfessionsschule und der konfessionellen Lehrerseminare. Sie wurde zum ständigen Zankapfel zwischen Kultdirektion und Katholischer Kirche.
Schmids Bemühungen um eine Verständigung mit der katholischen Kirche waren nicht sehr erfolgreich. Die Geisteswelten und die Lebenseinstellungen des Bischofs von Rottenburg und des Kultdirektors in Stuttgart, an dessen unkonventionellem Privatleben die Kirche Anstoß nahm’?‘, waren unvereinbar. Baptista Sproll war ein schlichter Kirchenmann und Seelsorger seiner Diozöse. Der Humanist und Geistesaristokrat Carlo Schmid fand in dem „Bauern aus Schweinhausen“ keinem ihm intellektuell gewachsenen Gesprächspartner”. So blieb das Verhältnis zwischen Carlo Schmid und katholischer Kirche äußerst gespannt, was im tiefkatholischen Südwürttemberg sich politisch nachteilig auswirken mußte.
Einen einzigen Punkt gab es dann doch, in dem man sich einig war: das humanistische Gymnasium sollte besondere Förderung genießen. Carlo Schmid war bestrebt, aus dem humanistischen Gymnasium wieder eine „strenge(), geistige() Lernanstalt mit hohen Anforderungen, Zwischenexamina und dergleichen“ zu machen. Es hatte die Aufgabe, die zukünftige geistige Elite heranzubilden. Die bisherigen Gymnasien wollte er möglichst bald wiedereröffnen und daneben Höhere Schulen mit einem mathematischen Schwerpunkt einrichten. Als Ausbildungsanstalten für mittlere Berufe sah er sogenannte „Zubringerschulen“ vor, wobei er sich noch nicht darüber schlüssig war, ob auch von den Absolventen dieser Schulen eine Abiturprüfung abgelegt werden sollte. Als Geistesaristokrat, der er nun einmal war, plädierte er dafür, die Abiturprüfungen erheblich zu erschweren. Das Abitur sollte nicht mehr „Abschlußexamen“ sein, sondern „Aufnahmeexamen“ für die Universität. Die Verantwortung für die Abiturprüfungen wollte der Kultdirektor selbst übernehmen, wobei ihm das württembergische Landexamen und das französische Concours-System als Vorbild vor Augen standen”*. Von schulreformerischen Ideen hielt Schmid gar nichts. Daß er einmal Mitglied der Jugendbewegung war, merkte man seinen Schulplänen nicht an. Von den Schülern und Studenten verlangte er, daß sie „Brettle bohren“, wie er im besten schwäbisch zu sagen pflegte”. Ähnliche Konzepte entwickelte auch die französische Militärregierung. Auch sie sprach sich für rigide Ausleseprinzipien aus, denn sie fürchtete die Entstehung eines akademischen Proletariats, in dem sie die Brutstätte eines neuen Nationalismus sah. Auch sie wollte die Bildung einer neuen Elite in Deutschland vorantreiben”°. Noch aber befanden sich ihre eigenen Pläne im Embryostadium. Und Carlo Schmid war froh darum. So konnte er den Franzosen mit einem eigenen fertigen Konzept entgegentreten.
Eine der ersten Initiativen, die er bereits einige Tage nach seiner Einsetzung als Landesdirektor ergriff, war die Neugestaltung eines Schullesebuchs. Die französische Militärregierung war bereits dabei, ein Lesebuch für deutsche Schulen zusammenzustellen. Schmid hoffte inständig, daß es nie erscheinen möge?”. Er kannte die Mentalität der Franzosen und konnte sich vorstellen, wie ein von ihnen konzipiertes Lesebuch aussehen würde. Alle Vorurteile gegen die Deutschen, die in einem Jahrhundert deutsch-französischer Erbfeindschaft sich angesammelt hatten, würden darin zu finden sein. Seine Befürchtungen waren nicht grundlos”. Schmids Vorstellungen, wie ein Lesebuch auszusehen habe, waren geprägt durch die pädagogischen Prinzipien des Dritten Humanismus. „Zeugnisse geformten Menschentums“ sollte das Lesebuch enthalten”?. Die Textauswahl sollte sich nach dem Prinzip der Klassizität richten, da der zeitlosen Kunst vor der durch den Tag bedingten Literatur absoluter Vorrang ein- Zuräumen sei’°. Bereits die Schüler der Unterklassen mußten mit der Dichtung Goethes ünd Hölderlins vertraut gemacht werden. Die Kommentare zu Hölderlins Hymnen wollte Schmid selbst schreiben?‘. Nicht mehr abzuquälen brauchten sich die Schüler mit Heimatliteratuurn d Heimatgedichten. Schmid dachte wohl mit Schrecken an seine eigene Schulzeit. Aber sein Schullesebuch hätte die Schüler wohl restlos überfordert.
Mit der Ausarbeitung des Schullesebuchs beauftragte er Gerhard Storz, den Studienfreund aus alten Tagen, mit dem ihm eine gemeinsame Liebe zur klassischen Dichtung verband. Bereits Mitte Juli hatte Storz ein Konzept für das Lesebuch entwickelt, dessen leitende Gesichtspunkte er so zusammenfaßte: „So suchen wir, im Begriff ein Lesebuch herzustellen, die Begegnung mit der Sprache als einem Lebenszeugnis, mit der Form als einem beseeltem Leib, und hoffen darüber aus Grammatikern Physiognomiker, aus Ästheten Erzieher zu werden. Denn die Auswahl aus dem deutschen Schrifttum soll nicht dem dienen, was man früher literarische Bildung oder künstlerisches Erlebnis zu nennen liebte, sondern sie will dem Lehrer die Möglichkeit geben, werdende Menschen in ihrem Wuchs zu befördern.“3* Das war das Programm einer ästhetischen Erziehung, das sich mit Schmids eigenen Vorstellungen voll und ganz deckte. Unterstützt von Carlo Schmid bemühte sich Storz um eine Fertigstellung des Lesebuchs. Papiermangel und Direktiven der Besatzungsmacht führten zu Verzögerungen. Als das Lesebuch endlich gedruckt war’, war Schmid nicht mehr Landesdirektor für Kult in Stuttgart und auch nicht mehr Kultusminister in Württemberg-Hohenzollern. In der Zwischenzeit hatte die französische Besatzungsmacht Lesebücher zugelassen, die Schmid Anlaß zu ständiger Klage wurden?#.
Gedanken machte er sich auch über den zukünftigen Geschichtsunterricht. Zunächst einmal galt es von der preußisch-hohenzollernschen Tradition der Geschichtsschreibung loszukommen und den Schülern einen Überblick über die westliche Kultur zu vermitteln. Das entsprach weniger Schmids eigener Überzeugung als den Direktiven der französischen Besatzungsmacht, die eine „Entpreußifizierung“ des Geschichtsunterrichts forderte. Schließlich war in ihren Augen der Hohenzollern-Staat der Vorläufer des NS-Regimes. Schmid selbst legte großen Wert darauf, daß die geistesgeschichtlichen Traditionen im Geschichtsunterricht stärker zur Sprache kamen. Nur so konnte man die Schüler mit den Wurzeln der abendländischen Kultur vertraut machen. Er mag dabei an seine eigene Vorlesung über die Reichsidee gedacht haben. Von der französischen Militärregierung wurde der Geschichtsunterricht aus Furcht, er werde zur Verbreitung nationalistischer Ideen mißbraucht, zunächst verboten, so daß Schmids Pläne einstweilen auf dem Papier stehen blieben.
Carlo Schmid versuchte gleich in den ersten Wochen seiner Amtsführung die bildungspolitischen Weichen zu stellen. Es ging ihm vorrangig um die Festlegung von Bildungsinhalten. Da seiner Ansicht nach die Verwirklichung von Demokratie vom Niveau der Bildung abhing, schraubte er die Ansprüche sehr hoch. Sein Rückgriff auf die Klassik freilich bot wenig Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit den aktuellen Fragen der Zeit.
Auch eine Unmenge technischer Probleme gab es zu lösen: Die meisten Schulräume waren beschlagnahmt oder zerstört. Ihre Freimachung war nicht immer leicht zu erwirken. Vor allem aber bereitete die Entnazifizierung der Lehrer Schwierigkeiten. Es herrschte Lehrermangel, so daß man bei der politischen Säuberung des Lehrkörpers großzügig verfahren mußte. Am 23. Juni ordnete Schmid die Überprüfung der Schulleiter und Lehrer an und ließ sich Listen der durch die NSDAP benachteiligten oder entlassenen Lehrkräfte vorlegen’. Es mußten unbelastete Lehrer gefunden werden, denen man die Überprüfung der noch vorhandenen Lehrmittel anvertrauen konnte. Die Wiedereinstellung ehemaliger Nationalsozialisten als Lehrer bereitete ihm großen Kummer. Konnten die Schüler einen Lehrer als Autorität akzeptieren, der sich von heute auf morgen vom Nationalsozialisten zum Demokraten wandelte?3? Aber ohne die alten Pgs. hätten die Schulen schließen müssen. Nur ein Viertel aller Lehrer war unbelastet?®,
Am 24. Juli erließ er Anweisungen für die Lehrer, die als verbindliche Grundlage für den Unterricht zu betrachten waren. Die abendländische Kultur sollte als „Mahnung“, die Antike als Utopie verstanden werden, an der die Gegenwart zu messen war?®. Mit solchen Empfehlungen stand er nicht allein. Fast alle Lehrpläne der Nachkriegszeit verlangten eine Rückbesinnung auf Antike und Christentum. Die Lehrer wurden von Schmid darüber hinaus gemahnt, nicht nur Lippenbekenntnisse für die Demokratie abzugeben, sondern die moralischen Irrlehren zu benennen, die den Nationalsozialismus erst ermöglicht hatten. Er zählte auf, was er unter Irrlehren verstand, nämlich, „daß die Wohlfahrt eines Volkes den Schaden der anderen verlange; daß Macht vor Recht gehe; daß Not kein Gebot kenne; daß der Zweck die Mittel heilige; daß der einzelne nichts sei und die Gemeinschaft alles“ #°. Begriffe wie „anständig“ und „tüchtig“ sollten im Unterricht nicht mehr vorkommen*‘. Für Schmid gehörten sie ins Wörterbuch des Unmenschen, denn in ihnen kam deutlich zum Ausdruck, daß der Mensch bloß als Mittel zum Zweck begriffen wurde. Lehrern, die glaubten, die Anweisungen nicht befolgen zu können, legte er nahe, freiwillig aus dem Dienst auszuscheiden. Es war ein Appell. Ob er befolgt würde, mußte sich zeigen. Der französischen Militärregierung, die seit Herbst die Lehrer zur Teilnahme an Schulungskursen verpflichtete, versprach er eine „loyale“ Haltung der Lehrerschaft**. Ohne dieses Versprechen hätte er sie wohl kaum dazu bewegen können, die Schulen bald wiederzueröffnen. In Stuttgart konnte am ı5. August der Schulbe- ‘trieb wieder beginnen, im Kreis Tübingen am ı. Oktober.
Wenn es um Bildungseinrichtungen ging, hatte Schmid für Bitten und Ideen immer ein offenes Ohr. So setzte er sich bereits im Frühsommer 1945 für den Wiederaufbau der völlig zerstörten württembergischen Landesbibliothek ein. Da staatliche Mittel hierfür nicht vorhanden waren, entwickelte er den Plan, eine Württembergische Bibliotheksgesellschaft zu gründen, die durch Spenden den Neuaufbau unterstützen sollte. Zusammen mit Wilhelm Hoffmann, dem langjährigen Direktor der Landesbibliothek, setzte er Ende 1945 seinen Plan in die Wirklichkeit um und legte so den Grundstein für den Wiederaufbau der Landesbibliothek*. Carlo Schmid verstand es, für seine Bildungs- und Kulturprojekte Gelder loszueisen. Gleich in einer der ersten Sitzungen der Landesdirektoren beschlagnahmte er das RAD-Eigentum für sein Ressort**.
Carlo Schmids Aktivität in der Stuttgarter Landesverwaltung blieb nicht auf sein Ressort beschränkt. Weil er wie kein anderer die Modalıitäten eines Besatzungsregime und die Mentalität der Franzosen kannte, gab es fast keinen Bereich, für den er sich nicht zuständig fühlte. Sein Talent zur Improvisation und zur Delegation der Kärrnerarbeit an kompetente Mitarbeiter machten es möglich, daß er genügend Zeit fand, sich auch um die grundsätzlichen Fragen der Besatzungspolitik zu kümmern. Die rücksichtslose Demontage, die die Franzosen im Sommer 1945 betrieben, gefährdete den wirtschaftlichen Wiederaufbau Württembergs und ließ dort ein franzosenfeindliches Klima entstehen. Beinahe zwei Drittel der Gesamtrequisitionen der französischen Militärregierung wurden in den Sommermonaten vorgenommen. Rohstoffe und wichtige Werkzeugmaschinen wurden nach Frankreich abtransportiert*’. Justizdirektor Beyerle rief seine Kollegen zur Beratung des Demontageproblems auf. Er selbst schlug vor, der französischen Militärregierung gegenüber völkerrechtliche Grundsätze geltend zu machen. Schmid riet davon ab: „Verhandlungen auf der Grundlage juristischer Argumentationen seien sinnlos.“ Es sei strittig, ob die Haager Landkriegsordnung noch gelte, da die Deutschen sie in Frankreich bis zur Pervertierung ausgedeutet hätten. „Man müsse aber Schritte unternehmen und dabei geltend machen, daß gerade die Durchführung des von General Schwartz den Landesdirektoren gegebenen Verwaltungsauftrags die Einstellung der geschilderten Aktionen gebieterisch zur Notwendigkeit mache. Der General könnte darauf hingewiesen werden, daß es sinnlos sei, eine Schulverwaltung einzurichten, wenn man die letzten in den Schulen noch gebliebenen Lehrmittel wegnehme.“#° Carlo Schmid, oft als „Mann der Franzosen“ apostrophiert, scheute die Auseinandersetzung mit der französischen Militärregierung nicht. Er schlug vor bei General Schwartz, der sich bemühe, die Requisitionen der Armee einzuschränken, zu intervenieren. „Es sei eine auch in Frankreich immer wieder gemachte Erfahrung, daß die ständigen Militärverwaltungsbehörden allmählich ein Verantwortungsgefühl für das ihnen unterstellte Land bekommen, das ganz von selbst sie in eine gegensätzliche Stellung gegenüber der Armee und dem Heimatministerium bringe. Wenn General Schwartz in Paris darauf hinweisen könne, daß er keine Landesdirektoren mehr für Württemberg bekommen werde, wenn das Treiben nicht eingeschränkt werde, werde das vielleicht seine Wirkung nicht verfehlen.“ +7
Carlo Schmids Vorschlag fand nur die Zustimmung Josef Beyerles. Die übrigen Landesdirektoren, mit Ausnahme des ehemaligen Kommunistenführers Albert Fischer, der gleich die „Kabinettsfrage“ stellen wollte, schreckten vor Schritten gegenüber der Militärregierung zurück. Es war nicht ungefährlich, Kritik an der französischen Militärregierung zu üben, die darauf mit Hausarrest oder Verhaftung antwortete. Schließlich einigte man sich darauf, daß die einzelnen Ressortchefs ihre Beschwerden den zuständigen Sachbearbeitern der Militärregierung schriftlich zusenden sollten. Schmid sah sich an den Beschluß der Landesdirektoren nicht gebunden. Er brachte seine Monita gegenüber Schwartz vor, der sie an den Chef der 1. Armee General Lattre de Tassigny weiterreichte**.
Anfang Juli trug Schmid seine Kritik an der französischen Demontageund Requisitionspolitik der amerikanischen Militärregierung vor. Wenn den Demontagen nicht Einhalt geboten werde, erhielten die Kommunisten einen ungeheuren Zulauf. Weil ihm der Antikommunismus der Amerikaner bekannt war, machte er die kommunistische Gefahr wohl noch etwas größer, als er sie selbst empfand und als sie wirklich war. Er gab seiner Hoffnung Ausdruck, daß die Amerikaner bald „Abhilfe“ schaffen würden*. Wünschte sich Carlo Schmid die Amerikaner als Besatzungsmacht? Wohl kaum, so sehr er auch über die Demontagepolitik der Franzosen ungehalten war. Es war für ihn weitaus schwieriger, Verhandlungen mit den Amerikanern zu führen als mit den Franzosen. Er sprach nur recht leidlich Englisch und hatte überdies wenig Verständnis für den American way of life. Doch Anfang Juli war abzusehen, daß es sich nur noch um Tage handeln konnte, bis die Franzosen Stuttgart räumen mußten. Durch eine harte Kritik an den Franzosen bewies er den Amerikanern, daß er kein „Mann der Franzosen“ war, und bot sich somit auch für die Zukunft als Landesdirektor an.
Am 8. Juli mußten die Franzosen die Trikolore auf der Villa Reitzenstein einziehen. Das Sternenbanner wurde gehißt. Die Franzosen mußten mit Südwürttemberg Vorlieb nehmen, das ihren Vorstellungen von einem territorialen Faustpfand überhaupt nicht entsprach. Lagen doch die großen Industrieansiedlungen fast alle im Norden Württembergs. Die Grenze zwischen französischer und amerikanischer Besatzungszone wurde südlich der Autobahnlinie Karlsruhe-Ulm gezogen. Dem Besatzungsrevirement waren am s. und 7. Juli eingehende Gespräche zwischen Carlo „Schmid, den Landesdirektoren und den Vertretern der französischen Militärregierung Oberst Niel und Oberstleutnant Andrieu vorausgegangen. Bei den beiden Unterredungen war man übereingekommen, daß die Landesdirektoren Vertreter für den französisch besetzten Teil Württembergs benennen sollten, wodurch man die Verwaltungseinheit Württembergs zu erhalten hoffte. Jeder Landesdirektor hatte einen Delegierten zu wählen, der in Südwürttemberg für die Durchführung einheitlicher Verwaltungsmaßnahmen sorgen sollte“.
Die amerikanische Besatzungsmacht stand dem von französischer Seite vorgeschlagenen Delegationssystem äußerst skeptisch gegenüber und ließ sich mit dessen Anerkennung Zeit. Carlo Schmid war beunruhigt. Die Besatzungsgrenze drohte zu einer Demarkationslinie zu werden ähnlich der, die Frankreich Anfang der 4oer Jahre in zwei Hälften zerrissen hatte. Wie lange würde er noch zwischen Tübingen und Stuttgart hin- und herreisen können? Er wandte sich erneut an die amerikanische Militärregierung. In einem Schreiben an Major Durst malte er die verheerenden wirtschaftlichen Folgen einer Teilung Württembergs aus. Die Teilung beraube die Fertigindustrie des Nordens der unentbehrlichen Erzeugnisse der Halbzeugwerke Südwürttembergs. In der Bevölkerung empfinde man die Zweiteilung als das „wirtschaftliche Todesurteil des Landes“. Wieder versuchte Schmid durch den Appell an den Antikommunismus der Amerikaner seinen Argumenten Durchschlagskraft zu verleihen. Überall in der Bevölkerung vernehme man Stimmen, „die sagen, daß das bolschewistische Rußland die einzige Siegermacht sei, die eine bewußte und aufbauende Politik verfolge“°‘ . Sechs Tage später übersandte er Durst eine Denkschrift, in der er seine Argumente wiederholte. Er legte der USA nahe, Frankreich wirtschaftlich zu unterstützen, damit es seine zerstörerischen Demontagen einschränke°”.
Schmid eilte der Zeit weit voraus. Es sollte noch über zwei Jahre dauern, bis die USA sich hierzu entschloß. Aber immerhin: Mitte Juli erklärte sich die amerikanische Besatzungsmacht bereit, aus wirtschaftlichen Gründen dem Delegationssystem ihre Zustimmung zu geben. Delegierte wurden Kilpper für Wirtschaft, Lothar Rossmann für Inneres, Gebhard Müller für Justiz, Ernst Fischer für Ernährung, Hofer für Post. Schmid delegierte Oberstudienrat Hermann Binder, der durch seine Mitarbeit an der Schiller-Nationalausgabe bekannt wurde. Das Delegationssystem funktionierte mehr schlecht als recht. Wie sollte beispielsweise trotz der unterschiedlichen Kulturpolitik der Besatzungsmächte in Württemberg ein einheitliches Schulsystem aufgebaut werden? Bereits Anfang Juli hatte Schmid den für das Schulwesen zuständigen amerikanischen Besatzungsoffizier um Unterstützung bei dieser Aufgabe gebeten’. Er hatte auch immer wieder Unterredungen mit der französischen Militärregierung und versuchte so gut es ging zu vermitteln, stieß dabei aber auf beiden Seiten auf Widerstand.
Ende Juli erging an die amerikanische Militärregierung in Stuttgart ein Verbot, sich um Süd-Württembergische Angelegenheiten zu kümmern. Vereinbarungen mit der französischen Militärregierung über eine gemeinsame Verwaltung wurden untersagt°*. Eine strikte Durchführung des Verbots hätte die Teilung Württembergs bedeutet. Die amerikanische Militärregierung erließ nun des öfteren Verbote, die amerikanische Zone zu verlassen. Ihre Sperren waren fast unüberwindlich. Am >1. Juli gelang es Schmid, der ein Referat vor der „Demokratischen Vereinigung“ in Tübingen übernommen hatte, erst nach elfstündiger Fahrt den Sperrgürtel zu durchbrechen. Der humanistische Gelehrte soll sich diebisch darüber gefreut haben, daß er es geschafft hatte, die Amerikaner zu übertöpeln>S, Doch die Situation war katastrophal. Es gab nicht einmal Telefonverbindungen zwischen Stuttgart und Tübingen. Wie sollten die Stuttgarter Landesdirektoren unter solchen Bedingungen den Kontakt zu den Tübinger Delegierten aufrechterhalten? Anfang August einigte man sich darauf, daß eine Anordnung der Landesverwaltung zuerst von der amerikanischen Militärregierung genehmigt und dann von dem Verbindungsmann in Tübingen der französischen Militärregierung vorgelegt werden mußteS°, Schmid äußerte sofort Zweifel, daß dieses Verfahren funktionieren werde. Selbst wenn es technisch durchführbar sei, werde man damit nicht die Verwaltungseinheit Württembergs retten können. Noch wußte auch er keine Alternative. So sprach auch er sich für einen Ausbau des Delegationssystems aus, weil nur so verhindert werden könne, „daß die Franzosen eine Art Nebenregierung bilden“ 57. Gefährlich erschien ihm die von den Amerikanern geplante Vereinigung Nordbadens und Nordwürttembergs, durch die die separatistischen Bewegungen Südwürttembergs, die von einer Alpenländischen Union träumten, Auftrieb erhieltenS®. Die übrigen Landesdirektoren pflichteten ihm bei. Alle waren im Grunde völlig ratlos.
Noch war über die Zukunft Württembergs nicht entschieden. Schmid konnte am 25. August den im Tübinger „Pflug“ versammelten Mitgliedern der „Demokratischen Vereinigung“ wenig Ermutigendes mitteilen: „Was mit Süd-Württemberg geschieht, weiß man nicht. Ob hier eine zweite Regierung gebildet werden soll, ist noch in der Schwebe.“ 5? Der Widerstand der Landesverwaltung gegen die Vereinigung Nordbadens und Nordwürttembergs war vergeblich. Aufgrund einer von Dwight D. Eisenhower erlassenen Proklamation wurde am 19. September 1945 aus den amerikanisch besetzen nördlichen Teilen Badens und Württembergs das neue Land Württemberg-Baden gebildet. Schon einige Tage zuvor war Reinhold Maier als Ministerpräsident des von den Amerikanern neu geschaffenen Landes eingesetzt worden. Am 24. September erfolgte die förmliche Vereidigung Reinhold Maiers und seiner fünf Minister durch ‘die amerikanische Militärregierung‘. Carlo Schmid war nicht unter ihnen.
Die amerikanische Militärregierung hatte gegen seine Ernennung zum Kultminister interveniert und für dieses Amt Theodor Heuss vorgeschlagen. Daß die Amerikaner nach der Besetzung Stuttgarts die von den Franzosen eingesetzte Landesverwaltung absetzen und eine ihnen genehme Landesregierung einsetzen würden, war von vornherein abzusehen gewesen. Sie hatten jedoch gelobt, Kontinuität zu wahren. Gegen Schmids politische Arbeit hatten sie nicht das geringste einzuwenden. Der amerikanische Gouverneur William W. Dawson lobte die Leistungen der Landesverwaltung auf kulturellem Gebiet geradezu überschwenglich‘‘. Als Reinhold Maier Mitte August seine Kabinettsliste zusammenstellte, war Carlo Schmid zur persona non grata geworden. Von den Amerikanern hörte er, daß er wegen seiner Tätigkeit als Militärverwaltungsrat in Lille nicht als Kultusminister übernommen werden könne. Auf seinen Einwand, er habe seine Tätigkeit dazu genutzt, der französischen Bevölkerung zu helfen, sollen sie geantwortet haben, „daß es sie nicht im geringsten interessiere, was er im besetzten Gebiet getan hatte, daß es lediglich darauf ankomme, was er gewesen sei“. Die Amerikaner beriefen sich auf ihre am 7. Juli erlassene Direktive über die Entnazifizierung. Sie verlangte nicht nur die Entlassung aller Funktionsträger der NSDAP und ihrer Gliederungen, sondern auch der Spitzenbeamten, einschließlich der höheren Beamten der Militär- und Rüstungsverwaltungen in den besetzten Gebieten‘. Schmid hatte sofort die größten Bedenken gegen diese Direktive, die er in einem Schreiben an die amerikanische Militärregierung auch geltend machte“*, noch ehe er von ihr betroffen wurde. Freilich, die Amerikaner hätten sich über diese Direktive hinwegsetzen können, wenn sie Schmid in der Regierung hätten haben wollen. Sie war wohl nur ein Vorwand, um den „Mann der Franzosen“ loszuwerden°S. Man darf nicht vergessen, daß sich Amerikaner und Franzosen damals spinnefeind waren. Im übrigen gab es, wie Reinhold Maier berichtet, auch auf deutscher Seite „bösartige Quertreibereien“ und eine Flüsterpropaganda gegen Schmid, die vermutlich sein Privatleben betraf. Sie mögen die Bedenken der puritanisch gesinnten Amerikaner gegen diesen Proteg& der Franzosen noch verstärkt haben.
War Schmids politische Karriere, die gerade erst begonnen hatte, schon zu Ende? Er mußte fürchten, daß seine Pläne zur Erneuerung der Universıtät nun scheiterten. So war er sogar bereit, eine Mitarbeiterstelle in dem nunmehr von Heuss geleiteten Kultusministerium zu übernehmen. An einem Abend Mitte September beratschlagten Heuss und Schmid bei einer Flasche Rotwein über eine mögliche Ressortaufteilung. Man verstand sich auf Anhieb und kam überein, den Versuch einer Zusammenarbeit zu wagen. Heuss wünschte, den Bereich Kunst zu übernehmen, Carlo Schmid wollte sich um den Bereich Hochschulen und Schulen kümmern‘. Die Amerikaner durchkreuzten die Pläne. Sie waren nicht einmal gewillt, Schmid als Mitarbeiter von Heuss zu akzeptieren. Er sorgte sich trotzdem weiter um die Schul- und Hochschulpolitik. Hermann Binder, der Tübinger Delegierte, überließ ihm dieses Feld, so daß Schmid auch in den paar Wochen, in denen er ohne Amt war, der spiritus rector: der Kultur- und Bildungspolitik blieb.
Seine Empörung über die Amerikaner wuchs, als der amerikanische CIC ihn im Militärgefängnis in der Stuttgarter Weimarstraße einem Verhör unterwarf. Man faßte ihn, was in der damaligen Zeit nichts Außergewöhnliches war, bei diesem Verhör nicht gerade mit Glac&handschuhen an. Schmid konnte solche Demütigungen nur schwer verkraften. Als er Reinhold Maier kurz nach dem Verhör davon berichtete, war er noch immer in „ziemlicher Erregung“ ®
Die Gerüchte, die schon bald kursierten, Maier habe Schmids Berufung zum Kultusminister verhindert, stimmten nicht. Konrad Wittwer, Freund und enger politischer Mitarbeiter Maiers, trat ihnen entschieden entgegen. Obwohl man sich kaum unterschiedlichere Charaktere wie Maier und Schmid denken kann, herrschte auf politischem Gebiet doch großes Einverständnis zwischen beiden. Der behäbige, immer auf bürgerliche Reputation bedachte Maier mag den unkonventionellen Geistesaristokraten Schmid nicht immer verstanden haben, aber er hätte ihn kaum am 19. September zum Staatsrat ernannt, wenn er persönliche oder politische Animositäten gegen ihn gehabt hätte.
Die Zurückweisung durch die Amerikaner war die erste bittre Niederlage in Schmids Politikerleben gewesen. Entmutigt hatte sie ihn nicht. Er dachte gar nicht daran, sich aus der Politik zurückzuziehen, wenn er auch dauernd über das politische Joch stöhnte. Die Möglichkeit dazu hätte er gehabt. In Tübingen hielt man extra für ihn die Stelle des Landgerichtspräsidenten frei”°. Doch ihn drängte es in die Politik aus persönlichen und sachlichen Gründen. Wenn überhaupt so konnte er nur jetzt, in der Stunde des Neuanfangs seine Pläne und Visionen verwirklichen, und nur ein wirklicher Neuanfang bot die Gewähr dafür, daß Weimar sich nicht wiederholte. Als Schwabe konnte er zudem nicht einfach zusehen, wie Württemberg in zwei Hälften zerrissen wurde.
Am 15. September gab ihm Reinhold Maier den Auftrag, informell Verhandlungen mit der französischen Militärregierung über die Organisation der Verwaltung im französisch besetzten Teil Württembergs zu führen’?‘. Vier Tage später, als die provisorische Regierung Württemberg- Badens zum ersten Mal zusammentrat, wurde er einstimmig zum Staatsrat ernannt. „Inoffiziell“ gehörte er nun doch dem Kabinett an. Seine Ernennung zum Staatsrat machte es ihm möglich, regelmäßig an den -Kabinettssitzungen in Stuttgart teilzunehmen”?. So wurde er zum Mittelsmann zwischen Stuttgart und Tübingen, wo am 15. September Guillaume Widmer als französischer Landesgouverneur eingesetzt worden war.
Carlo Schmid hatte davon erst zwei Tage später erfahren, als er sich mit Oberst Niel über den „Status“ der von der Stuttgarter Regierung delegierten Vertreter unterhielt”?. Offiziell waren die Delegierten immer noch nicht von der französischen Militärregierung eingesetzt worden, deren Vorbehalte gegen das Delegationssystem wuchsen. Sie war nicht gewillt, die Tübinger Delegation als bloßes Organ der Stuttgarter Regierung, die unter Kuratel der Amerikaner stand, zu akzeptieren’*. Oberst Niel unterrichtete Schmid, daß die französische Militärregierung in den Delegierten die „Landesdirektoren“ für Südwürttemberg sehe, die so ausgewählt werden müßten, daß sie „gegebenenfalls auf eigene Verantwortung hin zu handeln“ vermochten. Die Delegierten dürften von der Stuttgarter Regierung lediglich „Direktiven“, aber keine „Imperative“ erhalten. Es ließe sich wohl kaum verhindern, daß zwei Verwaltungen entstehen, „die gegenseitig in das Verhältnis der Synchronisation kommen müßten. Wahrscheinlich werde es gut sein, die einzelnen Tübinger Vertretungen unter einem Leiter zusammenzufassen, und man halte es französischerseits für selbstverständlich, daß dieser Leiter ein Mann von Qualität sein müsse, der das Vertrauen der französischen Militärregierung in vollem Umfange besitze. Nur dann werde er fähig sein, die Interessen seiner Landsleute in wirksamer Weise zu vertreten und zu verteidigen.“7 ° So faßte Schmid noch am selben Tag das Ergebnis seiner Unterredung mit Niel in einem Schreiben an Reinhold Maier zusammen. Daß dieser „Mann von Qualität“ nur Schmid heißen konnte, dürfte Maier sofort klar gewesen sein. Zwei Tage später, in der Sitzung des Stuttgärter Kabinetts am 19. September berichtete Innenminister Fritz Ulrich, daß die Franzosen in Tübingen eine eigene Verwaltung einrichten wollten, an deren Spitze Carlo Schmid stehen sollte”°. Carlo Schmid scheint noch mehr als die französische Militärregierung auf eine selbständige Verwaltung in Südwürttemberg gedrängt zu haben. Theodor Eschenburg erinnert sich, daß Schmid seit Mitte September den Plan verfolgte, eine Oberbehörde in Tübingen zu installieren. Auch nach Kabinettskollegen hielt er bereits Umschau’”. Er ließ sich nicht ins Abseits drängen, sondern versuchte die Geschichte am Mantelsaum zu ergreifen
Die Franzosen interessierte Südwürttemberg, das als Ausbeutungskolonie kaum taugte, wenig. Sie betrachteten die Zonenaufteilung noch immer als ein Provisorium und zögerten trotz bereits ausgearbeiteter Pläne, in Tübingen eine eigene Landesverwaltung zu errichten. Am 24. September ernannte Gouverneur Widmer die Delegierten zu eigenständigen Landesdirektoren, vermutlich ohne Absprache mit Schmid, der noch am 17. September geraten hatte, die Einsetzung zu verschieben”®. Anfang Oktober führte Schmid mehrere Gespräche mit Oberst de Mangoux. Man war sich einig, daß das Institut der Landesdelegation nicht funktionieren konnte. Es war wohl vor allem Schmid, der in den Unterredungen darauf abhob, daß die Delegierten „sorgfältig“ ausgewählt werden müßten, da sie auch eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen hatten. An der Spitze der Landesverwaltung müsse ein „Generaldelegierter“ stehen”. Schmid dachte selbstverständlich an sich. Niel und de Mangoux hatte er für seinen Plan gewinnen können. Die letzte Entscheidung lag bei Widmer. Die Funktion eines Generaldelegierten nahm Schmid bereits jetzt schon wahr, ohne offiziell dazu ernannt worden zu sein. Es war geradezu selbstverständlich, daß er am s. Oktober in Freiburg General de Gaulle, der sich über die politische Lage in den von Frankreich besetzten Gebieten informierte, die Delegierten Südwürttembergs vorstellte°°.,
Wenn die Spaltung Württembergs vermieden werden sollte, mußte das Abhängigkeitsverhältnis des südwürttembergischen Generaldelegierten gegenüber dem Stuttgarter Ministerpräsidenten unterstrichen werden. De Mangoux hatte vorgeschlagen, daß der Generaldelegierte als Bevollmächtigter des Ministerpräsidenten in Stuttgart handeln solle. An Reinhold Maier wurde die Bitte herangetragen, die Behörde in Tübingen, für die immer noch kein Name gefunden war, einzusetzen. Am 9. Oktober verfaßte Maier ein entsprechendes Beglaubigungsschreiben. Vier Tage später reiste er nach Tübingen, um sich mit Gouverneur Widmer und seinem Kabinettsdirektor de Mangoux über den Einsetzungsmodus abzusprechen. Es wurde vereinbart, daß die Einsetzung in Form einer feierlichen Ansprache Reinhold Maiers erfolgen solle”.
Zu dieser Ansprache kam es nicht, obwohl sie fertig ausgearbeitet vorlag. Der erste Satz dieser Ansprache wurde nachträglich von Carlo Schmid handschriftlich korrigiert. Reinhold Maier durfte die Amtseinsetzung nicht mehr selbst vornehmen, sondern ihr nur noch beiwohnen®3. Nach Darstellung Schmids hatte de Mangoux ihm einige Tage vor der vorgesehenen Amtseinsetzung mitgeteilt, daß die französische Regierung es mit der Souveränität und Autonomie ihres Besatzungsregimes nicht vereinbaren könne, daß die Tübinger Stelle nur als Nebenstelle der Stuttgarter Regierung erscheine°#. Carlo Schmid scheint nicht unglücklich über den Gesinnungswandel der Franzosen gewesen zu sein, zu dem er einiges beigetragen haben mag. Der Streit zwischen Amerikanern und Franzosen wäre auf seinem Rücken ausgetragen worden, wenn er als Bevollmächtigter der Stuttgarter Regierung zu handeln gehabt hätte. Realistischer als Maier sah er, daß die Zwitterkonstruktion nicht funktionieren konnte. Hatte doch die französische Militärregierung trotz ihrer Bekenntnisse zur Einheit Württembergs betont, daß allein sie über die Durchführung von Verwaltungsmaßnahmen in Südwürttemberg zu bestimmen habe”. Maier war von Widmer angehalten worden, die Gesichtspunkte der französischen Besatzungsmacht zu berücksichtigen. Wie hätte er das tun sollen, wo er doch selbst von der amerikanischen Besatzungsmacht abhängig war?
Die Einheit Württembergs lag Schmid immer noch am Herzen. Er hatte sie keineswegs seinen persönlichen politischen Ambitionen geopfert. Wohl schon seit einiger Zeit hatte er eine staatsrechtliche Konstruktion entwikkelt, durch die trotz getrennter Verwaltung an der Einheit Württembergs festgehalten werden konnte. Es gelang ihm, Widmer und de Mangoux davon zu überzeugen, daß die Tübinger Behörde den Namen „Staatssekretariat“ erhalten sollte. Damit wollte er zum Audruck bringen, daß es sich bei der Tübinger Dienststelle um eine „technische Verwaltungsbehörde“ handelte, „oberhalb der eine andere politische Stelle, nämlich die Landesregierung zu denken ist, deren Regierungsgewalt gegenwärtig in der französischen Zone ruht“ °°. Später sprach er davon, daß das Staatssekretariat eine Art von „Abwesenheitspfleger“ sei’. Scharf protestierte er gegen den Vorschlag des Generaladministrator Laffon, den Mitgliedern des Staatssekretariats den Titel „Staatssekretär“ zu geben. Er erläuterte seine Einwände nicht. Vermutlich dachte er an die deutsche Staatstradition, nach der der Staatssekretär der ranghöchste Beamte nach dem Minister ist. Die Bezeichnung Staatssekretär hätte nahegelegt, daß die Mitglieder der Tübinger Landesverwaltung den Ministern in Stuttgart unterstehen. Er setzte die Bezeichnung „Landesdirektoren“ durch°®. Damit kam die Inferiorität der Mitglieder des Staatssekretariats gegenüber der Stuttgarter Landesregierung zum Ausdruck, ohne daß ein Abhängigkeitsverhältnis geschaffen worden wäre. In einem von ihm entworfenen Statut legte er noch einmal ausdrücklich fest, was die Aufgabe des Staatssekretariats war: „Das Staatssekretariat handelt in eigener Verantwortung. Es wird überall, wo nicht zwingende Gründe dem entgegenstehen, bestrebt sein, daß in beiden Zonen Württembergs einheitliches Recht erhalten und geschaffen wird und einheitliche Verwaltungsmaßnahmen durchgeführt werden.“ ®
Die Konstituierung des Staatssekretariats am ı6. Oktober erfolgte formlos. Schmid hatte die Vertreter der französischen Militärregierung davon überzeugen können, daß sie nicht dazu berechtigt waren, das Staatssekretariat einzusetzen. So beschränkte sich Gouverneuer Widmer darauf, dessen erste Arbeitssitzung zu eröffnen, Die Landesdirektion für Justiz und für Kult, Erziehung und Kunst übernahm Schmid selbst. Landesdirektor des Innern wurde Lothar Rossmann, für Finanzen war Paul Binder zuständig, für Wirtschaft Gustav Kilpper und für Arbeit Clemens Moser, der zugleich Repräsentant Hohenzollerns war. Schmid wurde für die Dauer von drei Monaten zum geschäftsführenden Vorsitzenden gewählt. Früher als in den anderen Ländern der französischen Besatzungszone war dank Schmids Drängen in Württemberg-Hohenzollern eine Landesregierung gebildet worden, wenn sie sich auch nicht so nannte.
Es herrschte nicht nur Freude, es gab auch Unmut. Reinhold Maier war „schwer deprimiert“, daß ihm verwehrt worden war, die Amtseinsetzung vorzunehmen?‘. Nun hing es von Schmid ab, ob die Einheit Württembergs erhalten blieb. „Wir bauen auf Ihre Persönlichkeit“, rief Maier ihm zu, als er einen Tag später zur Kabinettssitzung nach Stuttgart kam?*. Noch weitaus verbitterter als Maier war Gebhard Müller, der Schmid vorwarf, einen „Staatsstreich“ begangen zu haben?3. Der angebliche Staatsstreich Schmids wurde für Müller fast zu einer Art Trauma, das ihn sein ganzes Leben lang nicht mehr ruhen ließ. 1962 erkundigte er sich bei Widmer, was ihn bewogen habe, ausgerechnet Schmid mit der Leitung des Staatssekretariats zu betrauen. Erklärend fügte er hinzu: „Es hat damals allgemeines Aufsehen erregt, daß er trotz seiner Ablehnung durch die Amerikaner mit dieser Aufgabe betraut wurde und ‚zwar über Nacht‘. “94
Politische Entscheidungen fielen damals im informellen Gespräch von ganz wenigen, die das Gesetz des Handelns bestimmten. Die Delegierten waren von der Bildung des Staatssekretariats nicht informiert worden und fühlten sich, soweit sie nicht wie Rossmann und Kilpper Mitglieder des Staatssekretariats wurden, als Opfer eines „Intrigenspiels“. Gebhard Müller scheint tatsächlich erst am 16. Oktober erfahren zu haben, daß er nicht Landesdirektor für Justiz wurde?°. Hatte Schmid eine Intrige gegen Müller eingefädelt? Schmid war gelegentlich ein schwäbisches Schlitzohr, aber kein Intrigant. Es gab zwischen Müller und Schmid bis zum 16. Oktober keinerlei persönliche Animosität und Mißgunst. Zusammengestoßen war Müller dagegen mit der französischen Besatzungsmacht. Seine Vorschläge zur Wiederbesetzung der Tübinger Gerichte waren von einigen Vertretern der französischen Besatzungsmacht scharf zurückgewiesen worden. Aufzeichnungen Müllers zufolge war ihm sogar die Todesstrafe angedroht worden, falls er den Anweisungen der französischen Besatzungsmacht nicht nachkomme®°. Wahrscheinlich wollten Widmer und de Mangoux den widerborstigen Müller loswerden und boten deshalb Schmid das Amt des Landesdirektors für Justiz an. Schmid wäre kein Politiker gewesen, wenn er die Übernahme des Amtes abgelehnt hätte. Als Vorsitzender des Staatssekretariats und Leiter zweier Ressorts konnte Schmid bei Abstimmungen im Staatssekretariat nicht überstimmt werden. Er hatte dadurch eine fast absolute Macht, die freilich durch die Besatzungsmächte stark eingeschränkt wurde. Der humanistische Gelehrte hatte durchaus ein Gespür für Macht, wenn sie ihm auch nicht Selbstzweck war. Erst später behauptete er, daß ihn „die Schlange der Politik mit den Giftzähnen des Ehrgeizes“ nicht gebissen habe?”.
Müller verzieh Schmid den „Staatsstreich“ nie. Warum ausgerechnet Schmid, dessen unkonventionelle Lebens- und Arbeitsweise in den Augen des überkorrekten Bürokraten Müller keine Empfehlung für ein politisches Amt sein konnte? Widmer antwortete auf Müllers Frage: „Nachdem die für diese Wahl notwendigen Informationen gesammelt waren, fiel sie auf Herrn Carlo Schmid. Seine Abstammung, seine Kultur, sein Sinn für den Humanismus schienen mir in der Tat der erwünschten Qualifikation zu entsprechen. Andererseits hatte ich bezüglich seiner Haltung in Lille während des Krieges befriedigende Auskünfte. Es wird Sie sicher interessieren, daß ich meinen Kollegen Oberst Dawson in Stuttgart aus Gründen der Höflichkeit vorher von meiner Entscheidung verständigte; er gab keinerlei ungünstigen Kommentar ab, was Sie wahrscheinlich die Gründe erkennen läßt, aus denen die Beziehungen zwischen Tübingen und Stuttgart immer zufriedenstellend waren.“ ?*
Persönliche Beziehungen und nicht Parteien und Programme bestimmten 1945 die Politik. Widmer und sein reger Kabinettschef de Mangoux waren universal gebildete Männer, die sich mit dem humanistischen Gelehrten Schmid besser verständigen konnten als mit einem engstirnigen Bürokraten oder den politischen Veteranen aus der Weimarer Republik. Literatur, Philosophie und Kunst gehörten auch zum Gesprächsstoff bei den zwischen Schmid, Widmer und de Mangoux geführten Unterredungen. Die Gespräche begannen mit Problemen der Besatzungspolitik und endeten mit einem gelehrten Diskurs über Baudelaire, Mallarme und Rodin, Seine politische Kompetenz hatte Schmid in dem halben Jahr von April bis Oktober, in dem er unermüdlich tätig war und zahlreiche Initiativen in Gang gesetzt hatte, unter Beweis gestellt. Er, der Geistesaristokrat, schien der ideale Mann für einen „Neubeginn von oben“ zu sein, von dem die Franzosen in ihren Planungen ausgingen. Nachdem sich Amerikaner und Franzosen heillos zerstritten hatten, vertraute man darauf, daß Schmid die Verbindung zwischen Tübingen und Stuttgart aufrechterhalte, und er tat dies auch zur vollen Befriedigung aller’”. Carlo Schmid war der „Mann der Franzosen“, aber er handelte als deutscher Patriot aus „vaterländischer Verantwortung“ “,
Noch stand nicht fest, welchen besatzungspolitischen Kurs die Franzosen einschlagen würden. Pierre Koenig, der französische Militärgouverneur für Deutschland, und Generaladministrator Emile Laffon hatten völlig unterschiedliche Konzepte und Vorstellungen entwickelt. Ob die französisch besetzte Zone zu einer Ausbeutungskolonie degradiert, ob Deutschland zerstückelt oder gleichberechtigtes Mitglied einer europäischen Gemeinschaft werden sollte, wußte damals keiner – auch Schmid nicht, der nicht mehr erfuhr, als Widmer und de Mangoux ihm mitteilten. In der Anfangszeit waren die politischen Informationen knapp. So richtete er sich zunächst einmal darauf ein, die erste Zeit „aus dem Sattel“ regieren zu müssen!”
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