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1896-1979 eine Biographie : Vater des Grundgesetzes (1948-1949)

Provisorium oder westdeutscher Staat? Zur Vorgeschichte des Parlamentarischen Rates

Im Juni 1948 geschah etwas seltenes. Der Vorsitzende der CDU der britischen Zone wandte sich an die SPD. Adenauer hielt die am 7. Juni bekanntgegebenen Londoner Empfehlungen der Sechs Mächte für „katastrophal“. Der Versailler Vertrag sei dagegen ein „Rosenstrauß“, urteilte er in einem Brief an den in den Niederlanden lebenden sozialdemokratischen Journalisten Alfred Mozer‘. Nun suchte er, die SPD-Parteizentrale in Hannover zur Abgabe einer gemeinsamen Protesterklärung gegen die Londoner Empfehlungen zu bewegen. Ollenhauer und Fritz Heine lehnten ab. Sie hielten eine gesonderte Erklärung des SPD-Parteivorstandes für wirkungsvoller?. Carlo Schmid, der fernab in Tübingen saß und von Adenauers Vorschlag erst Ende Juni erfuhr, ließ noch in seinen Erinnerungen durchblicken, daß er es bedauert hatte, daß seine Partei ein gemeinsames Vorgehen ausgeschlagen hatte}.

Seine Einschätzung der Londoner Empfehlungen unterschied sich kaum von der Adenauers, wenn er sich auch in seinen öffentlichen Äußerungen mehr Zurückhaltung auferlegte als der Zonenvorsitzende der CDU, der von einem in London „beschlossenen System() der Ausbeutung Deutschlands“ sprach und die Deutschen aufrief, die Mitarbeit zu verweigern, um wenigstens die „Ehre vor der Nachwelt zu retten“#. Schmid vermied nationalistische Töne. Er unternahm statt dessen den Versuch, die Londoner Empfehlungen, in denen die Gründung eines westdeutschen Staates föderalistischen Typs dekretiert worden war, im Sinne seines Provisoriumskonzepts, das er jetzt noch radikaler faßte, umzuinterpretieren. Am 12. Juni erklärte er auf dem 3. Landesparteitag der SPD-Württemberg- Hohenzollern: „Die in den Londoner Beschlüssen vorgesehene Organisation des Westens darf (…) lediglich administrativen und provisorischen Charakter tragen, sie kann nicht mehr als einen Zweckverband schaffen. Den Deutschen, die glauben konnten, daß wir mit dieser Formulierung einen Verzicht leisten, sei gesagt, daß ein Staat ein Staatsvolk voraussetzt und es ein westdeutsches Staatsvolk nicht gibt, sondern nur ein gesamtdeutsches. Sie sollten auch überlegen, daß ein Gebilde, dem verwehrt bleibt, eigene außenpolitische Entscheidungen zu treffen und dessen innere Politik der Genehmigung der Besatzungsmächte auch weiterhin unterliegen wird, grundsätzlich nichts anderes zu leisten vermag als Administration.“ ® Abermals forderte er den Erlaß eines Besatzungsstatuts als Voraussetzung für eine administrative Organisation der drei Westzonen. Noch ehe er die in den Frankfurter Dokumenten der Alliierten niedergelegten Grundsätze eines Besatzungsstatuts kannte, entwickelte er selbst Leitsätze für ein Besatzungsstatut, die die genaue Abgrenzung der Befugnisse der Besatzungsmächte, die Begrenzung der Besatzungskosten und ihre pauschale Festsetzung, die Gewährung der allgemeinen Menschenund politischen Freiheitsrechte sowie die Errichtung von Schiedsgerichten zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung des Besatzungsstatuts verlangten®. Das war im Grunde nur eine Wiederholung altbekannter Postulate, die aber jetzt zu einem Gegenkonzept zu den Plänen und Forderungen der Alliierten wurden.

Er konnte nicht sicher sein, daß die SPD seiner Marschroute folgte. Deshalb versuchte er noch vor der für Ende des Monats einberufenen Tagung des Parteivorstandes, Ollenhauer auf seine Vorschläge und Empfehlungen einzuschwören. Ausarbeitung eines Organisationsstatuts anstatt einer Verfassung, müsse die Losung der Partei sein, schrieb er dem stellvertretenden Parteivorsitzenden am 14. Juni. Das Organisationsstatut müsse von den Besatzungsmächten oktroyiert werden. Damit nicht „allzuviel Unsinn“ geschehe, sollten die großen Parteien die Besatzungsmächte bei der Ausarbeitung des Organisationsstatuts beraten’. Ollenhauer vermochte das negative Urteil seines Parteifreundes aus Tübingen über die Londoner Beschlüsse nicht ganz nachzuvollziehen. Er hatte trotz einiger Vorbehalte die Londoner Empfehlungen als einen Schritt nach vorn begrüßt‘. Der ehemalige Vorsitzende der SAJ lebte nicht wie der Völkerrechtler und Repräsentant des nationalen Bürgertums Schmid in der ständigen Furcht vor einem neuen Friedensdiktat, das die Giftkeime für eine neue nationale Katastrophe enthielt. Für ihn bedeutete die Weststaatsgründung auch nicht unbedingt die Zementierung der deutschen Teilung.

Auf der Parteivorstandssitzung in Hamburg am 28./29 Juni fand Schmids Konzept offensichtlich keine ungeteilte Zustimmung. Die Sitzung stand ganz unter dem Eindruck der Berlin-Blockade, so daß die Londoner Beschlüsse nur unter ferner liefen behandelt wurden. Die Resolution zu den Londoner Empfehlungen wurde laut Protokoll der Parteivorstandssitzung unter der Federführung Schmids ausgearbeitet, aber die Feder wurde ihm anscheinend des öfteren entrissen?. Schmid konnte sich zwar mit seiner oft wiederholten Forderung nach Erlaß eines Besatzungsstatuts durchsetzen, aber dieses Besatzungsstatut sollte nicht mehr bis zur Schaffung eines Friedensvertrags mit Gesamtdeutschland in Kraft bleiben, sondern nur noch bis zur „Herstellung des Friedenszustandes für alle drei Zonen“. Auch für ein von den Besatzungsmächten zu erlassendes Organisationsstatut konnte sich die Mehrheit der Resolutionskommission nicht begeistern. In Anknüpfung an die Resolution von Springe appellierte man an die Besatzungsmächte, bald allgemeine und direkte Wahlen zu einem provisorischen Parlament zu ermöglichen. „Dieses sollte sowohl ein Verwaltungsstatut für die westlichen Besatzungszonen schaffen als auch die normalen Funktionen einer demokratischen Volksvertretung übernehmen.“‘ ° Die ganze Resolution war ein Formelkompromiß, auf den sich die Verteidiger des Provisoriumskonzepts und die Befürworter eines westdeutschen Staates, wenn sie es mit der Terminologie nicht allzu ernst nahmen, gleichermaßen berufen konnten.

Schmid war verärgert über die Hamburger Resolution und machte einen Monat später auf einer Sitzung des SPD-Landesvorstandes Württemberg- Hohenzollerns seinem Ärger auch Luft“. Es nützte ihm aber wenig, daß der Landesvorstand sich hinter ihn und sein Konzept stellte. Die Hamburger Resolution blieb offizielle Parteilinie. Man kann es auch negativ ausdrücken: eine einheitliche Marschroute der Partei gab es nicht. Für den ı. Juli war die formelle Übergabe der Londoner Beschlüsse in Form von Dokumenten an die elf Ministerpräsidenten durch die drei Militärgouverneure im Frankfurter alliierten Hauptquartier, dem früheren IG-Farbenhaus, vorgesehen. Einen Tag vorher beratschlagte man im Tübinger Kabinett, ob man an der Übergabe teilnehmen, und welchen Standpunkt man gegebenenfalls gegenüber den Militärgouverneuren einnehmen solle. Das Tübinger Kabinett stellte sich im Gegensatz zu dem tags zuvor tagenden SPD-Parteivorstand geschlossen hinter Schmids Provisoriumskonzept. Die Schaffung eines Organisations- und Besatzungsstatuts wurde zur vordringlichen Aufgabe deklariert. Alle Möglichkeiten, die die Dokumente für den Wiederaufbau enthielten, sollten nach einmütiger Meinung des Kabinetts „voll ausgeschöpft“ werden’. Bock, der auf überzonalen Konferenzen immer eine etwas unglückliche Figur machte, war froh, daß ihn Schmid nach Frankfurt begleiten wollte. Für Schmid bot die Konferenz die Möglichkeit, die Ministerpräsidenten von seiner Linie zu überzeugen.

Die Übergabeprozedur war steif und wirkte fast demütigend auf die Teilnehmer. Jeder der drei Militärgouverneure verlas eines der später so genannten Frankfurter Dokumente und übergab es anschließend den Deutschen. In besonders scharfem Ton verkündete General Koenig Dokument III, das die Grundsätze für ein Besatzungsstatut enthielt. In Dokument I wurden die deutschen Länderchefs aufgefordert, eine Verfassunggebende Versammlung zur Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung einzuberufen, die „die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält“ 3, Dokument II verlangte die Überprüfung der Ländergrenzen.

Die Länderchefs wollten zunächst keine Stellungnahme abgeben, sondern erst einmal unter sich zu einer Klärung der Standpunkte kommen. In der anschließenden Besprechung drängten insbesondere die sozialdemokratischen Länderchefs Brauer, Kaisen und Stock auf eine möglichst schnelle Erledigung der erteilten Aufträge, was Schmid nicht unwidersprochen lassen konnte. Er machte keinen Hehl daraus, daß er die von den Militärgouverneuren erteilten Vorschläge für unannehmbar hielt. Auf keinen Fall dürfe, wie in den Dokumenten vorgesehen, das Plebiszit über die Verfassung mit dem Plebiszit über das Besatzungsstatut verbunden werden. Er gab zu erwägen, „ob nicht ein grundsätzlich anderes Verfahren eingeschlagen werden müßte“ ‚+. Wenn die Deutschen auf die Vorschläge eingingen, müßten sie auch die Verantwortung dafür übernehmen und seien nicht mehr Befehlsempfänger wie bisher. Schmid wollte auf die Frankfurter Dokumente mit einem Alternativkonzept, das nur das von ihm entwickelte sein konnte, antworten. Er rannte vergeblich gegen die geschlossene Front der SPD-Ministerpräsidenten an, die von seinem Provisoriumskonzept nichts wissen wollten. Vorsichtig unterstützt wurde er von dem bayrischen Ministerpräsidenten Ehard, der auch dafür plädierte, deutsche Gegenvorschläge auszuarbeiten, aber Schmids radikale Ablehnung der Frankfurter Dokumente nicht teilte’5. Einigen konnte man sich schließlich nur auf den Termin für eine nächste Konferenz. Am 8. Juli wollte man sich auf dem Rittersturz in Koblenz zu erneuter Beratung treffen.

Schmid war geradezu empört über das Verhalten der sozialdemokratischen Länderchefs, die sich als seine stärksten Widersacher erwiesen hatten. Einen Tag nach der Konferenz klagte er Ollenhauer: „Mein Eindruck von Frankfurt war entsetzlich. Wenn ich nicht gewußt hätte, daß alle dort mitberatenden sozialdemokratischen Ministerpräsidenten in Hamburg waren – aus ihren Reden hätte ich schließen müssen, daß sie zum ersten Mal an diesem Tag in Frankfurt von dem Problem ‚Westdeutschland‘ etwas gehört haben.“ Er bat Ollenhauer inständig, an der Vorbesprechung der SPD zur Koblenzer Konferenz teilzunehmen. Nur die Autorität des stellvertretenden Parteivorsitzenden konnte die SPD auf Linie bringen. Schmid war fest davon überzeugt, daß das zukünftige Schicksal Deutschlands auf dem Spiel stand.

Daher war er auch nicht gewillt, sich geschlagen zu geben, sondern ging in die Offensive. Am 2. Juli veranlaßte er, daß der Rechtsausschuß des Stuttgarter Friedensbüros eine Denkschrift zu den Frankfurter Dokumenten ausarbeitete, die der Koblenzer Ministerpräsidentenkonferenz vorgelegt und auch den drei Besatzungsmächten zugehen sollte. Die Vertreter der französischen Besatzungsmacht erkannten sehr schnell, wessen Handschrift die Denkschrift trug: die des „Leader socialiste“ ihrer Zone, der sich die Endredaktion der Denkschrift, an deren Ausarbeitung Grewe, Kaufmann und von Schmoller beteiligt waren, vorbehalten hatte’’. Die Denkschrift begann mit grundsätzlichen Ausführungen zum Widerspruch zwischen Besatzungsstatut und deutscher staatlicher Eigenverantwortlichkeit. Die in den Frankfurter Dokumenten vorgeschlagene Lösung kranke an dem „Hauptfehler“ des Versailler Vertrags: „Die Alliierten, unter sich uneinig, brauchen die Zustimmung des deutschen Volkes zu ihren Vereinbarungen, können sich aber nicht entschließen, von Anfang an mit uns zu verhandeln. Dadurch, daß es uns gestattet wird, einige Retuschen zu einem bereits festliegenden Text vorzuschlagen, von denen die Hälfte zurückgewiesen werden wird, kann eine deutsche Mitarbeit nachträglich nicht konstruiert werden.“ ‚® Die Alliierten sollten sich darüber im klaren sein, „daß das deutsche Volk jeden verdammen wird, der die Hand zu einer Spaltung Deutschlands bietet“ ‚%. Die Sprache war eindringlich. Die Alliierten wurden an die unheilvolle Geschichte der Weimarer Republik erinnert. Um deren Wiederholung zu verhindern, kämpfte Schmid so verbissen für sein Konzept.

Die von Schmid verfaßten Richtlinien der SPD für ein Besatzungsstatut waren von den westlichen Alliierten durchgearbeitet, auch für „überraschend gemäßigt“ empfunden worden, aber inhaltlich doch als viel zu weitgehend°®. Die von ihnen entwickelten Grundsätze für ein Besatzungsstatut glichen in Schmids Augen einem „Friedensdiktat“. Einzig für die französische Zone bedeuteten sie einen Fortschritt, für die beiden übrigen Zonen cher einen Rückschritt. Die Notstandsklausel war so gefaßt, daß die Deutschen ihre Befugnisse im Grunde nur auf Probe erhielten“. Schmid beharrte darauf, daß die Antwort auf die Grundsätze nur ein eindeutiges Nein sein könne. Dieses Nein, so hoffte er, könne „die Grundlage für eine fruchtbare Erörterung und Klärung des ganzen Fragenkomplexes bilden, aus der sich dann eine konstruktive Lösung ergeben könnte“, Wie die aussehen sollte, war den in der Denkschrift gemachten Gegenvorschlägen für ein Besatzungsstatut zu entnehmen, die eine Wiedergabe der Schmidschen Leitsätze waren”. Weil das Besatzungsstatut für ihn die eigentliche Verfassung Deutschlands war, konzentrierte sich sein Interesse vor allem darauf. Weniger ausführlich wurde in der Denkschrift seine Forderung, statt einer Verfassung ein Organisationsstatut zu erlassen, behandelt. Da Denkschriften nur eine begrenzte Reichweite haben, wandte sich Schmid zur selben Zeit auch an die Presse, um seinen Vorstellungen zum Durchbruch zu verhelfen#

Im Tübinger Kabinett, in dem er auch als stellvertretender Staatspräsident die dominante Persönlichkeit blieb, wurde am 5. Juli die von ihm vertretene Linie als Marschroute für die Koblenzer Konferenz widerspruchlos akzeptiert. Er war Realist genug, um einzuplanen, daß in Koblenz nicht mehr als eine Kompromißlösung erreicht werden konnte. Mit seinen Tübinger Kabinettskollegen kam er überein, daß auf keinen Fall von der Forderung abgerückt werden dürfe, daß das Besatzungsstatut vor dem Tätigwerden der Verfassunggebenden Versammlung zu erlassen sei. Bei allen anderen Fragen wollte er sich kompromißbereit zeigen”. Erwogen wurde auch die Beteiligung ostdeutscher Vertreter an den Verfassungsberatungen. Man erkannte aber sehr schnell die Krux dieses Vorschlages. Voraussetzung für die Hinzuziehung ostdeutscher Vertreter war die vorherige Zulassung aller politischen Parteien in der SBZ°.

Auch hinter den Kulissen der offiziellen Politik wurden im Vorfeld der Koblenzer Konferenz Fäden gesponnen. Josef Müller, bekannter unter seinem Spitznamen der „Ochsensepp“, hatte sich mit Schmid in Verbindung gesetzt, um eine Annäherung der Standpunkte der beiden großen Parteien zu erreichen. Wenn die Deutschen den Alliierten mit eigenen Vorschlägen gegenübertreten wollten, so konnten sie es nur geschlossen tun. Mit dem „Ochsensepp“, mit dem er sich auch sonst bestens verstand, wurde sich Schmid schnell einig. Auf die Ausarbeitung einer Verfassung sollte verzichtet werden. Die Schuld für die Zerreißung Deutschlands durfte nicht den westdeutschen Politikern aufgebürdet werden

Schmid war bestens gerüstet, als er am 7. Juli nachmittags auf Jagdschloß Niederwald ankam, wo sich der Parteivorstand und die sozialdemokratischen Länderchefs über eine einheitliche Haltung zu den Frankfurter Dokumenten verständigen wollten. Es ging „gemäßigt zu“, wenngleich Schmids kompromißlose Ablehnung des alliierten Besatzungsstatuts auf wenig Verständnis stieß”®. Der immer auf Konsens bedachte Ollenhauer verstand es, zu vermitteln. Nicht für eine Ablehnung, sondern für eine Änderung des Besatzungsstatuts sollte man sich aussprechen. Das war eine diplomatische Formel für das, was Schmid wollte. Eine Kommission wurde gebildet, um Gegenvorschläge zu den alliierten Grundsätzen auszuarbeiten, was im Grunde unnötig war, denn Schmid mußte nur seine bereits ausformulierten Leitsätze für ein Besatzungsstatut aus der Tasche ziehen. Brauer und Kaisen dachten an den Wiederaufbau ihrer Hafenstädte und verlangten deshalb eine Aufhebung der Außenhandelsbeschränkungen. Schmid war gerne bereit, diesen Punkt in seinen Gegenentwurf aufzunehmen”. Er konnte mit dem Verlauf der Vorbesprechung zufrieden sein. Der Beschluß, der gefaßt wurde, fiel so aus, wie er ihn sich gewünscht hatte. Ein Ausschuß, dessen Mitglieder durch indirekte Wahl zu bestimmen waren, sollte ein Organisationsstatut und ein Wahlgesetz ausarbeiten, das dann von den Besatzungsmächten zu erlassen war?°. Als am 8. Juli gegen ı5 Uhr die Ministerpräsidentenkonferenz auf dem Koblenzer Rittersturz eröffnet wurde, hatte außer Schmid niemand ein fertiges Konzept in der Tasche. Das mag der Hauptgrund dafür gewesen sein, daß es ihm gelang, innerhalb von zwei Tagen die Teilnehmer der Konferenz auf seinen Grundsatz, keinen westdeutschen Staat, sondern nur einen „Zweckverband administrativer Qualität“ zu schaffen, einzuschwören3′. Vieles wurde am weißen Tisch verhandelt, so daf% der Meinungsbildungsprozeß sich im einzelnen nicht mehr nachvollziehen läßt. Die Verfechter einer westdeutschen Staatsgründung hielten sich auffallend zurück. Nachdem die Oberbürgermeisterin von Berlin Louise Schroeder gemahnt hatte, aus Solidarität mit den Berlinern auf definitive Lösungen zu verzichten, konnte keiner der Teilnehmer sich mehr guten Gewissens für die Bildung eines Weststaates aussprechen?”. Schmid wurde damit betraut, ein Pressekommunique und eine Antwortnote an die Militärgouverneure zu entwerfen. Er nutzte die Gunst der Stunde. Bei der Abfassung der Mantelnote ließ er sich von niemandem hineinreden°?.

In der Mantelnote legte er noch einmal die Beweggründe dar, warum die Ministerpräsidenten es ablehnten, „dem zu schaffenden Gebilde den Charakter eines Staates (zu) verleihen“. Oberstes Ziel sei es gewesen, eine weitere Vertiefung der Spaltung zwischen Ost- und Westdeutschland zu verhindern. Eine deutsche Verfassung könne erst dann geschaffen werden, „wenn das gesamte deutsche Volk die Möglichkeit besitzt, sich in freier Selbstbestimmung zu konstituieren“ 3*. Man habe sich daher entschlossen, statt einer Verfassung ein „Grundgesetz für die einheitliche Verwaltung des Besatzungsgebietes der Westmächte“ zu schaffen, das von einem durch die Landtage zu wählenden parlamentarischen Rat auszuarbeiten war. Der Mantelnote wurden in der Anlage Schmids Leitsätze für ein Besatzungsstatut beigegeben. Das Besatzungsstatut sollte erlassen werden, bevor der Parlamentarische Rat seine Arbeit aufnahm.

Schmid wähnte, einen Sieg auf ganzer Linie errungen zu haben. In einem Artikel für den „Berliner Telegraf“ gab er seiner Hoffnung Ausdruck, daß die Alliierten den Koblenzer Beschlüssen zustimmen mögen: „dann wäre ein mächtiger Schritt nach vorwärts getan.“ Im übrigen lobte er die Ministerpräsidenten, die sich nicht auf „Fiktionen“ eingelassen, sondern die Wirklichkeit „nüchtern betrachtet“ hatten. Wenn er genügend Propaganda für die Koblenzer Beschlüsse machte, konnten auch die Militärgouverneure sie nicht mehr einfach ignorieren.

Clay tobte. Er warf den Ministerpräsidenten eine katastrophale Mißachtung des Ernstes der gesamteuropäischen Lage vor. Allein den Amerikanern sei es zu: verdanken, daß die Westzonen „noch nicht russisch“ seien. Nun seien die Ministerpräsidenten den Amerikanern in ihrem Kampf gegen den Kommunismus in den Rücken gefallen3°,. Der amerikanische Militärgouverneur fürchtete, daß die auf der Londoner Konferenz mühsam errungene Einigung in Koblenz leichtfertig aufs Spiel gesetzt worden sei: „Die Franzosen haben jetzt das Wort, nicht wir.“37 Die Koblenzer Beschlüsse deckten sich tatsächlich mit der von Frankreich vertretenen Linie, in den drei Westzonen zunächst nur ein Provisorium zu errichten. Die Franzosen fochten aus anderen Gründen als Schmid für ein westdeutsches Provisorium. Ihnen lag daran, die Bildung der „Trizone“, solange es ging, zu verschleppen®, Die Haltung der Franzosen mag Schmid in der Hoffnung bestärkt haben, daß die Koblenzer Beschlüsse von den Alliierten wohlwollend aufgegriffen werden könnten. Eigentlich hätte er, der über das internationale Geschehen immer bestens informiert war, es besser wissen müssen. Das Veto der Angelsachsen, für die die Koblenzer Beschlüsse nur dilatorischen Charakter hatten, war vorauszusehen.

Ein Teil der Länderchefs hatte wohl von vornherein das Veto der Angelsachsen eingeplant’?. Deshalb war es ihnen auch nicht allzu schwer gefallen, den Beschlüssen von Koblenz, die vielen von ihnen zu ultimativ formuliert waren, zuzustimmen. Brauer hatte bereits in Koblenz deutlich gemacht, daß für ihn Namen nur „Schall und Rauch“ waren: „Ob sie das Organisationsstatut oder Verfassung nennen, das ist gleichgültig.“ *° Gerade aber auf die „Worte“, auf die „Prozedur“ kam es Schmid an. Der Staats- und Völkerrechtler wußte, welche Bedeutung Worten bei der Auslegung von Verträgen und Verfassungen zukam. In der Terminologie und in dem Prozedere der Verfassunggebung mußte eindeutig zum Ausdruck kommen, daß die Alliierten weiterhin die Verantwortung für Deutschland als Ganzes hatten*‘. Das administrative Gebilde, das Schmid in den Westzonen errichten wollte, unterschied sich realiter kaum von dem, für das Brauer sich so vehement einsetzte. Auch Schmid wünschte eine mit ausreichenden Kompetenzen ausgestattete Zentralgewalt. Als er vor dem Bebenhausener Landtag über die Koblenzer Beschlüsse berichtete, fügte er, um nicht mißverstanden zu werden, ausdrücklich hinzu: „Es wird wohl keiner in dem Saale sein, der nicht zum wenigsten innerlich davon überzeugt ist, daß? wir ohne eine solche Erweiterung und Konzentration der deutschen Befugnisse vor die Hunde gehen müssen.“

Reinhold Maier sprach vom „Feigenblatt des Provisorischen“. Die Deutschen hätten einen Staat errichten, ihn aber nicht so nennen wollen®3. Ein Pragmatiker wie Maier mochte so denken. Für den Juristen Schmid war es schlichtweg unvorstellbar, daß ein Volk, das nicht souverän war, sich eine Verfassung gab. Die Alliierten sollten sich ihrer Verantwortung für Deutschland nicht entziehen können. Er forderte die Mitsprache der Westdeütschen bei der zukünftigen Gestaltung ihres Provisoriums, wollte aber den Besatzungsmächten weiterhin alle Verantwortung aufbürden. Daß diese sich nicht darauf einlassen würden, war eigentlich vorauszusehen.

Clay machte den Ministerpräsidenten unmißverständlich deutlich, daß die Frankfurter Dokumente kein Gegenstand der Verhandlung waren. Schmid hatte noch nicht resigniert. Selbst ein Verbot der französischen Militärregierung, die die Verhandlungen verschleppen wollte, konnte ihn nicht davon abhalten, am ı5. Juli nach Rüdesheim zu reisen, wo im Jagdschloß Niederwald die Ministerpräsidenten darüber beratschlagten, wie auf das Veto gegen die Koblenzer Beschlüsse zu reagieren sei. Lorenz Bock blieb daheim, was Schmid zu der süffisanten Bemerkung veranlaßste: „(E)in Verbot setze doch immer einen voraus, der sich verbieten lasse“ **. Die nächtliche Konferenz war ein Gemisch von Ratlosigkeit und Optimismus. Schmid glaubte, daß eine dezidiert europäische Politik der Westdeutschen Clay davon überzeugen könne, daß auch die Deutschen gewillt waren, sich der sowjetischen Bedrohung entgegenzustellen. Allgemein herrschte die Auffassung, daß ein Abrücken von den Koblenzer Beschlüssen eine gemeinsame Stellungnahme der Ministerpräsidenten notwendig mache. Mit den Vorarbeiten für eine Verfassung wollte man aber so bald wie möglich beginnen. Ehard regte an, einen Verfassungskonvent nach Herrenchiemsee einzuberufen, was auf allgemeine Zustimmung stieß. Schmid entging nicht, daß die Ministerpräsidenten nur noch ein Lippenbekenntnis zu seiner Koblenzer Mantelnote abgaben. Um wenigstens etwas davon zu retten, schlug er vor, Verhandlungsstäbe zu bilden, die mit den Militärgouverneuren einen Kompromifß aushandeln sollten*s. Clay gab jedoch zu verstehen, daß die Frankfurter Dokumente als Ganzes akzeptiert werden mußten.

Als sich die Ministerpräsidenten eine Woche später wieder im Jagdschloß Niederwald versammelten, war die Stimmung endgültig umgeschlagen. Die Mehrheit war bereit, den Auftrag der Frankfurter Dokumente anzunehmen, weil bei weiteren Verzögerungen einer westdeutschen Staatsbildung eine wirtschaftliche Katastrophe zu befürchten war. Brauer sprach den Länderchefs aus der Seele, als er unterstrich, daß man mit den „gegenwärtigen Hilfskonstruktionen“ nicht mehr weiterarbeiten könne und deshalb eine Änderung so nötig sei „wie das liebe Brot“ #°. Schmid unternahm den verzweifelten Versuch, seinen Kollegen darzulegen, daß die Verfassunggebung keine Frage des wirtschaftlichen Pragmatismus sei. Er hatte den Eindruck, daß die meisten Konferenzteilnehmer sich der Konsequenzen ihrer Entscheidung nicht bewußt waren und hielt deshalb, selbst auf die Gefahr hin, seiner professoralen Ausführungen wegen verspottet zu werden, ein staatsrechtliches Kolleg. Wenn man einen Weststaat wolle, dann müsse man sagen: „Es wird jetzt im Westen die deutsche Republik errichtet. Wir errichten sie im Westen, weil wir zur Zeit über den Westen nicht hinausgreifen können. Diese Republik und ihr Parlament müßten darin für sich in Anspruch nehmen, die Vertretung für ganz Deutschland zu sein, legalisiert im Westen durch Wahlen und legalisiert im Osten durch communis consensus der Ostblockbevölkerung.“ +7 Die Amerikaner und ein Teil der Deutschen seien der Meinung, daß ein solcher Staat die Einheit Gesamtdeutschlands fördern könne. Andere, zu denen auch er gehöre, seien dagegen der Auffassung, „daß man dadurch die kleine Chance, die in Bezug auf eine friedliche Erledigung des Gesamtproblems Deutschland noch besteht, nämlich die Einigung der vier Besatzungsmächte über ein einheitliches Deutschland, endgültig verschütten würde“ #,

Nachdem Ernst Reuter in einem beredten Plädoyer für die Errichtung eines westdeutschen Kernstaates als „elementare Voraussetzung“ für die „Rückkehr des Ostens zum Mutterland“ eingetreten war®, stand Schmid mit seiner Meinung auf verlorenem Posten. Das prononcierte Votum des Berliner Bürgermeisters für die Gründung eines Weststaates befreite die übrigen Ministerpräsidenten von ihrer Gewissensqual. Keiner konnte ihnen mehr den Vorwurf machen, durch ihre Befürwortung eines Weststaates hätten sie die Solidarität mit Berlin und dem Osten aufgekündigt. Carlo Schmid war niedergeschlagen. Er setzte sich abseits von den anderen, las Zeitung und tat so, als ob ihn dies alles nichts mehr anging’. Am meisten ärgerte ihn, daß die Herren Ministerpräsidenten nicht zugaben, daß das Beratungsergebnis der Niederwald-Konferenz ein eindeutiges Abrücken von den Koblenzer Beschlüssen war’. Von einem vorherigen Erlaß eines Besatzungsstatuts war nicht mehr die Rede. Grundgesetz wurde mit „basic constitutional law“ übersetzt’”. Der hessische Ministerpräsident Stock ließ einige fragende Journalisten wissen: „Grundgesetz und Verfassung sind doch dasselbe, meine Herren.“3 Schmid erklärte verbittert, es sei besser, auf den Begriff Grundgesetz gleich zu verzichten, wenn man dahinter verschämt in Klammern schreibe: „vorläufige Verfassung“ °*. Wenn die Ministerpräsidenten schon vor den Alliierten kapituliert hatten, sollten sie es zumindest eingestehen. Die Niederwald-Konferenz bedeutete für ihn eine persönliche Niederlage, über die in den amerikanischen Presseorganen auch noch frohlockt wurde’. Bittrer noch als die persönliche Niederlage war für ihn die Niederlage in der Sache. Er fürchtete, daß die deutsche -Einheit für ein Linsengericht verkauft worden war. Schmid war nach wie vor ein national eingestellter Mann. Patriotismus und ein Bekenntnis zu Europa schlossen sich für ihn nicht aus.

Am 26. Juli kam es in Frankfurt in einer Besprechung, die an Dramatik nichts zu wünschen übrig ließ, auf der Grundlage der in Niederwald getroffenen Vereinbarungen zu einem Kompromiß zwischen den Ministerpräsidenten und den Militärgouverneuren’. Nicht weniger dramatisch ging es in der SPD-Parteivorstandssitzung am 2./3. August in Springe zu. Brauer und Katz warfen Schmid vor, sich in Niederwald nicht an die Beschlüsse der Partei gehalten zu haben’”. Schmid traute seinen Ohren nicht. Er war der festen Überzeugung, daß die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten „keine Treuhänder der Partei“ mehr seien. Überhaupt bedauerte er, daß die Parteien sich nicht mehr in die Konferenz in Niederwald eingeschaltet hattenS®. Das waren ganz fremde Töne aus seinem Munde. Freilich er hatte recht. Von den am 7. Juli in der Vorbesprechung zur Koblenzer Konferenz getroffenen Vereinbarungen war in den Beschlüssen von Niederwald so gut wie nichts mehr zu finden. Weder in der Parteizentrale noch im Parteivorstand nahm man zu Schmids Erstaunen zur Kenntnis, daß die Ministerpräsidenten in Niederwald von den Beschlüssen in Koblenz abgerückt waren.

Walter Menzel war dabei, einen Entwurf für eine „Westdeutsche Satzung“ auszuarbeiten, in dem an dem ursprünglichen Provisoriumskonzept festgehalten wurde, als ob die Niederwald-Konferenz nie stattgefunden hätte. Schmid gab durch die Blume zu verstehen, daß dieser Entwurf, der dann trotz seiner Einwände am 16. August veröffentlicht wurde”, nur für den Papierkorb tauge”. So erregt und empört hatte man ihn in einer Parteivorstandssitzung, wo er ansonsten immer auf Anpassung bedacht war, noch nie erlebt. Ollenhauer versuchte wie immer zu beschwichtigen. Schmids Formulierungen hielt er für „überspitzt“. Er konnte und wollte nicht sehen, daß man in Niederwald „wesentlich“ von den Koblenzer Beschlüssen abgewichen sei°‘. Schmid stieß mit seinen Ausführungen weitgehend auf Unverständnis. So blieb ihm nichts anderes übrig, als eine Resolution mitzuunterzeichnen, in der der Frankfurter Kompromiß gebilligt wurde. Laut Resolution trug die Entscheidung der Länderchefs der Grundvorstellung der SPD Rechnung, „der Neuregelung einen provisorischen Charakter und nicht das Gewicht einer regulären Verfassung zu geben“ °”. Wieder einmal machte Schmid die Erfahrung, daß man in der Politik täglich Kröten schlucken mußte.

Es half nichts. Er mußte sich auf den Boden der Realität stellen. An dem radikalen Provisoriumskonzept konnte er nicht länger festhalten. Walter Menzel machte sich mit seinem Entwurf einer „Westdeutschen Satzung“, der weder eine Präambel, einen Grundrechtskatalog noch völkerrechtliche Grundsätze oder Bestimmungen über die Rechtspflege enthielt, und zudem auch in der Terminologie noch ganz auf das Provisoriumskonzept abstellte, lächerlich. Schmid hielt sich mit öffentlicher Kritik zurück. In der gegnerischen Parteipresse wurde bereits gemunkelt, daß in der SPD „Diadochenkämpfe“ ausgetragen würden‘. Für ihn stand fest, daß das zu schaffende Grundgesetz die wesentlichen Elemente und Grundsätze einer Vollverfassung enthalten mußte. Die Verfassung Württemberg- Badens konnte als Leitbild dienen.

So verfügte er, als er am 10. August bei strrömendem Regen zusammen mit Gustav von Schmoller auf der Herreninsel im Chiemsee ankam, wo für fast zwei Wochen der von Ehard einberufene Verfassungskonvent tagen sollte, über präzise Vorstellungen, wie das zukünftige Grundgesetz aussehen sollte. Tags zuvor hatte Ollenhauer versucht die Teilnehmer des Konvents auf Parteilinie zu bringen. Brill und Menzel gerieten wegen der Aufnahme der Grund- und Menschenrechte in die Verfassung aneinander°*. Schmid, der wie Brill die Menschen- und Grundrechte für einen unverzichtbaren Bestandteil des zu schaffenden Grundgesetzes hielt, vermied eine erneute Auseinandersetzung mit Ollenhauer und Menzel. Brill, der an der Parteivorstandssitzung in Springe nicht teilgenommen hatte, war verwundert und auch etwas empört über Schmids Anpassungsbereitschaft‘ S, der nach den Erfahrungen in Springe es wieder einmal mit der Taktik der Geschmeidigkeit versuchte. Auf dem Konvent konnte niemand von ihm Parteidisziplin verlangen. Die Teilnehmer waren nicht Abgesandte der Parteien, sondern von den Ministerpräsidenten der einzelnen Länder nominiert worden.

Bayerns Ministerpräsident Ehard hatte nicht ganz ohne Hintergedanken die Teilnehmer auf die anmutige Herreninsel im Chiemsee eingeladen. Die Schönheit der Landschaft sollte von dem Versuch der Bayern, den Grundgesetzberatungen einen stark föderalistisch geprägten bayrischen Verfassungsentwurf zugrunde zu legen, ablenken‘. Schmid waren Ehards Absichten nicht verborgen geblieben, die auch recht offen zu tage traten. Waren doch die Bayern die einzigen, die mit einem fix und fertig ausgearbeiteten Gesetzentwurf aufwarteten. Er gab den bayrischen Delegierten wohl recht deutlich zu verstehen, daß er ihre Methoden mißbilligte. Brill notierte spöttisch in sein Herrenchiemseer Tagebuch: „Don Carlos Schmid bewegt sich (…) in seinen Massen wie Moby Dick, der gern Kapitän Ahab morden möchte.“°7 Dem Ansinnen der Bayern, ihren Entwurf zur Grundlage der Verfassungsberatungen zu machen, trat er gleich in der ersten Plenarsitzung des Konvents mit dem Einwand entgegen, daß das „letzten Endes die Vorwegnahme einer politischen Endentscheidung bedeuten“ würde‘®. Der Konvent habe keinen verbindlichen Auftrag von den Ministerpräsidenten bekommen und sei daher nicht dazu berufen, „politische Entscheidungen“ zu treffen. Bei dem Konvent handle es sich lediglich um einen ‘Ausschuß von Experten, der die Aufgabe habe, zu erkennen und festzustellen, „wo politische Entscheidungen getroffen werden müssen und welcher Art sie etwa sein könnten“, Schmid war nicht so naiv, das politische Gewicht des Konvents zu verkennen. Er selbst war ja nach Herrenchiemsee gekommen, um Politik zu machen. Aber solange die Gefahr bestand, daß die Bayern den Verlauf des Konvents bestimmten, war es besser, dessen Bedeutung herunterzuspielen. Man einigte sich darauf, das Ergebnis der Beratungen in“einer Denkschrift festzuhalten, wobei Mehrheits- und Minderheitsvoten gesondert aufgeführt werden sollten.

Die zwei Wochen in Herrenchiemsee waren geprägt durch sachlich-faire Plenardebatten und intensive Kärrnerarbeit in den Unterkommissionen. Schmid verschaffte sich dank seiner Eloquenz und seiner Erfahrungen in Verfassungsberatungen schnell Autorität. Er wurde zusammen mit Brill zum Hauptkontrahenten der bayrischen Delegation, die mit staatsrechtlichen Argumenten gewappnet, einen extrem föderalistisch geprägten westdeutschen Kernstaat zu propagieren versuchte. Föderalismus als Weg zur Einheit war ihre Losung”°. Die auch in der Staatsrechtswissenschaft vor allem von Hans Kelsen vertretene These von der 1945 erfolgten Debellatio kam ihren Interessen entgegen. Danach war das Deutsche Reich 1945 untergegangen und konnte nur durch die in der Zwischenzeit entstandenen Länder wieder in Verfassung gebracht werden. Die Länder waren es, die einen Teil ihrer Staatsgewalt an den Bund abgaben. Mit dieser Auffassung ließ sich nicht nur ein Staatsgebilde legitimieren, das mehr staatenbündischen als bundesstaatlichen Charakter hatte, sondern auch die Errichtung eines westdeutschen Kernstaates. Wenn der westdeutsche Staat als ein Bund der Länder definiert wurde, gab es nur einen Weg, um die deutsche Einheit wiederherzustellen: die Länder Ostdeutschlands mußten sich dem westdeutschen Länderverbund anschliefßen”‘.

Schmid widersprach. Er argumentierte, daß Deutschland der „Substanz nach noch besteh(e)“, daß es aber „desorganisiert“ sei und die Aufgabe darin bestünde, „es neu zu organisieren“7”, Wenn man von der Rechtskontinuität des Deutschen Reichs ausging, war die westdeutsche Staatsgründung „kein Akt der Länder“, sondern ein „gesamtdeutscher Akt“. Die „Autorität“ und „potestas“ der gesamtdeutschen Staatssubstanz wurde in die Glieder hineinverlagert und nicht umgekehrt. Damit konnte Schmid das von ihm verfochtene bundesstaatliche Prinzip staatsrechtlich begründen. Die Zurückweisung des radikalen Föderalismus der Bayern war aber gar nicht unbedingt sein Hauptanliegen. In erster Linie ging es ihm um die Widerlegung der Vorstellung eines westdeutschen Kernstaates. Seine Argumentation lautete: Wenn das deutsche Reich nicht untergegangen war, bestand die Souveränität des deutschen Volkes nach wie vor. Die Volkssouveränität konnte aber nur in einem Teil Deutschlands ausgeübt werden und auch dort nur sehr beschränkt. Die „Teilschicht der vollen Volkssouveränität“ reiche zur Konstitution eines Staates nicht aus, sehr wohl aber „um ein Gebilde zu schaffen, das zum mindesten nach innen alles tun kann, was normalerweise ein Staat tut“73, Ein solches Gebilde könne man nicht als Staat, sondern nur als „Staatsfragment“ bezeichnen. Über den Begriff „Staatsfragment“, den Brill erstmals in die Diskussion gebracht hatte‘, war er auch nicht sehr glücklich. Er hatte aber, obwohl er sich den Kopf darüber zerbrochen hatte, keinen besseren gefunden.

Die Juristen waren in Herrenchiemsee weitgehend unter sich. Für sie hatten die feinen Begriffsunterschiede, die dern juristischen Laien wie Rabulistik anmuten, erhebliche Bedeutung. Durch die begriffliche Unterscheidung zwischen Staat und Staatsfragment gelang es Schmid, sein Provisoriumskonzept in abgeschwächter Form wieder ins Gespräch zu bringen. Es fand in der maßgebend von ihm mitformulierten Präambel für ein zukünftiges Grundgesetz seinen Niederschlag, nach der in den Ländern der Westzonen „vorläufig“ eine den „Aufgaben der Übergangszeit dienende Ordnung der Hoheitsbefugnisse“ geschaffen werden sollte”s. Der Bund deutscher Länder – so sollte das zukünftige „Staatsfragment“ heißen — stand allen anderen Teilen Deutschlands offen. Carlo Schmid hatte die Formulierung „Jeder Teil Deutschlands kann dem Bund beitreten“ vorgeschlagen, nachdem einige für den von ihm ganz entschieden abgelehnten Begriff „anschließen“ plädiert hatten?°. Da man sich nicht einigen konnte, nahm man Zuflucht zu der oben erwähnten Kompromißformel. Die große Mehrheit der Teilnehmer stimmte Schmids Forderung zu, in das Grundgesetz eine Klausel aufzunehmen, wonach es an dem Tag seine Geltung verliert, „an dem eine von dem deutschen Volke in freier Selbstbestimmung beschlossene Verfassung in Kraft tritt“7”, Bei den Bayern freilich stieß Schmid auf Granit. Sie beharrten auf ihren Präambelentwurf, in dem der Föderalismus zum Vehikel der deutschen Einheit erklärt wurde”°,

Den Bayern war nur an der Durchsetzung ihres föderalistischen Maximalprogramms gelegen. Über die Begriffe Staat oder Staatsfragment mochten sie sich nicht streiten. Der bayrische Abgesandte Schwalber nahm kein Blatt vor den Mund und verkündete ganz offen: „Ob man das neue Gebilde ein Staatsfragment oder einen Staat nennen soll, darüber kann. man geteilter Meinung sein. Aber in der Sache selbst werden wir ein Gebilde schaffen müssen, das in seinen Grundelementen nichts anderes sein kann als ein Staat, ob wir ihn nun so bezeichnen oder nicht.“ 7° Schmid belehrte die Bayern: „nomina sunt omina“®°, Später bei der Auseinandersetzung um die Anerkennung der DDR sollte die Begriffsunterscheidung zwischen Staat und Staatsfragment, durch die sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR als bloße Übergangsgebilde angesehen werden konnten, entscheidende Bedeutung gewinnen”.

Die Bayern waren so fixiert auf ihr föderalistisches Programm, daß sie es versäumt hatten, in ihren Grundgesetzentwurf einen Grundrechtskatalog aufzunehmen. Schmid verwies diesmal nicht nur auf die Werteordnung, die die Grundrechte begründeten, sondern auch auf ihre Bedeutung für den Freiheitskampf der Menschen in der sowjetischen Besatzungszone. Wenn es eine Magnetwirkung des Westens gab, so konnte sie nach Schmids Empfinden nicht vom westlichen Wohlstand, sondern nur von den Freiheitsrechten ausgehen®”. Massenkonsum hatte für den humanistischen Gelehrten immer etwas Korrumpierendes an sich.

Es gab fast keinen Artikel des Grundrechtsteils, zu dem Schmid keine Vorschläge machte. Der alles regierende Artikel ı des Grundrechtsteils trug seine Handschrift: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen. Die Würde der menschlichen Personalität ist unantastbar. Die öffentliche Gewalt ist in allen ihren Erscheinungsformen verpflichtet, die Menschenwürde zu achten und zu schützen.“ 3 Seine Anregung, dem Bund das Recht einzuräumen, durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen, wurde einmütig aufgegriffen. Enge Bindungen an die westeuropäische Gemeinschaft hielten alle für notwendig, egal ob sie Vertreter eines Weststaatsoder Provisoriumskonzepts waren. Der Abschnitt über die völkerrechtlichen Grundsätze war ebenfalls sein Werk. Da ihm in puncto Völkerrecht niemand das Wasser reichen konnte, konnte er hier ohne Abstriche seine Vorstellungen durchsetzen. Bei der Ausformulierung der völkerrechtlichen Grundsätze griff er auf seinen Entwurf für die Verfassung Württemberg- Badens zurück.

Die große Kontroverse brach beim Thema Föderalismus aus. Der bayrische Entwurf sah als zweite Kammer einen Bundesrat vor, der gleichberechtigt an der Gesetzgebung des Bundes beteiligt werden sollte. Darüber hinaus wurde dem Organ der Landesregierungen das Recht eingeräumt, bei der Wahl des Bundespräsidenten, der Ernennung bzw. dem Rücktritt des Bundeskanzlers und bei der Bestimmung der Bundesminister entscheidend mitzuwirken®*. Auch Schmid war Befürworter eines Zweikammersystems, aber er plädierte wie schon bei den Verfassungsberatungen in Württemberg-Baden für einen Senat. Die Entscheidung für einen Bundesrat oder einen Senat war für ihn eine „politische Stilfrage“ – in politologischer Terminologie ausgedrückt: sie war für ihn eine Frage der politischen Kultur. In einer luziden Analyse zeigte er die Strukturmängel des Bundesratssystems auf. Durch die Einrichtung eines Bundesrates fördere man das „Stilelement Bürokratie“ im zukünftigen politischen Leben und somit das obrigkeitsstaatliche Denken der Deutschen, denn durch das „vortreffliche“ deutsche Beamtentum seien in Deutschland die Impulse „zurückgestaut“ worden, „die in anderen Ländern dazu geführt haben, daß das Volk verlangte, selbst den tätigsten Anteil an der Besorgung und Bestimmung der öffentlichen Angelegenheiten nehmen zu dürfen“®5 , Es sprach für Schmids Weitsicht, daß er bereits 1948 die Gefahr einer parteipolitischen Überlagerung des Bundesratssystems erkannte: „Eine Landesregierung wird (…) nicht so sehr vom Sachlichen aus Stellung nehmen, sondern höchst wahrscheinlich in sehr vielen, vielleicht in den meisten Fällen von dem Gesichtspunkt aus: Störe ich nicht dadurch meine Koalition im Lande? Ich fürchte, das sachliche Element, das durch den Bundesrat so sehr gewährleistet erscheint, könnte wesentlich durch ein parteipolitisches Element getrübt werden.“ °° Die Folge einer solchen Entwicklung sei eine Schwächung, nicht eine Stärkung des Gewaltenteilungsprinzips. Schmids Ablehnung des Obrigkeitsstaatsdenkens mündete nicht in ein Bekenntnis zur Parteiendemokratie, sondern in ein Plädoyer für einen Senat, für ein Gremium von Männern „wirklicher innerer Unabhängigkeit“, das von den Landtagen gewählt werden sollte. Der Senator war für ihn der Repräsentant einer echten verantwortlichen Demokratie, in ihm konnte das Politische mehr als bisher personalisiert werden. Politik mußte vergegenwärtigt werden. Der demokratische Staat und seine Institutionen nahmen in den überragenden Persönlichkeiten, die im Senat saßen, bildhaft Gestalt an’. Ein elitäres Ideal! Schmid machte nie einen Hehl aus seiner Auffassung, daß auch eine Demokratie auf eine Elite nicht verzich- .ten könne.

Im übrigen hatte er wieder einmal zu verstehen gegeben, daß die Parteien für ihn ein notwendiges Übel waren. Der Senat, in dem im Idealfall eine Elite Wissen und Macht verkörperte, war als Korrektiv gegen die Torheit der Parteien gedacht. Das Echo auf Schmids Ausführungen war geteilt. In Brill, der in den dreißiger Jahren Anhänger eines sozialistischen Elitegedankens war, fand er einen beredten Verbündeten. Die Vertreter Bayerns ließen sich durch Schmids Stilbetrachtungen nicht von ihren föderalistischen Absichten abbringen.

In der Frage Senat oder Bundesrat konnte ebensowenig Einigkeit erzielt werden wie in der Frage einer zukünftigen Finanzverfassung. Die bayrische Delegation wäre am liebsten zu dem unter Bismarck eingeführten System der Matrikularbeiträge zurückgekehrt. Sie fand aber kaum jemanden, der ihren Standpunkt teilte. Auf das allgemeine Feilschen um den Anteil am Steueraufkommen antwortete Schmid mit gründsätzlichen Überlegungen, in denen er zum Teil wiederholte, was er schon ein Jahr zuvor im Stuttgarter Friedensbüro gesagt hatte. Man solle nicht außer acht lassen, „daß es zur Aufgabe des Bundes werden muß, überall in Deutschland einigermaßen vergleichbare Lebensbedingungen zu schaffen.“° ® Die Finanzpolitik sei einer der „wichtigsten Faktoren“ bei dieser Aufgabe. Auch dürfe man nicht übersehen, daß die Reparationen, die Besatzungskosten und Kriegsfolgelasten vom Bund getragen werden mußten. Den extremen Föderalisten könne man nur antworten: „Die beste Waffe gegen Separationen sind (…) Reparationen.“°® Wenn man schon keine Bundesfinanzverwaltung wolle, müsse man zumindest auf dem Wege „zentraler Inspektionen“ für eine „einigermaßen einheitliche Handhabung“ der Steuerverwaltung sorgen. Schmid war bemüht, durch praktische Erwägungen die emotional aufgeladene Debatte um Föderalismus und Zentralismus, die oft nur ein Gefecht über Scheinprobleme war, zu versachlichen.

Schmid war Föderalist, aber mit den bayrischen Föderalisten verband ihn nichts. Der Verteidiger des Senatssystems war der größte Widersacher bayrischer Bundesratspläne. Wer Schmid zum großen Gegner des sozialdemokratischen Zentralismus aufbaut, baut einen Popanz auf. Die Schlagworte Zentralismus-Föderalismus sind viel zu pauschal, um die einzelnen Standpunkte zu differenzieren.

Schmids geistvollen Reden folgten die Konventsteilnehmer fast immer mit großer Aufmerksamkeit. Auch wenn er manchmal eher literarisch als politisch vorging, wie Brill bemängelte?°, wurden seine Vorschläge doch häufig aufgegriffen. So z.B. das von ihm in die Diskussion gebrachte konstruktive Mißtrauensvotum. Der bayrische Entwurf hatte eine Regierung auf Zeit favorisiert. Schmid machte deutlich, daß man ein System, das sich in den USA und in der Schweiz bewährt hatte, nicht einfach auf deutsche Verhältnisse übertragen konnte. In Deutschland fördere eine Regierung auf Zeit die Tendenz, in Zeiten politischer Krisen Zuflucht zur Bürokratie zu nehmen. Er versäumte es nicht, den Bayern einen Seitenhieb zu verpassen: Man könne doch die ganze Parlamentsgeschichte nicht als einen „Irrweg“ darstellen. „Die Monarchie ist nicht mehr die Staatsform unseres Jahrhunderts.“?‘ Der Konsens über die Einrichtung eines parlamentarischen Regierungssystems war so groß, daß die bayrischen, Abgesandten zurückstecken mußten. Die Einführung eines konstruktiven Mißtrauensvotums schien den meisten Konventsteilnehmern eine ausreichende Garantie dafür, daß es nicht wieder wie in Weimar zu permanenten Regierungskrisen kommen werde. Dessen stabilisierende Wirkung war auch bei den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates so unumstritten, daß es ohne längere Diskussion in das Grundgesetz aufgenommen wurde.

Schmid war kein Freund der Parteiendemokratie. Trotzdem oder gerade deswegen wollte er die Verfassung so gestalten, daß die Parteien zu mehr Verantwortung und zum Kompromiß gezwungen wurden. Auf jeden Fall mußte das Notverordnungsrecht gegenüber dem der Weimarer Verfassung erheblich beschränkt werden. Der bayrische Entwurf räumte unter dem Vorbehalt der Zustimmung des Bundesrats der Bundesregierung das Notverordnungsrecht ein. Schmid mochte sich mit dieser Regelung nicht einverstanden erklären: „Die Hauptgefahr eines Notverordnungsrechts in der vorliegenden Formulierung liegt nicht so sehr darin, daß es eine neue Diktatur heraufführen könnte, sondern darin, daß es von verantwortungsscheuen Parteien als deus ex machina betrachtet wird, der es ihnen erlaubt, sich agitatorisch statt verantwortlich zu verhalten. Sie wissen nämlich, die letzte Gefahr, daß der Staatsapparat nicht bestehen bleibt, wird dadurch behoben, daß die Regierung im letzten Augenblick mit einer Notverordnung das Richtige tun wird. Darin erblicke ich die eigentliche Gefahr für das parlamentarische Leben überhaupt.“ 2? Auch Schmid war der Meinung, daß man auf ein Notverordnungsrecht nicht gänzlich verzichten konnte. Er schlug vor, die Anordnung des Notstands zu befristen, so daß sie umgehend aufgehoben werden mußte, wenn das Parlament sie nicht nach acht bis vierzehn Tagen bestätigt. Der rheinland-pfälzische CDU-Vorsitzende Adolf Süsterhenn pflichtete ihm bei, fügte aber mokant hinzu, daß Schmids Ausführungen nicht gerade „von einem übertriebenen Vertrauen zu dem Verantwortungsbewußtsein“ der Parteien getragen seien?. Offensichtlich dachte er, daß ein Sozialdemokrat ein innigeres Verhältnis zu den Parteien, insbesondere zu der eigenen haben müsse. Die von Schmid vorgeschlagene Regelung wurde in den Konventsentwurf aufgenommen.

Es war das Hauptanliegen fast aller Konventsteilnehmer, die Strukturmängel der Weimarer Verfassung zu beseitigen. Alle stimmten Schmid zu, daß Verfassungsdurchlöcherungen durch mit Zweidrittelmehrheit beschlossene Verfassungsänderungen nicht mehr vorkommen durften. Er hatte ausgeführt, daß das politische System Weimars nicht zuletzt dadurch diskreditiert worden sei, „daß auf der einen Seite die Verfassung geschrieben stand, als wäre sie in Bronze für die Ewigkeit gegossen, während man sie andererseits mit Zweidrittelmehrheit ohne weiteres ändern konnte“*, Der Grundsatz, daß die Werteordnung des Grundgesetzes vor Verfassungsbrüchen zu schützen sei, fand seinen Niederschlag in Artikel 108 des Herrenchiemseer Entwurfs: „Anträge auf Änderung des Grundgesetzes, durch die die freiheitliche und demokratische Grundordnung des Grundgesetzes beseitigt würde, sind unzulässig.“

Auch über die Einrichtung eines Bundesverfassungsgerichts als „Hüter der Verfassung“ konnte sehr schnell Einigung erzielt werden. Schmid warnte abermals vor einer „deformation professionnelle“ der Richter und schlug deshalb die Zulassung von Laienrichtern vor. Er konnte gute Gründe dafür ins Feld führen. Der zukünftige Verfassungsgerichtshof werde in der Mehrzahl der Fälle über Rechtsfragen zu entscheiden haben, die in Wirklichkeit politische Fragen sind. „Kühle Techniker des Rechts“, die sich „bewußt Scheuklappen an die Augen binden“, seien nicht unbedingt dazu geeignet, in Streitigkeiten Urteile zu fällen, die sich ohne „politische Stellungnahme“ nicht entscheiden lassen?®. Schmids Hinweis auf die „deformation professionnelle“ der Juristen erzeugte auch bei den Juristen Heiterkeit, sein Plädoyer für ein Laienrichtertum wurde nur von einem Teil der Konventsteilnehmer unterstützt. Man ließ die Frage offen.

Schmid war zufrieden mit dem Verlauf der Herrenchiemseer Tagung, die oft das Niveau eines hochrangigen juristischen Kollegs hatte, wenn auch keiner der Verfassungsexperten sich nur als neutraler juristischer Sachverständiger verstand. Der große Kontrahent Schmids war der bayrische Staatsminister Anton Pfeiffer gewesen, der die Organisation des Konvents fest im Griff hatte und in 195 Wortmeldungen die bayrische Position lautstark vertrat. Brill hatte nach Pfeiffer am häufigsten in die Debatte eingegriffen. Schmid, der gar nicht so redselig war, wie man ihm oft nachsagte, brachte es nur auf bescheidene 62 Wortmeldungen”?”. Trotzdem gelang es ihm, dem Konventsentwurf in weiten Teilen seinen Stempel aufzudrücken. Vielleicht war der Entwurf für ein „Staatsfragment“ – nicht zuletzt, weil Schmid den Eros des Nomotheten nicht hatte zügeln können – etwas zu perfektionistisch geraten. Schmid wollte den Widerspruch nicht sehen. Er war befriedigt, daß die Mehrheit der Konventsteilnehmer sich mit der Errichtung eines „Staatsfragments“ begnügt hatte und er so zumindest zum Teil sein Provisoriumskonzept noch hatte retten können. Wenn die anderen Entwürfe für eine Vollverfassung vorlegten, so konnte man nicht abseits stehen, sondern mußte versuchen, möglichst viel Einfluß auf deren Ausgestaltung zu nehmen.

In einer Schlußansprache würdigte Schmid die Arbeit des Konvents als einen „Grundstein“ für einen „Notbau“, „der vielleicht eine in ganz besonderem Maße bedeutsame geschichtliche Funktion zu erfüllen (hat), eine geschichtliche Funktion, die vielleicht darin besteht, die deutsche Freiheit über diese böse Zeit hinwegzuretten“°®. Sein Dank an die bayrischen Gastgeber wäre möglicherweise nicht so überschwenglich ausgefallen, wenn er geahnt hätte, daß diese die Ergebnisse der Tagung im Sinne ihrer Föderalismuskonzeption uminterpretierten. Pfeiffer, der mit der Schlußredaktion des Konventsberichtes beauftragt wurde, verstand es, die Ausschußberichte so umzuschreiben, daß keiner mehr erkennen konnte, daß die bayrische Position die Position einer kleinen, von den übrigen Teilnehmern nicht ganz ernst genommenen Minderheit war??. So mußte Schmid in seinen öffentlichen Verlautbarungen über die Herrenchiemseer Tagung immer wieder ausdrücklich unterstreichen, daß in der Föderalismusfrage keine Einigung erzielt worden war’®.

Die Reaktion der SPD-Parteizentrale auf den Verfassungskonvent war vernichtend. In einem unmittelbar nach Abschluß des Konvents abgegebenen parteioffiziellen Statement erklärte SPD-Pressechef Fritz Heine, daß es sich bei den Entwürfen des Konvents allenfalls um Vorarbeiten handle, die der Parlamentarische Rat entweder „in den Papierkorb werfen kann oder aus denen er einige Anregungen entnehmen wird“ !°, Das war eine schallende Ohrfeige für die sozialdemokratischen Teilnehmer des Konvents, die Schmid noch dreißig Jahre später schmerzte’”, Offensichtlich war man gewillt, eine Retourkutsche gegen Schmids Kritik an dem Verfassungsentwurf Menzels zu fahren. Menzel war auf Herrenchiemsee ohnehin nicht gut zu sprechen. Er hatte den Verfassungskonvent in Nordrhein-Westfalen versammeln wollen. Schmid wurde zur Zielscheibe innerparteilicher Kritik. In einer Ende August stattfindenden Parteivorstandssitzung bezeichneten Eichler, Heine und Menzel den Entwurf des Verfassungskonvents als „Verrat“ an dem im Mai 1948 in Springe gefaßten Parteivorstandsbeschluß. Man forderte allen Ernstes eine Rückkehr zu den Koblenzer Beschlüssen, als ob sich die Geschichte einfach zurückdrehen ließe! Entweder hatte Schmid die Sitzung schon verlassen oder er war sprachlos. Auf der Niederwald-Konferenz hatte ihn keiner unterstützt, und jetzt da er sich wohl oder übel mit dem dort gefaßten Beschluß abgefunden hatte, verlangten die Genossen eine Rückkehr zu den Koblenzer Beschlüssen. Der Vorwurf, daß der Entwurf zu perfektionistisch sei, hätte eine gewisse Berechtigung gehabt. Aber dieser Pauschalverriß war ganz offensichtlich ad hominem gemeint. An dem föderalistischen Charakter des Entwurfs störte man sich erstaunlicherweise nicht allzu schr.

Ollenhauer dämpfte wieder einmal die aufgewühlten Emotionen. Die Fraktion des Parlamentarischen Rates sei an die Beschlüsse von Herrenchiemsee nicht gebunden’°#. In dem über die Parteivorstandssitzung herausgegebenen Pressekommuniqu& wurde der Entwurf von Herrenchiemsee als „wertvolle Materialsammlung“ deklariert, die – das hatte Schmid nie bestritten — jedoch „in keiner Weise die Entschlußfreiheit des Parlamentarischen Rates“ begrenze. Maßgebend für die Arbeit der SPD im Parlamentarischen Rat seien der Entwurf Walter Menzels und die Richtlinien des Verfassungspolitischen Ausschusses der Partei’.

In der Parteizentrale wollte man nicht einsehen, daß der Menzel-Entwurf Schnee von gestern war. Menzel war zwar dabei, den Entwurf zu überarbeiten und griff notgedrungen auch einige Vorschläge Schmids und des Herrenchiemseer Konvents auf. Dem Entwurf wurde jetzt eine Präambel vorangestellt, die von Schmid formulierten völkerrechtlichen Grundsätze wurden in den Entwurf aufgenommen. Doch auch der am a. September veröffentlichte Entwurf war grundsätzlich noch einem radikalen Provisoriumskonzept verpflichtet. Ein Grundrechtsteil fehlte noch immer, obwohl die Alliierten die Aufnahme von Grundrechten in die zukünftige deutsche Verfassung vorgeschrieben hatten. Im Hinblick auf alliierte Forderungen trug Menzel dem Gedanken des Föderalismus in dem zweiten Entwurf etwas mehr Rechnung als in dem ersten. Differenziert wurde jetzt analog zu dem Herrenchiemseer-Entwurf zwischen ausschließlicher und Vorranggesetzgebung des Bundes, wobei hier der Menzel- Entwurf nur auf dem Gebiet des Steuer- und Finanzwesens dezidiert zentralistischer ausfiel als der Konventsentwurf’°. In diesem Punkt gab es überhaupt keinen Gegensatz zwischen dem Innenminister Nordrhein- Westfalens und Schmid, der auf dem Parteitag Mitte September in Düsseldorf noch einmal bekräftigte, daß keine „Steueroasen“ geschaffen werden dürften. Die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse müsse der leitende Gesichtspunkt bei der Ausarbeitung der Finanzverfassung sein’””. Ansonsten sagte er auf dem Parteitag nur, was er schon auf Herrenchiemsee gesagt hatte, ohne freilich den verpönten Konvent auch nur einmal zu“erwähnen.

Das Parteitagsreferat Kurt Schumachers verlas wegen dessen schwerer Erkrankung der Kieler Oberbürgermeister Andreas Gayk. Auch Schumacher hielt noch an der radikalen Provisoriumsidee fest. Er erklärte die Verhandlungen von Koblenz, Frankfurt, Herrenchiemsee und Bonn gleichermaßen zu einem Diktat der Siegermächte, die von den Deutschen „staatsrechtliche Konstruktionen“ verlangten, die für das „Funktionieren nicht nötig sind“ ‚®, Schmid pflichtete Fritz Erler bei, daß man Schumachers Referat anmerke, daß es vom Krankenbett aus geschrieben worden war’”.

Das Verhältnis zwischen dem SPD-Parteivorsitzenden und Schmid scheint im Spätsommer 1948 äußerst gespannt gewesen zu sein. Es kursierte ein verfasserloser Bericht, nach dem Schumacher vierzehn Tage vor dem Parteitag vor einer „fürchterliche(n) Majorisierung in Bonn durch die süddeutschen Föderalisten“ gewarnt hatte, wobei er Hoegner und Schmid in einem Atemzug genannt haben soll. Nach dem Bericht, der auch Schmid zuging, hatte Schumacher den Landesvorsitzenden der SPD Württemberg-Hohenzollerns für „Rechtstendenzen“ in der Partei verantwortlich gemacht, die gefährlicher seien als „kommunistische Unterwanderungsversuche’“‘ °, Ob Schumacher sich tatsächlich so geäußert hat oder ob einer seiner Mitarbeiter ein Gerücht in Umlauf gesetzt hatte, um die beiden Rivalen aufeinanderzuhetzen, sei dahingestellt. Schmid wollte nicht glauben, daß Schumacher sich so über ihn geäußert habe“‘. Aber auszuschließen ist das nicht. Schmids Ansehen wuchs ständig und damit auch seine Chance, sich zumindest in Sachfragen gegen Schumacher durchzusetzen. Wie dem auch sei: Schmid stand kurz vor Aufnahme der Beratungen des Parlamentarischen Rates im Kreuzfeuer innerparteilicher Kritik. Der Parteiapparat stand hinter Walter Menzel, während Schmid für eine Entwicklung verantwortlich gemacht wurde, gegen die er wie ein Don Quichotte gekämpft hatte. Schmid tat gut daran, die ganzen Querelen mit Schweigen zu übergehen. Er konnte davon ausgehen, daß nach Aufnahme der Verhandlungen im Parlamentarischen Rat der Parteivorstandsbeschluß bald Makulatur sein würde. Dort wurden dann auch die Beschlüsse von Herrenchiemsee und nicht der Menzel-Entwurf zum Leitfaden der verfassungspolitischen Debatte.

Am 13. August wurden Carlo Schmid und Paul Binder vom Bebenhausener Landtag in den Parlamentarischen Rat delegiert. Der Wahl ging ein Tauschgeschäft voraus, das Gebhard Müller eingefädelt hatte. Auch Josef Müller mag seine Hand im Spiel gehabt haben. Aufgrund ihrer absoluten Mehrheit im Landtag Württemberg-Hohenzollerns hätte die CDU das Recht gehabt, zwei Abgeordnete in den Parlamentarischen Rat zu delegieren. Man vereinbarte, Schmid zu wählen, wenn dafür die SPD in einem anderen Bundesland auf einen ihrer Sitze verzichtete. Begründet wurde der Tauschhandel mit Schmids hervorragenden verfassungspolitischen Kenntnissen und seiner Kompromißbereitschaft. Er galt geradezu als ein Garant für einen Verfassungskompromiß!‘?, Adenauer argwöhnte, daß Schmids Fürsprecher die Weichen für eine große Koalition stellen wollten. Gebhard Müller mag noch einen anderen Hintergedanken gehabt haben. Es war für ihn, der einen autoritären Regierungsstil pflegte, leichter die Zügel der Regierungsgeschäfte in die Hand zu bekommen, wenn sein dominanter Stellvertreter in Bonn verhandelte, als wenn er ständig mit am Kabinettstisch saß. Im übrigen wäre Schmid wahrscheinlich auch ohne Müllers Schachergeschäft aufgrund des hohen Ansehens, das er im Bebenhausener Landtag genoß, nach Bonn delegiert worden. Müller gab das später ganz offen zu! 3

Am selben Tag, an dem Schmid in den Parlamentarischen Rat entsandt wurde, wurde Bonn zum Sitz desselben gekürt. Schmid hatte vorgeschlagen, um den vorläufigen Charakter des zukünftigen Staatsgebildes zu unterstreichen, in einer Barackenstadt an der Demarkationslinie zu tagen. Er maß einer symbolischen Politik hohe Bedeutung bei. Die Pragmatiker hatten dafür wenig Verständnis. Sein Vorschlag wurde mit Lachen quittiert“* So machte er sich Ende August auf den Weg in die rheinische Provinzstadt, um sich dort ein Zimmer zu suchen. Noch hoffte er, daß die Beratungen in einem, spätestens in zwei Monaten beendet sein würden.

Das zähe Mühen um den Verfassungskompromiß

Die Bonner Stadtverwaltung verfiel am 13. August in hektische Aktivität. Innerhalb von acht Tagen versuchte man der rheinischen Universitätsstadt, die bisher neben Studenten vor allem Rentner angezogen hatte, das Flair einer kommenden Bundeshauptstadt zu geben. Straßen wurden ausgebessert, Plätze und Anlagen herausgeputzt, Quartiere ausfindig gemacht. Trotzdem blieb alles etwas beengt. Carlo Schmid fand zusammen mit dem schleswig-holsteinischen Justizminister Rudolf Katz in einer in der Bonner Nordstadt gelegenen Pension Unterkunft‘. Das Quartier war ebenso bescheiden wie die damaligen Abgeordnetendiäten: 350,- DM pro Monat zuzüglich 30 Mark Tagegeld?. Die Streitigkeiten mit dem 1946 aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrten Katz im Vorfeld der Bonner Beratungen waren schon vergessen. Schmid und Katz arbeiteten im Parlamentarischen Rat eng zusammen. Schmid konnte sich darauf verlassen, daf$ Katz, der über ausgezeichnete Kenntnisse des amerikanischen Verfassungsrechts verfügte, im Organisationsausschuß ganz in seinem Sinne handelte.

Am ı. September 1948 um 15.24 Uhr trat in der Aula der renovierten Pädagogischen Akademie der Parlamentarische Rat zu seiner konstituiereridem Sitzung zusammen. In einem vorausgegangenen Festakt im Museum Koenig hatten die Ministerpräsidenten den Parlamentarischen Rat offiziell mit der Ausarbeitung des Grundgesetzes beauftragt. Ein Verzicht auf ihre politische Treuhänderrolle war dies nicht. Einige Ministerpräsidenten, allen voran der bayrische Ministerpräsident Hans Ehard, waren durchaus gewillt, ein entscheidendes Wort bei der Verfassunggebung mitzureden?. Aber ihr politischer Einfluß sank schneller, als sie sich das gedacht hatten. Auch Carlo Schmid, der tags zuvor mit ihnen über die Probleme der Länderneugliederung debattiert hatte* und auch an den folgenden Konferenzen der Ministerpräsidenten teilnahm, überschätzte ihre Rolle. Er hatte geglaubt, daß bei den Grundgesetzberatungen den Ministerpräsidenten und den Parteispitzen der entscheidende Einfluß zukommen werde. So wurde von ihm wie auch von der SPD die Rolle des Präsidenten des Parlamentarischen Rates unterschätzt.

Nach interfraktionellen Vereinbarungen zwischen CDU und SPD, die beide 27 Abgeordnete in den Parlamentarischen Rat entsandt hatten, wurde am ı. September Konrad Adenauer zum Präsidenten gewählt. Zum Ausgleich dafür bekam Carlo Schmid den Vorsitz im Hauptausschuß. Auf SPD-Seite glaubte man, einen großen Coup gelandet zu haben. Der alte Fuchs war auf einen Ehrenplatz gehievt worden, während man selbst im Hauptausschuß dem Grundgesetz einen sozialdemokratischen Stempel aufdrücken konnte’. Zunächst sah es auch so aus, als ob diese Rechnung aufginge. Mitte November empörte sich Adenauer in einer Sitzung der CDU/CSU-Fraktion darüber, daß Schmid im Hauptausschuß darauf aus sei, „alles unter sozialdemokratischer Flagge laufen zu lassen“. Doch die Repräsentationsaufgabe verschaffte Adenauer schnell öffentliches Ansehen und vor allem den Zugang zu den Machthabern: den Militärgouverneuren. Schmid konstatierte später mit Erbitterung, daß die Wahl Adenauers zum Präsidenten „einer der verhängnisvollsten Fehler der SPD nach dem Krieg gewesen“ sei. „Wenn die SPD damals die Präsidentenposition bekommen hätte, wäre vielleicht vieles anders gelaufen (…).“” Ein Fehler war es sicherlich, aber ein verhängnisvoller wohl kaum. Die Geschichte wäre wahrscheinlich auch nicht viel anders verlaufen, wenn Schmid das Präsidentenamt bekommen hätte. Sein Ansehen war nach Abschluß der Beratungen des Parlamentarischen Rats mindestens ebenso groß wie das Adenauers und Zugang zu den Militärgouverneuren hatte auch er, die ihm freilich wegen seiner unnachgiebigen Haltung weniger wohlwollend gesonnen waren als dem Präsidenten des Parlamentarischen Rates. Schmid schuf einen Mythos, um die wirklichen Gründe für sein späteres Scheitern nicht nennen zu müssen.

Gewiß, Schmid hatte die undankbarere Rolle übernommen. Auf ihm als Hauptausschußvorsitzenden lag die Hauptlast der Verfassungsarbeit, während sein politischer Kontrahent sich bei der Ausformulierung der Verfassungsartikel vornehm zurückhielt. Mehr als ein Komma steuerte Adenauer zum Verfassungstext des Grundgesetzes nicht bei°. Persönlich begegnet sind sich die beiden Rivalen erstmals im Anschluß an die Eröffnungssitzung des Parlamentarischen Rates, die nicht einmal eine Stunde währte. Schmids Antrag, die Berliner Vertreter an den Arbeiten des Parlamentarischen Rats mit beratender Stimme teilnehmen zu lassen, hatte mit Ausnahme der Kommunisten den Beifall des ganzen Hauses gefunden?. Das erste Zusammentreffen von Adenauer und Schmid war wahrscheinlich von gegenseitigem Mißtrauen und Vorurteilen geprägt. Für den frischgewählten Präsidenten des Parlamentarischen Rats war Schmid der Mann der Franzosen, ein mit Phantasie begabter Schöngeist, der obendrein recht eitel war’°. Dabei verkannte Adenauer nicht, daß ihm ein hervorragender Staatsrechtler gegenübersaß. Gebhard Müller bekam die Leviten gelesen, weil er nicht verhindert hatte, daß die SPD ihr bestes Pferd im Stall ins Rennen schicken konnte!‘. In der SPD stand Adenauer im Rufe, ein katholischer Erzreaktionär zu sein, der sich vom Großkapital vor den Wagen spannen ließ. Schmids Bild von Adenauer blieb davon nicht ganz unbeeinflußt’*. Außerdem hatte er von Arnold, dem Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens, gehört, daß man Adenauer kein Wort glauben dürfe’3.

Das Gespräch war nicht mehr als ein erstes Abtasten. Später raufte man sich um der Sache willen zusammen und im Bundestag schließlich wurde das Verhältnis trotz aller politischer und menschlicher Gegensätze sogar konziliant. Adenauer soll die erste Unterredung mit den Worten. . beendet haben: „Was uns beide unterscheidet, ist nicht nur das Alter, es ist noch etwas anderes: Sie glauben an den Menschen, ich glaube nicht an den Menschen und habe nie an den Menschen geglaubt.“ ‚* Die Worte mögen so gefallen sein oder auch nicht. Sie treffen jedenfalls den Gegensatz zwischen Adenauer und Schmid nicht ganz. Schmid, der in früheren Jahren die Welt und die Menschen mit den Augen Nietzsches betrachtet hatte, vertraute nicht naiv auf das Gute im Menschen. Nicht an den Menschen glaubte er, sondern an dessen Erziehbarkeit. So war auch die Verfassungsschöpfung für ihn ein Stück Bürgerpädagogik. Er wollte die Bürger dazu bringen, daß sie „ihre Schlafmützen vom Kopfe ziehen und selber tätig werden“ 5. Schmid mochte den deutschen Michel nicht. Adenauer versuchte ihn zu kultivieren. Der Präsident des Parlamentarischen Rates hielt es für das beste, wenn das Volk sich aus der Politik heraushalte. Das sei am ehesten dadurch zu erreichen, daß man jedem zu einem Häuschen mit Garten verhelfe. Schmid stellte später resigniert fest, daß Adenauers Rezept erfolgreich war’°.

Die Arbeit im Parlamentarischen Rat beanspruchte ihn weit mehr, als er dies zunächst erwartet hatte. Zwei Wochen nach Beginn der Verhandlungen klagte er Möbus, seinem Stellvertreter im Tübinger Justizministerium: „Ich komme beinahe um vor Arbeit und weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. In zwei Ausschüssen habe ich den Vorsitz und in einigen anderen Ausschüssen bin ich Berichterstatter.“ ‚” Außer dem Hauptausschußvorsitz hatte er auch noch den Vorsitz im Ausschuß für das Besatzungsstatut. Außerdem war er Mitglied der Ausschüsse für Grundsatzfragen und für Organisationsfragen. Am 1. September hatte ihn die Fraktion nach Absprache mit dem Parteivorstand zum Vorsitzenden gekürt. Im Fraktionsvorstand standen ihm Walter Menzel, der hessische Ministerpräsident Georg August Zinn und der Kieler Oberbürgermeister Andreas Gayk zur Seite’®. Nestor Paul Löbe fungierte als Berater. Die Fäden der Fraktionsarbeit liefen bei Schmid und Menzel zusammen, der als stellvertretender Fraktionsvorsitzender auch die Berichterstattung an die Parteizentrale übernommen hatte. Das Verhältnis zwischen den beiden Fraktionsvorsitzenden war nach den vorausgegangenen Querelen mehr als gespannt. Zudem verkörperte Menzel den Typus des Bürokraten, mit dem Schmid nun einmal nicht zurecht kam‘?. Die Absprache funktionierte zunächst auch nicht immer. Die gemeinsame Opposition gegen die „Fernlenkung“ aus Hannover schweißte die beiden ungleichen Männer dann doch noch zusammen.

Schmid führte die Fraktion am langen Zügel. Protokolle über die Fraktionssitzungen wurden nicht angefertigt, vermutlich deshalb weil der Fraktionsvorsitzende sich eine gewisse Handlungsfreiheit erhalten wollte, und sich niemand fürchten sollte, frei seine Meinung zu sagen. Um eine offene Aussprache nicht zu verhindern, hatte er auch vor einer Veröffentlichung der Ausschußberichte gewarnt”. Über Mitarbeiter, an die er die ungeliebte Detailarbeit hätte delegieren können, verfügte er nicht. Ein „altgedienter Parteisekretär aus der Provinz“ und eine Sekretärin, Gretel Finckbeiner, waren seine einzigen Hilfen?‘. Er stöhnte, daß er „furchtbar geschunden“ werde?”

Mit der Arbeit am grünen Tisch war es ja nicht getan. Die meisten Absprachen erfolgten in informellen Gesprächen. Abends beim Dämmerschoppen konnte mancher Dissens über einen Verfassungsartikel überwunden werden. Noch waren die abendlichen Stammtische nicht parteiexklusiv. Paul Löbe, der sich dem Parlamentarischen Rat als Mentor zur Verfügung stellte, erzählte, daß im Reichstag mancher Kompromiß dadurch zustande kam, daß sich Abgeordnete verschiedener Fraktionen regelmäßig zum Skatspiel getroffen hatten”. Schmid, der ohnehin der Meinung war, daß man am weißen Tisch mehr erreiche als am grünen, beherzigte Löbes Ratschläge. Die zum Teil harten politischen Auseinandersetzungen trübten die menschlichen Kontakte zwischen den Parteien nicht.

Eine Plenardebatte über die verfassungspolitischen Probleme am 8. September diente dem Parlamentarischen Rat als Einstieg in die Beratungen. Die Fraktionen hatten sich darauf geeinigt, keine Parteireden zu halten, sondern die staatsrechtlichen und -politischen Probleme zu umreißen. Das kam Schmid entgegen. Er konnte einmal wieder ein zweistündiges staatsrechtliches Kolleg halten. Ein Großteil seines Referates war eine Wiederholung seiner bereits in Stuttgart und Herrenchiemsee dargelegten verfassungspolitischen Grundsätze. Angesichts der Berlin-Blockade und der Furcht vor einer kommunistischen Machtergreifung in Westdeutschland unterstrich er diesmal eindringlich die Notwendigkeit einer wehrhaften Demokratie. Er rief zum „Mut zur Intoleranz“ denen gegenüber auf, „die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen“ + Ansonsten insistierte er auf seine Theorie des Staatsfragments, diesmal unter Hinweis auf das französische Verfassungswort: „La Nation une et indivisible.“ 25 Entschieden wandte er sich gegen die sogenannte Kernstaatstheorie. Ein Teil des deutschen Volkes könne nur dann als „Repräsentant der Gesamtnation“ handeln, wenn der andere Teil „durch äußeren Zwang endgültig verhindert worden wäre, seine Freiheitsrechte auszuüben“. Noch aber werde verhandelt‘. Da er die Westdeutschen nicht als legitime Sprecher der Ostdeutschen betrachtete, legte er Wert auf die Feststellung, daß die künftige Vollverfassung Deutschlands nicht durch Abänderung des Grundgesetzes entstehen könne, sondern neu geschaffen werden müsse?7. Sein Referat endete mit einem Appell an die Besatzungsmächte, Deutschland nicht weiter „angeschmiedet“ zu halten „wie einen bissigen Kettenhund“ ®, Die Furcht vor einem „Kettenhundnationalismus“ steckte ihm tief in den Knochen.

Seine Theorie des Staatsfragments trug Schmid offensichtlich zu oft und zu pathetisch vor. Der Iyrisch begabte Theodor Heuss kommentierte mit bissigem Humor”:

Der Carlo celebriert wie ein Gedicht die hohen Worte seines Staatsfragments auf jedem Comma wuchtet sein Gewicht jetzt die Cäsur, dann fühlsam die Cadenz.

Carlo Schmid schlug mit der gleichen Waffe zurück. Nachdem unter der Führung von Heuss den fünf Mannen in der FDP immer mehr eine Schlüsselstellung zuwuchs, bekam der Fraktionsvorsitzende der FDP einige Spottverse seines Freundes Schmid zu hören?°®

Weise verteilet der Heuss seine Gaben, das Ja und das Nein, daß Keinem schwelle der Kamm, und bis zum letztesten Tage Zucke das Zünglein der Waage und jeglicher merke: es siege 7 Schließlich der, dem der Bass Theodors endlich sich neigt.

Nur selten fanden die Helden Zeit zum Sängerwettstreit. In den Ausschüssen mußte eine spröde Arbeit geleistet werden. Schmid drängte auf eine zügige Durchführung der Verfassungsberatungen. Den Fachausschüssen, die die Vorlagen für den Grundgesetzentwurf auszuarbeiten hatten, setzte er in der Hauptausschußsitzung am ı5. September enge Termine, „um uferlose Debatten in diesen Ausschüssen einzudämmen“‘. Der Hauptausschuß würde dann die Vorlagen der Ausschüsse durchzuarbeiten und die verschiedenen Vorschläge zu koordinieren haben. Er selbst konzentrierte seine Mitarbeit auf den Ausschuß für Grundsatzfragen, dem die Ausformulierung der Präambel, des Grundrechtsteils und der völkerrechtlichen Grundsätze oblag.

Vorsitzender des Ausschusses für Grundsatzfragen war Hermann von Mangoldt, der dank der Befürwortung des NS-Dozentenführers in den 3oer Jahren an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät in Tübingen den Lehrstuhl bekommen hatte, den man Schmid verwehrte. Schmid trug ihm das nicht nach. Die Sitzungen waren geprägt durch eine heiter gelassene akademische Atmosphäre, die es Schmid und Heuss erlaubten, sich über den Gebrauch von Partizipialkonstruktionen bei Cicero und Tacitus zu ereifern. Keiner der beiden verlor sich freilich in Schöngeisterei. Schmid konnte sehr impulsiv in die Debatte eingreifen

Sein Hauptinteresse galt der Präambel, die „gewissermaßen die Tonart des Stückes“ angebe??. Sie müsse Aufschluß geben über die historischen und politischen Umstände der Entstehung des Grundgesetzes, die „räumlichen und zeitlichen Grenzen seiner Wirksamkeit“, und die Kontinuität des deutschen Volks als Staatsvolk zum Ausdruck bringen. Darüber hinaus müsse aus ihr hervorgehen, daß das Grundgesetz „nicht Selbstzweck“ ist, sondern die „heute mögliche Etappe“ auf dem Weg zur deutschen Einheit?3. Zusammen mit Zinn und Heuss bemühte sich Schmid, die aufgezählten Gesichtspunkte in einer Präambel, die möglichst kurz sein sollte, zusammenzufassen. Heuss konnte sich zunächst mit seinen Vorschlägen nicht durchsetzen. Der am ı3. Oktober vom Ausschuß für Grundsatzfragen angenommene Präambelentwurf trug die Handschrift Zinns und Schmids, dessen Pathos in den Wortlaut des Entwurfs eingegangen war: „Die nationalsozialistische Zwingherrschaft hat das Deutsche Volk seiner Freiheit beraubt; Krieg und Gewalt haben die Menschheit in Not und Elend gestürzt. Das staatliche Gefüge der in Weimar geschaffenen Republik wurde zerstört. Dem deutschen Volke aber ist das unverzichtbare Recht auf freie Gestaltung seines nationalen Lebens geblieben. Die Besetzung Deutschlands durch fremde Mächte hat die Ausübung dieses Rechts schweren Einschränkungen unterworfen. Erfüllt von dem Willen, seine Freiheitsrechte zu schützen und die Einheit der Nation zu erhalten, hat das Deutsche Volk aus den Ländern“ – es folgt die Aufzählung der Länder – „Abgeordnete zu dem auf den ı. September 1948 nach Bonn zusammengerufenen Parlamentarischen Rat entsandt, um eine den Aufgaben der Übergangszeit dienende Ordnung der Hoheitsbefugnisse zu schaffen und so eine neue staatliche Ordnung für die Bundesrepublik Deutschland vorzubereiten. Diese haben unter Mitwirkung der Abgeordneten Groß-Berlins, getragen von dem Vertrauen und bewegt von der Hoffnung aller Deutschen, für das Gebiet, das sie entsandt hat, dieses Grundgesetz beschlossen. Das Deutsche Volk in seiner Gesamtheit bleibt aufgefordert, in gemeisamer Entscheidung und Verantwortung die Ordnung seiner nationalen Einheit und Freiheit in der Bundesrepublik Deutschland zu vollenden.“3

In der Formulierung „getragen von dem Vertrauen und bewegt von der Hoffnung aller Deutschen“ klang eine gesamtdeutsche Treuhänderfunktion des Parlamentarischen Rats an. Theodor Heuss bekannte sich in seinem Präambel-Entwurf ausdrücklich zu einem gesamtdeutschen Mandat des Parlamentarischen Rats, dessen Abgeordnete „bei der Durchführung ihres Auftrags sich als stellvertretend auch für jene Deutschen empfunden (haben), denen die Mitwirkung an dieser Aufgabe versagt war“ 35. Diese Formulierung wurde fast wörtlich in die Präambel des verabschiedeten Grundgesetzes übernommen, wobei durch die Ersetzung des Wortes „empfinden“ durch „handeln“ die gesamtdeutsche Stellvertreterfunktion des Parlamentarischen Rates noch eindeutiger hervorgehoben wurde. So gingen Staatsfragment- und Kernstaatstheorie eine widersprüchliche Verbindung ein, die Stoff für viele juristische Abhandlungen gab. Schmid überging den Widerspruch. Er hatte den Rückzug antreten müssen. Jacob Kaiser, bis 1947 Vorsitzender der Ost-CDU, hatte im Ausschuß für Grundsatzfragen den Wunsch der Menschen in der SBZ zum Ausdruck gebracht, der Parlamentarische Rat möge stellvertretend auch für die Landsleute im Osten sprechen®. Diesem Wunsch konnte sich auch Schmid nicht versagen, der nun auch auf das gesamtdeutsche Mandat des Parlamentarischen Rats hinwies?’. Er mag sich damit getröstet haben, daß das Zweideutige in der Präambel ebenso wie das „Sibyllinische im Ausdruck“ auch seine „politischen Vorteile“ hatte?®. Allzu viel blieb von seinem Präambel- Entwurf nicht mehr stehen, denn auch eine Stutzung und sprachliche Überarbeitung der Präambel mußte er hinnehmen. Die Mehrheit nutzte es aus, daß er seit November aus zeitlichen Gründen an den Beratungen des Ausschusses für Grundsatzfragen nicht mehr teilnehmen konnte. Der Grundton der Schmidschen Präambel war den meisten zu pathetisch, so daß man sich für nüchternere Formulierungen entschied. Heuss erreichte, daß der Terminus „Ordnung der Hoheitsbefugnisse“ durch „Ordnung des staatlichen Lebens“ ersetzt wurde. Nach und nach nahm man dem Grundgesetz immer mehr seinen provisorischen Charakter, den Schmid jedoch weiterhin hervorzuheben suchte.

Nahezu einmütig erfolgte die Ausarbeitung des Grundrechtsteils, zumindest anfangs, als sich alle noch an die Vereinbarung hielten, nur die klassischen Grundrechte in das Grundgesetz aufzunehmen. Scharf wandterm sieh sowohl Heuss als auch Schmid gegen eine naturrechtliche Begründung der Menschenrechte, auf die die Vertreter der katholischen Sozial- und Naturrechtslehre großen Wert legten. Schmid gab unter Berufung auf Kant zu bedenken, „daß im allgemeinen jeder das Naturrecht zu bekunden pflegt, das ihm für seine Lebenswünsche am bekömmlichsten erscheint“ 3°. Auch der Nationalsozialismus habe seine Rechtstheorie auf das Naturrecht gegründet. Schmid wollte die.Menschenrechte in engem Zusammenhang mit der historischen Entwicklung und dem Prozeß der Zivilisation sehen. Schließlich einigte man sich auf die von Heuss vorgeschlagene Formulierung: „Die Würde des Menschen steht im Schutze der staatlichen Ordnung. Sie ist begründet in ewigen Rechten, die das deutsche Volk als Grundlage aller menschlichen Gemeinschaften anerkennt.“ #

Zum Streit zwischen Heuss und Carlo Schmid kam es bei der Diskussion über den Eigentumsartikel. Schmid war bestrebt, die Eigentumsgarantie so zu formulieren, daß sich niemand aus „unheiligen Motiven in die Heiligkeit des Eigentumsbegriffs flüchten“ konnte®‘. Er schlug deshalb in Anlehnung an die Verfassung Württemberg-Badens folgende Fassung des Artikels vor: „Das der persönlichen Lebenshaltung oder der eigenen Arbeit dienende Eigentum wird zugleich mit dem Erbrecht gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.“ +? Heuss kritisierte, daß die Begriffe „persönliche Lebenshaltung“ und „eigene Arbeit“ beliebig auslegbar seien. Seine wortreichen Ausführungen über die kulturelle Bedeutung des Eigentums wurden von CDU-Seite unterstützt. Gebilligt wurde der gemeinsame Vorschlag des CDU-Abgeordneten Kroll und Heuss’, der in Artikel 14 des Grundgesetzes einging: „Das Eigentum wird zugleich mit dem Erbrecht gewährleistet.“ *? Im Gegenzug erreichte Schmid, daß der Grundsatz der angemessenen Entschädigung bei Enteignungen, durch den in der Vergangenheit eine grundsätzliche Änderung der Wirtschaftsstruktur verhindert worden war, fallengelassen wurde. Bei der Festsetzung der Höhe der Entschädigung sollten neben den Interessen der Betroffenen auch die Interessen der Allgemeinheit berücksichtigt werden**. Vehement und erfolgreich focht er auch für die Einfügung eines Sozialisierungsartikels in das Grundgesetz. Den Kritikern, die meinten, der Enteignungsartikel mache einen Sozialisierungsartikel überflüssig, erklärte er, daß die Sozialisierung „nicht als Sonderfall der Individualenteignung zu gelten“ habe, sondern eine „strukturelle Umwandlung der Wirtschaftsverfassung“ sei und deshalb eines Gesetzes bedürfe*. Damit legte er die verfassungspolitische Grundlage für die Durchführung einer damals zentralen programmatischen Forderung der SPD.

Nachdem Schmid, unterstützt von, Heuss, einen vorsichtigen Versuch von Abgeordneten der CDU, die Frage des Elternrechts in die Debatte zu werfen, abgeblockt hatte, konnte Mitte Oktober die Diskussion über den Grundrechtsteil abgeschlossen werden. Schmid hatte sich wie schon auf Herrenchiemsee für die Unverbrüchlichkeit der Grundrechte eingesetzt und dafür auch den Ausschuß gewinnen können. Selbst im Falle des Notstandes durften seines Erachtens die Grundrechte nicht suspendiert werden“°. In der SPD-Fraktion hatte sich Menzel lange Zeit gegen die Aufnahme der Grundrechte in das Grundgesetz gewehrt. Sein Bemühen, den Parteivorstand auf seine Seite zu ziehen?”, hatte keinen Erfolg. So gab er schließlich klein bei.

Über die Formulierung der völkerrechtlichen Grundsätze war man sich relativ schnell einig. Man konnte auf Schmids auf Herrenchiemsee zur Diskussion gestellten Vorschläge zurückgreifen. Schmid verwies darauf daß das Völkerrecht die „einzig wirksame Waffe des ganz Machtlosen“ seit‘. Hier knüpfte er an Erfahrungen, die er als Referent am Kaiser-Wilhelm- Institut gemacht hatte, an. Die Arbeit dort hatte sein außenpolitisches Denken stark geprägt. Heuss nahm wie schon in Stuttgart Anstoß an der von Schmid vorgeschlagenen verfassungsrechtlichen Fixierung der Kriegsächtung, die er für deklaratorisch hielt‘. Trotz Schmids Widerspruch wurden nur „Handlungen, die geeignet sind, einen Angriffskrieg vorzubereiten“, für verfassungswidrig erklärt.

Schmid widersprach, weil er durch verfassungsrechtliche Gebote und Verbote das Entstehen einer Nationalarmee ebenso wie den Aufbau 1sOgenannter Wehrsportvereine“, unter deren Deckmantel der Aufbau einer Armee verschleiert werden konnte, verhindern wollte5°. Er beharrte darauf, daß das Grundgesetz eine klare und unverklausulierte Verbotsbestimmung für die Waffenherstellung enthalten müsse. Es sei eindeutig festzulegen, daß in Deutschland eben überhaupt „keine Kanonen“ mehr gebaut werden, auch nicht mit Genehmigung der Bundesregierung‘‘. Am Ende konnte er sich damit nicht durchsetzen. Erfolgreicher war sein Eintreten für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, das trotz heftigen Widerspruch Heuss’ verfassungsrechtlich verankert wurde. Schmid war alles andere als ein radikaler Pazifist. Aber für ihn kam keine nationale, sondern nur eine europäische Verteidigung in Frage.

Seine Empfehlung, in den Entwurf einen Grundsatz aufzunehmen, daß der Bund im Interesse der Aufrechterhaltung des Friedens sein Gebiet in ein System kollektiver Sicherheit einordnen kann, gewann im Herbst 1948 tagespolitische Aktualität. Unter dem Eindruck der Berlin-Blockade wurden im In- und Ausland Stimmen laut, die eine deutsche Wiederbewaffnung in Erwägung zogen°”. Schmid ging es um eine verfassungsrechtliche Verankerung seines sicherheitspolitischen Programms. Im Rahmen des Laupheimer Kreises hatte er bereits im Frühjahr 1948 mit dem früheren Chef des Generalstabs beim Militärbefehlshaber in Frankreich Hans Speidel, den er schon während des Krieges kennengelernt hatte, über die Möglichkeit einer deutschen Wiederbewaffnung diskutiert°’. Den Ruf nach einer Nationalarmee nannte Schmid wie die meisten seiner damaligen Zeitgenossen eine „Torheit“. In Anknüpfung an die sicherheitspolitische Diskussion der 20er und 30er Jahre befürwortete er ein System kollektiver Sicherheit, wobei ihm insbesondere die damals von Briand entwickelten Pläne als Vorbild dienten‘*. Briand hatte Ende der 20er Jahre vorgeschlagen, das Sicherheitssystem von Locarno auf alle europäischen Völkerbundsmitglieder auszudehnen. War dieser Plan nicht nach wie vor aktuell? Freilich, die nationalen Streitkräfte mußten durch eine europäische Armee ersetzt werden.

Glaubte Schmid, daß in dieses System kollektiver Sicherheit in absehbarer Zeit auch die osteuropäischen Staaten miteinbezogen werden konnten? Er ließ diese Frage zumeist offen. Zumindest an einer Stelle sprach er davon, daß das System kollektiver Sicherheit auf dem Gedanken der „gemeinsamen Abwehr eines Gegners und der Streitschlichtung unter Verbündeten“ gründe’. Demnach fiel auch eine westeuropäische Verteidigungsgemeinschaft unter den Begriff der kollektiven Sicherheit. Fest stand für ihn, daß nur „regionale Pakte“* im Rahmen der UN, nicht die UN selbst, ein wirksames System der kollektiven Sicherheit schaffen können‘“. Im Herbst 1948 ahnte er nicht, welcher Streit einmal über diesen Artikel entstehen sollte. Er war befriedigt, daß dieser Artikel in den Entwurf aufgenommen wurde, der ihm einmal später die Durchsetzung seiner sicherheitspolitischen Vorstellungen erleichtern konnte.

Weil er in der Errichtung einer Montanunion und eines kollektiven Sicherheitssystems eine Gegenwartsaufgabe sah, lehnte er die von einigen Mitgliedern des Parlamentarischen Rates erhobene Forderung, für die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Organisationen eine Zweidrittel-Mehrheit vorzuschreiben, strikt ab. Engagierter Europäer, der er war, wünschte er, daß dieser Artikel ein außenpolitisches Signal setzte: Deutschland war bereit, „die Internationalisierung der politischen Wirklichkeit möglichst aktiv zu fördern“5 7. Er setzte durch, daß für die Einordnung der entstehenden Bundesrepublik in europäische und internationale Organisationen ein einfaches Gesetz genügte’®. Damit schuf er die verfassungsrechtliche Grundlage für Adenauers Westintegrationspolitik. Noch dachte freilich niemand daran, daß Adenauer Bundeskanzler würde. Es wurde gemunkelt, er strebe das Bundespräsidentenamt an. Schmid mag bei der Ausformulierung der Artikel manchmal an sich als zukünftigen Außenminister gedacht haben. Aber das war alles Zukunftsmusik. Zunächst einmal mußte man zu einem Verfassungskompromiß kommen.

Am 18. Oktober lag ein erster Grundgesetzentwurf vor, am ı1. November nahm der Hauptausschuß seine ‚Arbeit auf. Dort wurde unter der „straffen Zügelführung“ Schmids, der auf einen schnellen Abschluß der Beratungen drängte, harte Arbeit geleistet®®. Mit so Sitzungen war der Hauptausschuß der arbeitsintensivste Ausschuß des Parlamentarischen Rates. In der Regel tagte der Ausschuß zweimal am Tag vormittags und nachmittags. Auch samstags traf man sich, um am Grundgesetzentwurf zu feilen. Die Arbeit des Vorsitzenden beschränkte sich aber keineswegs auf die Leitung der Sitzungen. Die Beschlüsse der Fachausschüsse mußten bereits vor den Sitzungen koordiniert und zusammengefaßt werden, die einzelnen Ergebnisse der Hauptausschußsitzungen mußten gegenseitig abgestimmt und in den Entwurf eingearbeitet werden. Dem Hauptausschuß lag hin und wieder eine „fast verwirrende Fülle von Fassungen“ vor”. Zumeist war es Carlo Schmid, der die Anträge und Vorlagen auf eine Generallinie brachte und unbedachten Antragstellern erklärte, daß ihr Antrag der Grundaussage des Grundgesetzentwurfes widersprach. Weniger politische Auseinandersetzungen als spröde Redaktionsarbeit prägte die Verhandlungen des Hauptausschusses. Schmid kannte den unerschöpflichen „Scharfsinn der Juristen“ und achtete deshalb auf präzise Formulierungen und eindeutige Begriffe. Im allgemeinen wurde nüchtern und sachlich debattiert. Nicht einmal Schmid ließ sich zu rhetorischen Glanzstücken hinreißen. Wer meint, Carlo Schmid habe nie Kärrnerarbeit geleistet, der lese die Protokolle des Hauptausschusses. Selbst der Parteigegner würdigte die Arbeit des Hauptausschußvorsitzenden‘*.

Auch Schmid war überrascht und erfreut über den sachlichen Verhandlungsstil, der in den Anfangsmonaten in den Ausschüssen gepflegt wurde. Lediglich ein „paar dumme Knilche und heillose Biedermeier“, die den Betrieb aufhielten, gingen ihm auf die Nerven“. Der Antragsregen des DP-Abgeordneten Seebohm war unerträglich, so daß Schmid ihm einmal durch die Blume zu verstehen gab, daß er eigentlich ins Irrenhaus gehöre°* Dauernd zu Wort meldete sich auch der KPD-Abgeordnete Heinz Renner. Schmid war nachsichtig mit dem wortwitzigen Kommunisten, der keine, Gelegenheit ausließ, ihn als „angelernten Sozialdemokraten“ zu apostrophieren.

Anfangs waren bei den Verhandlungen politische Gegensätze kaum zutage getreten. Mitte Oktober äußerte sich Schmid gegenüber Fritz Baade höchst befriedigt über den bisherigen Verlauf der Beratungen: „Hier in Bonn gehen die Dinge schleppend, aber vorläufig nicht schlecht. Es ist überall guter Wille vorhanden und die Bajuwaren sind sogar inmitten der CDU isoliert. Ich fürchte allerdings, daß den Franzosen unser Grundgesetz zu zentralistisch sein wird und daß sie ihm die Genehmigung versagen werden. Das könnte eine schlechte Sache werden.“ °5 Mit seinen Befürchtungen sollte er recht behalten. Zudem rüsteten die „Bajuwaren“, denen der Grundgesetzentwurf entschieden zu zentralistisch geraten war, Zum Gegenangriff. Der bayrische Ministerpräsident Ehard entsandte im November zwei seiner Beamten Ringelmann und Leusser als „Offizielle Beauftragte der Bayrischen Staatsregierung beim Parlamentarischen Rat“ nach Bonn, die dafür Sorge tragen sollten, daß der Grundgesetzentwurf ein föderalistisches Gesicht bekam“°. Anton Pfeiffer gab seine Zurückhaltung auf und versuchte innerhalb der CDU/CSU-Fraktion den bayrischen Standpunkt durchzusetzen. Noch hatte er Adenauer nicht von den Vorzügen des Bundesratssystems überzeugen können. Die CDU/CSU-Fraktion verfügte anfangs über keinerlei klare politische Linie. Es war keine böswillige Polemik, wenn Schmid bemerkte, daß die Union sich erst in Bonn zu einer Partei habe entwickeln müssen”.

In der Frage Bundesrat oder Senat herrschte auch in der SPD-Fraktion keine Einigkeit. Schmid verteidigte mit dem ganzen Gewicht seiner Person die Einrichtung eines Senats als gleichberechtigter zweiter Kammer und konnte sich damit auch innerhalb der Fraktion zunächst durchsetzen. Noch am 21. Oktober sprach sich Schmids Zimmernachbar Rudolf Katz im Namen der SPD-Fraktion im Plenum des Parlamentarischen Rates für das Senatssystem aus‘®, und Schmid selbst rief allen Verteidigern des Bundesratssystems zu, daß sie Verteidiger des Bürokratismus seien®. Unterdessen überlegte sich Menzel, wie er Schmid am besten ausmanöverieren konnte. Walter Menzel war von Anfang an gegen eine gleichberechtigte zweite Kammer gewesen. Er wollte einer zweiten Kammer allenfalls ein suspensives Vetorecht zugestehen. Es fiel ihm nicht schwer den Parteivorstand, der in der zweiten Kammer ohnehin nur ein lästiges Hindernis für die Durchführung einer konsequent sozialistischen Politik sah, für seinen Standpunkt zu gewinnen. Ende September beschloß der Parteivorstand die Ablehnung einer gleichberechtigten zweiten Kammer”, was einer indirekten Befürwortung des Bundesratssystems gleichkam, denn es war abzusehen, daß die CDU/CSU-Fraktion in eine Reduzierung der Befugnisse der zweiten Kammer nur einwilligen würde, wenn statt eines Senats ein Bundesrat eingerichtet würde. Menzel optierte in seinen Berichten an den Parteivorstand ganz offen für die Bundesratslösung”‘. Laut „Hannoverscher Presse“ hatte die SPD-Fraktion in einer „Nachtsitzung“ Anfang Oktober sich mehrheitlich für die Bundesratslösung ausgesprochen”. Das war vermutlich eine bewußt in Umlauf gesetzte Falschmeldung, denn Menzel berichtete am 8. Oktober Ollenhauer, daß sich in der Fraktion eine Mehrheit für den Senat abzeichne”. Schmid sei jedoch beauftragt worden, zu sondieren, ob auf der Grundlage der Bundesratslösung ein Kompromiß mit der CDU/CSU-Fraktion zu erreichen sei”+, Schmid ließ sich Zeit. Er klopfte nur einmal informell die Stimmung in der CDU/CSUFraktion ab.

Da Schmid zögerte, riß Menzel das Gesetz des Handelns an sich. Am 26. Oktober traf sich Walter Menzel mit dem bayrischen Ministerpräsidenten Ehard zu einem Nachtessen im Bonner Hotel Königshof. Die beiden vereinbarten ein Tauschgeschäft: Die SPD wollte die Bundesratslösung unterstützen, wenn dafür die Bayern auf dessen Gleichberechtigung bei der Gesetzgebung verzichteten. Möglicherweise hatte Ehard auch Konzessionen in der Frage der Finanzverfassung in Aussicht gestellt”. Angesichts der Stimmung in der Parteizentrale blieb Schmid gar nichts anderes übrig, als den beabsichtigen Kuhhandel nachträglich zu billigen. Wenn überhaupt noch jemand den Kompromiß zu Fall bringen konnte, so war dies Adenauer, der aus anderen Gründen als Schmid, aber nicht weniger entschieden für eine Senatslösung eintrat. So verkündete Schmid lauthals, die SPD sei vor allem deswegen für ein Bundesratssystem, weil sie wahrscheinlich die Mehrheit der Bundesratsmitglieder stellen werde”°. Allein schon der Gedanke daran mußte den Alten bis aufs Messer reizen, der ohnehin über das Ehard-Menzel-Gespräch auf das äußerste erzürnt war’”. Bekanntlich mußte schließlich auch Adenauer gute Miene zum bösen Spiel machen”®. Die Koalition zwischen bayrischen Föderalisten und sozialdemokratischen „Zentralisten“ war stärker als die der Senatsbefürworter. Soll noch einmal einer behaupten, Schmid sei eine Koalition mit der CSU eingegangen!

Schmid war niemand, der sich nach verlorenem Spiel in den Schmollwinkel zurückzog. Im Parteivorstand stellte er sich hinter Menzel, der nun mit der CDU/CSU-Fraktion zu einer endgültigen Vereinbarung kommen wollte. Den Christdemokraten sollte ein Bundesrat konzediert werden, dessen Veto der Bundestag mit Zwei-Drittel-Mehrheit überstimmen konnte, wenn sie sich im Ausgleich dafür mit der Finanzhoheit des Bundes einverstanden erklärten??. Den meisten Parteivorstandsmitgliedern ging der Kompromiß viel zu weit. Allenfalls ein einfaches suspensives Veto wollte man dem Bundesrat zugestehen. Schmid sprang, ungehalten über die Intransigenz der Parteifreunde, Menzel bei: Im Bonner Grundgesetz seien „erfreulich wenig föderalistische Tendenzen enthalten“. Das Vetorecht werde „bei Berücksichtigung des politischen Kräfteverhältnisses auch weniger gefährlich sein, als es zunächst noch erscheint“. Wenn man nicht zu einem Kompromiß komme, werde das „katastrophale Wirkungen auf Berlin und die Ostzone haben“°°, Für Schmid hatte der Verfassungskompromiß oberste Priorität. Wenn er nur auf der Grundlage der Bundesratslösung zu haben war, war er bereit, auch diese Kröte zu schlukken. So. verteidigte er am 30. November schweren Herzens auch im Hauptausschuß die Bundesratslösung. Die SPD-Fraktion stimme ihr zu, weil man ansonsten riskiere, daß eine „territorial kompakte Gruppe des deutschen Volks“ das Grundgesetz ablehne®‘. Noch nach Verabschiedung des Grundgesetzes war er voller Ingrimm gegen die „Bajuwaren“, die ihren Kopf hatten durchsetzen können. Er war überzeugt, daß durch die Einführung eines Bundesrates ein „wesentliches Übel“ in der deutschen „politischen Entwicklung“ gestärkt worden war: „die Vorstellung nämlich, Politik sei etwas wie eine Verlängerung der Administration“ ”.

Die Verhandlungen über die Finanzverfassung und -verwaltung führte Walter Menzel. Prinzipiell teilte Schmid Menzels Auffassung, daß man auf die Finanzhoheit des Bundes und eine Bundesfinanzverwaltung beharren müsse. Er hatte aber von Anfang an wenig Hoffnung, daß die Alliierten einer derartig zentralistischen Finanzverfassung die Zustimmung erteilen würden. Nicht ohne Grund hatte er immer darauf gepocht, daß vor Ausarbeitung des Grundgesetzes das Besatzungsstatut erlassen werden müsse. In einem Adenauer am 22. November übergebenen Aide- M&moire gaben die Militärgouverneure unmißsverständlich zu verstehen, daß ihnen der Grundgesetzentwurf zu wenig föderalistisch ausgefallen war. Es konnte gar kein Zweifel darüber bestehen, daß die Besatzungsmächte nicht gewillt waren, die im Grundgesetzentwurf vorgesehene Steuergesetzgebung und -verteilung sowie die zwischen den Parteien umstrittene Bundesfinanzverwaltung zu akzeptieren®?.

Schmid war sofort klar, daß dieses Memorandum ernst zu nehmen war. Doch wie sollte man darauf reagieren? Darüber entbrannte ein heftiger Streit zwischen ihm und Adenauer. Der Vorsitzende des Hauptausschusses schlug vor, das Aide-M&moire zu verlesen und darüber zur Tagesordnung überzugehen. Adenauer, der geflissentlich verschwieg, daß er es gewesen war, der die Militärgouverneure um eine Stellungnahme gebeten hatte®%, hielt einen solchen Affront gegen die Besatzungsmacht für „Torheit“Ss . Schmid ließ sich manchmal in der ersten Erregung zu unbesonnenen Äußerungen hinreißen. Aber in diesem Fall hatte er sich genau überlegt, was er sagte. Ihm ging es darum, eine Einmischung der Alliierten in Detailfragen des Grundgesetzes zu verhindern. Wenn die Alliierten schon intervenierten, sollten sie klare und eindeutige „Gegenbefehle“ geben°®. In puncto Föderalismus gab es eine fast nahtlose Übereinstimmung zwischen den Besatzungsmächten und den Christdemokraten. Einige der bayrischen Föderalisten hatten das Memorandum der Alliierten als eine fast „peinliche Unterstützung“ empfunden“”. Adenauer hatte weniger Skrupel. Er war den Alliierten für die von ihm erbetene Einmischung dankbar. Clay machte keinen Hehl daraus, daß er eine abgrundtiefe Abneigung gegen die „zentralistisch“ eingestellte SPD hatte. Der britische Militärgouverneur Robertson war erzürnt über Schmids eigensinnige Haltung und riet dem Foreign Office, Schmid durch Ollenhauer zur Raison zu bringen. In London war man jedoch der Ansicht, daß Ollenhauer im Gegensatz zu Schmid ein „small calibre“ sei. Man hatte dort durchaus Verständnis für Schmids Position und war nicht gewillt, den Hauptausschußvorsitzenden in irgendeiner Form zurechtzuweisen®®. Die Gefahr war trotzdem groß, daß es zu einer geheimen Koalition zwischen der Union und den Besatzungsmächten kam, die das politische Klima vergiften mußte. Die SPD hätte sich, wie Schmid sehr genau sah, entweder unterwerfen oder das Odium auf sich nehmen müssen, aus reinem Doktrinarismus ein Veto der Militärgouverneure zu provozieren. Die CDU/CSU wäre in den Geruch gekommen, Erfüllungspolitik zu treiben®®.

Adenauer nötigte Schmid zum Nachgeben. Am 25. November gab der Präsident des Parlamentarischen Rats im Hauptausschuß eine Erklärung zu dem Memorandum ab, in der er die Einwände der Militärgouverneure zu einer bloßen Erläuterung der Frankfurter Dokumente verharmloste?°, was zu einer folgenschweren Unterschätzung des alliierten Aide-Me&moires führte. Schmid freilich gab sich keinen Illusionen hin. Den Parteivorstand konfrontierte er mit der bittren Feststellung, daß die Alliierten „ohne Zweifel die (…) beabsichtigte Regelung der Fragen des Finanzwesens beanstanden“ werden?‘. Doch was sollte man tun? Die Positionen waren festgefahren. Auch Schmid scheint die Partei nicht zu einer anderen Haltung in der Auseinandersetzung um das Finanzwesen gedrängt zu haben. Vermutlich hätte er sich auch nicht durchsetzen können. So blieb nur die vage Hoffnung, daß nach Fertigstellung des Grundgesetzes die Alliierten vielleicht doch zum Einlenken bereit waren.

Noch wußte man nicht einmal, ob das Besatzungsstatut so ausfallen würde, daß eine Weiterarbeit am Grundgesetz überhaupt noch sinnvoll war. Der Berater des französischen Militärgouverneurs, der spätere Hochkommissar Frangois-Poncet, hatte Schmid eröffnet, daß das Besatzungsstatut vierzig Seiten lang werde. Positiv seien ein oder zwei Artikel, alles andere seien Vorbehalte”. Schmid sah sich in seinen schlimmen Befürchtungen bestätigt. Im Ausschuß für das Besatzungsstatut kam man überein, im Parlamentarischen Rat eine Stellungnahme zu dem Problem Besatzungsstatut abzugeben. Am ı0. Dezember entwickelte Schmid noch einmal im Hauptausschuß seine bekannten Richtlinien für ein Besatzungsstatut”?. Bereits im November hatte er im „Neuen Vorwärts“ einen Artikel über die Probleme eines Besatzungsstatuts veröffentlicht?*. Er mußte sich langsam wie ein Don Quichotte vorkommen. Die Militärgouverneure nahmen so gut wie keine Notiz von seinen unablässig wiederholten Ausführungen über das Besatzungsstatut.

Immerhin, es bestand Hoffnung, daß am 16. Dezember die Militärgouverneure endlich die Grundzüge des von ihnen vorgesehenen Besatzungsstatuts bekanntgaben. An diesem Tag sollte in Frankfurt eine Besprechung zwischen ihnen und einer Delegation des Parlamentarischen Rats stattfinden. Die zweite Lesung des Grundgesetzentwurfs bis dahin abzuschließen, wie man sich ursprünglich vorgenommen hatte, war auch bei gutem Willen nicht mehr zu schaffen. So ging man davon aus, daß das Besatzungsstatut ganz im Zentrum der Unterredung stehen werde. Als Teilnehmer der Besprechung waren vorgesehen: Adenauer, Pfeiffer, Süsterhenn für die CDU/CSU-Fraktion, Schmid und Menzel als Vertreter der SPD, Höpker- – Aschoff für die FDP-Fraktion, Seebohm für die DP. Einige Tage vorher hatte Schmid, der immer bestens informiert war, erfahren, daß die Militärgouverneure noch völlig uneins waren über den Inhalt des Besatzungsstatuts.. Es war also vorauszusehen, daß das Besatzungsstatut doch nicht das alleinige Thema der Besprechung sein würde. Auch Adenauer meinte. in einer Ältestenratssitzung am 13. Dezember, daß die Gouverneure sich sicherlich auch zum Grundgesetz äußern würden?’. Schmid kannte mittlerweile den alten Fuchs. Ihm war zuzutrauen, daß er versuchte, mit Hilfe . der Militärgouverneure die föderalistischen Forderungen der Christdemokraten durchzudrücken. Hatte er doch mit Nachdruck betont, dafs man kein Grundgesetz machen dürfe, das mit Gewißheit von den Franzosen abgelehnt werde?°. Schmid warnte deshalb in der Ältestenratssitzung – abermals vor einer Beeinflussung der Grundgesetzberatungen durch die Militärgouverneure. Der „Zaun“, der die Autonomie des Parlamentarischen Rates schützte, dürfe nicht „lattenweise abgerissen“ werden?”. Von deutscher Seite dürften keine Fragen zu den einzelnen Artikeln des Grundgesetzes gestellt werden. Falls die Gouverneure Fragen an die Delegation richteten, sollten die Beschlüsse des Hauptausschusses erläutert werden. Aber wie sollte man reagieren, wenn die Fragestellung der Militärgouverneure so war, daß sich der Parteidissens nicht verbergen ließ? Adenauers Antwort auf Schmids Frage war kurz und lakonisch: Er werde dafür sorgen, daß es zu solchen Situationen nicht kommen werde?®. Zufriedenstellend war diese Antwort nicht. Schmid hätte gut daran getan, von Adenauer eine schriftliche Vorlage seiner Erklärung zu verlangen.

Schmid verdächtigte nicht zu Unrecht Adenauer unlauterer Absichten. Als am Nachmittag des 16. Dezember General Koenig dem Präsidenten des Parlamentarischen Rats das Wort erteilte, nutzte dieser die Gelegenheit, um unter ausdrücklichem Hinweis auf das Memorandum vom 22. November auf die zwischen den Parteien aufgetretenen Differenzen über die finanzpolitischen Regelungen, die Stellung der Länderkammer und die Kulturpolitik aufmerksam zu machen. Vom Besatzungsstatut, über das sich die Militärgouverneure kurz vor der Sitzung heillos zerstritten hatten, war nur ganz am Rande die Rede. Über die hierzu vorliegenden Pläne unterhielt sich Schmid am darauffolgenden Tag mit dem politischen Berater der amerikanischen Militärregierung Robert Murphy’,

Schmid, Menzel und Höpker-Aschoff fühlten sich zu Recht von Adenauer hintergangen. Adenauers Vorpreschen war ein klarer Bruch der im Ältestenrat getroffenen Vereinbarungen. Adenauer spielte den Erstaunten, als die drei ihn am Morgen des nächsten Tages aufsuchten und ihm vorwarfen, er habe die Militärgouverneure zu Schiedsrichtern in strittigen Fragen machen wollen. Er stritt das ab und stilisierte sich zum Opfer böswilliger Verleumdungen. Ein Unschuldslamm war er nicht. Ihm war keineswegs nur ein „Lapsus“ unterlaufen, wie er behauptete’°‘, Er hatte bereits einige Tage vor dem Gespräch Kontakt zu den britischen und französischen Verbindungsoffizieren gesucht und seine Hoffnung zum Ausdruck gebracht, daß die Militärregierungen die CDU/CSU in ihrem Kampf gegen die „intransigente Haltung“ der SPD in kulturellen und finanzpolitischen Fragen unterstützten!”

Carlo Schmid war nicht daran gelegen, die Sache zu dramatisieren und dadurch das Scheitern der Verfassungsberatungen zu riskieren. In der vorangegangenen Fraktionssitzung waren die Wellen der Empörung hochgeschlagen. Zahlreiche Mitglieder der Fraktion hatten sich dafür ausgesprochen, Adenauer das Vertrauen zu entziehen‘!®, Schmid versuchte die ganze Sache etwas tiefer zu hängen. Ihm ging es darum, Adenauers Pläne zu durchkreuzen. Zusammen mit Menzel und Höpker-Aschoff verlangte er von Adenauer, daß er bei der zweiten Zusammenkunft mit den Militärgouverneuren, die für den Abend des gleichen Tags vorgesehen war, eine Erklärung abgab, daß er weder Entscheidungen von den Militärgouverneuren erbeten habe, noch die Militärgouverneure die Absicht haben erkennen lassen, Entscheidungen zu fällen. Schmid erklärte bei der abendlichen Zusammenkunft, daß Adenauers tags zuvor gemachten Ausführungen mit der Delegation nicht abgesprochen waren. Man habe den Empfang als Gelegenheit betrachtet, „Informationen über den Inhalt des Besatzungsstatutes zu erhalten“ ‚°* Die Besprechung selbst, die in einer frostigen Atmosphäre stattfand, verlief ergebnislos

Die ganze Sache wuchs nach und nach zur Krise aus. In der SPD gewannen die Stimmen Oberhand, die Adenauer das Mißtrauen aussprechen wollten. Menzel schrieb an den Parteivorstand, daß man Adenauers Vorgehen wahlpolitisch ausschlachten solle. Jetzt wäre die Gelegenheit da, Adenauer als Bundespräsidenten auszuschalten’®. Es bedurfte nicht des Briefes von Menzel, damit die Parteizentrale in Hannover tätig wurde. Die SPD eigene „Hannoversche Presse“ sprach Adenauer das Mißtrauen aus, noch ehe es die Fraktion tat!“ Die schriftliche „Rüge“ der Fraktion — so nannte Menzel die Mißtrauenserklärung – erhielt Adenauer am ı8. Dezember’°”. In der am gleichen Tag stattfindenden Hauptausschußsitzung, in der Adenauer sein Vorgehen zu rechtfertigen versuchte, machte Schmid, der sonst so souverän die Sitzungen leitete, einen völlig konfusen Eindruck. Menzel mußte ihm einige Male zu Hilfe kommen’°®, In einer anschließenden Pressekonferenz betonte er lediglich noch einmal, daß das Grundgesetz unabhängig von der Stellungnahme der Militärgouverneure fertigzustellen sei’”.

Schmid war verzweifelt. Wenn die Krise nicht schleunigst beigelegt wurde, war an einen Verfassungskompromifß nicht mehr zu denken. Auf beiden Seiten handelten parteipolitische Taktierer völlig verantwortungslos. Heuss war einer der wenigen, denen er sein Herz ausschütten konnte. Beide scheinen noch vor Weihnachten nach einem Ausweg aus der Krise gesucht zu haben. Zu Neujahr schrieb Schmid dem FDP-Vorsitzenden: „Ich werde schon nicht desertieren, wenngleich es mir gerade in diesen Wochen schwer fällt, zu bleiben.’“‘ ° Heuss antwortete zwei Tage später: „leh denke, wir werden beide uns bemühen müssen, Dramatisierungen zu vermeiden.““'“ In der FDP-Fraktion schlugen die Wellen gegen Adenauer fast ebenso hoch wie in der SPD. Die beiden Fraktionen hatten nach der „Frankfurter-Affäre* zusammengetagt“”. Heuss und Schmid, denen man so gern unterstellte, sie seien mehr Literaten als Politiker, gehörten zu den wenigen, die Verantwortungsbewußtsein bewiesen.

Das politische Klima war vergiftet. Schmid wurde zur Zielscheibe von Angriffen der CDU-Presse und von Adenauer. Im Deutschland-Union- Dienst wurde Schmid als Handlanger der Franzosen denunziert“?. Adenauer warf ihm vor, er betreibe eine „Politik des Hasardeurs“ und bezichtigte ihn der Scheinheiligkeit. Keiner pflege einen so engen Umgang mit den alliierten Verbindungsstäben wie Schmid, der sich „nach soundso viel Cocktails“ von den Verbindungsoffizieren „ausfragen“ lasse“*. Das war eine billige Retourkutsche. Gewiß, Carlo Schmid hatte gute Kontakte zu den Verbindungsstäben und war bestens informiert über die jeweilige Haltung der Militärregierungen. Es war aber geradezu lächerlich, ihn zu bezichtigen, er sei ein Mann der Franzosen. Seine verfassungspolitischen Grundsätze über das Verhältnis von Bund und Ländern wurden von den Franzosen bekämpft. Schmid erfuhr bei seinen Unterredungen mit den. Verbindungsstäben immer nur eines: Die Alliierten, insbesondere die Franzosen, waren nicht gewillt, der im Grundgesetzentwurf vorgesehenen Regelung des Steuer- und Finanzwesens zuzustimmen. Versuche der Franzosen, ihn zu „konfirmieren“, schlugen fehl“5. Adenauer war dagegen in Frankfurt von General Koenig mit demonstrativer Aufmerksamkeit bedacht worden““®,

Schmid wandte sich so entschieden gegen eine vorzeitige Einmischung der Militärgouverneure, weil dies das Scheitern der Arbeiten am Grundgesetz bedeutet hätte. In einer Stellungnahme gegen die Anschuldigungen Adenauers wies er noch einmal darauf hin, daß eine Einflußnahme der Militärgouverneure auf die Grundgesetzberatungen, die der CDU/CSU zur Durchsetzung ihrer föderalistischen Pläne verhelfe, die SPD vor die Alternative stelle: Unterwerfung oder Nein‘!7”. Für Schmid stand außer Zweifel, daß sich die Mehrheit seiner Partei dann für ein Nein entscheiden würde. Er hatte dies auch bei der zweiten Unterredung mit den Militärgouverneuren schon angedeutet“ ‚?.

Die Weihnacht 1948 war für Schmid alles andere als eine fröhliche Weihnacht. Am zweiten Weihnachtsfeiertag flatterte ihm ein verzweifelter Brief Walter Menzels ins Haus: Kurt Schumacher dringe auf einen Mißtrauensantrag gegen Adenauer. Die Fraktion und auch er, Menzel, seien dagegen“?. Natürlich war auch Schmid gegen eine derartige weitere Verschärfung des Konflikts. Am 29. Dezember wandte er sich an die Presse, um die ganze Auseinandersetzung, die auf das Niveau gegenseitiger Entgleisungen und Giftspritzereien herabgesunken war, in besonnenere Bahnen zu leiten. Die SPD habe gegen Adenauers Vorgehen in Frankfurt protestiert, nicht.um eine „Verleumdungskampagne“ gegen ihn zu starten, sondern um zum Ausdruck zu bringen, „daß der schwache Zaun, der die Autonomie des Parlamentarischen Rates schützt“, nicht „lattenweise abgerissen“ werden dürfe. „Welche Motive Dr. Adenauer geleitet haben mögen“, soll „völlig dahingestellt“ bleiben!2°. Er kannte die Motive, versuchte aber jetzt, um den leidigen Streit beizulegen, Adenauer die Hand zur Versöhnung zu reichen.

Am 3. Januar reiste Schmid von Tübingen nach Hannover, um Kurt Schumacher seinen Plan, einen Mißtrauensantrag gegen Adenauer einzubringen, auszureden. Das Gespräch endete im Dissens. Die Fraktion stellte sich einen Tag später hinter ihren Vorsitzenden. 19 Mitglieder stimmten gegen ein Mißtrauensvotum, drei dafür’”‘. Daß die ganzen Vorgänge durch Indiskretion an die Presse kamen, trübte das ohnehin gespannte Verhältnis zwischen der Parteizentrale und dem Fraktionsvorsitzenden noch mehr. Er wurde jetzt auch noch mit Vorwürfen von Fritz Heine übersät’”?,

In einer Ältestenratssitzung am s. Januar wurde der Streit um die „Frankfurter Affäre“ endlich beigelegt. Die SPD-Fraktion erklärte ihren „Willen zur Zusammenarbeit“. Die Fraktionen versicherten sich gegenseitig, einander keine „unlauteren Motive“ zu unterstellen‘??. Als Carlo Schmid am späten Nachmittag des gleichen Tags die erste Hauptausschußsitzung im neuen Jahr eröffnete, ließ er sich „ermächtigen“, dem Präsidenten des Parlamentarischen Rates die Glückwünsche des Hauptausschusses zu dessen 73. Geburtstag zu übermitteln. Das Protokoll verzeichnet Zustimmung, nicht Beifall’**. Adenauers Vorgehen hatte fast niemand gutgeheißen. Schmid war es zu verdanken, daß wieder eine Atmosphäre gegenseitiger Achtung entstand. Die Fortsetzung der Arbeit am Grundgesetz war ihm „weit wichtiger als alles andere“ ‚”5. Von den unlauteren Motiven Adenauers war er nach wie vor überzeugt. Als Dichter hatte er die Narrenfreiheit zu sagen, was er als Politiker nicht mehr sagen durfte. „Held Konrad“ spielte eine zentrale Rolle in einer Parlamentarischen Elegie, die Schmid zur Krönung eines geselligen Abends im Januar verfaßte’*®.

Hoch über allen thront Konrad, dem sinnenden Gotte vergleichbar, Und wie es Fürsten geziemt, mischt er sich selten dem Volk. Fast ins Gewölk entrückt, spinnt kunstreicher Hand er die Weisheit, Die er zu köstlichem Hort sich gestapelt, als er Lenkte Coloniens Geschick. Doch einmal stieg,e r hernieder, „Wollte sein wie das Volk, stürzen sich ins Gewühl Dort wo den grünlichen Main der Franken Furt überqueret — Nicht ihm zum Heil: wer da thront, halt’ dem Gewühle sich fern! Sieh, als er kam aus der Fremdlinge Zelten, da fiel ihm vom Himmel ” Unversehens ein Stein schwer auf den göttlichen Zeh. So sind die Moiren: du ziehst hinaus und haschst nach dem Kranze‘ Und statt hoch im Triumpf, kehrst du humpelnd nach Haus.

Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Schmid hatte wieder einmal nach der Devise gehandelt: Wenn Dir zum Weinen ist, schreibe was zum Lachen. Er blickte mit wenig Optimismus in das Neue Jahr. Zwar konnte er am Jahresende mit Genugtuung feststellen, daß die SPD mit den in Bonn „erzielten Ergebnissen“ „nicht unzufrieden zu sein“ brauchte‘?”, aber der Entwurf war noch lange nicht verabschiedet. All sein Drängen, die Beratungen nicht durch das Einbringen neuer Anträge und strittiger Materien zu verzögern, war vergeblich. Ende des Jahres war die CDU/CSU-Fraktion in die Offensive gegangen. Sie hatte sich die kulturpolitischen Forderungen der katholischen Kirche zu eigen gemacht und zur 2. Lesung des Grundgesetzentwurfes entsprechende Anträge im Parlamentarischen Rat eingebracht. Zum Zankapfel wurde das Verlangen nach Anerkennung des Konkordats und des Elternrechts. Hinter beiden Forderungen stand der Wunsch nach Wiedereinführung der Bekenntnisschule‘ 2®, Schmid widersprach den Anträgen‘?°, nicht nur weil er ein Gegner der Bekenntnisschule war, er fürchtete vor allem um den Verfassungskompromiß.

Der Forderung nach kulturellen Grundrechten mußte die Forderung nach sozialen Grundrechten auf den Fuß folgen. Es hatte ihn einige Überredungskunst gekostet, die Gewerkschaften von einem Verzicht auf die Aufnahme sozialer Grundrechte in das Grundgesetz zu überzeugen’’°. Das Argument, daß man keinen „Prunkbau für die Ewigkeit“ sondern einen „Notbau“ errichte, und daher die Ausarbeitung einer Sozialverfassung den späteren Schöpfern einer gesamtdeutschen Verfassung überlassen müsse’3′, war jetzt nicht mehr sehr zugkräftig. In der SPD-Fraktion wurden die kulturpolitischen Forderungen der Union als Auftakt zum „Kulturkampf“ gewertet’3?. Im Parteivorstand waren es nicht wenige, die nun die Aufnahme sozialer Grundrechte in das Grundgesetz verlangten. Schmid versuchte ihnen das auszureden. Eine Hereinnahme sozialer Grundrechte sei bei der gegenwärtigen Zusammensetzung des Parlamentarischen Rates nur in „verwässerter Form“ möglich. Im Bundesparlament seien die Chancen für die Durchsetzung sozialer Grundforderungen voraussichtlich weitaus besser. Im übrigen warnte er vor dem „Aberglauben“, durch eine Verfassung eine „bestimmte Wirklichkeit schaffen“ zu können’®3. Er war nicht von allem, was er sagte, überzeugt. Es waren Plattformargumente, um die Genossen im Parteivorstand von ihrer Forderung abzubringen.

Die Zahl der Gegner des Grundgesetzentwurfes im Parteivorstand wuchs. Die Nichtaufnahme der sozialen Grundrechte war nicht der Hauptgrund dafür, sondern die noch immer heftig umstrittene Ausgestaltung der Finanzverfassung und -verwaltung. Die Bayern wehrten sich noch immer mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die im Entwurf vorgesehene Finanzhoheit des Bundes und die Bundesfinanzverwaltung. Auch mehr Kompetenzen für den Bundesrat versuchten sie zu erfechten’3*. In der Parteivorstandssitzung Mitte Januar in Iserlohn standen die Zeichen auf Sturm. Eichler und Heine votierten für eine Ablehnung des Entwurfes, der zu viele Kompromisse enthalte. Auch Ollenhauer gingen die Kompromisse allmählich zu weit. In der Frage der Nichtgleichberechtigung der zweiten Kammer und der Bundesfinanzverwaltung seien keine weiteren Konzessionen mehr möglich. Selbst Menzel äußerte Kritik an den erzielten Ergebnissen. Mit dem Grundsatz, daß Bund und Länder eine getrennte Finanzwirtschaft führen, konnte er sich nur schwer abfinden’3S. So blieb es an Schmid, die Arbeit der Fraktion und die erzielten Kompromisse zu verteidigen. Er mahnte die prinzipientreuen Parteifreunde zu mehr Verantwortungsbewußtsein. Es sei besser, „in einem mit Hypotheken belasteten Haus zu wohnen als auf der Straße zu übernachten“ ‚3°. Schmids wortreiche Ausführungen vermochten die Parteifreunde nicht von der unabdingbaren Notwendigkeit eines Verfassungskompromisses zu überzeugen. Ollenhauer konnte seine ultimativen Forderungen zur offiziellen Parteilinie deklarieren‘?7. Schmid, der bei all seinem Mut zur Utopie, ohne den er nicht in die Politik gegangen wäre, ein Verantwortungsethiker war, bereitete die Intransigenz im eigenen Lager schwere Sorgen. Otto Künzel klagte er Mitte Januar: „Ich staune, wie leicht es sich manche Menschen machen, ohne Rücksicht auf Konsquenzen und Scherben den starken Mann zu spielen.“ ‚3® Nur der Landesvorstand der SPD-Südwürttemberg-Hohenzollern hatte sich demonstrativ hinter ihn gestellt“. Vielleicht half es, wenn der englische Verbindungsoffizier Chaput de Saintonge mit Kurt Schumacher sprach. Schmid bat ihn darum’,

Angesichts der Stimmungslage in der Partei hatte er den Genossen verschwiegen, daß der erste von den Besatzungsmächten ausgearbeitete Entwurf eines Besatzungsstatuts auf ihn einen niederschmetternden Eindruck gemacht hatte. Nach der ersten Einsicht konstatierte er betroffen, daß bei Inkrafttreten des vorliegenden Entwurfes die besatzungsrechtlichen Zustände in der amerikanischen Zone auf das Niveau der französischen Zone herabgedrückt würden’*‘. Das Interesse der Amerikaner an einer westdeutschen Regierung schien nicht mehr so groß zu sein wie noch vor einem halben Jahr. Am 25. Januar schrieb er völlig niederge- ‚schlagen seinem ehemaligen Schüler Georg Schwarzenberger: „Ich frage “mich manchmal, warum man denn sich so viel Mühe gibt, die Arbeit derer zu erschweren, die sich dafür verzehren, das deutsche Volk davon zu überzeugen, daß Demokratie nicht nur eine Verlegenheit ist, sondern eine erstrebenswerte Form zu leben ist. Ich bin seit dreieinhalb Jahren nicht mehr so hoffnungslos gewesen wie jetzt.“ ‚*” Es schien so, als ob sich die Geschichte Weimars wiederholen sollte. Schon regten sich wieder die ehemaligen Nationalsozialisten, die die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates als „Knechte der Sieger“ verunglimpften’*.

Der von ihm eingesehene Entwurf des Besatzungsstatutes lag auf einer Linie mit dem Ende Dezember erlassenen Ruhrstatut, das einer internationalen Ruhrbehörde, in der die Deutschen nur mit beratender Stimme vertreten waren, große Interventionsbefugnisse ließ. In Schmids Augen war das Ruhrstatut ein fast unüberwindliches Hindernis für die Gründung der von ihm befürworteten Montanunion’*#. Kurt Schumachers schroffe Aburteilung des Ruhrstatuts als „Kolonialstatut“ hatte das Verhältnis zwischen den Besatzungsmächten und der SPD noch mehr verschlechtert. Schmid bedauerte, daß das Wort in der Öffentlichkeit gefallen war’®.

Trotz der wenig ermutigenden Rahmenbedingungen wollte Schmid alles daran setzen, im Parlamentarischen Rat zu einem Verfassungskompromiß zu kommen. Als am 20. Januar der Hauptausschuß die 2. Lesung des Grundgesetzenwurfes beendete, war über die strittigen Punkte Anerkennung des Elternrechts, Befugnisse des Bundesrats und Bundesfinanzverwaltung noch immer keine Einigung erzielt. Es war eine Pattsituation entstanden. SPD und FDP plädierten für eine Bundesfinanzverwaltung und gegen die Aufnahme des Elternrechts in das Grundgesetz, CDU/CDU, DP und Zentrum kämpften für mehr Föderalismus und eine Anerkennung des Elternrechts. In der Frage der Länderkammer votierte die FDP für einen Bundesrat mit senatorialer Schleppe, wofür aber keine Durchsetzungschancen mehr bestanden’*. Alle Beteiligten waren sich einig, daß ein Kompromiß über die strittigen Materien, wenn überhaupt, nur auf der Basis interfraktioneller Besprechungen im kleinen Kreis zu erreichen war, denn in den öffentlichen Hauptausschußsitzungen konnte wegen der Wirkung auf die eigene Anhängerschaft es sich keiner der Kontrahenten leisten, Abstriche an den eigenen Grundsatzpositionen vorzunehmen.

Am 25./26. Januar hatte man sich zu ersten interfraktionellen Besprechungen getroffen, bei denen man aber nicht recht vom Fleck gekommen war. Für Schmid gab es kaum etwas ätzenderes als Diskussionen, die sich immer im Kreise drehten. Adenauer registrierte auf seiten der SPD „Zeichen von Ungeduld“ und schlug die Bildung eines Fünferausschusses vor’*. Schmid und Menzel für die SPD, Höpker-Aschoff für die FDP, Theophil Kaufmann und Brentano für die CDU/CSU sollten das schier Aussichtslose zustande bringen: den Verfassungskompromiß. Mit Menzel und Höpker-Aschoff waren zwei energische Vertreter einer Bundesfinanzverwaltung im Ausschuß vertreten. Schmid war in puncto Bundesfinanzverwaltung im Gegensatz zu Menzel zu Konzessionen bereit. Ihm lag mehr daran, zu verhindern, daß über die verfassungsrechtliche Anerkennung des Elternrechts die Bekenntnisschule zur Regelschule erklärt wurde. Nach zähen Verhandlungen, in die sich auch die Vertreter der Landesregierungen einschalteten, kam es am 3. Februar im Fünferausschuß zu einer Einigung, die zur Grundlage für den sogenannten Großen Kompromiß wurde. Die Christdemokraten, auch die Bayern, akzeptierten zähneknirschend die Einführung einer Bundesfinanzverwaltung. Für dieses Zugeständnis wurde ihnen eine erhebliche Ausweitung des Katalogs der Zustimmungsgesetzgebung konzediert, so daß der Bundesrat bei fast allen wichtigen Gesetzesmaterien ein Mitspracherecht hatte. Das Einspruchsrecht des Bundesrates wurde allerdings auf ein einfaches suspensives Vetorecht reduziert. Das Elternrecht wurde anerkannt, nicht aber das von den Christdemokraten postulierte Recht der Eltern „die Art der Schulerziehung zu bestimmen, die ihren Kindern zu gewähren ist“ ‚#, Die staatliche Schulaufsicht über das gesamte Schulwesen wurde ausdrücklich festgestellt’*,

Es war Schmid gelungen, das Hauptanliegen der Antragsteller, über die Hintertür des Elternrechts die Bekenntnisschule als Regelschule durchzusetzen, zurückzuweisen. Auch in der Konkordatsfrage wurde ein „dilatorischer Formelkompromiß“ gefunden’S°. Die SPD konnte zufrieden sein. Carlo Schmid hatte die Zügel an sich gerissen und mehr herausgeholt, als zu hoffen war. „Der Spiegel“ meinte, er habe „das Kunststück fertiggebracht, die Bonner Schaluppe ohne persönliche Krediteinbußen ans Ziel zu bringen“ ‚S‘. So war es nicht weiter erstaunlich, daß die Fraktion die Kompromißvorschläge einmütig billigte’5” Am 10. Februar wurde der Grundgesetzentwurf in 3. Lesung im Hauptausschuß verabschiedet. Alle Beteiligten waren offensichtlich froh, daß es doch noch zu einer Einigung gekommen war.

Freilich, die Zustimmung der Militärgouverneure stand noch aus. Der britische Verbindungsoffizier Chaput de Saintonge, mit dem sowohl Adenauer als auch Schmid am 7. Februar ein längeres Gespräch führten, bezweifelte, daß die Amerikaner und Franzosen der Bundesfinanzverwaltung ihre Zustimmung erteilen werden’°3. Doch ganz aussichtslos schien die Sache nicht zu sein. Chaput de Saintonge hatte Verhandlungsbereitschaft der Militärgouverneure signalisiert. Diesmal wußte Schmid Adenauer auf seiner Seite. Der Präsident des Parlamentarischen Rates war dafür, daß der Fünferausschuß eine kurze Zusammenfassung über den föderativen Charakter des Grundgesetzentwurfes ausarbeitete, den man den Militärgouverneuren bei nächster Gelegenheit unterbreiten wollte‘>*. “ Schmids Resignation war verflogen. Er war zum ersten Mal in diesem Jahr wieder optimistisch. Fast glücklich teilte er am 9. Februar Fritz Erler mit: „Wir sind in Bonn jetzt über dem Berg. Der Kompromiß zwischen den großen Parteien hat uns einen großen sachlichen und auch moralischen Erfolg gebracht. Freilich ist dies alles nicht von selbst gekommen; die Beteiligten haben ihre ganze Kraft hergeben müssen.“ ‚°? Der Parteienzwist, die wachsende Kritik in der eigenen Partei, der schleppende Verlauf der Verhandlungen und das Schreckgespenst eines Scheiterns hatten ihn arg aufgerieben. Ein „unverwüstlicher Falstaff“, wie die Journalisten ihm nachsagten’S°, war er nicht. Den spielte er nur. Manche Tage hatte er das Gefühl gehabt, „selbst zu einer bloßen Funktion des politischen Schaltmechanismus“ zu werden’S’. Immerhin: das ganze Mühen schien sich gelohnt zu haben. Das gab ihm wieder Auftrieb. Zunächst einmal stürzte er sich in den rheinischen Karneval, hielt Büttenreden und hatte sogar die Gelegenheit, seiner Schauspielleidenschaft zu frönen. Im Düsseldorfer Kom(m)ödchen, bei Kay und Lore Lorentz, wurden Chansons aus der Dreigroschenoper gespielt und gesungen. Schmid verschaffte sich eine Baskenmütze und einen Ringelpulli, heftete sich ein schwarzes Bärtchen an die Oberlippe, schlüpfte in die Ganovenrolle und spielte auf der Bühne mit’5®, Total erschöpft schlief er danach 20 Stunden ununterbrochen‘ 5?, Am 2. März erfolgte das böse Erwachen. Die Alliierten lehnten den Grundgesetzentwurf in der vorliegenden Form ab.

„Nachher weiß es jeder Idiot besser“: Der Parlamentarische Rat in der Krise

Das alliierte Memorandum vom 2. März übertraf Schmids schlimmste Befürchtungen. Die dort erhobenen Einwände gingen seiner Ansicht nach weit über die Monita des Aide-M&emoire vom November hinaus. Wie immer, wenn er verbittert war, machte er seinem Ärger in einem bissigen Sarkasmus Luft: Die Beschlüsse der Alliierten ähnelten seines Erachtens „in peinlicher Weise, denen der Beratungen von drei Chirurgen verschiedener Schulen, die sich weniger um den Kranken bekümmern als darum sich gegenseitig von der Wichtigkeit ihrer Prinzipien zu überzeugen. Sind sie soweit, dann hat sich der Operationstisch inzwischen in einen Seziertisch verwandelt“‘. Er hatte keine große Hoffnung, daß das Grundgesetz nach dieser Intervention noch verabschiedet werden könne. Es gebe eine „Grenze“, hinter die man nicht zurück kann, nicht aus „Doktrinarismus“, sondern weil man es nicht verantworten kann, „einer Verfassung zuzustimmen, die den Staat funktionsunfähig machen müßte“, Die alliierten Forderungen liefen nach seinem Dafürhalten auf eine völlige strukturelle Änderung des Verhältnisses Bund-Länder hinaus, durch die das „Grundgesetz als Ganzes einer tiefgreifenden Umarbeitung unterzogen“ werden müsse?. Zornig und enttäuscht konstatierte er, daß der Einspruch der Alliierten gegen die Vorranggesetzgebung des Bundes einer „gesetzgeberischen Balkanisierung“ Deutschlands Vorschub leiste#.

In dem Memorandum war vorgeschlagen worden, den Artikel über die Vorranggesetzgebung des Bundes mit einer Präambel zu versehen, durch die de facto für die aufgezählten Gesetzesmaterien eine Vorranggesetzgebung der Länder eingeführt worden wäre. Der Bund sollte das Recht der Gesetzgebung nur noch in den Fällen haben, „in denen es für ein einzelnes Land offenkundig unmöglich ist, eine wirksame Gesetzgebung auszuüben, oder wo seine Gesetze den Rechten oder Interessen anderer Länder zum Schaden gereichen würden“. Schroff abgelehnt wurde von den Alliierten der im Grundgesetzentwurf vorgesehene bundesstaatlich geregelte Finanzausgleich sowie die Bundesfinanzverwaltung. Das Gesetzgebungsrecht des Bundes sollte sich auf die Steuern beschränken, die er zur Dekkung seiner Aufgaben benötigte.

Nicht nur Schmid ging dieser von den Alliierten verordnete Föderalismus zu weit. Selbst der CDU-Abgeordnete Walter Strauß, ein prominentes Mitglied des stark föderalistisch eingestellten Ellwanger Kreises, fürchtete, daß die verlangte Neuorganisation des Finanzwesens die deutsche Wirtschaft „in die Zeit vor 1866 zurückwerfen“ werde®. Nur die Bayern begrüßten die Intervention. Der bayrische Ministerpräsident Ehard steckte mit den Alliierten unter einer Decke und beauftragte seinen Abgesandten Ringelmann in den interfraktionellen Beratungen die bayrische Position durchzusetzen’. Als Carlo Schmid auf einer späteren Historikertagung Ringelmann als „die eigentlich starke Figur aus Bayern“ bezeichnete, hatte man ihn in Verdacht, daß er wieder einmal eine Pointe habe landen woilen®. Doch in diesem Fall hatte er nicht übertrieben.

Wie sollte man auf das Memorandum reagieren? Zunächst einmal wurde auf Wunsch der CDU/CSU-Fraktion der Fünferausschuß durch die Aufnahme der Abgeordneten Brockmann vom Zentrum und Seebohm von der DP zu einem Siebenerausschuß erweitert. In einer interfraktionellen Aussprache am 3. März erklärte sich Schmid bereit, auf der Basis des „Großen Kompromisses“ im Siebenerausschuß mitzuarbeiten. Gleich nach Bekanntgabe des Memorandums hatte er sich gefragt, ob man „überhaupt noch mitmachen“ könne. Schon kurze Zeit später rang er sich zu der Einsicht durch, daß das „schlechteste Grundgesetz“ besser sei „als gar keines“?. Wenn die Alliierten allerdings nach dem Motto „Vogel frifß oder stirb“ auf den Forderungen ihres Memorandums beharrten, sah er keine Möglichkeit mehr, noch zu einem Verfassungskompromiß zu gelangen’°.

Vom 8.-ıo. März kam es zu zähen Verhandlungen zwischen dem Siebenerausschuß und den Verbindungsoffizieren, bei denen beide Seiten ihren Standpunkt entschieden verteidigten. Carlo Schmid, der sich nicht scheute, auf die zahlreichen Ungereimheiten des Memorandums aufmerksam zu machen, war Sprecher der Delegation“. Empört, wie er war, legte er sich keinerlei Zurückhaltung auf. Er äußerte offen Kritik an dem Memorandum, das fiel schärfer ausgefallen sei als das Aide-Memoire vom November. Waren sich die Alliierten bewußt über die Konsequenzen der von ihnen vorgeschlagenen Präambel zur Vorranggesetzgebung des Bundes? Glaubten sie etwa, daß sich die Flüchtlings-, Kriegsfolgelasten- und Reparationsprobleme auf Länderbasis regeln ließen? Das hessische Sozialisierungsgesetz sei suspendiert worden, weil die amerikanische Militärregierung die Auffassung vertreten hatte, daß die Sozialisierung Sache des Bundes sei. Jetzt deklariere man die Sozialisierung offensichtlich wieder zur Ländersache. Lief das letztendlich nicht auf eine Verhinderung der Sozialisierung hinaus? Schließlich wollte er wissen, ob es zumindest möglich sei, einige sehr wichtige Materien, die bisher unter die Vorranggesetzgebung des Bundes fielen, in den Katalog der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes aufzunehmen. Dies wurde ebenso schroff abgelehnt wie sein Vorschlag, die Präambel so umzuformulieren, daß dem Bund die Gesetzgebungskompetenz auch dann zustand, wenn der Zweck des Gesetzes nur durch Bundesgesetz erreicht oder die zur Frage stehende Materie „vernünftigerweise“ nur auf Bundesebene gelöst werden kann. Manche Antworten der Verbindungsoffiziere zeugten davon, daß sie sich wenig Gedanken über das Funktionieren der zukünftigen deutschen Verfassung gemacht hatten. Als Schmid fragte, was geschehen solle, wenn ein Land dem Bund die ihm zustehenden Steuererträge verweigere, bekam er zur Antwort, daß der Bund sich in diesem Falle an das Bundesverfassungsgericht oder an die Besatzungsmächte wenden könne. Schmid konterte: Die Alliierten könnten sich doch keine Verfassung wünschen, die nur mit ihrer Unterstützung funktioniere.

Sorge bereitete Schmid auch das in dem Memorandum ausgesprochene Verbot der Wählbarkeit von Beamten. Er versuchte den Verbindungsoffizieren klarzumachen, daß diese Verordnung dazu führen werde, daß aus dem zukünftigen Deutschen Bundestag ein Parlament der Verbandsvertreter werde. Ihm graute vor einer Herrschaft der Verbände, durch die Politik zum bloßen Interessenkampf degenerieren mußte. Insgeheim fürchtete er auch, daß bei einer Beibehaltung des Verbots die SPD nicht über genügend geeignete Bundestagskandidaten verfügte‘?. Der Gedanke, daß wie in alten Zeiten Parteifunktionäre und Gewerkschaftsvertreter die Politik der SPD-Fraktion bestimmten, schreckte ihn nicht wenig. Die Verbindungsoffiziere wiesen dagegen auf die Gefahr einer Verbeamtung des Parlaments hin.

Die Verhandlungen waren frustrierend. Fast immer ertönte das „Non“ des französischen Verbindungsoffiziers Jean Laloy. Der amerikanische Verbindungsoffizier Simons und Chaput de Saintonge waren verbindlicher. In der Sache waren auch sie nicht zu Konzessionen bereit. Die Woche darauf traf sich der Siebenerausschuß erneut mit den Verbindungsoffizieren. Bei dieser Gelegenheit versuchte Schmid auch Kontakt zu den Sachverständigen in den Verbindungsstäben aufzunehmen. Vielleicht würden sie weniger dogmatisch reagieren und den aufgeworfenen Problemen mehr Verständnis entgegenbringen. Er erörterte mit ihnen Fragen des Finanzwesens, obwohl dies eine Materie war, in der er so firm gar nicht war’°. Die Bilanz der Gespräche gab zu Hoffnungen keinen Anlaß. Schmid mußte resigniert feststellen, daß er bei all diesen Unterredungen so gut wie nichts erreicht hatte’*.

Weder mit Hartnäckigkeit noch mit Geschmeidigkeit kam man weiter. Der Siebenerausschuß überarbeitete die beanstandeten Artikel, machte aber in der Sache nur wenig Konzessionen. Am bundesstaatlich geregelten Finanzausgleich wurde ebenso festgehalten wie an der Bundesfinanzverwaltung. Statt von Vorranggesetzgebung des Bundes sprach man nun von konkurrierender Gesetzgebung. Die äußerst restriktiv gefaßte Präambel des alliierten Memorandums wurde durch eine dehnbare Klausel ersetzt. Dem Bund sollte das Recht der Gesetzgebung u.a. auch dann zustehen, „wenn die Wahrung der Rechtseinheit oder der Wirtschaftseinheit die Regelung durch ein Bundesgesetz erfordert“ ‚5. Die Vertreter der CDU/ CSU im Ausschuß hatten den alliierten Wünschen weiter entgegenkommen wollen, schreckten aber vor einem Platzen der Zusammenarbeit zurück. Am 18. März wurden die Vorschläge des Siebenerausschusses den alliierten Verbindungsoffizieren überreicht. Schmid nutzte die Gelegenheit, um noch einmal die Frage der Wählbarkeit der Beamten anzuschneiden. Er hatte mit seinem Plädoyer wenig Erfolg’‘. Große Hoffnungen machte er sich nicht. Er rechnete mit einer Ablehnung der Vorschläge, die am 25. März dann auch erfolgte.

Sollte man hart bleiben oder nachgeben? Der französische Verbindungsstab in Frankfurt berichtete am 26. März General Koenig voller Ingrimm, daß die SPD weiterhin „Herr der Situation“ sei. Die CDU werde das Grundgesetz nur mit Zustimmung der SPD verabschieden, weil sie sich nicht dem Odium aussetzen wolle, mit den Alliierten zu kollaborieren’’. Die Franzosen fürchteten, daß die Angelsachsen sich dem deutschen Druck beugen könnten. Schmid wußte von Chaput de Saintonge, daß die Briten kein Grundgesetz wünschten, das von der Sozialdemokratie abgelehnt wurde. Andererseits hatte General Koenig davor gewarnt, das Memorandum zu unterschätzen, das nicht nur den französischen Standpunkt wiedergebe. Der amerikanische Militärgouverneur teile die föderalistische Haltung der Franzosen’®. Clay, der verschworene Gegner der SPD, verfolgte wie die Franzosen eine harte Linie‘?. Schmid hatte erfahren, daß es einen „ernsthaften Plan“ gebe, eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen, die direkt, auf der Grundlage des Mehrheitswahlrechts gewählt werden sollte. Die Absicht des Plans lag auf der Hand. Man rechne ganz offensichtlich, berichtete er Mitte März Ollenhauer,, mit einer CDU-Mehrheit, „wodurch man die alliierten Interessen genügend gewahrt“ sehe”. Clay trug sich tatsächlich mit solchen Gedanken, weil er nichts so sehr fürchtete wie ein Nachgeben der Alliierten, das der SPD zu einem Triumph verhelfe*“.

Das Washingtoner State Department hatte bereits einen weitaus konzilianteren Kurs eingeschlagen. Weil man eine Verabschiedung des Grundgesetzes gegen die Stimmen der SPD für eine politische Katastrophe hielt, war man geneigt, den Kompromif des Siebener-Ausschusses zu akzeptieren?”. George F.Kennan, Protagonist der Eindämmungspolitik und Planungschef im State Department, hatte Schmid Ende März über den dortigen Meinungsumschwung unterrichtet. Die Amerikaner, so erfuhr Schmid, seien von ihrem „Reißbrettföderalismus“ abgerückt. Es bestünden gute Chancen, daß die Beschlüsse des Siebener-Ausschusses gebilligt würden?3. Der politische Windwechsel im State Department schien diesmal von Dauer zu sein. Der politische Einfluß Kennans, der nach seiner Reise durch Deutschland und dem Gespräch mit Schmid die Verantwortlichen in Washington beschwor, den Siebenerkompromiß zu akzeptieren”*, war offensichtlich größer als der Clays. Ganz sicher war sich Schmid freilich nicht, ob die Alliierten wirklich nachgeben würden. Er hörte, da er sich ständig um Informationen bemühte, so viel, daß er bald nicht mehr wußte, was er glauben sollte.

Die CDU/CSU, allen voran Adenauer, verschloß sich Schmids Hinweisen auf ein mögliches Nachgeben der Alliierten. Sie drängte darauf, den Besatzungsmächten die gewünschten Konzessionen zu machen und versuchte die SPD zum Einlenken zu bewegen”. Schmid wog die Risiken ab. Was war wahrscheinlicher und mehr zu fürchten: das Veto der Alliierten oder die Ablehnung des Grundgesetzes durch das deutsche Volk und die damit verbundene erneute Stigmatisierung deutscher Politiker als Erfüllungspolitiker??° Je ratloser er wurde, je mehr flüchtete er sich in nationales Pathos. In einer interfraktionellen Besprechung mit der CDU/CSU erklärte er, daß die Deutschen wieder einmal einen „Sieg gegenüber den Alliierten“ erringen müßten. Er’hatte es noch nicht recht ausgesprochen, da bereute er es schon. Die Formulierung sei ungeschickt gewesen, gab er ganz offen zu”. Solch unbesonnene Statements kosteten ihn, der besser Bescheid wußte als alle anderen, viel Autorität.

Als die Außenminister der drei Westmächte am s. April zu verstehen gaben, daß sie nicht daran dachten, von dem Märzmemorandum abzurücken, sank Schmids Hoffnung auf den Nullpunkt. Er wußte nicht ein noch aus. Ja, „nachher“ würde es „jeder Idiot“ besser wissen als er®. Am 7. April klagte er seinem Freund Walter Seuffert: „Wir stehen hier völlig in der Ausweglosigkeit und ich bin allmählich so weit, daß ich es für die beste Methode halte, an den Knöpfen abzuzählen, was man in der nächsten Stunde tun soll. Es ist schrecklich, wenn man alles mit sich alleine bereden muß und in dem anderen meist nur den besser wissenden Kritiker findet. Vielleicht gehörte dieser Satz nicht in den Brief, aber ich mußte mir einmal Luft machen.“

Die Kritiker aus den eigenen Reihen setzten Schmid arg zu. In einer Parteivorstandssitzung Mitte März in Köln war ihm vorgeworfen worden, daß er mehrfach Parteivorstandsbeschlüsse verletzt habe. Parteitheoretiker Eichler und Pressechef Heine ging Schmids Kompromißpolitik viel zu weit. Sie plädierten abermals für eine Ablehnung des Grundgesetzentwurfes?°, Intransigenz konnte sich leisten, wer nicht in Bonn am Verhandlungstisch saß. Schmid hatte in seiner Jugend selbst zu Intransigenz geneigt, aber gelernt, daß man mit Kompromissen weiter kam. Reuter und Brauer stellten sich hinter Schmid und empfahlen der Fraktion weiteres „hartnäckige(s) Verhandeln“ 3’, Schmid bat seinerseits die Ministerpräsidenten um Unterstützung. Sie sollten sich bei den Besatzungsmächten für eine Bundesfinanzverwaltung und einen bundesstaatlich geregelten Finanzausgleich einsetzen. Die Besatzungsmächte hätten es dann schwerer gehabt, sich als Verteidiger der Länderinteressen aufzuspielen. Die Kritiker waren im Parteivorstand in der Mehrzahl, wenn auch Ollenhauer, wieder einmal um Versöhnung bemüht, die Kritik nicht als Kritik an der Arbeit der Fraktion verstanden wissen wollte. Auch er gab unmißverständlich zu verstehen, daß weitere Kompromisse in der Sache nicht mehr möglich seien’?. Ollenhauers Auffassung wurde zur offiziellen Leitlinie für die Arbeit der Fraktion erklärt.

Auch die Fraktion stand nicht mehr einstimmig hinter ihrem Vorsitzenden. Zinn hatte dem Parteivorstand nahegelegt, den Grundgesetzentwurf abzulehnen. Der hessische Ministerpräsident entwickelte sich immer mehr zu einem Verteidiger der harten Linie des Parteivorstandes’3. Schmid war zu unentschieden, um Zinn offen entgegenzutreten. Fraktionszwang zu verhängen, lag dem Intellektuellen, der auf die Kraft des besseren Arguments vertraute, nicht. Manchmal wäre die Zuchtrute besser gewesen. Aber Schmid ging persönlichen Auseinandersetzungen, insbesondere mit Parteifreunden, wann immer er konnte, aus dem Weg. Immer öfter kam Ollenhauer nach Bonn, um die Fraktion auf die Parteilinie einzuschwören. Schmid habe sich in den „Schmollwinkel“ zurückgezogen, weil ihm Ollenhauer als Sprachrohr der Partei vorgezogen werde, konnte man in der „Süddeutschen Zeitung“ lesen?*. Die Gegensätze zwischen Parteivorstand und Fraktion, die Schmid später als „groß“ bezeichnete?, blieben auch der Presse nicht verborgen. Schmid versuchte sich unsichtbar zu machen. Interfraktionellen Aussprachen ging er aus dem Weg“, weil er fürchten mußte, daß seine Vereinbarungen im nachhinein desavouiert _ würden. Die SPD-Fraktion bot ein Bild völliger Konzeptionslosigkeit. Anfang April zog sie sich auf den Status des Beobachters zurück?’”. Man sprach davon, daß die SPD in drei Teile geteilt sei: „ein Kreis um Schumaeher, ‘ein Kreis um Schmid und der dritte Kreis, der beiden nicht traut.%3

Die „Fernlenkung“ aus Hannover, die Schmid offiziell dementierte und inoffiziell beklagte?®, nahm zu. Ende März meldete sich nach langer Krankheit Kurt Schumacher wieder zu Wort. In einem Interview mit einem ausländischen Korrespondenten lehnte er es, hart und schroff wie immer, ab, die alliierten Vorschläge zum „Bestandteil einer die deutschen Kräfte zusammenfassenden Verfassung“ zu machen, denn sie hätten „trennende und auflösende Wirkungen“ #. Schmid wurde das Interview, das er nicht einmal kannte, sofort um die Ohren gehauen. Die Christdemokraten versuchten, Schmid gegen Schumacher auszuspielen*‘. Das wußte man auch in Hannover. Schmid mußte sich von Schumacher sagen lassen, daß „mit einer Eiszone der Isolierung“ umgeben werde, „wer es unternehmen wollte gegen den Parteivorstand zu regieren – ob er wohl glaube, daß ein anderer als er, Kurt Schumacher, der SPD acht Millionen Wählerstimmen einbringen könnte.“ #

Auf der Parteivorstandssitzung am ı1. April in Godesberg hatte man die Entscheidung über die Bonner Verfassung vertagt. Kurt Schumacher wollte auf dem kleinen Parteitag in Hannover am 20. April einen Beschluß gegen das Grundgesetz herbeiführen. Die Auguren des „Spiegel“ verkündeten, daß die Sozialdemokraten die „verstümmelte Bonner Siebenmonatsgeburt“ bereits begraben hätten*. Schmid referierte in der Parteivorstandssitzung über das am 10. April von den Alliierten bekanntgegebene Besatzungsstatut, das weitaus besser ausgefallen war, als er dies nach der Einsicht in die ersten Entwürfe erwartet hatte. Das stärkte ihm etwas den Rücken. Er setzte durch, daß in einer Resolution das Besatzungsstatut als Fortschritt begrüßt wurde**. Immerhin war den von ihm erhobenen Forderungen großenteils Rechnung getragen worden, wenn auch nicht mit der „Präzision“, die er sich gewünscht hatte*°.

Am 14. April empfingen die Militärgouverneure in Frankfurt eine Delegation des Parlamentarischen Rates zu einer Aussprache über das Besatzungsstatut. Die FDP, die Adenauer noch immer mißtraute, hätte es am liebsten gesehen, wenn Schmid die Delegation geführt hätte“. Hinterrücks versuchte der Präsident des Parlamentarischen Rates auch diesmal wieder die Militärgouverneure zu Schiedsrichtern zu machen, was aber scheiterte*”. In der Beurteilung des Besatzungsstatuts gab es keinen Dissens zwischen Adenauer und Schmid. Beide gaben bei der Besprechung der Hoffnung Ausdruck, daß das Besatzungsstatut ein erster gewichtiger Schritt auf dem Weg zur deutschen Autonomie sei. Schmid bat um Aufklärung über einige unklar gebliebene Punkte*#, Clay drängte auf eine baldige Aussprache über das Grundgesetz. Schmid und Menzel nannten den 25. April als frühest möglichen. Termin, wenn ein gemeinsamer Vorschlag der Deutschen gewünscht würde“. Schmid hatte sich mittlerweile trotz aller Drohungen und Interventionen aus Hannover entschlossen, einen Verfassungskompromiß anzustreben und war dafür auch bereit, die Bundesfinanzverwaltung zu opfern°. Das so positiv ausgefallene Besatzungsstatut hatte ihm seine Entscheidung erheblich erleichtert. Außerdem hatte Robertson ihm am 10. April gesagt, daß das harte Veto der Militärgouverneure nicht das letzte Wort der Alliierten seis!.

Freilich, die Parteizentrale in Hannover konnte nicht einfach übergangen werden. Der kleine Parteitag mußte abgewartet werden. Der SPDFraktionsvorsitzende versuchte die Union für die knappe Woche bis zum 20. April zu einem Stillhalteabkommen zu bewegen’?. Der amerikanische Militärgouverneur hatte absichtlich auf einen frühen Termin gedrängt.

Am 8. April waren die drei westlichen Außenminister endgültig von ihrer harten kompromißlosen Haltung abgerückt. Den Militärgouverneuren war eine gegenüber dem Märzmemorandum weitaus konziliantere Note überreicht worden, deren Bekanntgabe Clay so lange wie möglich hinauszuzögern versuchte. Vielleicht würden die Sozialdemokraten noch vor Bekanntgabe der Note in die Knie gehen3. Bei der Unterredung am 14. April hatte er noch einmal die ihm von Schmid nahegelegten Beschlüsse des Siebener-Ausschusses brüsk zurückgewiesen.

Der britische Militärgouverneur Robertson hielt Clays Taktik für falsch‘*. Er kannte Schumacher besser als Clay. Der SPD-Parteivorsitzende ging, wenn es darauf ankam, auch mit dem Kopf durch die Wand. Nach dem offiziellen Empfang kam es noch zu einem Sechs-Augen-Gespräch zwischen Schmid, Menzel und Robertson. Daß es eine zweite, freundlichere Note gab, erfuhren die beiden nicht. Aber sie erhielten doch sehr deutliche Hinweise, daß die Alliierten bereit waren, in einigen strittigen Punkten Konzessionen zu machen. Was Robertson ihnen mitteilte, klang jedenfalls verbindlicher als alles, was sie bisher von Chaput de Saintonge und Kennan gehört hatten’. Ihr Dank an Robertson war herzlich, nicht weil sie sich durch dessen Mitteilungen zur Resistenz ermuntert fühlten – so wurde die Geschichte später verdreht – sondern weil sie eine Möglichkeit sahen, Kurt Schumacher doch noch zu einem Kompromiß überreden zu können. Auch Robertson war sich ziemlich sicher, daß die beiden alles daran setzen würden, um eine Einigung der Parteien herbeizuführen‘ ®.

Zwei Tage später suchten sie Kurt Schumacher in Hannover auf. Ollenhauer und Heine waren auch da. Man versammelte sich zu einer kleinen informellen Parteikonferenz, um den mit Spannung erwarteten, alles entscheidenden kleinen Parteitag vorzubereiten. Der Parteitag war das Thema Nr. ı aller Zeitungen. Nicht nur die Franzosen meinten da- _ mals, daß die Zukunft Deutschlands von der Entscheidung eines einzigen Mannes abhänge, der Kurt Schumachers’’. Der SPD-Vorsitzende hatte am s. April sowohl den Alliierten als auch dem „klerikalen Partikularismus“ der-CDU, der den französischen Wünschen entgegenkomme, den Kampf angesagt’. Schmid sah sich vor die schier unlösbare Aufgabe gestellt, Schumacher von seinem Kampfesentschluß wieder abzubringen. Er versuchte es auch diesmal mit der Taktik der Geschmeidigkeit, denn er kannte den Parteivorsitzenden: „opponierende() Genossen“ faßte er „auf das – Schärfste“ an und gab sie nicht selten dem „Hohne“ preis’. Er hatte es wohl schon selbst am eignen Leib erfahren müssen.

Mußte nicht auch Kurt Schumacher einsehen, daß es im Hinblick auf das wahrscheinliche Nachgeben der Alliierten ratsam war, dem Nein eın „bedingtes Ja“ anzuhängen? Er bemühte sich, unterstützt von Menzel, Schumacher von den Vorteilen eines solchen Vorgehens zu überzeugen”. Den wohlüberlegten Ausführungen des Bonner Fraktionsvorsitzenden scheint der Parteivorsitzende nur mit halbem Ohr zugehört zu haben. Bereits drei Monate später konnten sich weder er noch Heine an das Gespräch erinnern°‘. Für beide stand das Nein als nationale Kampfansage im Vordergrund. Als Carlo Schmid Hannover verließ, konnte er nicht sicher sein, daß Schumacher und die Mehrheit des kleinen Parteitages der von ihm vorgeschlagenen Taktik folgen werde. Wenigstens die Genossen in Südwürttemberg wollte er für seine Marschroute gewinnen. Noch am gleichen Tag erschien im parteieigenen „Württemberger“ ein Artikel von ihm mit dem programmatischen Titel: „Wir müssen zum Ende kommen.“ %

Gleich nach Ostern, einen Tag vor dem kleinen Parteitag, trat der Parteivorstand zusammen, um die wichtigsten Fragen vorab zu klären. Die Sitzung begann mit einer Kontroverse über den von Zinn und Menzel ausgearbeiteten verkürzten Grundgesetzentwurf. Schmid hielt sich zurück, übte wohl aus taktischen Überlegungen keine Kritik an dem Entwurf, an dessen Ausarbeitung er sich nicht beteiligt hatte. In dem Bemühen, die Anerkennung des Elternrechts wieder rückgängig zu machen, hatten Menzel und Zinn auch zahlreiche klassische Grundrechte gestrichen, für deren Aufnahme in das Grundgesetz sich Schmid zuvor im Ausschuß für Grundsatzfragen ausgesprochen hatte. Auch die Präambel war dem Rotstift zum Opfer gefallen“. Heuss spottete‘*

Der Mangoldt macht die Menschenrechte Der Menzel meint, sie sei’n nicht schlechte, Doch muß man mager sie massieren Damit sie auch bei Kurt passieren.

Kurt Schumacher konnte sich allerdings für den Entwurf zunächst überhaupt nicht begeistern. Er war ihm zu föderalistisch ausgefallen. Erst nach einigen Verbesserungen in „bezug auf die Finanz- und Wirtschaftseinheit Westdeutschlands“ stimmte er, nicht gerade überzeugt, der Einbringung des Entwurfs im Parlamentarischen Rat zus. Schmid war wohl noch weniger als Schumacher von dem Entwurf überzeugt. Aber er hatte gute Gründe, sich nicht gegen den Entwurf auszusprechen: Zinn und Menzel hatten in dem Entwurf auf die bisher von der SPD zäh verteidigte Forderung nach Einführung einer Bundesfinanzverwaltung verzichtet. Der Parteivorsitzende hatte sich mit diesem Opfer nur schwer abfinden können‘®. Schmids ganzes Bemühen war darauf gerichtet, den Beschluß des kleinen Parteitages so abzufassen, daß er den Weg für einen Kompromiß offenließ. An der Ausarbeitung der Resolution beteiligten sich außer ihm Schumacher, Ollenhauer, Henßler, Eichler und Zinn. Reuter und Kaisen, die zuvor Schmids Position unterstützt hatten, durften nicht mitausformulieren°”. Obwohl die Hardliner in der Überzahl waren, gelang es Schmid, dem schroffen Nein ein bedingtes Ja anzuhängen. Die SPD wollte sich an der Verabschiedung des Grundgesetzentwurfes beteiligen, wenn „die notwendige deutsche Entschlußfreiheit durch die Besatzungsmächte nicht weiter beeinträchtigt wird; der Grundgesetzentwurf auf das Notwendigste beschränkt wird; die die Volkssouveränität einengenden Vollmachten des Bundesrates entscheidend gemindert werden; die Erhaltung der deutschen Rechts- und Wirtschaftseinheit auf allen Gebieten, vor allem der Gesetzgebung, sichergestellt wird; eine Regelung im Finanzwesen getroffen wird, die dem Bund die Mittel und Möglichkeiten gibt, deren er zur Erfüllung seiner Aufgaben bedarf; endlich die Gleichartigkeit der Lebensverhältnisse in allen Teilen des Bundesstaates, insbesondere eine einheitliche Sozialordnung und ein angemessener Finanz- und Lastenausgleich gewährleistet wird.“

Die Forderungen waren weit weniger ultimativ, als sie zunächst erscheinen mögen. Die Formulierungen waren so gewählt, daß sie der Fraktion einen recht großen Handlungsspielraum ließen. Nicht ganz zu Unrecht nannte „Der Spiegel“ Schmid einen „Taktiker im Zwielicht“ %, Fritz Heine meinte dann auch verärgert, „daß diese Entschließung praktisch eine Verschiebung der Entscheidung bedeute“ 7°. Kaisen beantragte, der Fraktion „freie Hand“ zu geben, „das Beste herauszuholen“, denn die vorliegende Resolution „sage weder ja noch nein“ ”?‘. Das freilich konnte Schumacher nicht zulassen. Er war bestrebt, die Handlungsfreiheit der Fraktion einzuengen und ihr eine verbindliche Marschroute vorzuschreiben. So wehrte er sich vehement gegen den Antrag Kaisens, Reuters und Lüdemanns, die Schlußßdrohung zu streichen, wonach bei Nichterfüllung der oben genannten Forderungen die SPD das Grundgesetz ablehnen werde”. Mit Erstaunen stellte die Presse und auch Teile der CDU fest, daß Schmid nicht gekämpft habe’. Er war froh, daß die Resolution so abgefaßt werden konnte, daß im Grunde alles offen blieb. Nur die Presse sprach von einem Sieg Kurt Schumachers. Heinrich Troeger notierte in sein Tagebuch: „Die Auseinandersetzungen in Hannover bedeuteten eine Niederlage Schumachers, die nur Außenstehenden nicht klar erkennbar wurde.“?* Hätte Schmid den Parteivorsitzenden offen herausgefordert, wäre er bestimmt gescheitert. Der Parteiapparat stand hinter Schumacher. Schumachers Rede auf dem kleinen Parteitag war eine einzige Rüge für Schmid. Der Parteivorsitzende griff die Presse an, die die „staatsmännische Persönlichkeit“ gegen den Parteiapparat ausspiele, wobei der Staatsmann „immer derjenige“ sei, „der tut, was die anderen wollen“75. Schumacher mußte mit Ingrimm registrieren, daß die Presse auf der Seite seines Rivalen stand. Hohn und Spott vergoß Schumacher über die Deutschen, die „mit gebeugten Knien und gekrümmten Rücken“ mit den alliierten Verbindungsoffizieren über Gesetzesparagraphen und Verordnungen diskutierten?°. Statt Dank erhielt Schmid eine Ohrfeige für sein Bemühen, herauszuholen, was herauszuholen war. Für Schumacher bedeutete die Resolution den Sieg der „Frondeure innerhalb der Fraktion gegenüber den bisherigen Kompromissen“. Zynisch, mit einem Wortschatz, der an schlimme vergangene Zeiten erinnerte, erklärte er: „Und jetzt haben wir bei Klärung der Dinge – welch eine Wendung durch Gottes Fügung! – die Idee der Frondeure als geistiges Allgemeingut der Fraktion. Das wäre sehr gut, das wäre tatsächlich ein Boden, von dem aus wir operieren können.“ 7” Der Kompromiß des Siebener-Ausschusses enthielt ihm viel zu viele Zugeständnisse der SPD. Schmid schwieg. Offensichtlich war der Parteivorsitzende bestrebt, durch starke Worte seine Niederlage zu kaschieren. Schumacher behauptete den Führungsanspruch der Partei gegenüber der Fraktion. Abstriche an den Forderungen der Resolution wollte er ebensowenig dulden wie Änderungen des Zinn/Menzel-Entwurfs, den die anderen kommentarlos schlucken sollten. Die Einbringung des Gesetzentwurfes stilisierte er jetzt zu einer „Entscheidung der ganzen Partei, einer Entscheidung auf Tod und Leben. Da kann es keine Ermächtigung an eine Gruppe etwa geben, noch etwas zu ändern oder anders zu interpretieren.“ 7

Das klang apodiktisch und hätte Schmid die Hand gebunden, wenn er sie sich hätte binden lassen. Bei einer Pressekonferenz am Abend nahm er Schumachers Formulierungen etwas von ihrer Schärfe. Er wirkte abgespannt, war aber im großen und ganzen mit dem Verlauf des kleinen Parteitags zufrieden”?. Die Presse und die CDU/CSU wertete Schumachers Referat als „nationale Kampfansage“. Während in der Presse die Empörung über Schumacher überschwappte, las der politische Berater Clays Riddleberger die von der SPD verabschiedete Resolution aufmerksam und registrierte befriedigt, daß sie genügend Spielraum für ein Weiterverhandeln der Fraktion in Bonn ließ°°. Adenauer reagierte zunächst mit Entrüstung. Schumacher habe eine Kluft zwischen „Erfüllungspolitikern“ und „Patentnationalen“ aufgerissen. Er erwog, das Grundgesetz gegen die Süpmuen der SPD zusammen mit den Freien Demokraten zu verabschieden’‘.Schmid versuchte mit der CDU/CSU-Fraktion bereits einen Tag nach dem Beschluß von Hannover wieder ins Gespräch zu kommen. Die Christdemokraten waren, wie nicht anders zu erwarten, nicht gewillt, den Zinn/Menzel-Entwurf als Verhandlungsgrundlage zu akzeptieren. Schmid setzte sich kurzerhand über das Diktat von Hannover hinweg und erklärte sich einverstanden damit, daß der Entwurf den Mitgliedern des Hauptausschusses zunächst nur unverbindlich zur Information übersandt wurde. Der Entwurf sollte in Einzelanträge aufgelöst werden. Schmid hoffte wohl, daß im parlamentarischen Betrieb der Entwurf sang- und klanglos unter den Tisch fallen werde. Zinn, Katz und Grewe arbeiteten in Windeseile die Anträge aus, die dem Büro des parlamentarischen Rates über geben und dort auch vervielfältigt wurden. Im Einvernehmen mit Carlo Schmid ließ Adenauer sie aber nicht verteilen°?.

Schmid hatte in der Zwischenzeit einige überflüssige Neben- und Absätze in dem Entwurf des Siebenerausschusses, auf dessen Grundlage man weiterberaten wollte, weggestrichen. Inhaltlich hatte er nichts verändert. Noch mußte er ganz offen eingestehen, daß er keine Gewähr dafür übernehmen könne, daß die Fraktion einem „gentleman’s agreement“ zustimmen werde®3. Möglicherweise wäre er in einem Zweifrontenkampf mit dem Parteigegner und den Gegnern in der eigenen Partei und Fraktion zerrieben worden, wenn am Abend des 22. April die Militärgouverneure nicht die entschärfte Note der drei westlichen Außenminister vom 8. April bekanntgegeben hätten. Die SPD wurde durch die Veröffentlichung der Note vor einer möglichen Zerreißprobe gerettet. Das Triumphgeschrei, das einige Sozialdemokraten anstimmten, wäre besser nicht so laut ausgefallen, denn die CDU konterte sofort mit der Behauptung, die SPD habe von dem zweiten Memorandum gewußt und sich nur deshalb ein so hartes Nein leisten können. Das stellte die Dinge auf den Kopf. Schumachers Nein stand fest, noch ehe es die zweite Note gab. Es wäre schroffer ausgefallen, wenn Schmid und Menzel nicht aufgrund des mit Robertson geführten Gesprächs ein mögliches Nachgeben der Alliierten in Aussicht gestellt hätten. Robertson hatte Schmid und Menzel zu unterstützen versucht, nicht Kurt Schumacher°*.

Die Christdemokraten brauchten sich nicht düpiert zu fühlen. Schmid hatte sie von seinen Gesprächen mit Chaput de Saintonge und Kennan unterrichtet, aus denen er entnommen hatte, daß die drei Westmächte einen verständnisvolleren Kurs einschlugen. Adenauer hatte alle Hinweise des SPD-Fraktionsvorsitzenden in den Wind geschlagen, weil sie ihm nicht in sein politisches Konzept paßten®s. Hätte Schmid ihm von der Unterredung mit Robertson berichtet, hätte Adenauer dies für einen Bluff gehalten.

Schmid brach nicht in Triumphgeschrei aus und beteiligte sich auch nicht an der gegenseitigen Polemik, die die Bekanntgabe der Note überschattgte. Der Presse gegenüber äußerte er sich sehr zurückhaltend und besorinen: „Wenn ich das Schreiben richtig verstanden habe, so ist es liberaler als alles, was uns bisher gegeben wurde. Ich bin damit sehr zufrieden.“ 3° Keine Pointe, kein Pathos. Schmid ging es jetzt nur noch darum, möglichst schnell einen Verfassungskompromiß zustande zu bringen. Anlaß zum Triumphieren gab die Note auch gar nicht. Auch diese zweite freundlichere Botschaft der Alliierten zwang die SPD zu Konzessionen. Wie konnte Kurt Schumacher nur glauben, daß das jetzige Verhandlungsergebnis „unendlich besser als das Siebener-Kompromiß und nicht unbeträchtlich besser als das Fünfer-Kompromiß“ ausfallen werde?” Der SPD-Parteivorsitzende war überhaupt nicht im Bilde darüber, was im Parlamentarischen Rat lief. Als er sich so hoffnungsvoll und überschwenglich äußerte, hatte man in Bonn schon einen Kompromißentwurf vereinbart, der für die SPD keineswegs vorteilhafter war als die Vereinbarungen vom Februar. Schmid hatte die Verhandlungen durchgezogen, ohne Hannover zu informieren. Es waren auch nur zwei Tage Zeit für die Verhandlungen geblieben, da die Militärgouverneure am Montag, den 25. April einen ausgearbeiteten Kompromißvorschlag der Deutschen sehen wollten. Erst am späten Sonntagabend, nach zweitägigen ununterbrochenen interfraktionellen Verhandlungen hatte man eine Einigung erzielt. Wieder einmal hatte Schmid ein Wochenende in Bonn verbringen müssen. Er kam nur noch alle zwei bis drei Wochen nach Tübingen, so daß sich seine dortigen Verpflichtungen zu einem „schaurigen Klumpen“ zusammenballten®®.

Die größte Schwierigkeit bei den interfraktionellen Besprechungen bereitete die Neuregelung des Finanzwesens. Die auf der Grundlage der alliierten Forderungen vereinbarten Vorschläge waren so kompliziert, daß Carlo Schmid nicht übertrieb, als er feststellte, daß jedem Finanzkundigen, der sie las, die Haare zu Berg stehen mußten®®. Er erwog deshalb eine Kürzung der Finanzbestimmungen. Am besten wäre es, so meinte er, alles herauszulassen, was in ein Steuergesetz gehört”. Man einigte sich dann auch darauf, daß eine Neuregelung der Verteilung der der konkurrierenden Gesetzgebung unterliegenden Steuern auf Bund und Länder bis spätestens 31. Dezember 1952 erfolgen sollte?‘. Mit einer weiteren Kürzung der Finanzbestimmungen hätten sich die Militärgouverneure wohl kaum einverstanden erklärt. So entwickelte man ein duales Steuersystem. Die Steuern sollten von dem verwaltet werden, dem ihr Ertrag zufließt. Bei dem heftig umstrittenen Finanzausgleich fand man eine salomonische Lösung. Vorgesehen war sowohl ein horizontaler Finanzausgleich zwischen den Ländern als auch vertikale Zuwendungen des Bundes an die finanzschwachen Länder nach dem amerikanischen Vorbild der grantsin- aid?”. Als Kompensation für die weitgehenden Zugeständnisse, die die SPD bei der Regelung des Finanzwesens hatte machen müssen, wurden die Kompetenzen des Bundesrates beschnitten. Der Katalog der zustimmungspflichtigen Gesetze wurde stark zusammengestrichen.

Heftig umstritten war auch die in Artikel 7 vorgesehene Erteilung des Religionsunterrichts in Berufsschulen, der Schmid im Fünferausschuß zugestimmt hatte. In SPD-Kreisen war er deswegen arg getadelt worden. Er bat um eine Streichung des Absatzes, mit der sich die Christdemokraten widerwillig einverstanden erklärten?3, Die Tauschgeschäfte, bei denen alte Streitpunkte neu aufgerollt wurden, zehrten sichtlich an seinen Nerven. Der ausgehandelte Kompromiß blieb für alle unbefriedigend. Eine gemeinsame Erklärung wurde ausgearbeitet, die den Militärgouverneuren unmißverständlich zu verstehen gab, daß weitere Konzessionen für keine der Parteien mehr tragbar waren. Alle Parteien hatten sich, so die Erklärung, „unter Hintanstellung schwerer Bedenken“ um eine Verständigung bemüht, um die „Bildung einer neuen staatlichen Ordnung in Deutschland“ zu ermöglichen?*. Um einer neuen Dolchstoßlegende entgegenzutreten, unterzeichneten Lehr für die CDU, Schmid für die SPD und Dehler für die FDP eine „Ehrenerklärung“, in der sich die Parteien gegenseitig versicherten, „daß sie sich in ihren Entscheidungen ausschließlich durch deutsche, von fremden Einflüssen unabhängige Erwägungen (hatten) bestimmen lassen.“ Schmid hatte die Erklärung angeregt. Weimar war und blieb ein Trauma für ihn.

Die Militärgouverneure waren trotz der ulitmativ formulierten Erklärung nicht bereit, die deutschen Vorschläge widerspruchslos hinzunehmen. Die Zusammenkunft mit ihnen verlief noch einmal höchst dramatisch. Adenauer führte die 17-köpfige Delegation des Parlamentarischen Rates an. Schmid oblag es, die in den interfraktionellen Besprechungen ausgearbeiteten Vorschläge zu erläutern. Clay erhob Einspruch gegen das Gesetzgebungsrecht des Bundes zur Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit, durch das er die Eigenständigkeit der Länder gefährdet sah, und gegen einige Details des Finanzausgleichs. Schmid versuchte ihm diese Bedenken auszureden. Er verwies auf die Möglichkeit der Länder, bei einer mißbräuchlichen Anwendung des Artikels das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Clay lief sich zunächst durch die Ausführungen Schmids nicht überzeugen‘. Die Sitzung mußte unterbrochen werden.

„Schließlich kam es dann im Wege von Verhandlungen um sechs verschiedene Ecken herum nicht nur zu Kompromissen zwischen Deutschen, sondern auch zu Kompromissen unter den Alliierten, dann zwischen Deutschen und Alliierten, dann zwischen einer Ecke der Alliierten mit einer Ecke der Deutschen, was sich wiederum umsetzte auf die andere Ecke der Deutschen.“?7” Die Besprechung verlief tatsächlich so dramatisch, wie Schmid sie nachträglich schilderte. Der Finanzausgleich wurde noch etwas komplizierter geregelt, als er im Entwurf bereits schon geregelt war. Für den beanstandeten Artikel über das Gesetzgebungsrecht des Bundes’zur Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit fanden Katz und Robertson eine geniale englische Übersetzung, die auch von Clay akzeptiert wurde. Alles in allem hatte die deutsche Seite kaum noch Zugeständnisse machen müssen. Weniger Adenauers Diplomatie als Schmids hartnäckiges Verhandeln hatte die Zustimmung der drei Westmächte zum Grundgesetz möglich gemacht”. Am Ende der fast sechsstündigen Verhandlung sagte der politische Berater General Koenigs Sauvagnargues zu Schmid: „Sie haben einen ausgezeichneten Kampf geführt; Sie haben gewonnen.“ 9 Aber trotz allen Erfolgs: es war „schrecklich“ gewesen’”°. Die anderen Beteiligten hatten es vermutlich nicht anders empfunden als Schmid, auf dem die Hauptlast der Verhandlungen gelegen hatte. Allen war klar gewesen: Wenn die Verhandlungen scheiterten, mußte das Grundgesetz doch noch begraben werden.

Dem Wunsch der CDU/CSU-Fraktion, keine weiteren materiellen Anderungen am Grundgesetz mehr vorzunehmen, stimmte der SPD-Fraktionsvorsitzende sofort zu’. Er enthielt sich öffentlicher Kommentare über den Kompromiß. In der Partei schwelgte man noch in einem Siegestaumel und übersah daher, daß nicht alle Forderungen der von der SPD verabschiedeten Resolution erfüllt worden waren. Im Grunde hatte Schmid die „Fernlenkung“ aus Hannover recht gut zu konterkarieren gewußt. Jetzt brauchte er erst einmal Erholung. Am 27. April gastierte sein Freund Werner Finck in Bonn, dessen Vorstellung er auf keinen Fall versäumen wollte. Finck sparte nicht mit Attacken gegen die CDU und mit Lob für Schmid, der Gelegenheit hatte, sich zu erheben und dem Publikum für den begeisterten Beifall zu danken. Die Kabarettisten hatte der verkappte Kabarettist auf seiner Seite. Die Abgeordneten der Union wurmte das schrecklich’°. Sie konnten nicht zurückschlagen. Adenauer hatte die Maxime ausgegeben, Schmid nicht anzugreifen, um Schumacher nicht auf den Plan zu rufen’”%,

Die notwendig gewordenen redaktionellen Änderungen wurden am 5. Mai abgeschlossen. Noch einmal mußte sich Schmid, dem der große historische und philosophische Wurf viel mehr lag, mit Details abmühen. Zu großen Auseinandersetzungen kam es nicht mehr. Die vierte Lesung des Grundgesetzentwurfs im Hauptausschuß am s. Mai peitschte der Vorsitzende, der ein bewundernswertes Konzentrationsvermögen besaß, in einer über siebenstündigen Sitzung, die erst kurz vor Mitternacht endete, durch. Da alle fertig werden wollten, gab es kein Murren gegen Schmids straffe Zügelführung. Am Nachmittag des 6. Mai konnte mit der 2. Lesung im Plenum des Parlamentarischen Rates begonnen werden. Schmid eröffnete sie mit einem staatsrechtlichen Kolleg über den Grundgesetzentwurf, wobei er zugleich ein Bekenntnis zur deutschen Einheit und zu Europa abgab’°* Der SPD-Fraktionsvorsitzende hatte ein Gutteil dazu beigetragen, daß aus dem Grundgesetz ein großartiges lückenloses Verfassungswerk wurde. Jetzt mühte er sich darum, ihm das „Pathos“ einer Verfassung zu nehmen‘. Er deklarierte die Verfassung, die ihm so viel Schweiß und Nerven gekostet hatte, zum „Bauriß für einen Notbau“. Die eigentliche Verfassung bestehe „vorderhand in nichts anderem als in dem unerschütterlichen Willen aller Deutschen, trotz aller Schranken, die man zwischen ihnen aufgerichtet hat, sich als ein einziges Volk, als ein Staatsvolk zu fühlen“ ‚%, Schmid gestand sich wohl im stillen bereits ein, daß er am Grundriß für eine stabile westdeutsche Staatsordnung mitgearbeitet hatte. Aber wenn die deutsche Einheit jemals Wirklichkeit werden sollte, mußte ein gesamtdeutsches Nationalbewußtsein aufrechterhalten werden.

Im übrigen war er alles andere als stolz auf das Bonner Verfassungswerk. Wie die meisten seiner Abgeordnetenkollegen konnte auch er ihm „nur schweren Herzens“ zustimmen‘!”. Trotzdem wurde es am 8. Mai, dem Jahrestag der Kapitulation, mit großer Mehrheit verabschiedet. Am 12. Mai wurden Adenauer, Schmid und einige andere Mitglieder des Parlamentarischen Rates noch spät abends nach Frankfurt zitiert. Die Militärgouverneure teilten die Genehmigung des Grundgesetzes durch die Regierungen der drei Westmächte mit’®, Schmid ließ zu, daß Robertson das Grundgesetz eine Verfassung nannte. Er war froh, daß die Militärgouverneure nicht darauf drängten, das Grundgesetz zur Volksabstimmung zu stellen, wodurch sein Verfassungscharakter eindeutig unterstrichen worden wäre. Sie hatten sich schließlich widerwillig mit einer Zustimmung durch die Landtage begnügt.

Am 2ı. Mai, gerade von einer Besprechung mit Außenminister Schuman aus Paris zurückgekehrt, bat Schmid den Bebenhausener Landtag um Zustimmung zu dem Bonner Werk. Seine Rede war nüchtern, fast ohne Pathos. Sein Vorredner Paul Binder hatte die ganzen parteipolitischen Kontroversen des Parlamentarischen Rates noch einmal aufgerollt. Schmid machte keinen Hehl daraus, daß ihm der ganze parteipolitische Streit, diese ewige Polemik gegen die „Fernlenkung“ aus Hannover, der die „Fernlenkung“ aus München um nichts nachstand, zum Halse heraushing‘ ®. Am meisten hatte doch er unter dem „Bonner Händel“ zu leiden gehabt. Es geschah selten, daß er so offen sein Leiden an der Politik, genauer gesagt an der Parteipolitik, zugab. Die Christdemokraten Württemberg-Hohenzollerns drohten, das Grundgesetz abzulehnen, weil die Bekenntnisschule nicht verfassungsrechtlich verankert worden war. Schmid mahnte die „Herren von der CDU“, ihrem „Herzen einen Stoß“ zu geben. Man dürfe doch nicht sagen: „Ich will dieses Haus nicht haben, dessen Notwendigkeit ich einsehe und bejahe, nur weil mir das Sofa im Eßzimmer nicht gefällt.““° Die Lacher hatte er mal wieder auf seiner Seite. Schließlich glaubte man ihm, daß auch er seinem Herzen einen Stoß hatte geben müssen. Hatte er doch auf seine „Lieblingsidee“, die’ Errichtung eines Senats, verzichten müssen“‘. Der Intellektuelle und Visionär litt schwer unter den Kompromissen, die der Politiker eingehen mußste.

Mit Ausnahme der Bayern stimmten alle Landtage dem Grundgesetz zu. Schmid war nicht bereit, auf die bayrischen Wünsche Rücksicht zu nehmen, über die möglicherweise der mühsam erzielte Kompromiß noch einmal zerbrochen wäre“*. Bei gedämpftem Orgelspiel unterzeichneten am 23. Mai die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates mit Ausnahme der Kommunisten, die Minister- und Landtagspräsidenten das Grundgesetz. Kurz vor der Feier hatte Schmid angeordnet, Händel statt Haydn zu spielen. Haydns Kaiserquartett hätte nationale Erinnerungen und Erwar-

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tungen geweckt, die fehl am Platze waren“?. Bei der Unterzeichnung mochte es den meisten Verfassungsvätern wie Carlo Schmid gegangen sein: Sie mochten sie zu dem ihrer Meinung nach unvollkommenen Geschöpf nur ungern bekennen. Erst später wuchs der Stolz.

„Zum Herrschen geboren“: Die Hoffnungen des Sommers 1949

Spiegelausgabe ı2. März 1949: Auf dem Titelblatt das Löwenhaupt Carlo Schmids. Das vielgelesene Wochenmagazin hatte ihn zum Held der Titelgeschichte gewählt, die die Überschrift trug: „Zum Herrschen geboren.“ Im Frühjahr 1949 gab es zwei Männer, von denen damals fast alle glaubten, daß sie das Geschick der zukünftigen Bundesrepublik bestimmen würden: der Präsident des Parlamentarischen Rates Konrad Adenauer und der Tübinger Rechtsprofessor und Vorsitzende des Hauptausschusses Carlo Schmid. Gelegentlich wurde auch Kurt Schumacher genannt. Was den Bekanntheitsgrad anbelangte, war der SPD-Parteivorsitzende dem SPD-Landesvorsitzenden aus Südwürttemberg-Hohenzollern überlegen. Aber die meisten konnten sich nicht vorstellen, daß dieser kranke Mann die Bürde des Bundeskanzleramtes, nach dem er strebte, würde tragen können.

Schmid stand im Zenit seiner politischen Karriere. Wenn, wie damals viele prognostizierten, die SPD als Sieger aus den Wahlen hervorging, war er, sollte es zu einer Großen Koalition kommen, Aspirant Nr. ı für das Bundeskanzleramt. Schmid Bundeskanzler – Heuss Bundespräsident, so lauteten die voreiligen Spekulationen‘. In Frankreich wurden trotz der Hartnäckigkeit, mit der der SPD-Fraktionsvorsitzende die föderalistischen Vorstellungen der Franzosen bekämpft hatte, zahlreiche Stimmen laut, die sich einen Bundeskanzler Schmid wünschten. Adenauer, der alte Fuchs, war ihnen zu undurchsichtig”. Nur eine Minderheit meinte, Schmid wäre ein idealer Bundespräsident. Erst später galt er als der geborene Bundespräsident, wobei oft hinzugefügt wurde, daß er aufgrund seiner „sensiblen Geistigkeit“ wohl kaum den Anforderungen eines Bundeskanzlers gewachsen sei’.

1949 wäre keiner auf die Idee gekommen, ihm deswegen das Amt des Bundeskanzlers nicht zuzutrauen. Im Parlamentarischen Rat hatte er nicht nur seine hervorragenden staats- und völkerrechtlichen Kenntnisse unter Beweis gestellt, sondern sich auch als ein ausgezeichneter Diplomat und politischer Taktiker erwiesen. An Durchsetzungsvermögen hatte es ihm nicht gemangelt. Daß er kein Talent zur Administration habe, wurde später oft kolportiert. Wer den Tübinger Verwaltungschef kannte, weiß, wie Unrecht man ihm damit tat. Schmid betrieb Politik mit Leidenschaft, visionären Mut und Augenmaß. Er selbst sah sich zur politischen Führung berufen, weil er die Kleingeisterei des Parteienzwistes und ihren Gegenpart die bürokratische Sachzwangideologie überwinden wollte. Daß dies nur möglich war, wenn er der SPD seinen Willen aufzwingen konnte, war ihm durchaus klar. Vollmundig verkündete er, die SPD sei eine „alte brave Matka“, die auch ihn noch aushalten werde*. Aber hielt er auf die Dauer die „alte brave Matka“ aus, die von einem Kurt Schumacher autoritär geführt wurde, in der Verstöße gegen die Parteidisziplin mit äußerster Schärfe geahndet wurden?

Er war ein Fremdling in dieser Partei, in der sein großzügiger Lebensstil Anstoß erregte. Seine Selbststilisierungen, seine Freude am Geschichten erzählen, in denen Wahrheit und Dichtung eng miteinander verwoben waren, brachten ihm bald den Ruf ein, ein „Tartarin“ zu sein’. Das kostete ihn Autorität in der eigenen Partei, aber auch bei den Politikern der anderen Parteien. Die Kunst der freien Rede war seine große Stärke und seine große Schwäche. Allzu oft ließ er sich durch ein unbedachtes Bonmot hinreißen. Der Dichter und Visionär hatte den Ehrgeiz, die Geschicke der zukünftigen Bundesrepublik in seine Hand zu nehmen, aber er litt unter dem politischen Alltag, der der Phantasie und Kreativität wenig Raum ließ. Dieser Mann voll üppiger Kraft, der manchmal zur Selbstüberschätzung neigte, war ein Mann voller Melancholie und voller Selbstzweifel. Die Auseinandersetzungen und Querelen im Parlamentarischen Rat waren nicht Pe an ihm vorübergegangen. Im Frühjahr 1949 war er „physisch“ am Ende‘. Im Juni mußte er sich dem Willen der Ärzte beugen und sich für vier Wochen in ein Sanatorium nach Überlingen begeben. Dort wurde ihm, den man nur mit Zigarre im Mund und über und über mit Asche bekleckert kannte, sofort das Rauchen verboten. „Die Maschine scheint ziemlich lädiert zu sein.“ Ollenhauer, der schon an den Wahlkampf dachte, dürfte den Brief seines Parteifreundes aus Tübingen mit einigem Schrecken gelesen haben”.

Schmid schonte sich nicht. Mit dem Alten aus Rhöndorf konnte er es, trotz seiner angeschlagenen Gesundheit, jederzeit aufnehmen. Beliebter als der intrigante Präsident des Parlamentarischen Rates war er allemal. Er war zwar zu umstritten in der eigenen Partei, um Bundeskanzler einer reinen SPD-Regierung zu werden, aber als Kanzler einer Großen Koalition oder einer Allparteienregierung konnte man sich ihn allein schon seiner Kompromifsbereitschaft wegen bei all den Schwächen, die er zweifellos hatte, gut vorstellen.

Schmid selbst spekulierte allerdings nicht auf das Bundeskanzleramt. Er rechnete nicht wie die meisten seiner Parteifreunde mit einem Wahlsieg der SPD und so machte er sich auch keine sehr großen Hoffnungen auf das Bundeskanzleramt, ja er strebte es nicht einmal an. Realist, der er war, prognostizierte er auf einer Landesvorstandssitzung der SPD Südwürttembergs Ende Mai, daß die SPD im zukünftigen Bundestag wohl nur eine „starke Minderheit“ sein werde. 35-40 % der Stimmen sagte er voraus‘. Die Wahlchancen der kleinen Parteien schätzte er offensichtlich sehr gering ein.

Nicht nur seine für die SPD pessimistische Wahlprognose veranlaßte ihn dazu, die Losung auszugeben: Koalitionsbildung mit der CDU?. Schon bei der Wahlrechtsdebatte im Parlamentarischen Rat hatte er sich ganz eindeutig für die Bildung einer Großen Koalition ausgesprochen und war deshalb für ein modifiziertes Verhältniswahlsystem eingetreten, obwohl er prinzipiell ein Anhänger des Mehrheitswahlrechts war. Er fürchtete, daß bei den in Westdeutschland herrschenden sozialen und politischen Bedingungen die Einführung des Mehrheitswahlrechts „einen bitteren Kampf auf der sozialen Ebene“ zur Folge habe!°. In der Situation, in der sich Deutschland 1949 befand, konnte es seines Erachtens nur eine vernünftige politische Lösung geben: die Bildung einer nationalen Notgemeinschaft. Nur sie konnte verhindern, daß die regierende Partei nicht als „Besatzungspartei“ diffamiert wurde!!. Schmid sprach aus Erfahrung. Oft genug hatte man ihn einen „Mann der Franzosen“ gescholten. Ein zukünftiger Bundeskanzler, der nicht eine große Mehrheit hinter sich hatte, würde bald als Kanzler der Alliierten apostrophiert werden. Wieder einmal sah Schmid weise voraus, was kommen mußte. Daß Adenauer gezielt auf eine Kleine Koalition zusteuerte, dürfte ihm nicht entgangen sein. Hatte der Alte doch schon im Parlamentarischen Rat unermüdlich für die Möglichkeit von Listenverbindungen gekämpft‘?. Vermutlich hielt Schmid die Kräfte, die eine Große Koalition wollten, für stärker als die Gegenkräfte, zumal auch die Besatzungsmächte einer Großen Koalition zuneigten

Natürlich verband er sein Eintreten für eine Große Koalition auch mit der Spekulation auf ein Ministeramt. Sein Plädoyer für die Einrichtung eines Ministeriums für Besatzungsfragen fiel so beredt aus, weil er dabei an seine eigene politische Zukunft dachte. Zwei Gründe nannte er für dessen Institutionalisierung: Eine Zusammenfassung aller mit der Besatzung zusammenhängenden Fragen in einem Ministerium sei unbedingt geboten; ein solches Ministerium sei die Vorstufe und Vorschule für ein zukünftiges Außenministerium. Ohne eine solche Vorschule würde man Gefahr laufen, daß die Beamten der Wilhelmstraße in einem zukünftigen Aufßenministerium wieder die Stellen besetzten’3. Der zukünftige Besatzungsminister hätte über eine ungeheure Machtfülle verfügt. Er hätte den Zugang zu den drei Hohen Kommissaren gehabt und damit zu den Machthabern. Daß für dieses Amt nur Carlo Schmid in Frage kam, stand außer Zweifel. Keiner war für diese Aufgabe so qualifiziert wie er. Mangelndes Machtbewußtsein sagte Schmid 1949 niemand nach.

Bei seinen Parteifreunden stieß er mit seinem Vorschlag auf wenig Gegenliebe. Der außenpolitische Referent beim Parteivorstand Gerhard Lütkens optierte für ein Staatssekretariat für Besatzungsfragen im Bundeskanzleramt. Auch Lütkens hatte Hinterabsichten. Das Format zur Bekleidung eines Ministeramtes fehlte ihm. Aber ein tüchtiger Staatssekretär unter einem Kanzler Kurt Schumacher hätte er durchaus werden können. Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion im Wirtschaftsrat Herbert Kriedemann träumte davon, Außenhandelsminister zu werden, und forderte daher die Einrichtung eines Außenhandelsministeriums’*. Lütkens konnte sich mit seinem Vorschlag innerhalb der Partei durchsetzen. Die Begründung für die Ablehnung des von Schmid anvisierten Ministeriums für Besatzungsfragen war bezeichnend: „Ein Ministe, welcher alle diese Fragen nicht nur außen-, sondern gleichzeitig innenpolitischen Charakters zusammenfaßte, wäre, wenn nicht stärker als der Kanzler, zumindest der Thronprätendent in der Regierung.“ ‚5 In den- Führungszirkeln der SPD rechnete man mit einem Kanzler Kurt Schumacher, der seinen mächtigen Rivalen möglichst kleinhalten wollte. Auf keinen Fall sollte ihm ein Sprungbrett in das Kanzleramt geschaffen werden. Nein, leicht wurde ihm der innerparteiliche Aufstieg wirklich nicht gemacht.

Die Chancen für die Einrichtung eines Ministeriums für Besatzungsfragen standen im Sommer 1949 mehr als schlecht. In der CDU hatte der Oberdirektor des Wirtschaftsrates Pünder einen ähnlich aussichtslosen Kampf geführt wie Schmid in der SPD’°. Schmid mochte sich trösten. Die letzte Entscheidung über die Einrichtung von Ministerien würde erst in den Koalitionsverhandlungen fallen. Die Presse stand hinter ihm. Nicht nur als zukünftiger Bundeskanzler war er im Gespräch, sondern auch als zukünftiger Außenminister wurde er bereits gehandelt’”.

Nach Abschluß der Arbeiten im Parlamentarischen Rat setzte er sein außen- und europapolitisches Engagement mit unverminderter Energie fort. Mitte Mai hatte er in Paris Gelegenheit, politische Kontakte zu knüpfen und die Chancen für die Durchsetzbarkeit seiner außenpolitischen Pläne zu erkunden. Die Landesregierung Württemberg-Hohenzollerns war zu einem Gespräch mit Regierungsvertretern in das französische Nachbarland eingeladen worden. Gebhard Müller wäre gern ohne seinen dominanten Stellvertreter gereist, der das Gespräch immer sofort an sich riß. Die Franzosen waren aber lediglich bereit, ihm ein Vier-Augen- Gespräch zuzusichern, nicht aber Schmid auszuladen. Müller kam trotzdem mit hängenden Ohren zurück. Seine dicken Aktenunterlagen hatten seine französischen Gesprächspartner nicht sonderlich interessiert‘ ®. Schmid war zufrieden mit dem Ergebnis der Besprechungen. Er wußte, was bei solchen Treffen zu erreichen war und was nicht. Er hatte den Besuch dazu genutzt, um mit dem französischen Außenminister Robert Schuman, dem Generalkommissar für deutsche Angelegenheiten Alain Poher und den beiden führenden Sozialisten Leon Blum und Andre Philip Gedanken über die Zukunft Europas auszutauschen. Die Gespräche waren in einer sehr herzlichen Atmosphäre verlaufen‘?. Das war gar nicht so selbstverständlich, wie man zunächst denken mag. Die Auseinandersetzungen um das Ruhrstatut, insbesondere die heftigen Attakken Schumachers gegen das Ruhrstatut, hatten das Verhältnis zwischen der SPD und dem französischen Nachbar auf einen Tiefpunkt sinken lassen.

Bereits im März hatte Schmid in einem Aufsatz über das deutsch-französische Verhältnis und Europa den angerichteten Schaden wieder zu reparieren versucht. Er verteidigte die Ablehnung des Ruhrstatuts, das ein „Hemmschuh auf dem Wege Europas“ sei?°. Zugleich gab er aber unumwunden zu, dafs das Bedürfnis der Franzosen nach Sicherheit legitim sei und die Deutschen nicht vergessen durften, daß sie „vorzuleisten“ hatten. Er zeigte Verständnis für die Ängste und Vorurteile der Franzosen gegenüber den Deutschen. Seine deutschen Landsleute mahnte er, daß die Franzosen erst dann vergessen könnten, „wenn sie genau wissen, daß wir Deutschen nicht vergessen, warum es so kommen konnte“ !, Der Baudelaire- Übersetzer wußte um die Zählebigkeit von Ressentiments. Er war davon überzeugt, daß die Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen „nur das Produkt Europas und nicht die Voraussetzung Europas sein“ könne?*. Die Franzosen forderten die europäische Integration als Preis für ihre Zustimmung zum Wiederaufbau und -aufstieg Westdeutschlands, das zudem Vorleistungen zu erbringen hatte. Schmid war bereit, diesen Preis zu zahlen. General Koenig schrieb er vor dessen Abschied aus Deutschland, daß man trotz aller Differenzen doch in einem Punkt übereinstimme: „Europa so schnell wie möglich herzustellen.“ 23

Trotz seiner ruinierten Gesundheit war er seit Ende Mai wieder in unermüdlichem Einsatz in der Europabewegung tätig. Auf dem ersten Kongreß der elf deutschen Landesverbände der Europa-Union in Hamburg wurde er am 22. Mai in absentia zum Vizepräsidenten gewählt. Eugen Kogon, Politikwissenschaftler und Herausgeber der „Frankfurter Hefte“, war das Präsidentenamt übertragen worden. Um parteipolitische Parität zu wahren, erhielt auch der CDU-Politiker Carl Spiecker, seit 1949 Minister in Nordrhein-Westfalen, ein Vizepräsidentenamt. Auf dem Kongreßß war eine Resolution verabschiedet worden, in der u.a. die baldige uneingeschränkte Teilnahme Deutschlands am Europarat gefordert wurde**. Carlo Schmid dankte Kogon für das in ihn gesetzte Vertrauen und versprach, das Amt „sehr ernst zu nehmen“ 5. Das war keine bloße Höflichkeitsformel. Er wollte das Amt tatsächlich dazu nutzen, um in Sachen Europa initiativ zu werden. Die SPD sollte nicht länger der Europabewegung hinterherhinken, sondern ihr vorangehen. Es war nicht leicht, den Parteivorstand davon zu überzeugen, daß die SPD aktiv in der Europabewegung mitarbeiten mußte. Distanz überwog dort noch immer“. Noch dreißig Jahre später erinnerte sich Schmid, daß einige Sozialisten „ein kapitalistisches und gar klerikales Europa wie die Pest“ fürchteten?”. Die Genossen im Südwesten, die mehr auf ihn hörten als der Parteivorstand, rief er dazu auf, „in die Europa-Union hineinzugehen, um Stellungen zu erobern und sich durchzusetzen“ *®

Am 13. Juni konstituierte sich in Wiesbaden der Deutsche Rat der Europäischen Bewegung. Die Gründung nationaler Räte war von dem Schwiegersohn Churchills Duncan Sandys angeregt worden, der hoffte, aus der Europabewegung eine Massenbewegung machen zu können. In Westdeutschland freilich war daran nicht zu denken. Umfrageergebnisse zeigten, daß in der Bevölkerung noch immer die Befürworter eines unabhängigen Nationalstaates dominierten”. Um so notwendiger war es, die Europa-Idee populär zu machen. Paul Löbe, vor 1933 ein prominentes Mitglied der Pan-Europa-Bewegung Coudenhove-Kalergis, hatte das Präsidentenamt im Deutschen Rat der Europäischen Bewegung übernommen.

Carlo Schmid hielt auf der blumengeschmückten Bühne des Wiesbadener Staatstheaters das Hauptreferat, in dessen Zentrum eine befürwortende, wenn auch kritische Stellungnahme zu dem eben erst ins Leben gerufenen Europarat stand. Er führte aus, daf® der Europarat nur ein erster Schritt auf dem Weg nach Europa sei. Ziel der europäischen Bewegung könne nicht ein Europa „souverän bleibender Staaten“, sondern nur ein europäischer Bundesstaat sein: „Wenn Europa wirklich die Funktionen soll erfüllen können, die erfüllt werden müssen, wenn die europäischen Völker nicht zugrunde gehen sollen, dann genügt ein Organ für die Koordination nationaler Interessen nicht. Dann wird man schon eine echte politische, ökonomische und konstitutionelle Einheit schaffen müssen.“3 ° Europa dürfe nicht auf Westeuropa beschränkt bleiben, es müsse auch den Osten miteinschließen. Das war eine Zukunftsvision, an der Schmid sein ganzes Leben festhalten sollte. In praktische Realität war sie vorläufig nicht umzusetzen. Schmid unterstrich ausdrücklich, daß nur ein Europa erstrebenswert sei, in dem die „Freiheit der Einzelperson, die politische Freiheit, die Herrschaft des Rechts und die soziale Gerechtigkeit“ garantiert war?‘. Er erwog, ob der Beitritt Westdeutschlands in den Europarat die Spaltung Deutschlands vertiefe, plädierte aber wohl nicht zuletzt angesichts des Scheiterns der Pariser Außenministerkonferenz dann doch für eine Mitgliedschaft Westdeutschlands in der Konsultativversammlung des Europarats. Am Ministerrat könne sich Deutschland nicht beteiligen, da es nicht in der Lage sei, eine eigenständige verantwortliche Außenpolitik zu betreiben??.

Schmids Ausführungen fanden allgemeine Zustimmung. Eine Resolution wurde verabschiedet, nach der die deutschen Abgeordneten für den Straßburger Europarat erst nach Anhören des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung gewählt werden sollten. Das war eine ziemlich unrealistische Forderung, denn damit wäre das Prinzip der Souveränität des nationalen Parlaments durchbrochen worden??.

Schmid hielt nichts von blinder Europabegeisterung. Nicht selten hatte er den Eindruck, daß die Europabewegung ein „neuer Jahrmarkt der Eitelkeit“ sei’*. Er erstrebte eine enge Verbindung der Europabewegung mit den Trägern der politischen Macht. Europa durfte keine Spielwiese der Intellektuellen bleiben, sondern mußte die Realien der Politik bestimmen. Zusammen mit Carl Spiecker nahm Schmid vier Tage nach der Konstituierung des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung an der gemeinsamen Tagung des Exekutivkomitees und der gerade erst gebildeten parlamentarischen Sektion der Europäischen Bewegung in Versailles teil. Beide hatten sich in aller Bescheidenheit mit der Beobachterrolle begnügen wollen, wurden dann aber insbesondere von den Engländern gebeten, sich als vollberechtigte Mitglieder an der Tagung zu beteiligen. Schmid wurde vom Exekutivkomitee der internationalen Europabewegung zu einem der Vizepräsidenten der internationalen Parlamentariergruppe gewählt’,

Der Kongreß diente der Vorbereitung der ersten Sitzung der Konsultativversammlung des Europarates im August 1949. Carlo Schmid war mutig. Er handelte wie ein Außenminister in spe. Am 19. Juni unterzeichnete er die vom Kongreß verabschiedeten Empfehlungen an den Ministerrat, in denen u. a. befürwortet wurde, die Bundesrepublik als assoziiertes Mitglied nach Straßburg einzuladen. Die Deutschen sollten zunächst nur Sitz und Stimme in der Konsultativversammlung haben. Die übrigen Konferenzteilnehmer hatten für die von Schmid verlangte Selbstbeschränkung der Deutschen Verständnis gezeigt‘. Für ihn bedeutete es eine Ermutigung, dat die Vertreter der europäischen Nachbarländer den Antrag gestellt hatten, die Deutschen in den Europarat aufzunehmen?7.

Für Schmid gab es keine Alternative zu einer Politik der Westintegration. Bei den Besprechungen des Frankfurter Konsultativrates mit den Militärgouverneuren am 8. und 16. Juli hatte er seine Befriedigung darüber zum Ausdruck gebracht, daß die Westalliierten auf der Pariser Konferenz die Prinzipien der Demokratie verteidigt und keiner Einigung „um jeden Preis“ zugestimmt hatten?“. Verhandlungen mit den „sogenannten Vertretern der Ostzone“, die „nicht das geringste demokratische Mandat“ hatten, lehnte er auf das Entschiedenste ab. Selbst wirtschaftliche Vereinbarungen schloß er aus, denn sie kämen am Ende nur der Sowjetunion zugute’?. Momentan konnte man nur den Weg der Westintegration gehen. Die europäische Einheit blieb eine ständige Aufgabe, aber ihre Lösung war so schwierig wie die der Quadratur des Kreises.

Sofort nach seiner Rückkehr aus Versailles unterrichtete er Kurt Schumacher über den Verlauf der Tagung. Der Parteivorsitzende mußte von der Notwendigkeit einer deutschen Beteiligung am Europarat erst noch überzeugt werden. Schmid versicherte ihm, daß es auf der Konferenz „keinerlei Ressentiments“ gegen die Deutschen gegeben habe. Überall habe die Überzeugung bestanden, „daß man die Deutschen dabei haben muß“ *. Dann mußte sich Kurt Schumacher auch noch Kritik gefallen lassen. Nach der Tagung, so berichtete Schmid dem SPD-Parteivorsitzenden, habe eine Reihe von Delegierten ihm gesagt, daß es „allgemein günstig“ aufgenommen worden sei, daß die Deutschen „nicht mit einem Gleichberechtigungsgeschrei begonnen hatten“*‘. Kurt Schumacher, für den die deutsche Gleichberechtigung eine unverzichtbare Forderung war, _ mußte sich getroffen fühlen. Eine unmittelbare Antwort blieb anscheinend aus.

Eine Stunde nach dem Diktat des Briefes an Schumacher fuhr Schmid endlich nach Überlingen in die Kur, die er aber trotz Verbots der Ärzte einige”Male unterbrach. Bei wichtigen Besprechungen wie denen des Frankfurter Konsultativrates glaubte er, nicht fehlen zu dürfen. Er hegte wohl die Befürchtung, daß, wenn er fernbleibe, schreckliche Dummheiten fabriziert und möglicherweise Entscheidungen getroffen würden, die seinen eigenen Plänen widersprachen. Solche Sorgen trieben ihn fast immer um. Deshalb konnte er auch keine Aufgabe und kein Amt ausschlagen, ‘ das ihm angeboten wurde. Auch der Wahlkampf, dessen heiße Phase schon begonnen hatte, ließ ihn nicht ruhen. Er lag auf dem Bett und dachte sich Wahlkampfparolen aus*’.

Im Landesvorstand der SPD-Südwürttemberg war bereits Ende Mai über die zukünftige Wahlkampfführung diskutiert worden. Wichtiger als die Ausarbeitung einer Wahlkampfstrategie war für Schmid die Kandidatenaufstellung. Eindringlich mahnte er die Genossen, daß bei der Kandidatenaufstellung die „Persönlichkeit“ und nicht das „Parteidienstalter“ die erste Rolle spielen müsse. Bei der Durchsetzung von Gesetzentwürfen sei „besseres Wissen, stärkere Stetigkeit, persönliches Volumen“ entscheidend. Beharrlich verteidigte er die Kandidatur seines Freundes Victor Renner, auf dessen Mitarbeit in der zukünftigen SPD-Bundestagsfraktion nicht verzichtet werden könne, da die SPD im Gegensatz zur CDU nicht über genügend qualifizierte Juristen verfüge*. Hinsichtlich der Richtlinien zur Kandidatenaufstellung waren sich Schmid und Kurt Schumacher völlig einig. Auch der Parteivorstand hatte in einer im Mai verabschiedeten Resolution betont, daß keine „Mandate als Belohnung für in der Vergangenheit geleistete Arbeit“ vergeben werden sollten**.

Kurt Schumacher drängte auf eine Kandidatur Schmids in Mannheim. Dort brauchte man ein Zugpferd. Bei der letzten Gemeinderatswahl hatten die Kommunisten 18% der Stimmen gewonnen. Ob der „bürgerliche Sozialist“ Schmid der richtige war, um den Kommunisten die Wähler abzujagen? Die Arbeiter der nordbadischen Industriestadt waren für dessen Volksparteikurs wohl kaum empfänglich. Schmid gehorchte der Parteiräson und entschloß sich schweren Herzens, nicht in seiner schwäbischen Heimat, sondern im Badischen zu kandidieren#5. Mannheims Bürgermeister Jakob Trumpfheller hatte ihm gut zugeredet. Eine Kandidatur des SPD-Landesvorsitzenden Württemberg-Hohenzollerns im Badischen würde die Südweststaatsbildung außerordentlich fördern*°. Das war ein Argument, dem sich Schmid, der ein eifriger Propagandist des Südweststaates war, kaum verschließen konnte.

Wahlkämpfe waren für Schmid ein Greuel. Er wollte seinen Wahlkampf so sachlich wie möglich führen. Der Wähler sollte nicht nur „einige Allgemeinheiten vorgesetzt bekommen“, sondern erfahren, wie die Partei die „konkreten Probleme“ der nächsten Jahre anzupacken gedachte*”. Auf dem Flugblatt, das er für den Unterbezirk Mannheim entwarf, entwickelte er eine Art Aktionsprogramm. Nachdem die CDU Ludwig Erhard als Wahllokomotive eingesetzt hatte, kam alles darauf an, dessen Nimbus als Vater der sozialen Marktwirtschaft zu zerstören. Schmid machte sich zum Anwalt des kleinen Mannes: „Der Block der bürgerlichen Parteien möchte den reichen Mann schonen und den armen bezahlen lassen“, lautete | die zentrale Parole seines Wahlkampfflugblattes*°. Das klang sehr gemäßigt im Vergleich zu den Klassenkampfparolen der SPD-Parteiführung in Hannover. Er hatte sich um einfache gängige Formulierungen bemüht, die weitaus weniger akademisch waren als die der Parteiführung. Der elitäre Professor hatte dem Volk aufs Maul geschaut.

Obwohl ihn selbst außen- und deutschlandpolitische Fragen viel mehr umtrieben, thematisierte er sie im Wahlkampf kaum. Nur im Rundfunk hielt er einmal eine Wahlrede mit dem programmatischen Titel: „Das ganze Deutschland soll es sein.“ * Da er auf eine Große Koalition zusteuerte, verzichtete er auf scharfe Attacken gegenüber dem Parteigegner. Seine programmatischen Forderungen waren zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Lohnabhängigen und sozial Schwachen. Sozialer Lastenausgleich, sozialer Wohnungsbau, Beseitigung der Arbeitslosigkeit, planmäßige Lenkung der Rohstoffe und Kredite, Verstaatlichung der Schlüssel- und Grundstoffindustrien standen in seinem Programmkatalog ganz obenan. Das Interesse der SPD an einer Zusammenarbeit mit den Kirchen wurde von ihm ausdrücklich betont“.

Mit diesem Wahlprogramm zog er vom 2o. Juli bis 13. August landauf, landab zwischen Bodensee und Ostsee, um auf rund 4o Wahlkundgebungen um Stimmen zu werben. Sonntags machte er in Mannheim Hausbesuche, um den persönlichen Kontakt zu den Wählern herzustellen. Er gab sich staatsmännisch moderat, mehr volkstümlich als professoral. Den linken Flügel der CDU galt es, zu umgarnen. Seine Strategie wurde durchkreuzt. Adenauer und Schumacher überboten sich gegenseitig an Diffamierungen, Schmähungen und Unterstellungen. Der Parteivorsitzende der SPD nannte die CDU einen „zusammengelaufenen Haufen“, bezichtigte sie der „Murkserei“ und feierte abermals das Grundgesetz als einen Sieg der SPDS‘. Adenauer zog mit der Behauptung durch die Lande, Schmid und Menzel hätten von der zweiten Note der Alliierten gewußt und diffamierte die SPD als Helfershelfer der Alliierten. Schmid ließ sich durch die Unterstellungen nicht von seinem Wahlkampfthema abbringen. Das wäre auch töricht gewesen. Das Wahlvolk hatte andere Sorgen und Nöte. Freilich, seine Hoffnung auf einen sachlich geführten Wahlkampf war dahin. Aus dem Wahlkampf wurde ein Zweikampf Adenauer — Schumacher. Die ganze Atmosphäre war so emotional aufgeladen, daß auch er an Ende des Wahlkampfes härtere Töne anschlug, als er es ursprünglich vorhatte’?. Im Grunde war die Entscheidung gegen eine Große Koalition schon gefallen, noch ehe am 14. August die Wähler zur Wahlurne gingen.