1896-1979 eine Biographie : Sozialismus und Nation: Die Weimarer Republik (1918-1933)
ozialismus und Nation: Die Weimarer Republik (1918-1933)
Brotstudium und Einsatz für die Republik
Als Carlo Schmid im Dezember 1918 aus dem Krieg in seine Heimatstadt Stuttgart zurückkehrte, war Württemberg eine Republik. König Wilhelm hatte am 30. November abgedankt. Am 9. November war unter der Führung des Mehrheitssozialdemokraten Wilhelm Blos eine provisorische Regierung aus Mehrheitssozialdemokraten und Unabhängigen gebildet worden, die zwei Tage später durch die Aufnahme von Vertretern bürgerlicher Parteien zu einer Koalitionsregierung auf breiter Basis erweitert worden war‘. So war in Württemberg früher als im Reich eine Entscheidung für eine parlamentarische Demokratie und damit gegen eine Rätediktatur gefallen. Wilhelm Blos war ein bejahrter Sozialdemokrat, der dem äußersten rechten Flügel seiner Partei angehörte und allen Sozialisierungsbestrebungen äußerst kritisch gegenüberstand?. Schon bald machte in Stuttgart das Scherzwort die Runde, daß der einzige Unterschied zwischen der Monarchie und der Republik darin bestehe, daß das neue Staatsoberhaupt Wilhelm Blos anstatt bloß Wilhelm heiße’. Der linke Flügel der USPD und die Spartakisten konnten in der „bürgerlichen“ Regierung Blos nur einen Verrat an den sozialistischen Zielen der Revolution sehen. Die Furcht vor einem Aufstand der radikalen Linken beherrschte seit Mitte Dezember das politische Klima der Landeshauptstadt. Carlo Schmids Stellungnahme war eindeutig: Die Regierung Blos mußte, unterstützt werden. Der Grundsatz, der sein politisches Denken in dieser Zeit bestimmte, lautete: „Die Revolution muß aufhören und die Republik muß anfangen.“* Nach vier Jahren Krieg war es sein sehnlichster Wunsch, daß der Ausnahmezustand der Umbruchssituation möglichst schnell überwunden sein möge und die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse sich stabilisierten. Noch immer wartete er auf seine Entlassung aus dem Militärdienst‘. Er sehnte sich nach der Normalität einer bürgerlichen Lebens- und Arbeitsordnung. Das Leben sollte „wieder lebenswert“ werden‘. Zunächst dauerten die revolutionären Wirren noch an. Die Nachrichten von den „revolutionären“ Kämpfen in Berlin und in anderen Teilen des Reiches waren für die Stuttgarter Spartakisten Anlaß, auch in Stuttgart den Aufstand zu proben. Für den 9. Januar, ı0 Uhr hatten sie eine Massendemonstration auf den Schloßplatz einberufen’. In Erwartung radikaler Putschversuche hatte der im Krieg zum Leutnant aufgestiegene ehemalige Volksschullehrer und Kunstmaler Paul Hahn in Absprache mit der Regierung Blos bereits im Dezember Sicherheitskompanien aufgestellt’. Studenten der Technischen Hochschule Stuttgart hatten sich Anfang Januar nach Ankündigung der Spartakus-Demonstration entschlossen, ein Studentenbataillon zur Unterstützung der Sicherheitskompanien zu bilden. Die Leitung des Studentenbataillons lag in den Händen des eher monarchistisch als demokratisch gesinnten Hauptmanns vom Holtz?. Carlo Schmid, der nichts mehr fürchtete als eine Revolution in Permanenz, schloß sich dem Studentenbataillon an. Er trug noch immer Uniform und sah es als seine Pflicht an, die gefährdete Republik mit der Waffe zu verteidigen. Mit Ebert wußte er sich einig, daß auch eine Republik notfalls mit Waffengewalt geschützt werden müsse. Als Ende der 60er Jahre der Ebert-Groener-Pakt von Historikern kritisiert wurde, hat er ihn vehement verteidigt’°, Wie viele seiner Zeitgenossen überschätzte auch er die Gefahr von links. Zu Recht aber beklagte er in seinen Erinnerungen die geringe Bereitschaft von Anhängern demokratischer Parteien, sich den Sicherheitskompanien zur Verfügung zu stellen’! Der Spartakusaufstand verlief in Stuttgart fast ohne Blutvergießen. Das Studentenbataillon erhielt den Auftrag, die von den Spartakisten besetzte Druckerei des „Stuttgarter Neuen Tagblattes“ zu räumen. Nach längeren ergebnislos verlaufenden Verhandlungen mit den Besetzern wurde auf Befehl Hahns am 10. Januar, morgens 4.30 Uhr das Gebäude gestürmt. Die Besetzer waren fast alle schon geflüchtet. Nur ein Belagerer konnte noch festgenommen werden’. Bereits am Abend des ıo. Januar konnte sich die Regierung Blos gegen die Spartakisten durchsetzen. Die für den 12. Januar anberaumte Wahl zur Verfassunggebenden Landesversammlung konnte ohne Störung durchgeführt werden. Carlo Schmid wurde am 31. Januar endlich aus dem Militärdienst entlassen und konnte bereits wenige Tage später in Tübingen das Studium beginnen’3. Die schleichende Inflation zehrte das Vermögen der Eltern auf, so daß nur ein Brotstudium in Frage kam’*. Die Psychologie, die ihn an einem Medizinstudium vor allem interessiert hätte, war als Wissenschaft noch nicht allgemein anerkannt. Das Berufsrisiko wäre sehr groß gewesen. So entschied er sich für das Jurastudium, das sich in relativ kurzer Zeit absolvieren ließ und eine gesicherte Zukunft versprach’s. Damit war auch die Wahl des Studienortes festgelegt: Tübingen. Nur wer an der Landesuniversität Tübingen sein Examen ablegte, wurde in den württembergischen Staatsdienst übernommen’®
Tübingen war damals ein provinzielles Kleinstädtchen von knapp über 20.000 Einwohnern. Das Bild der Stadt prägten die Studenten, die insbesondere während’der Sommerzeit mehr als 10% der Einwohner ausmachten‘ 7, denn die Tübinger Universität war nicht nur Brotuniversität, sondern der anmutigen Umgebung wegen auch Sommeruniversität. Ungefähr 3000 Studenten zählte sie in den Jahren 1919/20, wobei aber einige der eingeschriebenen Studenten noch immer im Heeres- und Sanitätsdienst standen. Für die neu immatrikulierten Studenten war es schwierig, in Tübingen eine Bleibe aufzutreiben, denn der hohe Andrang von Studenten schaffte enorme Wohnungsprobleme. Carlo Schmid fand in einem ı2 qm großen Weingärtnerhäuschen am Fuße des Hanges hinter der Friedhofsmauer eine Unterkunft’°. Das war für die damalige Zeit eine recht komfortable Studentenbude. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Studenten waren schlecht und deckten kaum das Existenzminimum. Schmid war gezwungen, in der Volksküche zu essen, „wo es Tag für Tag für einige Pfennige Kartoffeln und Trockengemüse gab“ ‚9. Eine schöne sorglose Zeit waren die Studienjahre nicht. Zu Beginn des Zwischensemesters 1919 herrschten an der Tübinger Alma mater, die vor dem Krieg eine Hochburg der Korpsstudenten gewesen war, sozialistische Töne vor. Am 8. März 1919 unterzeichnete die Mehrheit der Tübinger Studenten eine Erklärung, in der sie nicht nur ein Bekenntnis zur Weimarer Republik abgab, sondern auch der „Tyrannei eines internationalen Großkapitals“ den Kampf ansagte und eine wirtschaftliche Neugestaltung zum „Wohle der Gesamtheit“ und eine „gründliche Bodenreform“ verlangte. Die Auseinandersetzung mit den „brennenden Fragen des öffentlichen Lebens“ wurde geradezu zur Pflicht der Stu- .denten erklärt”°. Carlo Schmid war nicht der einzige Student, der durch die Kriegserlebnisse zu einem Anhänger der sozialistischen Bewegung geworden war. Noch im Ersten Semester schloß er sich der am ı2. März 1919 als erste studentische Vereinigung der Nachkriegszeit an der Tübinger Universität gegründeten „Sozialistischen Studentengruppe“ an. Die Gruppe verfügte weder über ein ausgearbeitetes Programm noch über eine feste Organisation. Anhänger der Mehrheitssozialdemokratie waren in ihr ebenso zu finden wie Vertreter linksradikaler und kommunistischer Ideen. Etwas vollmundig nannte sie als Ziel ihrer Tätigkeit „die allseitige Durchbildung ihrer Mitglieder in den theoretischen und praktischen Fragen des Sozialismus“ und die „Verbreitung sozialistischer Ideen innerhalb der Studentenschaft“, was man durch öffentliche Versammlungen und Vorträge zu erreichen hoffte?‘. Da die sozialistischen Konzepte und Zielvorstellungen der einzelnen Mitglieder noch sehr unausgegoren und widersprüchlich waren, versuchte man zunächst durch Referate, an die sich eine Diskussion anschloß, zu einer Klärung des Meinungsbildungsprozesses innerhalb der Gruppe zu gelangen. ‚ Auch Schmid, der sich zunächst schüchtern zurückhielt, wurde gebeten, ein Referat zu übernehmen. Das Thema konnte er selbst wählen. Er entschied sich für eine Interpretation von Büchners „Dantons Tod“. Büchners Revolutionsdrama las er als Drama seiner Zeit. Es diente ihm als Folie zu einer überaus harschen Kritik an den linkssozialistischen Strömungen und Parteien, die in der Novemberrevolution nur den Auftakt zu einer sozialistischen Revolution sehen wollten??. Waren Robespierre und Saint-Just nicht Vorläufer der Bolschewisten? War Robespierre nicht eine dieser „finsteren, zynisch schmutzig denkenden Kreaturen“, die sich Berufsrevolutionäre nennen? Und Saint-Just? War er nicht der „typische Literat, der Politik macht“? Er zog aus Büchners Drama die Lehre, daß die unveränderte Umsetzung von Ideen und Utopien in die politische Wirklichkeit zwangsläufig im Totalitarismus enden müsse. Bereits Robespierre habe den Fehler begangen, das Volk zu verklären. Jetzt sei man dabei, diesen Fehler zu wiederholen: „Gerade wie heute wimmelt es auch dort von halbgebildeten Alternativen, die mit vollklingenden Schlagworten die Klassiker der Revolution travestieren und es glänzend verstehen, sich im geeigneten Augenblick in die Toga zu hüllen und dem Volk seine Souveränität klarzumachen. Jetzt heißt es klassenbewußtes Proletariat – bei Büchner lesen wir: Volk, Du bist groß.“ Härter kann man mit Kommunisten und Anarcho-Syndikalisten nicht ins Gericht gehen. Carlo Schmid glaubte nicht an ein klassenbewußtes Proletariat. Er teilte viel eher die pessimistische Auffassung von Büchners Danton: „das Volk ist wie ein Kind, es muß alles zerbrechen, um zu sehen, was drin ist“ 4. Die Gefahren eines Plebiszits standen ihm vor Augen: „beim Kampf um die Gunst der Massen wird der zweifelnde Skeptiker dem glaubensstarken Radikalen unterliegen.“ ?5 Er identifizierte sich mit dem Skeptiker, mit Danton, mit dessen epikureischer Lebensweise und dessen Melancholie. Hatte nicht auch Schmid wie Danton „trotz Sehnsucht nach dem Tode einen Drang zum Leben “??° Robespierre nannte er einen „Spießbürger“. Nach dem Krieg hatte er sich der Freideutschen Jugend angeschlossen. Ihren lebensreformerischen Zielen begegnete er jedoch mit zunehmender Distanz. Eine vitalistische Lebenshaltung kam bei ihm durch. Eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft hielt er für eine weltfremde Utopie. Seinen Zuhörern las er Büchners Sätze vom „gräßlichen Fatalismus der Geschichte“ vor: „Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, allen und keinem verliehen. Der einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich.“ ?7
Die Mitglieder in der Studentengruppe, die kommunistischen und anarchistischen Ideen anhingen, mußten sich herausgefordert fühlen. Carlo Schmid hatte ihnen gründlich die Leviten gelesen, wobei er, schüchtern wie er noch immer war, sich hinter der Autorität Büchners zu verstecken versuchte. Nachdem er seine politische Meinung sehr selbstbewußt vorgetragen hatte, fürchtete er am Ende seines Referats sichtlich die Kritik seiner Kommilitonen. Bei der anschließenden Diskussion dürfte es heiß hergegangen sein. Ob Schmid sich gegen die wortstarken Vertreter des Marxismus-Leninismus in der Gruppe,-Karl Schmückle und Heinrich Süßkind, dem späteren Chefredakteur der „Roten Fahne“, durchsetzen konnte, ist nicht überliefert. Jedenfalls ließ er sich in seiner Auffassung, daß der Weg der Sozialreform der einzig gangbare Weg sei, nicht beirren. Auch in einem zweiten Vortrag, den er vor der Gruppe hielt, warnte er vor einem abstrakten Idealismus. Diesmal setzte er sich in einem Referat über die „Psychologie der Revolutionen“ u.a. mit Marx und Engels auseinander. Diese seien „Propheten“, aber keine politischen „Führer“, denn ihr „Blick“ ginge „viel zu sehr ins Weite, ins Übernächste“ ®, Der politische Führer dagegen habe „den Massen den Weg Schritt für Schritt genau vor(zu)zeichnen, den sie gehen müssen, um ein gewisses Ziel zu erreichen.“ *? Nein, nicht Gustav Landauer, wie Schmid in seinen Erinnerungen schrieb°°, Friedrich Ebert war sein Vorbild. Auf ihn setzte er all seine politischen Hoffnungen. Dieser 22 jährige Student war kein idealistischer Schwärmer. Resignation, nicht Hoffnung auf eine bessere Zukunft war die Grundstimmung dieses jungen Mannes, dessen Leben gerade erst begann. Der Streit über die unterschiedlichen Sozialismuskonzepte spaltete die Gruppe. Bereits Mitte Juni trennte sich die Gruppe in einen linken radikalen und einen gemäßigten Flügel, dem sich auch Carlo Schmid anschloß?‘. Die euphorische Anfangsstimmung wich der Enttäuschung. Bei der Studentenschaft fand die Gruppe kaum Resonanz. Nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages überwog bei den Studenten eine national konservative Grundstimmung. Anschläge der Sozialistischen Studentengruppe am Schwarzen Brett wurden abgerissen oder beschmiert. Gegen‘ Ende des Sommersemesters löste sich der gemäßigte Flügel der Studentengruppe sang- und klanglos auf. Kurze Zeit später gab auch der „revolutionäre“ Flügel seine Propagandatätigkeit auf”. Carlo Schmid sah vorerst keine Möglichkeit mehr, sich an der Hochschulpolitik zu beteiligen. Bald führten an der Tübinger Universität wieder die Korporationen das Wort, in denen rund 45 % der Tübinger Studenten aktiv waren?3. Auch die Mehrzahl der Professoren war liberalkonservativ oder konservativ-national eingestellt. Viele von ihnen standen der Weimarer Republik äußerst distanziert gegenüber. Vorlesungen über Sozialismus und soziale Fragen wurden nur selten angeboten. Der Volkswirtschaftler Robert Wilbrandt, der nach der Novemberrevolution in die Sozialisierungskommission nach Berlin berufen worden war, gehörte zu den wenigen, die dieses Thema aufgriffen. Im Sommersemester 1919 las der Finanzwissenschaftler Ludwig Stephinger, der auch eine kleine Schrift über „Grundsätze der Sozialisierung“ veröffentlicht hatte, über „Arbeiterfrage und Sozialismus“. Carlo Schmid gehörte zu seinen Hörern‘#. Die Korpsstudenten hatten auch den Aufbau eines Tübinger Studentenbataillons in die Hand genommen, das aus seiner konservativ-reaktionären Einstellung keinen Hehl machte. Ein selbstgedichteter Refrain lautete: „SC, SK, SC, SK, das ist uns ganz egal, wir bleiben, was wir immer waren, wir bleiben stets feudal.“5 Schmid lehnte die Mitgliedschaft in dem Bataillon ab, das schon Ende März 1919 ausrückte, um in Stuttgart. den von KPD und USPD ausgerufenen Generalstreik niederzuschlagen. Einen Monat später nahm es den Kampf gegen die Münchener Räterepublik auf. An Schmids Überzeugung, daß die Demokratie mit der Waffe in der Hand verteidigt werden müsse, hatte sich nichts geändert. Nicht erst der Bonner Politiker, schon der Tübinger Student setzte sich aktiv für eine „wehrhafte Demokratie“ ein. Nach Bekanntwerden des Kapp-Putsches und der am 15. März 1920 erfolgten Übersiedlung der Mehrheit der Regierung und des Reichspräsidenten nach Stuttgart, eilte er auf dem schnellsten Weg nach Stuttgart. Der württembergische Landeskommandant und Führer der Reichswehrbrigade ı3, General Haas, hatte nicht davor zurückgeschreckt, seine Offiziere darüber abstimmen zu lassen, ob sie sich hinter Kapp oder die Reichsregierung stellen wollten. Aber damit nicht genug: Er versuchte obendrein das Tübinger Studentenbataillon, das offen mit den Putschisten sympathisierte, dazu zu überreden, die Reichsregierung gefangenzunehmen?°. Schmid übernahm die Führung einer republiktreuen Kompanie Stuttgarter Studenten. Eine zweite Kompanie wurde von dem späteren Wohnungsbauminister Eberhard Wildermuth angeführt, den es große Mühe gekostet hatte, die Stuttgarter Studenten zum Einsatz für die Reichsregierung zu bewegen. Die politische Stimmung unter den Studenten war dermaßen auf schwarz-weiß-rot umgeschwenkt, daß zunächst auch Schmid und Wildermuth sich mißtrauten. Keiner wußte, ob der andere nicht vielleicht doch auf der falschen Seite stand?”. Der Kapp-Putsch brach am 17. März zusammen. Die abenteuerlichen Putschpläne des Landeskommandanten Haas waren entdeckt worden. Die Reichsregierung konnte unversehrt nach Berlin zurückkehren. Aber man stelle sich einmal vor, das Tübinger Studentenbataillon hätte tatsächlich geputscht und versucht, in Zusammenarbeit mit Teilen der Reichswehr die Regierung gefangenzunehmen. Carlo Schmid wäre gezwungen gewesen, gegen seine eigenen Kommilitonen die Waffen zu ergreifen. Eine schreckliche Situation! Schmid war es nicht vergönnt, nun endlich seine Semesterferien zu genießen. Bereits eine Woche später wurden die Studentenbataillone von
der württembergischen Regierung abermals zum Einsatz gerufen. Die Studenten sollten mithelfen, die Herrschaft der „Roten Armee“ über das Ruhrgebiet zu brechen. Am 24. März, dem Tag der Unterzeichnung des Bielefelder Abkommens, in dem ein Waffenstillstand zwischen „Roter Armee“ und Reichswehr vereinbart worden war, erging an das Tübinger Studentenbataillon und an die von Schmid geführte Stuttgarter Studentenkompanie der Befehl, sich in der Dragonerkaserne in Stuttgart-Cannstadt einzufinden?®. Die Führung der Studentenformationen wurde dem ehemaligen Kommandeur des württembergischen Gebirgsjägerbataillons, Major Sproesser, übertragen. Am 29. März, nachts um 3.30 Uhr, wurden die Tübinger und Stuttgarter Studenten unter dem Decknamen „Ratte“ ins Ruhrgebiet verladen, wo sie zwei Tage später in Soest Quartier bezogen. Nachdem ein Teil der Arbeiterschaft des Ruhrgebiets dem Aufruf des Bielefelder Abkommens, die Waffen niederzulegen, nicht gefolgt war, entschloß sich die Regierung am 2. April, die Reichswehr zur Niederschlagung des Aufstandes in das Ruhrgebiet einmarschieren zu lassen. Die Studentenkompanien wurden dem württembergischen Reichswehrbataillon angegliedert. Fast drei Wochen währte ihr Einsatz im Ruhrgebiet, wobei sie in der Regel nicht zu Kampfhandlungen, sondern zur Errichtung von Absperrungen herangezogen wurden. Die Mehrzahl der Studenten drängte darauf, mit den „Roten“ endlich abzurechnen. „Wir kämpfen nicht für die Regierung, sondern gegen den Bolschewismus“ — unter dieser Devise beteiligte man sich am Einsatz im Ruhrgebiet’?. Schmid bat um seine vorzeitige Ablösung, nachdem er vergeblich versucht hatte, dieser Haltung entgegenzutreten*°. Es war schon einiger Mut erforderlich, sich der antikommunistischen Hetze der überwiegend reaktionären Studentenschaft zu widersetzen. Noch einmal scheint Schmid zum Einsatz mit der Waffe gerufen worden zu sein. Jedenfalls gibt es eine Bescheinigung, „daß er in der Zeit vom 28. 8 bis s. 9. 20 während des Generalstreiks in der 2. Schar des E.W. B’ Dienst geleistet hat“ *‘. Mit Generalstreik ist der sogenannte Steuerbewilligungsstreik gemeint, durch den ein von der Regierung beschlossener jo %iger Steuerabzug verhindert werden sollte. Ein Großteil der Stuttgarter und Eßlinger Arbeiter, vor allem der Firmen Daimler, Bosch und der Eßlinger Maschinenfabrik hatten sich dem Streik angeschlossen*”. Auf Weisung des Württembergischen Ministeriums des Innern waren die – Tübinger Studenten zu Ordnungs- und Wachdiensten in Tübingen und Reutlingen herangezogen worden. Der Streik verlief unblutig. Der massive Aufmarsch von Truppen und Einwohnerwehren zwang die Arbeiter zum Einlenken, die in einem Abkommen vom 3. September auf fast alle ihre Forderungen verzichteten. Am 6. September wurde die Arbeit wieder aufgenommen. Carlo Schmid hat diesen Einsatz nie erwähnt. Möglicherweise übernahm er den Dienst in der Einwohnerwehr nicht ganz freiwillig. Der Senat der Universität Tübingen hatte bereits am 9. November 1919 den Studenten nahegelegt, bei der Anmeldung zum Examen die Teilnahme am Dienst in der Einwohnerwehr anzugeben*. Da Carlo Schmid nicht Mitglied des Tübinger Studentenbataillons war, waren seine bisherigen Einsätze für die Republik nicht im Rahmen der Einwohnerwehren erfolgt. Es ist anzunehmen, daß er während des Steuerbewilligungsstreiks nur deshalb Dienst tat, um die für das Examen benötigte Bescheinigung zu erhalten. Sei dem, wie ihm wolle. Entscheidend ist seine aktive Parteinahme für die Weimarer Republik gegen die überwiegende Mehrheit der sich offen reaktionär gebärdenden Studenten der Tübinger Universität. Leicht dürfte ihm dieses Schwimmen gegen den Strom nicht gefallen sein, denn er war noch immer ein sehr schüchterner junger Mann. Seine Vorträge vor der Sozialistischen Studentengruppe hatte er vollständig ausformuliert, einschließlich Eingangs- und Schlußformeln. Das freie Sprechen fiel ihm noch schwer. Sein Studium war mehr, als ihm lieb war, durch politische Ereignisse unterbrochen worden, denn er war aus finanziellen Gründen darauf angewiesen, möglichst schnell das Examen abzulegen. Sein Studienbuch dokumentiert einen vollgepackten Stundenplan, der ganz unter dem ‚Gesichtspunkt der Examensanforderungen zusammengestellt war. Oft belegte er bis zu zehn Veranstaltungen pro Semester — Pflichtveranstaltungen, denn für das Umschauen in anderen Fächern blieb keine Zeit. Einen herausragenden akademischen Lehrer, dessen Veranstaltungen man unbedingt besucht haben mußte, gab es an der damaligen Tübinger Alma mater nicht. An der juristischen Fakultät lehrten Max Rümelin und Philipp von Heck, die beiden Hauptvertreter der sogenannten Interessenjurisprudenz, die die positivistische Begriffsjurisprudenz als überholt betrachtete. Ein rigider schulmäßiger Fachbetrieb bestimmte die Lehrveranstaltungen. Schmid fand keinen akademischen Lehrer, der ihm über die Fachveranstaltungen hinaus geistige Orientierung bot. Von der Jurisprudenz ganz auffressen lassen wollte er sich trotzdem nicht. Seine Liebe für das Musische und Ästhetische begann damals zu erwachen. Abends traf er sich mit Freunden, um Gedichte, vor allem die Joachim Ringelnatz’, zu rezitieren**. Dessen freche Kuddel-Daddeldu-Verse waren eine Provokation der bürgerlichen Gesellschaft im Namen der Sinnlichkeit. Von den moralischen Geboten der Jugendbewegung sagte sich Schmid immer mehr los. Ringelnatz stand seit jener Zeit immer griffbereit an vorderster Stelle in seinem Bücherschrank*, An den Wochenenden ging er wandern mit seinen Freunden aus der Freideutschen Jugend oder mit seiner Verlobten, seiner späteren Frau Lydia Hermes. Die Tochter des Duisburger Kaufmanns Conrad Hermes war ein Jahr jünger als er und studierte seit 1918 in Tübingen, wo damals
Carlo Schmid mit seiner späteren Frau Lydia Hermes
kaum mehr als 200 Frauen eingeschrieben waren, Staatswissenschaften. Pfingsten 1919 hatte Carlo Schmid sie kennengelernt#°. Sie kam wie er aus der Jugendbewegung. „Abseits der begangenen Straßen“ durchwanderte er mit ihr die Schwäbische Alb und bewunderte das Oberschwäbische Barock. Noch später erinnerte er sich: „Was haben wir in diesen Abteien geschwelgt, die uns schöner dünkten als irgend etwas auf der Welt, und wie haben wir in diesen Kirchen den Geist der weltzugewandten Heiligkeit eingesogen, die aus dem Himmel einen bunten Blumengarten zu machen schien.“*” Es waren kurze Stunden des Glücks, in denen er die Widrigkeiten seines Studentenalltags vergaß. Nach einem nur sechssemestrigen Studium meldete er sich im Sommer 1921 zum Examen an, das er im Spätherbst ablegen wollte. Die Zeit bis zum Examen war vollkommen ausgefüllt mit Lernen. Die Tübinger Landesuniversität stellte hohe Anforderungen an ihre Prüflinge. Der Stoff der Prüfung erstreckte sich über acht Gebiete. Sechzehn Klausuren waren zu schreiben, in denen zwölf theoretische Fragen zu beantworten, zwei Rechtsfälle zu behandeln und eine Exegese im Römischen Recht anzufertigen waren. Oft bis in die frühen Morgenstunden paukte er zusammen mit einem Freund den Stoff für das Examen durch*. Eine Woche vor dem Examen versuchte er, sich etwas zu erholen, und fuhr mit Freunden aus der Jugendbewegung in ein Landheim auf der Schwäbischen Alb#. Das Lernen lohnte sich. Am 25. Dezember bestand er die Erste Höhere Justizprüfung mit dem Prädikat ausgezeichnet, was der Note Ha oben entsprach’. Es soll das beste Prüfungsergebnis seit 35 Jahren gewesen sein. Carlo Schmid konnte stolz sein. Damals war er es vermutlich auch. Später schämte er sich seines Brotstudiums. Bei den zahlreichen Lebensläufen, die er später zu schreiben hatte, fügte er manchmal bei Angaben über das Studium erklärend hinzu: „Nachkrieg. Zwang zu raschem Examen“ °‘. Er, der der breiten Öffentlichkeit als Wortführer und vehementer Verteidiger humanistischer Bildung bekannt war, hatte selbst nur ein reines Ausbildungsstudium absolviert. Das war ihm so peinlich, daß er in Gesprächen manchmal wahrheitswidrig behauptete, er habe einige Semester in München studiert. Vermutlich hatte er schon als Student darunter gelitten, sich ganz auf seine Ausbildung konzentrieren zu müssen. Weder der Krieg noch die Nachkriegsjahre ließen ihm Zeit für geistige Orientierung. Das war ein Schicksal, das er mit vielen Angehörigen seiner Generation teilte, die man die verlorene Generation nannte, Nun hoffte er, im Berufsleben Erfolg und in Ehe und Familie Geborgenheit zu finden. Drei Tage nach dem Examen, am 28. Dezember 1921, heiratete er Lydia Hermes.
Schritte ins Leben – Träume zerrinnen
„Aber um Richter zu sein, bedarf es nicht nur des Wissens, es bedarf auch des Gewissens und der Bildung, dieses Wort in seinem umfassendsten Sinn genommen. Dies kann man sich allein durch das Rechtsstudium, wie es an unseren juristischen Fakultäten nun einmal nicht anders betrieben werden kann, nicht erwerben.“ ‚ Als Carlo Schmid im Alter von über siebzig Jahren diese Sätze niederschrieb, erinnerte er sich vermutlich an die schmerzlichen Erfahrungen, die er als frischgebackener 2sjähriger Referendar beim Amtsgericht Tübingen hatte machen müssen. Sechs Wochen nach seinem mit Auszeichnung bestandenen Examen lernte er dort erstmals die Praxis der Gerichte kennen und mußte schon bald feststellen, daß eine tiefe Kluft klaffte zwischen der formal logischen Bildung, die das Jurastudium vermittelte, und den praktischen Anforderungen, die das Richteramt stellte. Es war üblich, daß junge Referendare zuerst in die Arkana der Entscheidungsfindung bei Zivilprozessen eingeweiht wurden, die bei den Anfängern Verblüffung und Enttäuschung auslösten. Die Streitfälle waren banal, die Methoden zur Beilegung der Streitfälle entsprachen nicht der Schulweisheit. Wo Schmid theoretisch unter Zuhilfenahme von Rechtsprechung und Literatur argumentierte, urteilten die erfahrenen Richter nach Billigkeitsgesichtspunkten. Ein Viehhandelsstreit oder ein Beleidigungsprozeß ließ sich am besten durch einen probaten Vergleich beenden?. Schmid wurde sich erstmals bewußt, daß fachliche Ausbildung nicht ausreicht, um mit den alltäglichen Schwierigkeiten des Richterberufes fertig zu werden. Die „Kenntnis der elementarsten menschlichen Verhaltensweisen“ war mindestens ebenso wichtig. Ein guter Jurist mußte auch ein guter Soziologe und Psychologe sein. In der damaligen Rechtswissenschaft hatte sich diese Erkenntnis noch nicht durchgesetzt. Die Rechtsprechung diente vor allem der Abschreckung und nicht der Resozialisierung*. Eine dreimonatige Ausbildung beim Vormundschaftsgericht führte Schmid die Notwendigkeit, bei der Urteilsfindung psychologische und soziologische Gesichtspunkte zu berücksichtigen, eindringlich vor Augen. Seine Sensibilität für das Leiden anderer, die in seinen eigenen leidvollen Kindheitserfahrungen wurzelte, ließ ihn deutlicher als seine Ausbilder und erfahrenen Kollegen erkennen, wie lebensentscheidend für einen Jugendlichen die Anordnung oder Nichtanordnung einer Fürsorgeerziehung sein konnte. Die Praxis der Vormundschaftsgerichte deprimierte ihn: „Bei der Beurteilung dessen, was dem Kinde frommen und was ihm schaden könnte, schienen die Richter seelisch und erkenntnismäßig wenig auf ihre Aufgabe vorbereitet zu sein, und doch lag in ihren Händen das Schicksal junger Menschen!“5 Er war betroffen über die Routinehaftigkeit, mit der die Prozesse durchgeführt wurden.
Im Grunde war Carlo Schmid zu sensibel, um Richter zu sein. Daß er ein Leben als Strafrichter „nur schwer ertragen konnte“, wurde ihm bereits während der ersten Wochen seiner Ausbildungszeit bewußt°. Sein Einfühlungsvermögen und sein Mitleid mit anderen machte jede Verurteilung für ihn zur Gewissensqual. Denn immer wieder fragte er sich: „Hättest du in gleicher Lage nicht vielleicht auch getan oder zumindest tun können, wofür du nun diesen Mann bestrafen sollst?“7 Es war nicht ausgeschlossen, daß er eines Tages ein Todesurteil würde fällen müssen. Eine Hinrichtung, der er während seiner Referendarszeit beiwohnte, hatte ihn so schockiert, daß er im Parlamentarischen Rat sich vehement für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzte. Der Zwiespalt zwischen dem Lebensschicksal des Verurteilten und dem, was das Recht verlangte, lastete schwer auf ihm. Er mußte sich immer wieder selbst davon überzeugen, daß man aus „Furcht vor den Konsequenzen“ oder aus „Feigheit des Gewissens“ einen Täter nicht freisprechen durfte®. Das Recht durfte nicht gebeugt werden, so hart eine Verurteilung auch sein mochte. Obwohl die Referendarausbildung am Tübinger Amtsgericht, an dem keine spektakulären Fälle behandelt wurden, zeitweise sehr langweilig und unergiebig war, bedeutete sie für Schmid einen wichtigen, wenn auch manchmal quälenden Lernprozeß, der ihn zum Richter reifen ließ. Er lernte, daß Menschenkenntnis für einen Richter ebenso notwendig war wie die Kenntnis des Rechts, daß Recht ohne Humanität ebensowenig wie Humanität ohne Recht Gerechtigkeit war. Ihm war klar, daß seine Sensibilität ihm den Richterberuf nicht leicht machen würde, aber sie schützte ihn auch davor, in die Routinehaftigkeit zu verfallen, die ihn bei seinen Ausbildern so befremdete. Mit Arbeit war er zugedeckt, denn er schrieb nebenher an seiner Dissertation. Einer seiner Ausbilder am Tübinger Amtsgericht hatte ihm nahegelegt, über den katalanischen Theologen und Philosophen Raimundus Lullus zu promovieren?. Doch er wollte nicht in die Ideengeschichte flüchten. Er beabsichtigte, ein aktuelles gesellschaftspolitisches Thema zu behandeln, das unmittelbar für die Rechtsprechung relevant war. Die Weimarer Verfassung hatte einen fortschrittlichen Ausbau des Arbeits- und Sozialrechts in Aussicht gestellt. Auf der Grundlage eines einheitlichen Arbeitsrechts sollte ein „Gesetzbuch der Arbeit“ geschaffen werden’°. Das Arbeitsrecht hatte den Rang einer selbständigen Disziplin mit eigenen Lehrstühlen erobert. Als Pionier des Arbeitsrechts galt der Frankfurter Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer, der die Sozialgesetzgebung der Weimarer Republik maßgebend beeinflußt hatte. Er war Sozialdemokrat und verfocht einen undogmatischen ethisch-freiheitlichen Sozialismus'“, Seine politische Hauptleistung war die Schöpfung des Artikels 165 der Weimarer Reichsverfassung, durch den die Räte in die Wirtschaftsverfassung der Weimarer Republik eingebunden werden sollten!2, Sinzheimer wünschte eine Ergänzung der Staatsverfassung durch eine Gesellschaftsverfassung. Der Räteartikel wurde zur Grundlage des am 4. Februar 1920 gegen den Widerstand linkssozialistischer und kommunistischer Kräfte verabschiedeten Betriebsrätegesetzes, mit dem sich Carlo Schmid in seiner Dissertation befassen wollte. Sinzheimer hatte sich bereit erklärt, die Betreuung der Arbeit zu übernehmen. Ein Kommentar zum Betriebsrätegesetz war dringend vonnöten. In den Betrieben herrschte noch immer Unklarheit über die Aufgaben und die Stellung der Betriebsräte. Die unterschiedliche Interpretation der einzelnen Artikel führte zu häufigen Rechtsstreitigkeiten’3. Schmid mag gehofft haben, durch einen Kommentar zum Betriebsrätegesetz zu einer Klärung der strittigen Fragen beitragen zu können. Erst wenn die Arbeitnehmer ihre Rechte kannten, konnten sie sie auch wahrnehmen. Eine Arbeit, die so aktuell und gesellschaftspolitisch brisant war, würde zumindest nicht wie so viele Dissertationen in den Universitätsarchiven verstauben. Er sollte die nötige Muße für eine eigenständige und tiefgreifende Auseinandersetzung und Kommentierung des Betriebsrätegesetzes nicht finden. Nicht nur der Referendarsdienst nahm ihn mehr in Anspruch, als er erwartet hatte. Es tauchten auch noch unerwartet familiäre Sorgen und Probleme auf. 1922 erkrankte seine Frau infolge einer Schwächung durch eine Typhuserkrankung an Tuberkulose’*. Die Angst um die Gesundheit seiner Frau war für den jungen Ehemann, der sich nach familiärer Geborgenheit gesehnt hatte, eine schwere seelische Belastung’°. Jeden Tag fuhr er mit dem Fahrrad aufs Dorf, um für sie Milch zu holen. Hinzu kam, daß während der Inflationszeit das Geld, das er von seinen Eltern bekam, nicht mehr ausreichte, um „das Nötige für den Haushalt zu beschaffen“ ‚°. Er selbst erhielt als Referendar nur eine Entschädigung von drei Mark „Tintengeld“ pro Jahr, so daß ihm nichts anderes übrig blieb, als Nachhilfestunden zu geben. Woche für Woche bereitete er in Privatfepetitorien Examenskandidaten auf die Justizdienstprüfung vor’”. Trotz der schweren Sorgen, die auf ihm lasteten, konnte er im Sommer 1923 seine Dissertation fertigstellen und unter dem Titel „Die Rechtsnatur der Betriebsvertretungen nach dem Betriebsrätegesetz“ bei der Juristischen Fakultät in Frankfurt einreichen’®. Sie hatte einen Umfang von immerhin 270 Seiten, aber arbeitsrechtliches Neuland erschloß sie nicht. Der erste Teil der Arbeit war eine Wiedergabe der von Sinzheimer entwickelten Gedanken zur Betriebsverfassung. Ganz der Auffassung seines Doktorvaters folgend, legte er in zum Teil höchst umständlichen und abstrakten Erörterungen dar, daß der Betrieb kein Genossenschaftsverband sei, keine Gemeinschaft Gleichberechtigter, sondern ein Herrschaftsverband, der durch die Betriebsräte eine Art „Binnenkonstitution“ erhalte. „Ähnlich wie Parlament und Monarch im Zusammenwirken den einheitlichen Staatswillen erzeugen“, müßten auch „Betriebsvertretung und
Arbeitgeber (auf) die Erzeugung eines einheitlichen Willens“ hinwirken’®. Der Charakter des Betriebs als Herrschaftsverband ändere sich durch die Errichtung von Betriebsräten nicht”. Die absolutistische Herrschaft des Betriebsherrn werde zwar eingeschränkt, dieser habe aber immer noch eine „sehr weite freie Willenssphäre“* ‚.D amit brachte er zum Ausdruck, daß der Betriebsrat nur eine Art Betriebsausschuß war, kein gleichberechtigtes Mitspracherecht besaß und schon gar nicht ein selbständiges Sozialisierungsrecht. Wie Sinzheimer verstand auch er den Betriebsrat als Erziehungsinstrument, der darauf hinzuwirken habe, „daß von beiden Seiten, d.h. von seiten des Betriebsherrn und der Arbeitnehmer Forderungen und Maßnahmen unterlassen werden, welche das Gemeininteresse schädigen“??, Nach Carlo Schmids Interpretation durfte der Betriebsrat keineswegs als reines Sprachrohr der Arbeitnehmerinteressen angesehen werden, denn nach $ ı des Betriebsrätegesetzes habe der Betriebsrat die Aufgabe, den Arbeitgeber in der Erfüllung der Betriebszwecke zu unterstützen”, Im zweiten Teil der Dissertation nahm er Stellung zu Einzelfragen des Betriebsrätegesetzes wie Mitsprache der Betriebsräte bei Einstellungen und Kündigungen und Beschwerde- und Disziplinarbefugnisse der Betriebsräte. Auch die Frage der Gültigkeit von Beschlüssen der Betriebsvertretung bei „sinnloser Betrunkenheit“ wurde eingehend behandelt”. Er referierte in der Arbeit sehr ausgiebig die vorhandene Literatur und Rechtsprechung. Mittlerweile lagen schon einige Kommentare zum Betriebsrätegesetz vor”. Die Arbeit war äußerst hölzern geschrieben. Die ganze Beweislast juristischer Dissertationen lag auf ihr. Eine ausgesprochene politische Stellungnahme enthält die Arbeit nicht. Schmid neigte zu einer eher restriktiven Auslegung der Befugnisse der Betriebsräte, wie sie auch von den Gerichten vertreten wurde. Seine politische Position dürfte der Sinzheimers aus dem Jahre 1919 entsprochen haben, die eher liberal als sozialistisch war”. Sinzheimer freilich plädierte mittlerweile für ein umfassenderes wirtschaftliches Mitspracherecht der Arbeitnehmer. Politische Differenzen waren vermutlich nicht ausschlaggebend dafür, daß Sinzheimer die Arbeit nicht sonderlich gefiel. Sinzheimer war ein sehr strenger Dozent, der von seinen Schülern eigenständige Urteile verlangte” 7. Solch hohen Ansprüchen genügte Schmids Dissertation nicht, obwohl sie besser war als viele der Schmalspurarbeiten, die damals in den Fakultäten als Dissertation eingereicht wurden. Am 2. August 1923 promovierte Sinzheimer Carlo Schmid. Er mußte sich mit einem „Bestanden“ begnügen”®. Schmid konnte das Ergebnis kaum befriedigen. Er hatte keine »Wald- und Wiesen-Dissertation“ schreiben wollen”, Jetzt war eine Arbeit daraus geworden, die in einem Universitätsarchiv verschimmelte. Er brauchte die Arbeit nicht drucken zu lassen. In der Inflationszeit ersparte man den Doktoranden unnötige Ausgaben.
Immerhin: Der spätere Politiker Carlo Schmid profitierte von seiner Auseinandersetzung mit dem Gedankengebäude Sinzheimers, das seine Stellungnahmen zur Mitbestimmung in der Nachkriegszeit mitbeeinflußte. So ist es nicht ganz falsch, Schmid als einen Schüler Sinzheimers zu bezeichnen’. Ein halbes Jahr nach seiner Promotion bestand er beim Oberlandesgericht in Stuttgart die Zweite Höhere Justizdienstprüfung mit dem Prädikat ausgezeichnet?‘. Der junge Carlo Schmid war mehr Praktiker als Wissenschaftler. Durch eine einjährige Einstellungssperre im Justizdienst war er gezwungen, seinen Lebensunterhalt als Rechtsanwalt zu verdienen. Rechtsanwalt war damals nicht gerade ein sehr angesehener Beruf. Man hörte gelegentlich noch immer die Auffassung, daß einem Rechtsanwalt vor allem die Aufgabe der „Mohrenwäsche“ zufalle3?. Carlo Schmid hatte sich für die Richterlaufbahn entschieden. Er war alles andere als glücklich darüber, daß er sich nun ein Jahr lang als Rechtsanwalt über Wasser halten mußte. Er assoziierte sich mit einem Rechtsanwalt in Reutlingen. Am t. April begann er dort mit seiner Tätigkeit, die ihm überhaupt nicht gefallen wollte. Es ödete ihn an, Klienten in ihren Wohnungsnöten zu beraten, Alimentenprozesse zu führen oder Mandanten bei Mängelrügen oder bei Verfahren wegen unerlaubten Wettbewerbs zu vertreten’?. Seine Mutter versuchte, ihn von dieser Fron zu befreien. Sie hatte ihre Fühler ausgestreckt und dabei erfahren, daß beim deutsch-französischen Schiedsgericht die Stelle eines Sekretärs zu besetzen war’*. Das war eine überaus interessante und verantwortungsvolle Aufgabe. Anna Schmid redete ihrem Sohn zu, sofort zuzugreifen. Doch Carlo Schmid zögerte. Er wollte nicht, daß später überall herumerzählt werde, er habe die Stelle nur der guten Beziehungen seiner Mutter wegen erhalten. Obwohl auch sein Vater ihm zuriet, konnte er sich nicht entschließen, sich für die Stelle zu bewerben. Er wußte überhaupt nicht, was er wollte. Er befand sich in einer seelischen Krisensituation. Seine Mutter versuchte, ihn zu ermutigen. Er solle stolz sein auf sein schönes jugendliches Aussehen, auf seine Gesundheit, seine Großherzigkeit und sein umfangreiches Wissen’. Sie meinte,es gewiß gut mit ihm. Vielleicht bemutterte sie ihn aber zu sehr. Sie redete ihren 27jährigen Sohn noch immer mit „mon cher petit“ an?®. Daß er sich um die Stelle nicht bemühte, mag eine Gegenwehr gegen diese Bemutterungsversuche gewesen sein. Die Eltern scheinen jedoch noch immer die dominanten Bezugspersonen für ihn gewesen zu sein, zumindest der Vater. Sein Tod Ende Mai 1925 erschütterte Carlo Schmid zutiefst?”. So sehr er auch unter seiner Strenge und Autorität gelitten hatte, Rat und Orientierung hatte er bei ihm gefunden. Ohne ihn auskommen zu müssen, fiel ihm schwer. Am ersten Todestag des Vaters schrieb er seiner Mutter: „Was wir an ihm verloren haben, ist zuviel, als daß man es schreiben könnte.“ Wäre man
gläubig, was man jedoch nicht sei, dürfte man eine ganze Woche lang die Kirche nicht verlassen?®. Der Schmerz über den Tod des Vaters war noch immer lebendig. Die seelische Krise, in der er sich befand, hatte er noch nicht überwunden. Ein Abtreibungsprozeß, in dem er zur gleichen Zeit als Gerichtsassessor mitzuentscheiden hatte, brachte ihn an den Rand des Selbstmordes. Zwei Ärzte standen vor Gericht, der eine wurde freigesprochen, der andere verurteilt. Er war über die Verurteilung des Arztes so betroffen, daß er nahe daran war, sich in den Neckar zu stürzen3®. Die Jahre nach dem Studium waren für Schmid Jahre ernster Lebenskrisen. Inzwischen war er, nachdem er anderthalb Jahre sein Leben als Rechtsanwalt in Reutlingen hatte fristen müssen, Gerichtsassessor am Amtsgericht in Tübingen geworden*°. Seinem Berufsziel war er einen Schritt nähergekommen. Seine Frau genas langsam von ihrer schweren Krankheit. Sollte sich doch noch familiäres Glück einstellen? 1925 wurde sein ältester Sohn Hans geboren, zwei Jahre später Martin. Carlo Schmid entschloß sich, auf der Waldhäuser Höhe in Tübingen ein Haus zu bauen, das zu einem Hort familiärer Geborgenheit werden sollte. In einem Garten fanden die Kinder Freiraum zum Spielen. Er selbst konnte sich bei der Gartenarbeit von den Anstrengungen des Berufs erholen. Haus und Garten verband eine große Laube, in der sonntags sehr lange gefrühstückt wurde. Carlo Schmid genoß es, in der Laube zu sitzen, mit den Kindern zu spielen oder sie zu belehren*‘. Er wollte seine Kinder nicht schulmeistern, sondern ihnen Freund und Mentor sein. Er war ein „wunderbarer Lehrer“, hatte aber Schwierigkeiten, in seinen Kindern „ein anders geartetes Gegenüber zu sehen. Sie waren seine Fortsetzung.“+ Wer ihn sonntags in der Laube sitzen sah, konnte meinen, er habe sich ins private Idyll zurückgezogen. In jungen Jahren hatte er davon geträumt, Oberamtsrichter in Tettnang zu werden*, wo er als Schuljunge in den Ferien seinen dort in einer Dienstwohnung im Schloß Monfort lebenden Onkel besucht hatte**. Der kleine Carlo scheint den Onkel sehr gemocht zu haben. Wessen Jugendträume erfüllen sich schon? Carlo Schmid war nicht dazu geboren, ein Candide zu werden. Beruf und Familie füllten ihn nicht aus. Seiner Aufgabe am Tübinger Amtsgericht freilich kam er mit großer Gewissenhaftigkeit nach. Amtsgerichtsdirektor Abel konnte dem jungen Gerichtsassessor ein blendendes Zeugnis ausstellen: „Die Leistungen des Gerichtsassessors Dr. Schmid entsprechen durchaus seiner hervorragenden Examensnote.“ +5 Er konnte ihn für die Amtsrichterstelle in Tübingen nur empfehlen. Sehr befriedigend war die Tätigkeit eines Amtsrichters nicht. Der Posten war eine Durchlaufstelle für Anfänger. In den Amtsgerichten wurden nur selten interessante Fälle behandelt, schon gar nicht am Tübinger Amtsgericht. Tübingen war Provinz. Wie überall in Tübingen herrschte auch am Amtsgericht eine Honoratiorenmentalität vor. Der wöchentliche Stammtisch war Pflicht. Carlo Schmid .beteiligte sich nicht am wöchentlichen Stammtischgeschwätz. Auch am Tübinger Amtsgericht war er ein Außenseiter. Er fühlte sich in diesem Honoratiorenmilieu nicht wohl*°. In seiner Freizeit vertiefte er sich in die Probleme des Völkerrechts. Das Völkerrecht avancierte in der Weimarer Republik immer mehr zu einem Instrument der Außenpolitik. Carlo Schmid begann, sich in die Materien der Völkerrechtswissenschaft einzuarbeiten. Möglicherweise hatte sein Nachbar Heinrich Pohl ihn dazu ermuntert. Der renommierte Völkerrechtswissenschaftler, der als ein konservativer Vertreter seines Faches galt, bot ihm Anfang Januar 1927 eine Hilfsassistentenstelle an dem von ihm geleiteten Seminar für Völkerrecht an*’. Schmid nahm die Stelle an. Sie war mit 1200,- RM pro Jahr nicht gerade hoch dotiert, aber es war ihm freigestellt worden, diese Stelle neben seiner Tätigkeit als Amtsrichter zu verwalten. Die Stelle war ein Sprungbrett für eine Universitätskarriere. Schmid scheint bereits damals eine Universitätslaufbahn erwogen zu haben, wenngleich er in seinen Erinnerungen das Gegenteil behauptet**. Pohl beschäftigte sich in seinen Seminaren vor allem mit dem Versailler Vertrag. Er war ein dezidierter Kritiker dieses „Schandvertrages“ *. Schmid mag nicht alle Einstellungen seines Lehrers geteilt haben, obwohl auch er den Versailler Vertrag ablehnte. Die Seminare boten einen Einstieg für seine Tätigkeit am Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, die er im September 1927 aufnahm.
Völkerrecht im Dienste deutscher Außenpolitik: Im Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin
Beurlaubt vom württembergischen Justizministerium, machte sich Carlo Schmid Ende August 1927 auf den Weg in die Reichshauptstadt Berlin, wo er ab ı. September eine Stelle als Referent am Kaiser-Wilhelm-Institut für-ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht übernehmen wollte. Der Direktor des Instituts, Victor Bruns, ein gebürtiger Tübinger, hatte ihm die überaus interessante Stelle angeboten, und er war nach kurzem Zögern seinem Rufe gefolgt. Ganz leicht war es ihm nicht gefallen, seine junge Familie in Tübingen allein zu lassen. Bruns hatte Verständnis dafür. Er versprach ihm häufige Wochenendurlaube, an denen er Frau und Kinder besuchen und dort nach dem rechten sehen konnte“. Das Institut, das seine Diensträume im Berliner Schloß hatte, war 1925 auf Initiative Bruns’ gegründet worden. Es wurde von Anfang an durch das Reichsministerium des Innern finanziell gefördert”. Nach der innenund außenpolitischen Stabilisierung der Weimarer Republik, nach dem Abschluß der Locarno-Verträge und dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund bemühte sich die Regierung verstärkt um eine friedliche Revision des Versailler Vertrages. Mit dem geschriebenen und ungeschriebenen Kodex des Völkerrechts in der Hand wollte man den Kampf um die deutsche Gleichberechtigung führen?. Obwohl das von Bruns geleitete Institut ein regierungsunabhängiges Institut war, arbeitete es mit der Reichsregierung eng zusammen, die es außenpolitisch zu beraten und zu unterstützen hatte‘. Im Zeitalter der Internationalen Gerichtshöfe und Schiedsgerichte war Judikatur ein Stück Außenpolitik. Bei den internationalen Prozessen war die deutsche Seite oft unterlegen, was u.a. auch daran lag, daß man sich in der Rechtsprechung vor allem auf französische und englische Völkerrechtsliteratur stützte‘. Zusammenfassende und systematisierende Darstellungen der Judikatur internationaler Gerichte fehlten in Deutschland fast völlig. So zählte die Sammlung und Sichtung der Urteile internationaler Gerichte, der Staatsverträge und diplomatischen Noten, der Quellen und Dokumente des öffentlichen Rechts ausländischer Staaten, von dem die Durchsetzung des Völkerrechts oft abhängig war, zu den Hauptaufgaben des Instituts‘. Die Aufgabe stellte an die Mitarbeiter hohe Ansprüche. Sie mußten nicht nur im Völkerrecht und im ausländischen Recht bewandert sein, sondern auch über umfangreiche Sprachkenntnisse verfügen. Schmids ausgezeichnete Beherrschung der französischen und italienischen Sprache war neben seiner juristischen Begabung sicherlich ausschlaggebend dafür, daß Bruns ihn an das Institut holte. Die Arbeitsbedingungen, die Schmid dort vorfand, waren hervorragend. Er konnte auf eine Bibliothek zurückgreifen, die 40 ooo Bände umfaßte. Darüber hinaus standen ihm sso Zeitschriften und ıs Tageszeitungen zur Verfügung’. Das Studium des Völkerrechts verlangte eine tägliche Auseinandersetzung mit der aktuellen Politik. Wichtiger noch als das Bücherstudium wurde für Schmid der geistige Austausch mit seinen Kollegen. Bruns organisierte Vortragsreihen, die teils von ihm selbst, teils von den Referenten gestaltet wurden. Einmal in der Woche fand eine Mitarbeitersitzung statt, in der jeder Mitarbeiter über die Vorgänge in seinem Länderreferat berichtete®. Schmid war Referent für die Länder Polen und Tschechoslowakei. Bruns verstand es, erstrangige Wissenschaftler für das Institut zu verpflichten. Als wissenschaftliche Berater standen dem Institut Rudolf Smend, Heinrich Triepel und Erich Kaufmann zur Seite. Als wissenschaftliche Referenten arbeiteten u.a. Hermann Heller und Gerhard Leibholz zusammen mit Schmid am Institut. Sie waren alle Wegbereiter einer antipositivistischen materialen Verfassungs- und Rechtstheorie, die Schmids rechtspolitisches Denken entscheidend beeinflußte. Besonders eng war die Beziehung zu Erich Kaufmann, dessen Assistent er zeitweilig war, und zu Hermann Heller, der im Institut neben ihm saß
und täglich mit ihm zusammenarbeitete. Auch nach Feierabend traf man sich und führte lange Gespräche?. Beide verband eine enge Freundschaft. Der fünf Jahre ältere Hermann Heller war für Schmid ein geistiger und politischer Mentor. Heller war 1920 unter dem ausdrücklichen Vorbehalt in die SPD eingetreten, daß er den Internationalismus der Partei und den historischen Materialismus ablehne. Als einer der führenden Exponenten des Hofgeismarer Kreises der Jungsozialisten beklagte er die „außenpolitische Askese“ des Marxismus und trat für eine Verbindung von Nation und Sozialismus, für eine Integration der Arbeiterschaft in die Nation ein. Den Kampf Deutschlands gegen die Fesseln des Versailler Vertrages hielt er für ebenso notwendig wie den Klassenkampf der Arbeiter. Den Staat wollte er nicht wie die Marxisten abschaffen, sondern zu einem sozialen Rechtsstaat ausbauen’°. Hellers undogmatisches Sozialismuskonzept, das innerhalb der SPD auf wenig Resonanz stieß, beeindruckte Schmid. Es wurde richtungweisend für sein Bemühen, die SPD nach 1945 in eine Volkspartei umzuwandeln“. Noch seine Interpretation des Godesberger Programms als „Hinwendung von der Klasse zur Nation“‘? verrät den formenden Einfluß Hermann Hellers auf sein politisches Denken. Den frühen Tod des Freundes im Jahre 1933 hat Schmid immer wieder beklagt. 1955 schrieb er dessen Frau: „Wie sehr Hermann fehlt in meinem Leben brauche ich Ihnen wohl nicht besonders zu sagen. Sie haben sicher gewußt, in welchem Grade ich ihm freundschaftlich zugetan war. Und Hermann fehlt Deutschland: lebte er heute noch, ich bin sicher, daß er eine Rolle im ersten Plane spielen würde.“ ‚3 Nicht minder wichtig war für Schmid die Begegnung mit Erich Kaufmann, den er auch in späteren Jahren noch immer mit „geliebter Lehrer“ und „verehrter Meister“ ansprach’*. Das war keine bloße Floskel. Als Erich Kaufmann 1972 im hohen Alter von 92 Jahren starb, schrieb er in einem Beileidstelegramm an die Witwe: „Ich verdanke ihm (Erich Kaufmann) nicht nur Wissenschaft und Wissen, ich verdanke ihm – und das ist wichtiger — auch Teilhabe an dem Exemplarischen seines Daseins in schwieriger Zeit.“’5 Kaufmann war Deutschnationaler. Sein nationaler Machtstaatsgedanke – in einer Schrift aus dem Jahre ı91r hatte er den „siegreichen Krieg“ als „soziale(s) Ideal“ gepriesen —- war von Hermann Heller heftig kritisiert worden’°. Im Kampf gegen den Versailler „Unrechtsvertrag“ waren sich Heller und Kaufmann, der auch als Rechtsberater des Auswärtigen Amtes fungierte, aber einig. Kaufmann bemühte sich unermüdlich um eine „sachgerechte Auslegung und Anwendung“ der Deutschland im Versailler Vertrag auferlegten Bestimmungen. Er verfocht die Auffassung: „Um das Recht muß gekämpft werden und kann gekämpft werden, weil es auch über politischen Gegnern einen gemeinsamen Normenkomplex gibt.“’” Schmid schloß sich Kaufmanns politischem Credo an’®.
Schmid, dem man später immer wieder vorwarf, daß er keine politische Kärrnerarbeit leiste, nahm sich einer spröden, für den Laien kaum verständlichen Materie an. Während seine Kollegen Leibholz und Heller sich vor allem mit theoretischen Fragen der Außenpolitik beschäftigten und staatstheoretische Abhandlungen über den italienischen Faschismus verfaßten‘ ®, vertiefte er sich in die rechtlichen und wirtschaftlichen Bestimmungen des Versailler Vertrages, deren Auslegung für den Ausgang von internationalen Prozessen, die von oder gegen Deutschland geführt wurden, entscheidend war. Schmid leistete Hilfsdienste für die offizielle Außenpolitik. Der von Kaufmann beschworene gemeinsame Normenkomplex war innerhalb der Völkerrechtswissenschaft noch heftig umstritten. Vielfach herrschte dort noch die Auffassung vor, daß das Völkerrecht ein Teil des Landesrechts sei und nur so weit Geltung beanspruchen könne, als sich die Staaten selbst daran binden. Heinrich Pohl, Schmids Tübinger Lehrer, war noch dieser Meinung”. Auch in zahlreichen Lehrbüchern der damaligen Zeit konnte man diesen Lehrsatz noch lesen. Anzilotti, ein international angesehener Völkerrechtler und Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag, hatte in seinem Lehrbuch des Völkerrechts dieser weit verbreiteten Doktrin von der Selbstverpflichtung der Staaten eine sehr deutliche Absage erteilt. Eine der ersten Aufgaben, die Schmid am Institut zu erledigen hatte, war eine Übersetzung des Lehrbuchs Anzilottis vom Italienischen ins Deutsche?‘. Schmid machte sich Anzilottis Grundsatz, daß das Völkerrecht ein überpositives Recht sei, das unabhängig vom staatlichen Recht bestehe, zu eigen. Der von Anzilotti verfochtene Primat des Völkerrechts liest sich in der Schmidschen Übersetzung so: „ein Staat (kann) unbestrittenermaßen sich nicht auf den Inhalt seiner Gesetze, noch auf deren Fehlen berufen (…), um sich um die Erfüllung seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen zu drücken oder um sich der Verantwortung, die ihm infolge ihrer ‚Nichterfüllung obliegt, zu entziehen.“?* Bei den Beratungen des Grundgesetzes sorgte Schmid dafür, daß dieser Grundsatz Verfassungsrang erhielt”. Die Anerkennung eines überpositiven Völkerrechts sollte Deutschland helfen, die Folgen des Versailler Vertrags zu mildern. Die Gutachten, die im Völkerrechtsinstitut angefertigt wurden, dienten in erster Linie diesem Ziel. In seinem ersten Gutachten hatte sich Schmid mit der Frage auseinanderzusetzen: „Können die in der Bundesratsverordnung vom 7. 5. 1903 für die Verleihung des Rotkreuzrechts aufgestellten Grundsätze im Sinne der Vorschläge der Referentendenkschrift des Reichsarbeitsministeriums vom 21.9. 1927 betreffend „Die Friedensaufgaben des Roten Kreuzes und ihre Einwirkung auf die Verleihung der Rotkreuzberechtigung“ ‚abgeändert werden, ohne daß hierbei gegen völkerrechtliche Verpflichtungen des Deutschen Reichs verstoßen wird?“>4 Hinter diesem langen, für den juristischen Laien unverständlichen Titel verbirgt sich folgende Problematik: Nach Artikel 177 des Versailler Vertrages waren in Deutschland „Vereinigungen jeglicher Art“, die sich mit „militärischen Dingen beschäftigen“, verboten. Davon betroffen war auch das Deutsche Rote Kreuz, soweit es sich als eine Organisation des freiwilligen Kriegssanitätsdienstes verstand. Das Reichsinnenministerium hatte deshalb 1922 eine Verordnung erlassen, nach der das Rotkreuzabzeichen auch an Gesellschaften vergeben werden konnte, die bei „öffentlichen Notständen und inneren Unruhen“ Sanitätsdienste leisteten’. Carlo Schmid erklärte diese Verordnung für ungültig. Sie verstoße gegen die Genfer Rotkreuzkonvention aus dem Jahre 1906, die das Tragen eines Rotkreuzabzeichens nur den Gesellschaften erlaube, die in der Kriegskrankenpflege tätig waren. Mußte sich das Deutsche Rote Kreuz also auflösen? Nein! Schmid widersprach entschieden. Die Genfer Rotkreuzkonvention sei allgemein anerkanntes Völkerrecht, das dem Versailler Vertrag, der lediglich partikulares Völkerrecht begründe, übergeordnet sei. Da der Versailler Vertrag die Genfer Rotkreuzkonvention nicht ausdrücklich aufgehoben habe, müsse man davon ausgehen, daß sie auch in Deutschland weiterhin gültig sei. Ein Einspruchsrecht der Alliierten gegen eine Organisation des Deutschen Roten Kreuzes könne es daher nicht geben”°. Schmid focht in seiner kleinen Schrift nicht nur für das Recht Deutschlands auf einen freiwilligen Kriegssanitätsdienst, sondern erteilte in Übereinstimmung mit dem damaligen Präsidenten des Internationalen Rot-Kreuz-Komitees Max Huber auch all den Bestrebungen eine Absage, die die Rotkreuzgesellschaften mit der Aufgabe der allgemeinen Wohlfahrtspflege betrauen wollten?”. Konnte man ausschließen, daß es auch in Zukunft zu kriegerischen Konflikten kommen werde? Im Falle eines Krieges aber hatte neben den Sanitätsformationen der Truppen nur noch das Rote Kreuz das Vorrecht, Sanitätsdienste zu leisten. Der Kriegsfreiwillige _ des Ersten Weltkrieges wußte um die Notwendigkeit freiwilliger Sanitätsdienste im Krieg. Auch deshalb stritt er jetzt so entschieden für das Recht Deutschlands auf eine Rot-Kreuz-Organisation, die mehr war als eine bloße Wohlfahrtsorganisation. | Nach Abschluß der Untersuchung vertiefte Schmid sich in das Studium der internationalen Judikatur. Seines Erachtens war das „Monopol der angelsächsischen und französischen Völkerrechtsdoktrin (…) dem Deutschen Reiche vor den Gemischten Schiedsgerichtshöfen, vor denen es sein Recht suchen mußte, schon sehr teuer zu stehen gekommen“ ”°. Zu einer der Hauptaufgaben der Gemischten Schiedsgerichte gehörte die Festsetzung der Entschädigungsansprüche alliierter Staatsangehöriger, die durch außerordentliche Kriegsmaßnahmen der Mittelmächte in irgendeiner Form geschädigt worden waren. Sie konnten aufgrund einschlägiger Bestimmungen des Teils X des Versailler Vertrags, der die Individualreparationen regelte, Ersatzansprüche geltend machen. Staatsangehörige neutraler Staaten hatten dagegen nur ein eingeschränktes Anspruchsrecht. Für den krisengeschüttelten Staat der Weimarer Republik bedeuteten die Entschädigungszahlungen eine finanzielle Belastung, deren Ausmaß man erst ermessen kann, wenn man sich vergegenwärtigt, daß allein das deutschfranzösische Schiedsgericht in den ersten zehn Jahren seiner Tätigkeit über 20000, das deutsch-englische etwa 10000 Fälle zu erledigen hatte”. Die meisten Prozesse waren zuungunsten Deutschlands ausgegangen. Schmid suchte nach einer Klärung der strittigen Fragen, in der Hoffnung, dadurch die Rechtsposition Deutschlands vor den Gemischten Schiedsgerichten zu verbessern. Ständiger Anlaß zur Kontroverse gab die Frage, was ein durch eine außerordentliche Kriegsmaßnahme (m&sure exceptionnelle de guerre) erfolgter Schaden sei. War es eine „mäsure exceptionnelle de guerre“, wenn durch eine aufgrund des Krieges in einem alliierten Staat erlassene Wohnungsverordnung Wohnungseigentümer in ihren finanziellen Interessen geschädigt worden waren? Gemischte Schiedsgerichte hatten so entschieden. Schmid hielt diese Urteile für unhaltbar. „Aufgrund des droit commun ergangene Entscheidungen und Vollstreckungsmaßnahmen, gleichgültig, ob es sich um Zivil-, Straf-, Steuer-, Zoll- oder sonstige Gesetzgebung handelt“, dürften nicht als außerordentliche Kriegsmaßnahmen angesehen werden3°. Darunter fielen allein „Maßnahmen des Wirtschaftskriegs oder der Kriegswirtschaft“3″ . Höchst umstritten war auch die Haftung des deutschen Staates für die während des Kriegs getroffenen Entscheidungen seiner Gerichte. Insbesondere zwei Bedingungen sah Schmid für die Behauptung eines Entschädigungsanspruches für unerläßlich an: Der verurteilte alliierte Staatsangehörige mußte die Unmöglichkeit seiner Verteidigung nachweisen und zugleich nachweisen, daß bei ordnungsgemäßer Verteidigung ein anderes Urteil ergangen wäre?”. Auch bei vorläufigen Entscheidungen eines Gerichts wie z.B. Arresten oder einstweiligen Verfügungen brauchten keine Ersatzansprüche gezahlt zu werden. Schmid hatte unzählige Gerichtsurteile studiert, um seine Argumentation zu untermauern. Angehörige von zunächst neutralen Staaten konnten Anspruch auf Schadensersatz erheben, wenn sie durch einen von Deutschland zu vertretenden „acte commis“ geschädigt worden waren. Was aber war ein „acte commis“? Deutsche Truppen hatten durch den Acker eines Griechen Schützengräben gezogen, ohne daß nachträglich dem Eigentümer eine Entschädigung dafür gezahlt worden war, daß der Acker eine Zeitlang nicht bebaut werden konnte. Das deutsch-griechische Schiedsgericht verurteilte den deutschen Staat zur Ersatzpflicht. In Carlo Schmids Augen war das Urteil geradezu „ungeheuerlich“33, Als „acte commis“ könne lediglich eine völkerrechtswidrige Handlung angesehen werden. Das Ziehen von Schützengräben sei ein „fait de guerre*. Für diese „faits de guerre“
aber leiste Deutschland auf dem Wege der Globalreparationen Ersatz. Moralische Gesichtspunkte oder Billigkeitserwägungen dürften bei der Entscheidung darüber, was ein „acte commis“ sei, nicht den Ausschlag geben?*. Wir wollen uns hier nicht in diese komplizierte Materie vertiefen, bei der es sehr oft um Übersetzungsprobleme und einen Streit der Begriffe ging, hinter dem handfeste finanzielle Interessen standen. Schmid biß sich durch das äußerst spröde Thema durch, das für die Schadensersatzverpflichtungen des deutschen Staates von enormer Bedeutung war. Sein wissenschaftliches Interesse war diktiert vom nationalen Interesse Deutschlands. Wissenschaft und Politik flossen ineinander über. Seit Oktober 1927 assistierte Schmid Victor Bruns und Erich Kaufmann bei Verhandlungen des deutsch-polnischen Schiedsgerichts. In den Jahren 1928/29 nahm er an sämtlichen Verhandlungen des Gerichts teil. Hauptstreitpunkt bei den dort geführten Prozessen war die Frage, ob der polnische Staat das Recht habe, deutsches Eigentum zu liquidieren’°. Artikel 297 des Versailler Vertrags hatte den alliierten Staaten das Recht eingeräumt, deutsches Auslandsvermögen entschädigungslos zu liquidieren. Der Zugriff auf deutsches Auslandsvermögen sollte garantieren, daß die Reparations- und Ersatzansprüche alliierter Staatsangehöriger von deutscher Seite erfüllt werden. Das Recht des polnischen Staats, deutsches Vermögen zu enteignen, war dagegen in Artikel 92 des Versailler Vertrags stark eingeschränkt worden. Der polnische Staat durfte nur Eigentum liquidieren, das sich auf ehemals deutschem Gebiet befand. Der Liquidationserlös mußte „unmittelbar“ an den Eigentümer ausgezahlt werden?°. Die Bestimmung war im Grunde ein Scheinzugeständnis der Alliierten an Polen, denn die finanzielle Situation Polens ließ eine ausreichende Entschädigung der Enteigneten nicht zu. Trotzdem betrieb die polnische Regierung seit Mitte der zwanziger Jahre insbesondere in den Westprovinzen forciert die Liquidation deutschen Eigentums, um den Einfluß der dort lebenden Deutschen und deren revisionistische Bestrebungen zurückzudrängen?”. Eine Entschädigung bekamen die Eigentümer nicht, denn der polnische Staat war außerstande, das Geld hierfür aufzubringen. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als den Weg der Klage vor dem deutsch-polnischen Schiedsgericht zu beschreiten, das die Flut von Klagen kaum mehr bewältigen konnte. Obwohl die Bestimmungen des Versailler Vertrages eindeutig waren, war bei den Verhandlungen des Gerichts das Liquidationsrecht Polens ein ständiger Zankapfel. Denn der polnische Staat postulierte unter Berufung auf Artikel 297 des Versailler Vertrags ein Recht auf entschädigungslose Enteignung, das nur den alliierten Mächten zustand. Die unterschiedliche Rechtsauslegung führte zu harten Kontroversen, so daß die Prozesse oft in einer Atmosphäre gespannter Dramatik stattfanden, zumindest wenn
der Streitwert recht hoch war, denn dann beeinträchtigte der Prozeßausgang auch das Ansehen des jeweiligen Staates. Einer dieser Prozesse behielt Schmid in bleibender Erinnerung. Der Prozeß fand Ende Juli/Anfang August 1929 in Genf statt. Die Deutsche Continental-Gesellschaft, die am 14. Dezember 1923 vom polnischen Staat liquidiert worden war, verklagte den polnischen Staat auf Zahlung des Liquidationserlöses. Der Streitwert betrug nicht weniger als ı4 Millionen Reichsmark. Erich Kaufmann hatte die Verteidigung der Continental-Gesellschaft übernommen, Victor Bruns war Richter am Schiedsgericht, Schmid assistierte Kaufmann’®. Polen habe, so lautete ihre Argumentation, den Liquidationserlös zu zahlen, da es zum einen nicht zu den gegen Deutschland Krieg führenden Mächten gezählt habe, zum anderen die Continental-Gesellschaft ihren Sitz auf ehemals russischem Gebiet gehabt habe. Nach Artikel 92 des Versailler Vertrags sei die Liquidation deutschen Eigentums auf ehemals russischem Gebiet nicht zulässig. Der Prozeßs hatte gerade erst begonnen, da befiel Kaufmann ein Furunkel. Nicht eine Sekunde dachte er daran, die Prozeßvertretung niederzulegen. Carlo Schmid verbrachte die Nächte mit Kaufmann, machte ihm in kurzen Abständen Umschläge, die die Schmerzen lindern sollten. Akten wurden durchgearbeitet, das weitere Vorgehen im Prozeß wurde besprochen. Kaufmanns selbstloses Engagement wurde für Schmid zum Vorbild39. Das meinte er, wenn er von der Teilhabe am Exemplarischen des Daseins Kaufmanns sprach. Beide identifizierten sich mit der Sache, für die sie fochten. Entsprechend groß war die Enttäuschung, als der Prozeß am ı. August trotz des fast übermenschlichen Einsatzes verlorenging. Das Gericht entschied, daß die Liquidation aufgrund Artikel 297 des Versailler Vertrags zulässig gewesen sei. Victor Bruns nannte das Urteil in einem umfangreichen Gegenvotum eine Rechtsbeugung*°. Die Erfahrungen am deutsch-polnischen Schiedsgericht ließen auch bei Schmid Töne nationaler Empörung laut werden. In seiner kurz zuvor abgeschlossenen Habilitationsschrift warf er den Polen vor, daß ihre völkerrechtswidrige Liquidationspolitik de facto auf eine „Entdeutschungspolitik“ hinauslaufet“. Im Februar 1928 nahm Bruns Carlo Schmid zu einer Sitzung des Internationalen Gerichtshofes nach Den Haag mit, wo Bruns in einem Streit um das Klagerecht Danziger Eisenbahner die Freie Stadt Danzig vertrat**. Danziger Eisenbahner hatten auf der Grundlage eines zwischen Danzig und Polen bestehenden Beamtenabkommens vermögensrechtliche Ansprüche gegen die polnische Eisenbahnverwaltung geltend gemacht, die von Danziger Gerichten bestätigt worden waren. Der Völkerbundskommissar in Danzig van Hamel hatte den Danziger Eisenbahnern das Klagerecht gegen den polnischen Staat abgesprochen, worauf die Stadt Danzig den Streitfall vor den Internationalen Gerichtshof brachte. Der Internationale Gerichtshof bejahte in seinem Gutachten einstimmig den uneingeschränkten Rechtsweg für die Danziger Eisenbahner und die Verpflichtung der polnischen Eisenbahnverwaltung zur Ausführung der Urteile der Danziger Gerichte*. Diesmal war es Schmid und Bruns gelungen, das Völkerrecht als „Waffe der Machtlosen“ einzusetzen**. Beide verstanden und gebrauchten das Völkerrecht in diesem Sinne. Schmids Referententätigkeit am deutsch-polnischen Schiedsgericht brachte es mit sich, daß er die Waffe des Völkerrechts vor allem gegen Polen gebrauchte. In der Präambel zu dem 1925 abgeschlossenen Deutsch- Polnischen Schiedsvertrag wurde die Verpflichtung der Schiedsgerichte „zur Achtung der durch die Verträge begründeten oder aus dem Völkerrecht sich ergebenden Rechte“ unterstrichen*s. Carlo Schmid berief sich auf diese Formel, um deutsche Interessen gegenüber Polen zu verteidigen. Das entsprach der Aufgabe, die er übernommen hatte, mit der er sich identifizierte. Er war ein national denkender Mann. Die polnische Politik der Nadelstiche ließ unterschwellig auch bei ihm eine antipolnische Stimmung aufkommen. Zu antipolnischen Hetzparolen freilich ließ er sich nie hinreißen. Er bekämpfte die Politik der polnischen Regierung, hatte aber keine Vorurteile gegen das polnische Volk. Obwohl Carlo Schmid von dem Gedanken einer friedlichen Streitschlichtung durch Schiedsverträge tief durchdrungen war, hielt er die dem Völkerbund zugrundeliegende Idee, Macht durch Recht zu ersetzen, für ein eher wirklichkeitsfremdes Ideal. Der Völkerbund war als Institution der Siegermächte des ı. Weltkriegs entstanden und diese „wollten den Völkerbund in erster Linie als Garanten der ihnen durch die Friedensverträge und dank der Machtpolitik früherer Jahrzehnte zugewachsenen Positionen verstanden wissen“. Die deutsche Regierung benutzte den Völkerbund als Forum, um die Fesseln des Versailler Vertrags abzuschütteln. Die Innenansicht des Völkerbunds ließ Schmid erkennen, daß das ‚ Zeitalter der Machtpolitik noch nicht zu Ende war. So verstand auch er Politik als einen Kampf um die Macht”. Das Jahr am Kaiser-Wilhelm-Institut prägte Schmids politisches Denken. Er war hautnah mit der großen Politik in Berührung gekommen. An der Vortragsveranstaltungen des Instituts nahmen auch Politiker teil. Der Zentrumspolitiker Kaas war dem Institut eng verbunden*®. Schmid nahm die Politik gefangen. Die Völkerrechtswissenschaft war für ihn in erster Linie eine Magd der Politik. Seine politische Position vertrat er selbstbewußt. Er hatte an Selbstsicherheit gewonnen. Das Jahr in Berlin war ein Schritt aus der provinziellen Enge und der geistigen Isolierung, in der er in Tübingen gelebt hatte. Freilich, ganz heimisch war der Schwabe in Berlin nicht geworden. Die Tübinger Provinz und die Metropole Berlin mit damals bereits über vier Millionen Einwohnern trennten Welten. War Tübingen der Ort einer behäbigen Honoratiorenmentalität, so war Berlin das Zentrum der
Moderne mit all ihren Widersprüchen. Der erste Eindruck von Berlin war für Schmid schlichtweg „bestürzend“ – und das’ nicht nur, weil er sich im Asphaltdschungel der Berliner Straßen andauernd verlief*?. Die moderne Lebensweise befremdete ihn. Berlin erschien ihm, wie er 1934 rückblikkend schrieb, „als der Ort des Lichtes ohne Flamme, der Bewegung, die nicht Leben und hegende Wärme zeugt, sondern die Starre des Marionettentanzes und die Kälte, die den Geist zum Witz und die Weisheit zum Wissen gefrieren läßt; als die Stadt, in der es keine Schönheit gibt, sondern nur Reize und keinen Genuß sondern nur Verzehr“ 5°. Im Rückblick fällte er ein arg hartes Verdammungsurteil über Berlin. Schmid-stand 1934 im Banne der Geisteswelt Stefan Georges. 1928 mögen sich Abscheu und Faszination die Waage gehalten haben. Er lebte in einer Stadt, die Zentrum der künstlerischen Avantgarde war. Tübingen verfügte nicht einmal über ein Theater. Berlin war die Metropole des modernen Theaters. Hermann Heller, der mit einer Tänzerin, der Tochter des Dichters Gustav Falke, verheiratet war, und dadurch zahlreiche Künstler und Kulturschaffende persönlich kannte, führte ihn in das Berliner Kulturleben eins“. Bei ihm traf er Karl Kraus, der sich mit der „Fackel“ ein Organ bissiger Zeitsatire geschaffen hatte, mit der er die bürgerliche Gesellschaft kritisierte und provozierte. Schmid las die „Fackel“ regelmäßig”. In Kraus’ scharfzüngigem Spott gegen die Verlogenheit der bürgerlichen Moral, der in dem Bonmot gipfelte, daß „Sittlichkeit“ das sei, „was das Schamgefühl des Kulturmenschen gröblich verletzt“ 53, fand sein vitalistischer Lebensdrang ein Ventil. In jenen Jahren wurde auch Brecht zu einem seiner Lieblingsautoren. Dessen 1927 erschienene Hauspostille fesselte ihn ebenso wie die „Dreigroschenoper“, deren Aufführung er in Berlin erlebtes4. Nicht der Klassenkämpfer Brecht interessierte ihn, sondern der Bewunderer und Nachdichter der Verse Frangois Villons, dessen Balladen er in den vierziger Jahren übersetztess. Brecht, Villon, Ringelnatz, den er schon während seines Studiums entdeckt hatte – das war die Welt der Fahrensleute und Vaganten, der Abenteurer und Seeräuber, der Huren und Asozialen. Das war die Welt derer, die der Banalität des gewöhnlichen Lebens zu entfliehen suchten, um zu leben, deren Vitalismus aber unerfüllt blieb. „Brecht ist ein Gehauter -.ich habe fast Furcht, mich an ihn zu verlieren“ 5°, schrieb Kurt Tucholsky beim Erscheinen der Hauspostille. Schmid mag es ähnlich wie Tucholsky gegangen sein. Es war kein Zufall, daß er später Villons Grabinschrift „Ballade von den Gehängten“ übersetzte, die zu den bekanntesten Balladen der „Dreigroschenoper“ zählt. Sie beginnt mit den Versen:
„Die ihr nach uns lebt, Menschen, Brüder ihr Dürft gegen uns nicht so verhärtet sein, Denn habt ihr Mitleid mit uns Armen hier Wird Gott auch eher euch die Schuld verzeihn.“ 57
Die Welt der Literatur war eine Gegenwelt zu der Welt, in der Schmid leben mußte. Die Arbeit erdrückte seinen Drang nach Selbstentfaltung. Auch am Kaiser-Wilhelm-Institut hatte er wieder einen Zwölf-Stunden- Tag gehabt‘®. Als er Anfang Oktober 1928 sich auf den Weg zurück in die Tübinger Provinz machte, mag er ähnlich wie der müde Abenteurer aus Brechts Hauspostille geträumt haben „von einer kleinen Wiese mit blauem Himmel drüber und sonst nichts“ 59
Ein „politisierender“ Privatdozent
Am 6. August 1928 meldete sich Carlo Schmid im Amtsgericht Tübingen zurück. Ihm wurde ein Zivilreferat zugeteilt, was er gern übernahm, denn die Strafgerichtsbarkeit bereitete ihm noch immer Gewissensbisse. Seine Tätigkeit am deutsch-polnischen Schiedsgericht nahm er weiterhin wahr. Das württembergische Justizministerium war entgegenkommend und beurlaubte ihn jeweils für die Sitzungen‘. Heinrich Pohl hatte ihm die Assistentenstelle am Seminar für Völkerrecht freigehalten, so daß er sie zum Wintersemester 1928/29 wieder übernehmen konnte. Sein Betreuer Pohl wußte ihn einzuspannen. Er wurde mit der Vorbereitung und manchmal auch mit der Leitung der Seminare betraut und hatte obendrein noch die Doktoranden mitzubetreuen?. Aber die Lehrerfahrung, die er bekam, war wichtig, denn er hatte nun endgültig den Entschluß gefaßt, sich zu habilitieren. Seine Habilitationsschrift war die Frucht seiner Tätigkeit am Kaiser- Wilhelm-Institut. Es war der Versuch einer systematischen Darstellung der Rechtsprechung des Haager Internationalen Gerichtshofes, wobei Schmid nicht nach dem Vorbild der amerikanischen Digests die Prozeßmaterialien einfach sammeln, sondern die in den Entscheidungen ausge- | sprochene Norm evident machen wollte’. Da in der Praxis der internationalen Judikatur die Rechtsgrundsätze des Internationalen Gerichtshofes wie Normen des gemeinen Völkerrechts behandelt wurden, hielt er eine solche Kodifikation für dringend geboten. Die Bemühungen des – Völkerbundes um eine Kodifikation des Völkerrechts, die in Deutschland vor allem von Walther Schücking unterstützt worden waren, waren gescheitert, so daß die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes die Entwicklung des Völkerrechts entscheidend beeinflußte*. Eine Kodifikation der Rechtsgrundsätze des Internationalen Gerichtshofes war somit nicht nur von wissenschaftlichem, sondern mindestens ebensosehr von politischem Interesse. Schmid verstand seine Arbeit als ein Handbuch für die Praxis. Es sollte den deutschen Vertretern bei den internationalen Gerichten erleichtern, die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes zur Unterstützung des deutschen Rechtsstandpunktes zur Kenntnis des jeweiligen Schiedsgerichts zu bringen.
Für eine Habilitationsschrift war dies eine recht unkonventionelle Arbeit, denn entgegen deutscher Wissenschaftstradition gingen hier Politik und Wissenschaft eine sehr enge Verbindung ein. Betreuer Pohl war beeindruckt von der Arbeit seines Schützlings. „Sie zeug(e) von einer ungewöhnlichen Begabung in der geistigen Durchdringung des spröden Stoffes und einer großen Formulierungskunst.“ Er war überzeugt, daß die Arbeit „nach ihrer Methode und ihren praktischen Ergebnissen der deutschen Wissenschaft im Inlande und Auslande Ehre macht“, und glaubte, „kein leichtfertigter Prophet“ zu sein, wenn er voraussagte, „daß Schmid nach seinen bisherigen Leistungen verspricht, der Mann des Allgemeinen Teils des Völkerrechts in Deutschland zu werden“. Pohl hätte sich wohl kaum so überschwenglich lobend geäußert, wenn die Arbeit nicht wirklich eine ganz außerordentliche Leistung gewesen wäre, denn im Gegensatz zu Schmid war Pohl der Auffassung, daß Deutschland vom Internationalen Gerichtshof „nichts zu erwarten“ habe’. Pohl war ein Mann der nationalen Rechten. Trotz seiner nationalen Einstellung dürfte Schmid die Zusammenarbeit mit seinem Betreuer nicht immer leicht gefallen sein. Für den für die Habilitation notwendigen Probevortrag schlug Schmid drei Themen vor: 1. Anerkennung von Gebietserwerb durch Neustaaten; 2. Die völkerrechtliche Stellung Kongreßpolens nach dem Versailler Vertrag; 3. Die formalen Zuständigkeitsvoraussetzungen im völkerrechtlichen Prozeß°. Mit allen drei Themen hatte er sich während seiner Tätigkeit am Kaiser-Wilhelm-Institut intensiv beschäftigt, so daß er sich für den Probevortrag, den er am 4. Juli 1929 über das zuerst genannte Thema hielt, nicht vorzubereiten brauchte. Zwei Wochen später wurde ihm die Lehrberechtigung für die Fächer Völkerrecht und internationales Privatrecht verliehen. Am 20. November drei Uhr nachmittags hielt er seine Antrittsvorlesung über „Die völkerrechtliche Haftung der Staaten für Ausländern zugefügte Schäden“ im Hörsaal XI der Universität?. Im Zentrum der Vorlesung stand die Frage nach der rechtlichen Möglichkeit, Eigentum ausländischer Staatsangehöriger zu enteignen. Noch einmal unterstrich er seine Auffassung, daß Polen bei der Enteignung deutschen Eigentums den vollen Liquidationserlös zu zahlen habe’°, Daran knüpfte er die generelle These, daß Ausländer bei Enteignungen voll entschädigt werden müßten. Schmid war sich der gesellschaftspolitischen Bedeutung dieses von ihm vertretenen völkerrechtlichen Grundsatzes vollauf bewußt: „Durch diese Völkerrechtssätze, welche bezüglich der Behandlung der Ausländer und insbesondere ihres Privateigentums einen bestimmten Mindeststandard vorschreiben, wird auf vorläufig nicht absehbare Zeit auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Staaten ein konservativer Zwang ausgeübt werden, denn wenn die Enteignung von Ausländern nur gegen volle Entschädigung vorgenommen werden darf, dann ist bei der engen Verflechtung der Eigentumsverhältnisse von Land zu Land (…) eine Sozialisierung der Industrie u. s. w., wie sie die sozialistischen Parteien erstreben, unmöglich(…)“ „‚. Schmid gab zu erkennen, daß der von ihm evident gemachte völkerrechtliche Grundsatz der Entschädigungspflicht seinen eigenen gesellschaftspolitischen Zielen und Wünschen nicht gerade entsprach. Er beklagte die „Zähigkeit, mit welcher der Grundsatz von der Heiligkeit und Unantastbarkeit des Privateigentums im Völkerrecht verhaftet“ war‘?. Es erstaunt, daß Schmid im Rahmen einer Antrittsvorlesung so offen Kritik an den bürgerlichen Eigentumsverhältnissen übte. Mit einer so expliziten politischen Stellungnahme verletzte er alle Gebote wissenschaftlicher Objektivität. Im national-konservativen Milieu der Tübinger Universität mußte ein derartiges politisches Bekenntnis geradezu provozierend wirken. Aber vielleicht hatte man nur die nationalen Töne vernommen, nicht die sozialistischen. Sie überwogen bei Schmid auch immer mehr. Er trat schon bald als ein heftiger Kritiker des Young-Plans hervor, der nicht davor zurückschreckte, die Regierung scharf zu kritisieren. Am 25. Februar 1930 sah sich Victor Bruns gezwungen, Schmid aus den Diensten des Kaiser-Wilhelm-Instituts zu entlassen. An diesem Tag erschien in der Adam Stegerwald nahestehenden Zeitung „Der Deutsche“ ein Artikel Schmids über die Sanktionsklauseln des Haager Abkommens’. Auf der am 3. Januar 1930 eröffneten Zweiten Haager Konferenz hatten die Gläubigerstaaten darauf gedrängt, in das Abkommen über den Young-Plan eine Klausel aufzunehmen, wonach die Gläubigerstaaten ihre Handlungsfreiheit zurückgewannen, wenn eine deutsche Regierung den Young-Plan, wie von rechter Seite angedroht, zerrifß oder brach. Nach dem am 20. Januar paraphierten Abkommen konnten die Gläubigerstaaten ein Sanktionsrecht dann in Anspruch nehmen, wenn der Ständige Internationale Gerichtshof in Den Haag den Willen Deutschlands festgestellt hatte, den ‚Young-Plan zu zerreißen’*. So stand es im deutschen Text. Im französischen Text hieß es: „detruire le nouveau plan“’5 . Schmid las aus dem französischen Text heraus, daß der Sanktionsfall schon dann gegeben sei, „wenn eine Reichsregierung sich in Handlungen hineintreiben läßt, aus denen für die Zukunft auf den Willen einer Reichsregierung geschlossen werden kann, den Vertrag in seinen Grundlagen in Frage zu stellen und zu gefährden“ ‚°. Er fürchtete, daß durch die Sanktionsklauseln eine Revision des Young-Plans ausgeschlossen werde. Im übrigen hatte er auch kein Verständnis dafür, daß Polen in die Gruppe der Gläubigerstaaten aufgenommen wurde und nun, wie er aus dem Text des Abkommens schloß, ebenfalls sanktionsberechtigt war. Daß der Internationale Gerichtshof mit Stimmenmehrheit über den Sanktionsfall entscheiden konnte, wertete er als eine Verschlechterung gegenüber der bisherigen Regelung, nach der die Feststellung über eine Rechtsverletzung einstimmig getroffen werden mußte’”.
Schmids Artikel erregte erhebliches Aufsehen. Der frühere Reichskanzler Joseph Wirth, der an den Verhandlungen über die Sanktionsklauseln beteiligt war, war so empört, daß er dem Autor Verhetzung und Landesverrat vorwarf®. Der „Vorwärts“ freute sich, daß Wirth gegen das „Christenblatt“ wetterte’®. Carlo Schmid hatte den Artikel nicht namentlich gezeichnet. In einer Vorbemerkung der Schriftleitung hatte es lediglich geheißen: „Verfasser ist ein in völkerrechtlichen Dingen durch seine Lehrtätigkeit wie seine praktische Erfahrung beschlagener Jurist.“ Victor Bruns geriet in den Verdacht, den Artikel verfaßt zu haben”. Sein Institut hatte die Aufgabe, die Regierungsarbeit zu unterstützen, nicht sie zu kritisieren. Dem Institut drohten unangenehme finanzielle Konsequenzen. Bruns war verständlicherweise ungehalten über Schmid und bat ihn noch am selben Tag, die „offiziellen Beziehungen“ zum Institut und zu ihm als deutschem Richter am deutsch-polnischen Gemischten Schiedsgericht „als gelöst zu betrachten“ *‘. Drei Monate später reichte Bruns ihm wieder die Hand zur Versöhnung, betonte aber nochmals, daß der Artikel dem Institut Schaden zugefügt habe. Fast väterlich mahnte er Schmid, sich durch überscharfe Kritik nicht seine eigene Karriere zu verbauen. Er wollte trotz des Vorfalls Schmids Berufung auf einen Lehrstuhl unterstützen? Landesverrat, wie Wirth allen Ernstes behauptete, hatte Schmid nicht begangen. Die Einwände gegen die Sanktionsklauseln des Haager Abkommens waren juristisch fundiert, wenngleich die Völkerrechtler sich über deren Auslegung uneins waren. Auch Bruns teilte nicht alle Schlußfolgerungen Schmids?3. Der Vertragstext ließ unterschiedliche Deutungen zu. Außenminister Curtius bestritt, daß das Recht auf Sanktionen im Sinne der früheren Verträge noch weiterbestünde*#. Im Zentrum war man geteilter Meinung’. Politisch klug war es nicht, diesen Artikel zu veröffentlichen. Im Hinblick auf das Ausland wäre es besser gewesen, eine für Deutschland günstige Auslegung der Sanktionsklauseln herauszuarbeiten. Die Agitation der Rechten bekam durch solche Artikel nur Auftrieb. Schmid stimmte in deren Agitation nicht ein, geriet aber bei seiner Argumentation gegen den Young-Plan und das Polnische Liquidationsabkommen manchmal in gefährliche Nähe zu ihnen. Er hatte sich in den Gedanken verbissen, das Völkerrecht zu einem Instrument deutscher Außenpolitik zu machen. Jede Handlung der Regierung, die gegen diesen Gedanken verstieß, rief bei ihm Unverständnis hervor. So war er empört, als am 31. Oktober 1920 die deutsche Reichsregierung mit der polnischen Republik ein Liquidationsabkommen abschloß, in dem sie auf alle mit dem Krieg oder dem Friedensvertrag im Zusammenhang stehenden „Forderungen finanzieller und vermögensrechtlicher Art“ verzichtete. Die polnische Regierung hatte als Gegenleistung sich dazu bereit erklärt, keine weiteren Liquidationen vorzunehmen”. Sollte seine Arbeit am deutschpolnischen Schiedsgericht umsonst gewesen sein? Er konnte es auch kaum fassen, daß bei den gleichzeitig stattfindenden Young-Plan-Verhandlungen Polen erstmals als Reparationsgläubiger anerkannt wurde”. Laut Versailler Vertrag hatte Polen keinen Anspruch auf Reparationen”®. Schmid war es unbegreiflich, daß die deutsche Regierung nachträglich einen solchen Anspruch konzedierte. Er argumentierte juristisch, die deutsche Reichsregierung politisch. Sie machte großzügige finanzielle Zugeständnisse, um die Liquidationspolitik der Polen, die die deutsche Minderheit in Polen schwächte, zu stoppen. Nur so konnte sie ihren Anspruch auf eine Revision der Ostgrenze aufrechterhalten”®. Schmid lernte aus seinen Fehlern. Seine Bemühungen um die deutsch-polnische Aussöhnung nach 1945 wurzelten nicht zuletzt auch in der selbstkritischen Auseinandersetzung mit seinen eigenen früheren Positionen und Stellungnahmen. Seine Einwände gegen den Young-Plan formulierte er schneidend scharf. Manchmal ließ er sich zu einer Polemik gegen den „Scharfsinn der deutschen Reparationspolitik“ hinreißen?°, Er stellte die Nachteile des Young-Plans gegenüber dem Dawesplan heraus, ließ dabei aber außer acht, daß eine Rückkehr zum Dawesplan überhaupt nicht mehr möglich war. Der Streit, ob die deutsche Regierung ökonomisch in der Lage gewesen wäre, den Forderungen des Young-Plans nachzukommen, ist bis heute noch nicht entschieden?‘. Für Schmid stand von vornherein fest, daß die Reparationsforderungen des Young-Plans weder ökonomisch noch politisch tragbar waren*. Die Hoffnung der deutschen Regierung, daß ein Verzicht Deutschlands auf den Transferschutz, die Gläubiger zu erheblichen Zugeständnissen bezüglich der Höhe ihrer Forderungen veranlassen könnte, sei enttäuscht worden. So trage Deutschland nunmehr nicht nur die Verantwortung für die Aufbringung der jährlichen Reparationsleistungen im Innern, sondern auch für deren Transfer’. Noch schlimmer als der Wegfall des Transferschutzes wirke sich der Wegfall des Wohlstandindexes und der Goldklausel aus, denn der starke Kaufkraft- – zuwachs des Goldes habe zu einer unvorhergesehenen Wertsteigerung der Reparationsleistungen geführt, wodurch die ökonomische Leistungsfähigkeit Deutschlands eindeutig überfordert werde3*. Schmid berief sich auf den‘ wegen des Young-Plans zurückgetretenen Reichsbankpräsidenten Schacht: Die Zahlung der Reparationen sei überhaupt nur durch die Aufnahme ausländischer Kredite möglich. Die Zins- und Reparationsverpflichtungen an das Ausland aber überstiegen den jährlichen Exportüberschuß, so daß die finanzielle Zahlungsunfähigkeit Deutschlands absehbar sei.
Stimmte Schmid nun in den Chor derer ein, die eine Hetzkampagne gegen den „Tributplan und gegen die Kriegsschuldlüge“ betrieben? Nein! Das Zerreißen des Young-Plans, das die nationale Rechte propagierte, war für ihn kein Weg, um von den Reparationslasten loszukommen. Er vertrat die Auffassung, daß die Verpflichtung zum Schadensersatz mit der Frage der Kriegsschuld nichts zu tun habe, denn nach der 1914 noch geltenden Völkerrechtsdoktrin sei die Entfachung eines Krieges kein völkerrechtswidriges Delikt gewesen. Rechtlich sei „mit der Widerlegung der sogenannten Kriegsschuldlüge nichts gewonnen“ 3°. Die Verpflichtung zur Leistung von Schadensersatz, die Deutschland im Versailler Vertrag eingegangen sei, bestehe ganz unabhängig davon, ob Deutschland den Ausbruch des Krieges verschuldet habe oder nicht. Schmid suchte nach rechtlichen Argumenten, mit denen man die Reparationsforderungen einschränken konnte. Allein die Berufung auf das Lansing-Abkommen, so glaubte er, verspräche eine „friedliche und gerechte Erledigung“ des Reparationsproblems?’. Die Lansing-Note vom s. November .1918 hatte deutsche Entschädigungszahlungen für die durch unmittelbare Kriegseinwirkung entstandenen Schäden verlangt. Im Versailler Vertrag, dem das Lansing-Abkommen zugrunde lag, hatte man die Entschädigungspflicht auf die Invaliden- und Hinterbliebenenrenten, für die die alliierten Staaten ursprünglich selbst hatten aufkommen sollen, ausgedehnt, was rechtlich äußerst fragwürdig war3®. In Schmids Augen war der Versailler Vertrag ein Bruch des Lansing-Abkommens, der die darüber hinausgehenden finanziellen Forderungen des Versailler Vertrags hinfällig werden ließ. Nur auf der Grundlage des Lansing-Abkommens sei mit den alliierten Reparationsgläubigern zu verhandeln, indem man ihnen „Posten für Posten“ vorrechne, was Deutschland bereits über das Lansing-Abkommen hinaus geleistet habe??. Carlo Schmid stand mit seinem Vorschlag nicht allein: Auch Edgar Salin, Professor für Staatswissenschaften in Basel, hatte der Reichsregierung den Rückgriff auf das Lansing-Abkommen als mögliche Lösung des Reparationsproblems empfohlen“. Wem das Erstgeburtsrecht für diesen Vorschlag zukommt, kann im nachhinein nicht mehr festgestellt werden. Es ist auch müßig, sich darüber zu streiten, denn der Vorschlag wurde nicht aufgegriffen. Reichskanzler Heinrich Brüning glaubte nicht, daß die alliierten Gläubigerstaaten auf der Basis des Lansing-Abkommens eine Übereinkunft über die Reparationszahlungen treffen würden*‘. Er hatte wohl recht damit. Er entschloß sich, durch einen eisernen Sparkurs die ökonomische Zahlungsunfähigkeit Deutschlands zu beweisen. | Schmid kannte Brüning durch seinen Nachbarn, den Theologieprofessor und späteren Dompropst von Paderborn, Paul Simon, persönlich. Brüning, der mit Paul Simon eng befreundet war, besuchte diesen des öfteren in Tübingen. Bei diesen Besuchen hatte Schmid die Gelegenheit, mit dem Reichskanzler politische Gespräche zu führen*. Brüning scheint Schmid geschätzt zu haben#, aber einen nennenswerten Einfluß auf die Politik des Reichskanzlers übte er sicherlich nicht aus. Ob die Vorbehalte des Zentrums gegen das Haager Abkommen durch Schmids Argumente gestärkt wurden, ist schwer zu sagen. Im Kaiser-Wilhelm-Institut hatte er
vor einem größeren Zuhörerkreis seine Stellungnahme zum Haager Abkommen vorgetragen. Durch seine heftige Kritik an der Reichsregierung hatte er einen Teil seiner Zuhörer sehr verstimmt**. Anderen mögen die Argumente eingeleuchtet haben. Doch sein Einfluß auf die politische Meinungsbildung dürfte cher gering gewesen sein, wenn auch „Der Deutsche“ meinte, daß Schmids Artikel über die Sanktionsfrage den „von der Regierung verbreiteten Optimismus“ hinsichtlich des Haager Abkommens zerstört habe*°. Schmid lockte die Politik. Er wäre gern einem Ruf Gottfried Treviranus’ nach Berlin gefolgt, aber Lydia Schmid wollte Tübingen nicht verlassen*°. Möglicherweise kamen auch bei ihm selbst Bedenken auf. Die politischen Verhältnisse waren unsicher. Ein Wechsel in die Politik wäre ein Existenzrisiko gewesen. Unüberwindliche politische Differenzen, die gegen eine Zusammenarbeit mit Treviranus sprachen, gab es für Schmid offensichtlich nicht. Treviranus war im Dezember 1929 aus Protest gegen das von Hugenberg zusammen mit der NSDAP eingeleitete Volksbegehren gegen den Young-Plan aus der DNVP ausgetreten und hatte 1930 die Volkskonservative Vereinigung gegründet, die den Konservatismus mit demokratisch-sozialen Ideen verbinden wollte. Das Haager Abkommen wurde abgelehnt, weil es Deutschland nicht die Möglichkeit gab, „sich von der Tributlast in mühseliger Arbeit zu befreien“ +7. In Brünings Kabinett war Treviranus zunächst Reichsminister für die besetzten Gebiete, im September 1930 wurde er zum Reichskommissar für die Osthilfe ernannt*”. Schmid und Treviranus verband die Ablehnung des Haager Abkommens, wobei man sich aber nicht an den nationalen Hetzkampagnen der Rechten beteiligen wollte. Dem Reichskommissar für die Osthilfe wären darüber hinaus Schmids Erfahrungen beim deutsch-polnischen Schiedsgericht überaus nützlich gewesen. Treviranus’ Bemühen, die Ar- . beiterschaft mit dem Konservatismus zu versöhnen, dürfte bei Schmid auf Zustimmung gestoßen sein. Seit seiner Bekanntschaft mit Hermann Heller gehörte Schmid zu den Befürwortern einer Verbindung von Sozialismus und Nation. Er mag eine Zeitlang gehofft haben, daß die Sozialdemokraten sich Hellers Programm zu eigen machen. Nachdem dies nicht der Fall war, konnte der Brückenschlag zwischen rechts und links nur von konservativer Seite ausgehen. Schmid gehörte vermutlich am Ende der Weimarer Republik nicht mehr zu den SPD-Wählern, obwohl er dies immer behauptet hat*. Er nahm Kontakt auf zu Ernst-Wilhelm Eschmann, einem der führenden Köpfe des Tat-Kreises’°. In dem von Hans Zehrer geleiteten Tat-Kreis hing man der Auffassung an, daß der Siegeszug des Nationalsozialismus nur zu stoppen sei, wenn man den Nationalismus auf eine sozialistische Grundlage stellte. Hoffnungsträger des Tat-Kreises war der „soziale General ohne Fortüne“, Kurt von Schleicher, der das Konzept einer Querfront zwischen Reichswehr und Gewerkschaften verfocht°‘. Schmid war nicht der einzige junge Intellektuelle, dem das politische Programm des Tat-Kreises als ein möglicher Ausweg aus der Krise der Weimarer Republik erschien. Der Tat- Kreis verfügte über eine große Anhängerschaft in akademischen Kreisen, obwohl sein politisches Konzept, wie Eschmann später selbst zugab, „ideenmäßig gänzlich in der Luft“ hing”. Ende 1930 war Schmid das letzte Mal in Berlin’. Danach hat wohl kein längeres Gespräch zwischen ihm und einem Angehörigen des Tat- Kreises mehr stattgefunden. Ihn als Angehörigen des Tat-Kreises zu bezeichnen, wäre mehr als übertrieben. Für ihn waren damals alle Ideen diskussionswürdig, die das Entstehen einer Volkspartei oder. „Volksgemeinschaft“ zum Ziel hatten, denn das schien die einzige Möglichkeit zu sein, um die Durchsetzung der Volkspartei NSDAP und der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zu verhindern. Wer nach politischen Einordnungen sucht, kann Schmid dem Ideenkreis der Konservativen Revolution zurechnen. Es fragt sich freilich, ob der Begriff „Konservative Revolution“ sehr tauglich ist, um ganz unterschiedliche politische Strömungen, die außer der Ablehnung des Liberalismus und eine nationale oder nationalistische Einstellung nichts verbindet, zu kennzeichnent. Seit seiner Entlassung aus den Diensten des Kaiser-Wilhelm-Instituts führte er ein Dasein zwischen Landgericht und Universität. In den Elfenbeinturm der Wissenschaft zog er sich nicht zurück. Der Tübinger Privatdozent war ein homo politicus, der sich in seinen Lehrveranstaltungen mit aktuellen politischen Tagesfragen auseinandersetzte. Im Wintersemester 1930/31 war ihm ein zweistündiger Lehrauftrag für die mit dem Versailler Vertrag zusammenhängenden Fragen des Völkerrechts erteilt worden. Der Direktor des Seminars für Völkerrecht, Hans Gerber, hatte die Erteilung des Lehrauftrags an den jungen Privatdozenten sehr befürwortet, denn es bestünde „allgemein ein lebhaftes Bedürfnis“, daß die Fragen und Probleme des Versailler Vertrags „nicht nur wissenschaftlich bearbeitet, sondern auch vom Katheder aus erörtert“ würden®. Schmid bot bereits seit dem Sommersemester 1930 Vorlesungen und Seminare an, zumeist zwei Vorlesungen und privatissime et gratis ein Seminar. Völkerrechtswissenschaft betrieb er als politische Wissenschaft. Er war ein politisierender Dozent, der zuweilen Politik vom Katheder aus betrieb. Die Themen seiner Lehrveranstaltungen waren brandaktuell und hochbrisant: Der Völkerbund, die internationale Rechtspflege, der Friedensvertrag von Versailles, die Reparationen, das Recht der Minderheiten, die Abrüstung‘®. Das politische Klima an der Universität war deutsch-national bis reaktionär. Sowohl unter den Professoren als auch unter den Studenten konnten die Nationalsozialisten schon bald Fuß fassen. Bereits bei den Asta-Wahlen im Herbst 1931 hatten sie ein Drittel aller Sitze errungen, ein Jahr später erreichten sie die absolute Mehrheit
der Sitze. Die „Linke Einheitsfront“ war wie immer bei den Asta-Wahlen an der Tübinger Universität leer ausgegangen 7. Die Nationalsozialisten nutzten ihre Erfolge, um die Tübinger Studentenschaft schon vor dem 30. Januar 1933 „einheitlich politisch auszurichten“ ®, Auch ein Großteil der Professoren stand der Weimarer Republik ablehnend gegenüber. Ein Journalist der Berliner „Weltbühne“, der Tübingen in jenen Jahren besuchte, mußte mit Erschrecken feststellen, daß dort der „verbissene Kleinstadtprofessor“, der aus allerlei Ressentiments einen „völkisch-deutschnationalen Kuchen“ knete, zur dominanten Figur im Stadtbild geworden sei®°. Schmid lehrte an einer Universität, an der Führerideologie und völkisches Denken schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten die Oberhand gewonnen hatten. Völkische Parolen hörte man aus seinem Munde nie. Gegen das „Diktat“ von Versailles war auch er. Er verstand sich nicht nur als wissenschaftlicher, sondern auch als politischer Lehrer. So änderte er einige Tage vor Beginn der Lausanner Konferenz, die für Deutschland das Ende der Reparationen bringen sollte, spontan den Stoff seiner Vorlesung. Die Vorlesung leitete er mit den Worten ein: „(…) für uns Deutsche ist dieser Friedensvertrag so sehr lebendigste und lastendste Gegenwart, so sehr ein Stück unserer aller Leben, daß eine Vorlesung über ihn nur so in die akademische Objektivität hineingestellt werden kann, als es unser Leben verträgt, und das bedeutet hier, daß die Reihenfolge, in welcher die einzelnen Dinge zu behandeln sind, nicht so sehr von der Systematik als von der Aktualität aus zu bestimmen ist.“ Vom Ausgang der Lausanner Konferenz hänge ein „gutes Stück“ deutschen Schicksals ab. Nein, er wollte die ohnehin emotional aufgewühlte nationale Stimmung nicht noch mehr aufwühlen. Er wollte sie in einigermaßen rationale Bahnen leiten, indem er seinen Vorschlag zur Lösung des Reparationsproblems entwickelte: Berufung auf die Lansing-Note. . In seinen Vorlesungen zur Außenpolitik begrüßte er die Entwicklung kollektiver Sicherheitssysteme und internationaler Streitschlichtungsmechanismen als Mittel zur Kriegsverhütung: „Die Schiedsgerichtsbarkeit ist von den Staaten immer häufiger angerufen worden und es gibt wohl niemand(en), der nicht überzeugt davon wäre, daß die Staaten gut damit gefahren sind.“ Die feierliche Unterzeichnung des Kellogg-Paktes über die Ächtung des Kriegs stelle das Maximum dessen da, was erreicht werden könne, „solange die Staaten nicht unter einer civitas maxima zusammengeschlossen sind“. Er warnte jedoch zugleich vor Illusionen. Auch in einer Institution wie dem Völkerbund werde nationale Machtpolitik betrieben. Deutschlands Eintritt in den Völkerbund wertete er als Erfolg. Da auch in seinen Vorlesungen eine ganze Anzahl nationalsozialistischer Studenten saß, betonte er ausdrücklich, daß es falsch sei, den Völkerbund als „bloßen Schwindel“ abzutun®. Der Reichsregierung warf er jedoch vor, im Völkerbund nicht entschieden genug für die deutsche Gleichberechtigung gekämpft zu haben. Der Völkerbund sei zwar „kein Erlöser von Versailles geworden, aber doch eine Plattform, ein Turnierplatz, auf welchem – wenn die Deutschen es wollten, was sie bisher noch nicht oder doch nur mangelhaft getan haben – der Kampf gegen Versailles ausgefochten werden könnte, ohne daß die redaktionelle Verknüpfung des Versailler Vertrags mit dem Völkerbundssystem diesem Kampfe noch hinderlich sein könnte.“°* Schmid überschätzte die Handlungsspielräume der deutschen Regierung, die den Völkerbund durchaus als Forum verstand, um sich gegen die Diskriminierungen des Versailler Vertrags zur Wehr zu setzen. Ein engagierter Verfechter deutscher Gleichberechtigung war Schmid auch in der Abrüstungsfrage. Die im Versailler Vertrag vorgeschriebene Entwaffnung Deutschlands – Schmid sprach von einer „Wehrlosmachung“ Deutschlands – müsse als Vorleistung verstanden werden. Die Schaffung entmilitarisierter Zonen sei zu befürworten, wenn sie nicht auf Deutschland beschränkt blieben‘. Erfolgreiche Abrüstungsverhandlungen setzten die Anerkennung deutscher Gleichberechtigung voraus. Das war auch der Standpunkt der Reichsregierung, die allerdings mit Frankreich nicht so hart ins Gericht ging wie Carlo Schmid, der seinem Mutterland schwere Vorwürfe machte. Von einer Frankophilie Schmids war in den Jahren der Zwischenkriegszeit wenig zu spüren. So sah er die für Februar 1932 anberaumte Genfer Abrüstungskonferenz schon am Widerstand der Franzosen scheitern, die am status quo von Versailles nicht rütteln wollten‘, Bereits 1924 im Genfer Protokoll habe die französische Regierung auf eine Verknüpfung des dort vorgesehenen Systems friedlicher Streitschlichtung mit dem Versailler Vertragssystem beharrt. Die einzurichtenden Schiedsgerichte hätten auf der Grundlage der bestehenden Verträge entscheiden sollen. Deshalb habe England die Ratifizierung des Protokolls verweigert‘. Für die englische Strategie eines general settlement fand Schmid lobende Worte: „(:. .) die Engländer haben ganz vortreffliche Maximen vertreten, die wir getrost zu den unseren machen könnten.“ © Zur Abrüstungsfrage äußerte er sich nicht nur in seinen Lehrveranstaltungen, sondern auch in öffentlichen Vorträgen. Er gab der Reichsregietung politische Ratschläge mit auf den Weg nach Genf: „Es wird also in Genf viel mehr als um Kanonen und Regimenter darum gekämpft werden müssen, daß nicht das Genfer Protokoll in irgendeiner Form zur Rechtsnorm erhoben wird. Wenn die deutsche Regierung will, kann sie dies verhindern, und wenn sie dabei geschickt vorgeht, kann sie es tun, ohne daß wir zu fürchten brauchen, in der öffentlichen Meinung der Welt als diejenigen verschrien zu werden, welche die Befriedung der Welt hindern.“ Wenn man die Sätze liest, gewinnt man den Eindruck, daß Schmid am liebsten selbst nach Genf gereist wäre, um die Verhandlungen
zu führen. Für ihn hing die Zukunft Deutschlands und Europas vom Ausgang der Genfer Konferenz ab: „In Genf wird in diesen Monaten darüber entschieden werden, ob die Reaktionäre von Versailles oder diejenigen, denen ein gerechter Friede wichtiger ist als ungerechte Friedensverträge, das künftige Bild des Völkerbundes bestimmen sollen.“ 7° Schmid neigte schon damals zu einer pathetischen Betrachtung politischer Ereignisse. Mit dem Ausgang der Abrüstungskonferenz konnte er zufrieden sein. In der Fünfmächteerklärung vom ı1. Dezember 1932 war Deutschland die lang ersehnte Gleichberechtigung „in einem System, das allen Nationen Sicherheit bietet“, gewährt worden”. Zu der auch von Schmid befürworteten Schaffung eines kollektiven Sicherheitssystems’? sollte es nicht mehr kommen. Sechs Wochen nach Unterzeichnung der Fünfmächteerklärung ergriffen die Nationalsozialisten die Macht. Der junge Privatdozent Schmid war mehr Patriot als Europäer, aber er war kein Nationalist, der von Deutschlands Vormachtstellung und Größe träumte, und schon gar nicht ein Nationalsozialist. Die Tübinger Studenten, bei denen die nationalsozialistische Propaganda immer mehr Anklang fand, versuchte er davon zu überzeugen, daß allein im Rahmen des Völkerbundes eine Revision des Versailler Vertrags zu erreichen sei. Völkischen Hetzparolen widersprach er. Er wandte sich in seinen Lehrveranstaltungen auch den nationalsozialistischen Zuhörern zu, wohl in der Hoffnung, daß der Appell an die Vernunft gehört werde. Er verstand sich mehr als politischer Erzieher denn als Wissenschaftler. Ein typisch unpolitischer deutscher Bildungsbürger war dieser junge Dozent nicht. Bei den meisten Studenten war Carlo Schmid überaus beliebt, weil er sich Zeit für das Gespräch mit ihnen nahm und ihren wissenschaftlichen Arbeiten Interesse entgegenbrachte. In seinen Vorlesungen frei zu reden, _ traute er sich zunächst noch nicht. Er schrieb seine Vorlesungen im Wortlaut auf, teils mit der Hand, teils mit der Schreibmaschine, obwohl er den Stoff souverän beherrschte, so daß, wer durch seine Schule gegangen war, mit der Völkerrechtsproblematik vertraut war wie sonst nur wenige. Sein erster Döktorand Georg Schwarzenberger, Jude und Sozialdemokrat, später ein international anerkannter Völkerrechtler, blieb ihm sein ganzes Leben über in Dankbarkeit zugetan. Nach dem Krieg schickte er ihm Care-Pakete. 1951 widmete er ihm seine Arbeit „Einführung in das Völkerrecht“ und führte dazu im Vorwort aus: „Die Schulung, die er (Schmid) auf völkerrechtlichem Gebiet als junger Privatdozent seinem ersten Doktoranden gab, hat für mich eine feste Grundlage für meine spätere wissenschaftliche Arbeit auf völkerrechtlichem Gebiet gebildet.“ 7 Carlo Schmids pädagogische Fähigkeiten waren unbestritten, und er selbst verspürte schon bald einen pädagogischen Eros. Wie viele ehemalige Angehörige der Jugendbewegung scheint auch er geglaubt zu haben,
dafs das Schicksal der Weimarer Republik ganz entscheidend von der politischen Einstellung der Jugendlichen abhänge. Nun mußte er erleben, daß die akademisch gebildete Jugend zunehmend rechten Ideologien verfiel und eine wachsende Zahl arbeitsloser Jugendlicher den radikalen Parteien zulief. Er fragte sich, ob nicht die Organisation eines Freiwilligen Arbeitsdienstes diese Entwicklung stoppen konnte. Allerdings mußte ein solcher Arbeitsdienst mehr sein als ein Instrument der Sozialdisziplinierung. Es genügte nicht, die Jugendlichen lediglich von der Straße wegzuholen’*. Mit dem späteren Reichsarbeitsdienst hatten Schmids Pläne nichts gemein. Bereits in den zwanziger Jahren hatte der Breslauer Pädagoge Eugen Rosenstock-Huessy, einer der Pioniere der Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik, ein Konzept für die Organisation eines Freiwilligen Arbeitsdienstes entwickelt und in enger Zusammenarbeit mit Helmuth James Graf von Moltke im Boberhaus in Schlesien in die Praxis umgesetzt. Dem Konzept lag ein volksbildnerischer Impuls zugrunde. In den Lagern sollten Arbeiter, Bauern und Studenten zusammenarbeiten, wodurch die Berührungsängste zwischen Arbeitern und Akademikern abgebaut werden sollten. Im Stundenplan der Arbeitslager wurde der gemeinsamen Bildung, die auch musische Bildung miteinschloß, ebensoviel Zeit eingeräumt wie der gemeinsamen Arbeit. Rosenstock-Huessy war ein scharfer Kritiker der kapitalistischen Industriegesellschaft, die den Arbeiter der Entfremdung automatisierter Großorganisationen aussetzte. Durch eine Dezentralisierung der Betriebe wollte er die Selbstverantwortung der Arbeiter stärken. Als Fernziel propagierte er die Arbeiterselbstverwaltung. Aufgabe der Arbeitslager war es, trotz grundsätzlicher Anerkennung des Klassengegensatzes zu einem sozialen Ausgleich zwischen den Klassen und damit zur „Volks-Bildung“ beizutragen”5. Die Formulierungen Rosenstocks-Huessys waren teilweise recht vage und unpräzise und mit einer für das deutsche Bildungsbürgertum typischen Kulturkritik durchsetzt. Schmid setzte sich mit Rosenstock-Huessy und Kurt Hahn, dem Leiter des Landerziehungsheims Schloß Salem, in Verbindung. Er beabsichtigte, nach dem Vorbild des von Rosenstock-Huessy entwickelten Konzepts in Tübingen einen Freiwilligen Arbeitsdienst einzurichten”. Rosenstocks Volksbildungskonzept dürfte seinen damaligen politischen Überzeugungen weitgehend entsprochen haben. Auch Schmid beschäftigte sich in jenen Jahren mit dem Gedanken der Arbeiterselbstverwaltung. Er hatte vor, eine Anthologie aus den Schriften Proudhons zu veröffentlichen”7. Mit Hilfe einiger junger Kollegen und älterer Studenten der Tübinger Universität konnte Schmid in der südöstlich von Reutlingen gelegenen Gemeinde Münsingen den geplanten Freiwilligen Arbeitsdienst ins Leben rufen. Finanziert wurde der Arbeitsdienst durch eine Selbstbesteuerung
der Studentenschaft Tübingens und durch amtliche Zuschüsse. Die Teilnehmer waren zur Hälfte arbeitslose Jugendliche, zur Hälfte Studenten. Teilnehmen konnte, wer sich freiwillig meldete. In der Regel bestanden die Lager aus ungefähr 60 Teilnehmern ganz unterschiedlicher Parteizugehörigkeit. Auch Kommunisten beteiligten sich am Arbeitsdienst”®. Carlo Schmid leitete erstmals in den Sommerferien 1931 das Arbeitslager in Münsingen, danach noch dreimal im März, August und September 193279. Er opferte 1932 praktisch seine ganzen Ferien für die Leitung des Arbeitsdienstes. Man sieht ihn in Boots und Kniebundhosen mit hochgekrempelten Hemdsärmeln, denn man arbeitete bei Wind und Wetter draußen in einem Steinbruch, vier Wochen lang, sechs Stunden täglich, zusätzlich zwei Stunden Arbeitsweg. In einer Lagerbaracke aß und schlief man gemeinsam. Vorträge, Lesungen und lange Gespräche füllten die Freizeit aus. Das Lagerleben war äußerst schlicht. Es herrschte der Ton einer burschikosen Kameraderie”°. Schmid scheint sich als Gruppenleiter großer Beliebtheit erfreut zu haben. Die Hoffnungen, die Schmid mit dem Freiwilligen Arbeitsdienst verknüpft hatte, erfüllten sich nicht. Vier Wochen waren viel zu kurz, um eine tiefgreifende „Volks-Bildung“ zu erreichen. Schmid, der sich als politischer Erzieher verstand, hatte die Pädagogik als Mittel zur Überwindung der Krise der Weimarer Republik überschätzt. Der Siegeszug des Nationalsozialismus konnte durch die Einrichtung eines freiwilligen Arbeitsdienstes nicht gestoppt werden. In Tübingen gewannen die Nationalsozialisten rasch Zulauf. Bereits bei den Reichstagswahlen im September 1930 waren sie drittstärkste Partei geworden. Bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 erhielten sie über 40 % der Stimmen. Der Anteil an NSDAP-Wählern lag über dem Reichsdurchschnitt, woran nicht zuletzt die konservative bis reaktionäre Grundhaltung der Tübinger Universität Schuld trug®‘. Carlo Schmid machten die _ Wahlerfolge der NSDAP „besorgt“, aber „nicht ängstlich“ ®?. Wie so viele glaubte auch er, daß Hitler sich nur blamieren könne, wenn er an die Macht komme. Wenn Schmid nach Beendigung seiner Arbeit am Landgericht, wo er seit 1931 als Landgerichtsrat tätig war, noch im Cafe Walz mit seinen Referendaren eine Stunde plauderte, war die aktuelle politische Lage und die wachsende Zustimmung, die der Nationalsozialismus in weiten Kreisen der Bevölkerung fand, fast immer das Thema der Gespräche. Aber keiner wollte glauben, daß es den Nationalsozialisten gelingen werde, sich für längere Zeit an der Macht zu halten. „Das große Unheil pochte schon an die Türen.“ Man hielt es für einen „häßlichen Spuk“ ®
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