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1896-1979 eine Biographie : Deutschlandpolitik unter dem Druck des Berlin-Ultimatums

Langsam konnte Schmid die ständigen Spekulationen über einen baldigen Zusammenbruch des politischen Systems der Sowjetunion nicht mehr hören. Liefen sie nicht letztendlich auf eine „Preisgabe“ der „Brüder jenseits des Eisernen Vorhangs und eine weitere Verhärtung der Nato-Doktrin“ hinaus? Schließlich wartete man schon seit 41 Jahren vergeblich auf diesen Zusammenbruch‘. Die’ historische Entwicklung sprach dagegen. Die Machtpositionen hatten sich seit Beginn der soer Jahre zugunsten der Sowjetunion verschoben. Ende 1958 fühlten sich die Kreml-Oberen auf dem Zenit ihrer Macht angekommen. Am 27. November übersandte Chruschtschow den drei Westmächten und der Bundesrepublik eine Note, in der die Übertragung sämtlicher Hoheits- und Kontrollrechte für den
Transitverkehr von und nach Berlin an Behörden der DDR angedroht wurde, falls die Westmächte nicht innerhalb eines halben Jahres mit der Sowjetunion ein Übereinkommen über die Umwandlung West-Berlins zur Freien Stadt trafen”, Die Ablehnung des Berlin-Ultimatums war bei allen Parteien einhellig. Die Frage war nur: Waren die Westmächte gewillt, im Ernstfall den Krieg zu riskieren, um die freien Zufahrtswege von und nach Berlin zu sichern? Fritz Erler war optimistischer als Carlo Schmid, der nüchtern und resigniert feststellte, daß die Sowjetunion die „Pfänder in Händen“ habe und es deshalb nicht zu umgehen sei, daß man sich auf Verhandlungen mit ihr einlasse?. Das Experiment einer Luftbrücke ließ sich seines Erachtens im „Zeitalter wirtschaftswunderlichen Standards“ nicht wiederholen. Vor zehn Jahren seien die Menschen froh gewesen, „wenn einige Kartoffeln auf den Tisch kamen“ *. Ende 1958 sähen die Dinge anders aus. Die Note, so unannehmbar sie war, konnte man nicht aus der Welt schaffen, indem man sie in den Papierkorb warf’. Wer wollte schon, daß Berlin ein neues Sarajewo werde? Schmid schlug vor, der Sowjetunion Verhandlungen über den politischen und militärischen Status eines wiedervereinigten Deutschland anzubieten, zweifelte allerdings selbst am Verhandlungswillen der Sowjetunion‘. Alles deutete darauf hin, daß die Sowjetunion eine Fixierung des Status quo erstrebte. Carlo Schmid war so ratlos wie alle anderen auch. Anfang 1959 beschloß die Parteiführung, Carlo Schmid und Fritz Erler auf Erkundungsreise nach Moskau zu schicken. Fast wäre die Tour noch geplatzt. Nachdem Ollenhauer für den 9. März eine Einladung zu einem Treffen mit Chruschtschow in Ost-Berlin bekommen hatte, hielten einige Mitglieder des Parteipräsidiums die geplante Explorationsreise der beiden für völlig überflüssig’. Schmid drängte noch mehr als Erler auf die Reise und war keineswegs gewillt, sich von seinem Vorhaben abbringen zu lassen. Beide kritisierten heftig, daß Willy Brandt eine durch Bruno Kreisky vermittelte Einladung Chruschtschows ausgeschlagen hatte. Die Kreml-Führer mußten die Absage als „Ohrfeige“ auffassen, was folgenschwere Konsequenzen haben konnte®. Doch eine vertane Chance war es wahrscheinlich nicht?. Wenn Chruschtschow zu einem großzügigen do ut des bereit gewesen wäre, hätte er wohl kaum Ollenhauer so kaltschnäuzig behandelt. * Der SPD-Vorsitzende mußte feststellen, daß das Interesse der Sowjetregierung an der Wiederherstellung der deutschen Einheit „denkbar minimal“ war. Der Ministerpräsident der UdSSR hatte ohne Umschweife seinen Standpunkt dargelegt: „Sollen wir 17 Mill(ionen) Deutsche an den westlichen Kapitalismus ausliefern?“’° Ollenhauer, der auch in ausweglosen Situationen optimistisch blieb, war trotzdem zuversichtlich. Es bestünde bei der Sowjetregierung „echte Bereitschaft zu Verhandlungen, die man allerdings äußerst hart führen“ müsse. In erster Linie sei die Sowjetunion an einer „Vereinbarung über den militärischen Status der Bundesrepublik“ interessiert“. Auch Carlo Schmid war trotz des nicht allzu ermutigenden Berichts Ollenhauers noch voller Optimismus, als er am ıı. März zusammen mit Fritz Erler das Flugzeug nach Moskau bestieg. Insgeheim scheint er gehofft zu haben, Chruschtschow ein annehmbares Verhandlungsangebot entlocken zu können‘?. Hatte er doch bei seiner letzten Moskaureise großen Eindruck auf den Kreml-Chef gemacht. Fritz Erler war etwas in Sorge, daß sein Freund im Bestreben, die festgefahrene Außenpolitik nun selbst in die Hand zu nehmen, sich zu einem unbedachten Schritt hinreißen lassen könnte“?. Schon bei der ersten Besichtigung Moskaus fiel Schmid auf, daß sich dort einiges gewandelt hatte. So trostlos wie noch vor vier Jahren sah es dort nicht mehr aus. Der Bevölkerung ging es ohne Zweifel weitaus besser als Mitte der fünfziger Jahre. Diesmal begegneten Schmid auf den Straßen Moskaus gutaussehende und gutgekleidete Menschen. Die Frauen sahen nicht mehr so verarbeitet aus und waren zum Teil sogar elegant gekleidet’*. Es war die Zeit, als die Kreml-Führung glaubte, den ökonomischen Sieg über den westlichen Kapitalismus davontragen zu können’S. Schmid hielt es nicht für ausgeschlossen, daß die kommunistischen Staaten in absehbarer Zeit einen höheren Lebensstandard als die des Westens erreichen konnten. Es war seine ständige Sorge, daß dann die vom Wirtschaftswunder verwöhnten Westdeutschen den Konsum für die Freiheit eintauschten’®. Am 14. März kam es zu ersten Diskussionen mit Mitgliedern des Auswärtigen Ausschusses des Obersten Sowjets und daran anschließend zu einer längeren Unterredung mit dem stellvertretenden Außenminister Sorin. Zwei Tage später nahm sich der Kreml-Chef fast drei Stunden Zeit; um sich mit den beiden Sozialdemokraten, die ihm als Gastgeschenk einen handgeschriebenen Brief des französischen Sozialistenführers Jean Jaures mitgebracht hatten’7, über die anstehenden politischen Probleme zu unterhalten oder genauer gesagt, um ihnen in einem ausgedehnten Monolog seinen Standpunkt darzulegen. Dem dpa-Korrespondenten, der Erler und Schmid nach der Unterredung mit Chruschtschow interviewte, fiel sofort auf, daß die beiden einen „deprimierten Eindruck“ machten, obwohl Carlo Schmid seine Enttäuschung noch hinter diplomatischen wohlgesetzten Formulierungen zu verbergen suchte’®. Der dpa-Korrespondent erfuhr, daß „die sowjetische Bereitschaft über die engen Grenzen ihrer Berlin-Vorschläge hinaus zu verhandeln“, „nicht überbewertet“ werden dürfe. Er habe trotzdem den Eindruck gewonnen, daß die Sowjetunion sich ernsthaften Verhandlungen über das Berlin-Problem nicht verschließen werde, „falls der Westen Vorschläge macht, die Moskau interessant findet“ ‚9, Als er zwei Tage später wieder in Bonn war, gab er dann offen und
freimütig zu, daß die Situation schier ausweglos war. Fritz Erler legte sich mehr Zurückhaltung auf?°,. Er war wohl auch nicht so niedergeschlagen wie sein Freund Carlo, dessen Hoffnung in Verzweiflung umgeschlagen war. Die bittere Wahrheit war, daß Chruschtschow an einem Friedensvertrag mit den beiden deutschen Staaten weitaus mehr als an einem Disengagement interessiert war”‘. Schmid glaubte, daß es der Sowjetregierung in erster Linie auf eine Umwandlung des bisherigen „De-facto-Zustandes“ in einen „De-jure-Zustand“ ankomme. Der von ihm und Fritz Erler vorgetragene Vorschlag, den Friedensvertrag mit dem Wiedervereinigungsprozeß zu verknüpfen, habe „keine Gegenliebe“ gefunden. Für die Sowjetunion komme eine Vermischung des Friedensvertragsproblems mit der Wiederherstellung der deutschen Einheit, die für Chruschtschow eine innerdeutsche Aufgabe sei, nicht in Frage””. Würde die Sowjetunion intervenieren, wenn bei deutsch-deutschen Wiedervereinigungsverhandlungen das bisherige politische System der DDR durch ein westlich demokratisches ersetzt werde? Die Antwort des Kremichefs war sibyllinisch gewesen. Schmid deutete an, daß er eine Intervention der Sowjetunion, die sich auf die Bündnisverpflichtungen des Warschauer-Paktes berufen konnte, nicht ausschloß“. An der Ernsthaftigkeit des Berlin-Ultimatums hatte Chruschtschow keinen Zweifel gelassen. West-Berlin werde nach der Umwandlung in eine Freie Stadt für die beiden Teile Deutschlands Ausland sein. Wenn der Westen nach Ablauf des Berlin-Ultimatums versuchen sollte, „den Zugang nach Berlin gewaltsam zu erzwingen, ‚würde man auf etwas stoßen‘. Die Russen würden nicht den ersten Schuß abgeben, aber den zweiten und dabei bliebe es nicht beim Einsatz konventioneller Waffen.“ *+ Das Krisenszenario, das Carlo Schmid zeichnete, war mehr als bedrohlich. Konnte man an dem bisher eingenommenen außenpolitischen Standpunkt noch länger festhalten? Die Nato-Mitgliedschaft eines wiedervereinigten Deutschland war für die Sowjetunion kein Verhandlungsobjekt mehr. Über den politischen und militärischen Status Gesamtdeutschlands brauchte man sich nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. Die Sowjetunion war an einem Handel Sicherheit für Wiedervereinigung nicht interessiert. Ollenhauers Einschätzung der politischen Absichten Chruschtschows war nicht so pessimistisch gewesen. War der Standpunkt des sowjetischen Ministerpräsidenten noch kompromißloser geworden oder hatte der SPDParteivorsitzende die Wahrheit nicht aussprechen wollen? Carlo Schmid wurde von den Parteifreunden gescholten, weil er in der Öffentlichkeit so freimütig gesagt hatte, was Sache ist”. Im gegnerischen Lager war bei einigen die Freude groß, daß die beiden Sozialdemokraten mit „hängenden Ohren“ aus der Hauptstadt der Sowjetunion zurückgekehrt waren”®. Der Kanzler hatte offensichtlich gefürchtet, daß die beiden hinter seinem Rücken außenpolitische Weichen stellen könnten. Einem seiner Diplomaten, der die beiden Moskaubesucher zu sich eingeladen hatte, ließ er durch Brentano eine herbe Rüge erteilen?”. Wer über Schmids Bericht triumphierte, gab zu verstehen, daß ihm parteitaktisches Kalkül wichtiger war als eine Lebensfrage der Nation. Noch ehe die Parteigremien getagt hatten, wurde Carlo Schmid mit der Frage konfrontiert, welcher politische Weg nun einzuschlagen sei. Auf die außenpolitische Linie der Bundesregierung, deren Politik der Stärke auf ein brinkmanship hinauslaufen konnte, wollte Schmid nicht einschwenken. Einzig in einer Politik des Disengagement sah er noch eine Chance, freilich eine winzige Chance, für die Wiedervereinigung Deutschlands. Die militärische Entspannung sei, so erläuterte er am ı8. März im Hessischen Rundfunk, „für sich ein Wert, denn wenn einmal die Russen nicht mehr in Mitteldeutschland sein sollten, dann wird es möglich sein, daß die beiden Hälften Deutschlands in einen Wettbewerb miteinander treten“” ®. Er war durchaus zu Recht davon überzeugt, „daß das System Ulbricht den Wettbewerb auf die Dauer nicht aushalten kann, wenn die Russen einmal weg sein sollten.“ Der „scheinbar so monolithische Charakter“ der DDR werde sich dann lockern, die Bevölkerung werde „in Bewegung“ kommen?°. Wenn die letzten sowjetischen Panzer aus der DDR abzogen, war den DDR-Machthabern keine lange politische Überlebensdauer mehr beschieden. Freilich: Carlo Schmid war sich nicht sicher, ob die Sowjetunion, die kein großes Interesse an einem militärischen Disengagement hatte, zu einem Truppenrückzug bewegt werden konnte. Das war der neuralgische Punkt in seinem Konzept. Er verschwieg es nicht. Im übrigen räumte er ein, daß er hier nur seine private Meinung geäußert habe, die Diskussion in den Parteigremien stehe noch aus. Wehner hatte weniger Skrupel. Schmid und Erler waren eben erst aus Moskau zurückgekehrt, da wurde auf sein Betreiben am ı9. März nach kurzer Diskussion in der Fraktion?! der unter seiner Federführung ausgearbeitete Deutschlandplan veröffentlicht. Kritik über Kritik. Angesichts der desolaten Lagebeurteilung Schmids und Erlers mutete der Deutschlandplan wie Don Quichotterie an. Schmid hatte sich gar nicht erst in die Kommission berufen lassen, die den Deutschlandplan ausarbeitete. Seine rare Zeit vergeudete er nicht gern mit abstrakten Planspielen. Manchmal mag er sich an die Weisheit des von ihm so geschätzten Brecht erinnert haben:
Ja, mach nur einen Plan Sei nur ein großes Licht Und mach’ dann noch ’nen zweiten Plan Gehn tun sie beide nicht.
Der Entspannungs- und Wiedervereinigungsperfektionismus des vorerst letzten deutschlandpolitischen Vorstoßes der SPD stand in krassem Gegensatz zur harten Wirklichkeit. Ein Disengagement sollte nur der Auftakt zur Herstellung eines europäischen Sicherheitssystems sein, wobei der Plan aber kein Junktim zwischen Fortschritten in der Entspannungspolitik und der stufenweisen Zusammenführung der beiden Teile Deutschlands vorsah. Wehner war Ulbrichts Konföderationsplänen auf halbem Wege entgegengekommen. Auf den beiden ersten Stufen des Wiedervereinigungsprozesses sollte ein paritätisch besetzter gesamtdeutscher Rat die „allmähliche Annäherung“ der „strukturell grundverschiedenen wirtschaftlichen und politischen“ Systeme herbeiführen. Voraussetzung für die deutsch-deutsche Zusammenarbeit war die Garantie der Menschenrechte und Grundfreiheiten in beiden Teilen Deutschlands3. Mit dieser letzten Bedingung stehe und falle der Plan, versicherte Schmid der Fraktion, die über den .Deutschlandplan in Streit geraten war°*. Ein jüngeres Fraktionsmitglied wagte, Zweifel anzumelden, ob unter dieser Prämisse der Deutschlandplan überhaupt realistisch sei3S. Carlo Schmid drückte sich um eine Antwort. Er verließ die Fraktionssitzung. Er hatte erhebliche Vorbehalte gegen den Deutschlandplan, was er Wehner unter vier Augen auch ganz offen gesagt hatte3°, soweit man mit Wehner darüber überhaupt offen sprechen konnte.: Allein schon Schmids Bemerkung, daß die schlechten Ergebnisse der SPD bei den letzten Meinungsumfragen auf den Deutschlandplan zurückzuführen seien, brachten den geistigen Vater des Plans in Rage?’. Um nicht den offenen Bruch mit Wehner zu riskieren, der in der Partei die stärkeren Bataillone hinter sich hatte, verteidigte Schmid in der Öffentlichkeit den Plan, interpretierte ihn aber so um, daß er mit seinen eigenen Vorstellungen und Vorschlägen vereinbar war. Sein Kurzkommentar zu dem auch innerhalb der Partei umstrittenen Plan lautete so: „Der Deutschlandplan ist als eine Offensiv- Aktion gedacht: durch eine Art Rapacki-Plan die Russen zum Abzug aus _Mitteldeutschland zu bringen und dann so nahe wie möglich dem Apparat von Pankow auf den Leib zu rücken, daß er zu Auseinandersetzungen gezwungen ist und in einen Wettbewerb treten muß, den er für die Dauer nicht wird aushalten können. Das könnte vielleicht Änderungen mit sich bringen, die weitere Änderungen auslösen könnten. Ich sage ‚vielleicht‘, denn ,Mehr als ein Vielleicht steckt auch im Deutschlandplan nicht drin. Aber solange ich noch ein Vielleicht sehe, werfe ich die Flinte nicht ins Korn, und wer glaubt, man käme mit der jetzigen Politik auch nur einen Millimeter der Wiedervereinigung näher, der hat die Flinte ins Korn geworfen.“ 3° Schmid wurde nicht müde, zu betonen, daß man erst nach Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen mit der Regierung der DDR „ins Handgemenge“ kommen könne?®. Weil er sich mit den Konföderationsplänen nicht anfreunden konnte, benutzte er zumeist die sehr delphische Formulierung „Handgemenge“. Den Kollegen in der Partei und Fraktion fleischte er ein, daß bei den deutsch-deutschen Gesprächen auf „Sauberkeit“ geachtet werden müsse. „Das erfordere von jedem Sozialdemokraten Standfestigkeit“ *. Und immer müsse man sich darüber im klaren sein: Voraussetzung für einen deutsch-deutschen Dialog über die Wiedervereinigung war, daß die Sowjetunion ihn zuließ*‘. Schmid versuchte die Partei und Fraktion auf sein im Frühjahr 1958 entwickeltes Konzept zurückzubringen. Noch einmal machte er darauf aufmerksam, daß ohne eine Anerkennung der Oder-Neifße-Linie eine Wiedervereinigung ausgeschlossen seit”. Er konnte sich auf de Gaulle berufen, der zum Ärger Adenauers dieses Tabu-Thema wieder in die öffentliche Diskussion gebracht hatte. Erörtert werden müsse auch das Problem des Friedensvertrags, der für die Sowjetunion oberste Priorität besitze. Das heiße Thema Anerkennung der DDR ließ er noch außen vor. Carlo Schmid versah den Deutschlandplan mit so vielen Wenn und Aber, daß nicht mehr viel von ihm übrig blieb. Durch den Zwist über den Deutschlandplan verschlechterte sich sein Verhältnis zu Wehner drastisch. Die Zeit der Troika, als das Dreigestirn Schmid-Wehner-Erler einträchtig in Schmids Zimmer zusammensaß, um eine gemeinsame politische Linie zu finden, war längst vorbei. Wehner fand nicht mehr den Weg zu Schmid*, und Schmid machte sich auch nicht auf den Weg zu Wehner. Als Schmid im Juli 1959 von einer Kampagne gegen Wehner wegen dessen kommunistischer Vergangenheit erfuhr, teilte er ihm dies nur schriftlich unter Hinzufügung einiger kurzer Bemerkungen mit. Wehner war zutiefst verletzt. Sein Antwortbrief zeigt, wie gespannt das Verhältnis beider wieder geworden war: „Ich bin Dir für Deine Zeilen dankbar, weil sie mir Gelegenheit geben, wenn auch nur brieflich, Dir einige Gedanken mitzuteilen, die sich sowohl auf den Brief als auch auf Deine Bemerkungen dazu beziehen. Es tut mir leid, daß es nur brieflich möglich ist, aber solange wenigstens noch diese Möglichkeit besteht, möchte ich sie nicht völlig eintrocknen lassen. Zu Gesprächen haben wir ja offenbar weder Zeit noch Gelegenheit. (…) Ich bin Dir ungeachtet dessen, was noch kommen mag, bleibend dankbar dafür, daß Du zu jenen gehört hast, die im Jahre 1957, als ich im Kesseltreiben einer Spionen-Hetze stand, sich öffentlich neben mich gestellt haben. Aber Du wirst es mir hoffentlich nachsehen, wenn ich es mit: einiger Bitterkeit verzeichne, daß ich im Grunde genommen mit der ganzen Last dieser sich periodisch wiederholenden Hetzkampagnen ziemlich allein gelassen werde.“** Nur kein völliger Bruch mit Wehner! Carlo Schmid beeilte sich, Wehner seine Freundschaft zu versichern*S. Wehner spielte den Gebrannten, schlüpfte in die Rolle des Opfers und verstand es so, sich die Solidarität seiner Konkurrenten zu erheischen. Schmid war wütend, daß Wehner der Partei den Deutschlandplan aufgezwungen hatte, während sein eigenes außen- und deutschlandpolitisches Konzept in der Partei keinen hörbaren Anklang fand. Nichts ging gegen Wehner. In einem Gespräch unter vier Augen mit dem französischen Botschafter Frangois Seydoux, in dem man sich u.a. über eine mögliche zukünftige Regierungsbeteiligung der SPD unterhielt, ließ Schmid durchblicken, daß er Wehner für einen „Militanten“ halte, der nicht dafür geschaffen sei, ein Ministeramt zu übernehmen‘. Wehners Deutschlandplan zielte auf die Herstellung eines wiedervereinigten sozialistischen Deutschland. Er rief zum „Zweifrontenkampf“ gegen die Bundesregierung und die SED auf?” und erklärte die kapitalistischen Großbesitzer zu Profiteuren der deutschen Teilung*®. Ein halbes Jahr vor der Verabschiedung des Godesberger Programms wurde in der Presse von einer „schleichenden Radikalisierung“ der SPD gesprochen®. Schmid widersprach nicht. Im Parteivorstand warnte er vor einer Verwischung der „Konturen“ zwischen SPD und SED. Eine klare Trennungslinie müsse gezogen werden, auch wenn die Gegensätze seit Stalins Tod nicht mehr „so scharf“ zu erkennen seien’°. Wehner sollte sich angesprochen fühlen. Dessen geheime DDR-Kontakte bereiteten Schmid einiges Unbehagen’. Schmid war nicht der einzige, der sich Sorgen machte. Mommer, der neben Brandt zu den schärfsten Kritikern des Deutschlandplans zählte, hatte seine Kritik an dem Wehner-Kurs in viel schärferer Form vorgebracht°”. Im Gegensatz zu Mommer ließ Schmid seinen Unmut nicht an die Öffentlichkeit dringen. In der Öffentlichkeit ausgetragene Kontroversen konnten der Partei nur schaden. Wehner rückte langsam, auf Raten vom Deutschlandplan ab. In einem vielbeachteten Spiegel-Gespräch im April 1959 unterstrich auch er, daß ohne Abzug der sowjetischen Truppen aus der DDR politische Änderungen „so gut wie unmöglich“ seien’. Er, der in der SPD im Rufe stand, ein Moskau-Kenner zu sein, war freilich weiterhin zutiefst davon überzeugt, daß es „im Bereich des Interesses der Sowjetunion liegen könnte, es mit einem Deutschland zu tun zu haben, in dessen einem Teil nicht so wie heute die SED unumschränkt, aber höchst angefochten herrscht, das dafür aber ein freundlicheres, kooperativeres Gesicht nach Osten zeigt.“ °* Gerade dies bezweifelte Schmid. Wer nicht genau las und nicht genau hinhörte, glaubte Schmid liege voll auf Wehner-Linie. Das lag nicht nur an seinen Lippenbekenntnissen zum Deutschlandplan, sondern auch an dem äußerst mißverständlichen Begriff vom nationalen Weg zur Wiedervereinigung, den er im Sommer 1959 in die Diskussion brachte. Schmid war überzeugt, daß auf „internationalem Weg“, d.h. auf dem Weg von Viermächtevereinbarungen der Wiedervereinigungsprozeß nicht mehr voranzubringen sei’°. Die Genfer Konferenz, die eine Lösung des Deutschland- und Berlin-Problems bringen sollte, hatte noch nicht einmal begonnen, da prognostizierte er schon ihr Scheitern. Er fürchtete sogar, daß die Sowjetunion
nach der Konferenz den angedrohten Separatfriedensvertrag mit der DDR abschließen werde‘. Tatsächlich markierte die erfolglos verlaufene Konferenz in Genf das „Ende der westlichen Wiedervereinigungspolitik“ 57”. Da nun auch die Westmächte das Thema Wiedervereinigung von der Tagesordnung strichen, konnten nur die Deutschen selbst, falls die internationale Situation es erlaubte, das Procedere der Wiedervereinigung vereinbaren‘®. Die Vier Mächte sollten ihnen dazu den Auftrag erteilen. Schmids beredtes Plädoyer für eine „nationale Prozedur“ gab Anlaß zu Mißverständnissen. Der CSU-Abgeordnete Freiherr von und zu Guttenberg warf Schmid vor, die Allianz mit den Westmächten aufkündigen zu wollen?. In der historischen Forschung war bald schon die Rede von einer Wehner-Schmid-Linie und einer Erler-Linie. Während Schmid und Wehner auf die Auseinandersetzung mit der SED fixiert gewesen seien, habe Erler durch Berücksichtigung der politischen Faktoren in Ost und West die SPD nach Westen hin bündnisfähig gemacht“. In Wirklichkeit stimmten Erlers und Schmids Konzept fast nahtlos überein. Erler stand dem Deutschlandplan positiver gegenüber als Schmid. Er hatte dessen Veröffentlichung ausdrücklich zugestimmt. Letztendlich vertrauten aber beide auf die Hebelwirkung eines Disengagements“‘. Man kann auch sagen, sie klammerten sich daran wie an einen Strohhalm. In einem überaus offen geführten Gespräch mit Francois Seydoux bestätigte Schmid selbst sein vollkommenes Einverständnis mit Fritz Erler, der freilich mehr Vertrauen in die Gipfeldiplomatie hatte als Schmid. Schmid betrieb keine nationale Nabelschau, obwohl sein Insistieren auf den nationalen Weg der Wiedervereinigung solche Fehldeutungen geradezu herausforderte. Er, der quer durch Europa und die ganze Welt reiste, verkannte nicht, daß man die deutsche Wiedervereinigung nicht ohne Rücksichtnahme auf das weltpolitische und europäische Koordinatensystem betreiben konnte. Wieder und wieder plädierte er im Sommer und Herbst 1959 für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten. In der großen außenpolitischen Debatte im November wollte er sich noch einmal nachdrücklich dafür einsetzen‘. Die Fraktion nominierte ihn nicht zum Hauptredner. Man zog es vor, noch einmal ein lauwarmes Bekenntnis zum Deutschlandplan abzugeben. Schmids Verzweiflung wuchs im gleichen Tempo wie seine Hoffnung auf die Durchsetzbarkeit eines militärischen Disengagements schwand. Beim Deutsch-Amerikanischen Gespräch Anfang Oktober im Hotel Dreesen in Bad Godesberg hatte er Gelegenheit, sich mit führenden amerikanischen Politikern über die Berlin-Krise und die Außenpolitik der USA zu unterhalten. Keiner der amerikanischen Gesprächspartner befürwortete eine entmilitarisierte Zone in Mitteleuropa. Gewiß, die
Teilnehmer waren einseitig ausgewählt worden. Disengagement-Befürworter wie Kennan und Humphrey fehlten. Aber seit dem Scheitern des Herter-Plans auf der Genfer Konferenz waren sie in den USA einsame Rufer. Schmid kam an der Tatsache nicht vorbei, daß sein eigenes deutschlandpolitisches Konzept im Gegensatz zur offiziellen Politik der USA stand“. Dean Acheson schlug eine Weiterentwicklung der Nato zu einer wirtschaftlichen und politischen Gemeinschaft vor, wobei die militärischen Bündnisverpflichtungen unterschiedlich gestaltet werden konnten. Schmid hielt den Plan für erwägenswert°S. Zumindest sagte er das. Vermutlich kam es ihm in erster Linie darauf an, die amerikanischen Gesprächspartner nicht durch offenen Widerspruch zu verprellen. Seine Sorge wuchs, daß in Berlin der Lattenzaun, der die Freiheit schützte, stückweise eingerissen werden könnte, wenn die westlichen Verbündeten, allen voran die USA, sich in der Berlin-Krise zu Interimslösungen bereit fänden®. Auch Carlo Schmid scheint das Schreckgespenst einer neuen Appeasement-Politik des Westens umgetrieben zu haben. Während seine Parteifreunde William S. Schlamms provokante These, man müsse der Sowjetunion mit dem Atomkrieg drohen, in helle Empörung versetzte, sah Schmid in der Provokation Schlamms einen „Stachel“, der manchen „von dem Lotterbett bundesrepublikanischer Wunderwirtschafts-Gemütlichkeit“ aufscheuchen könne”. Er war natürlich nicht über Nacht zum kalten Krieger geworden. Er stellte sich auch nicht hinter Schlamm, sondern betonte, daß man mit der Sowjetunion zu Vereinbarungen kommen müsse. Er wehrte sich aber gegen ein System von Aushilfen, Scheinkompromissen und Interimslösungen, mit dem der Westen die Krise zu überbrücken versuchte. Eine isolierte Behandlung des Berlin-Problems wollte er auf keinen Fall zulassen‘®. Das schloß Solidaritätsbekundungen mit Berlin nicht aus. Er plädierte für mehr Tagungen des Bundestages in Berlin, für die Verpflichtung zu einem einsemestrigen Studium an einer Berliner Universität und für Produktionsanreize, die Unternehmern den Standort Berlin attraktiv machen sollten. „Am 12. März 1960 versammelte sich der Parteivorstand zu einer Lagebesprechung. Für Mai war in Paris eine Gipfelkonferenz angesagt. Es stellte sich die Frage, ob die SPD mit eigenen Vorschlägen zur Gipfelkonferenz aufwarten sollte und wenn ja, mit welchen. Ollenhauer holte noch einmal den Deutschlandplan hervor, obwohl man ihn eigentlich schon ad acta gelegt hatte”°. Carlo Schmid, der nach Ollenhauer und Brandt das Wort ergriff, forderte die Parteifreunde zu einer klaren und eindeutigen Entscheidung heraus. Die Situation sei inzwischen so verfahren, daß es nur noch zwei Wege gebe: „entweder eine Politik der Härte gegenüber den Russen oder Anerkennung der Zweistaatentheorie.“7′ Er war sich ziemlich sicher, daß die Sowjetunion den Separatfrieden mit der DDR nicht nur androhe, sondern spätestens nach der Pariser Konferenz ernst damit mache. Auf der Konferenz in Paris werde Chruschtschow nicht über die deutsche Frage verhandeln. Indem er eingestand, daß die Sowjetunion an einer atomwaffenfreien und entmilitarisierten Zone nicht interessiert sei, rückte Schmid schweren Herzens von seinem Disengagement- Konzept ab, für das er zumindest vorläufig keine Verwirklichungschance mehr sah. Er endete mit der nüchternen Feststellung, „daß sich die Welt langsam an die Fakten gewöhnt, davon in politischen Fragen ausgeht und darauf aufbaut“”?. Die Westmächte spielten mit dem Gedanken einer „De-facto-Anerkennung“ der DDR, für die sich Schmid schon in seiner Bundestagsrede im März 1958 ausgesprochen hatte. Auch jetzt dachte er nicht an eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR. Er hatte sich über die juristische Problematik nicht ausgelassen, aber ausdrücklich hervorgehoben, daß die Anerkennung der DDR der einzige Weg sei, „zu konservieren, was von deutscher Gesamtstaatlichkeit noch möglich sei“73. Die „Kalte Bürgerkriegstheorie“ bot die rechtliche Grundlage dafür?*. Erst einige Jahre später entwickelte Schmid ein eigenes Anerkennungskonzept, das von Brandt in die politische Praxis umgesetzt wurde. Im Frühjahr 1960 stieß Schmid mit seinem Konzept bei Brandt noch auf wenig Gegenliebe. Der Regierende Bürgermeister Berlins setzte sofort, nachdem Schmid seine Ausführungen beendet hatte, zur Gegenrede an. Schmids Pessimismus konnte er nicht teilen: „Gerade die Berlin-Krise sei das beste Beispiel gewesen, daß es nicht nur eine Alternative gibt. Im November sah es trostlos für Berlin aus, da alle Trümpfe in der Hand des Ostens waren. Heute dagegen wäre die Verhandlungsposition für den Westen bedeutend günstiger.“75 Brandt dachte an die von Smirnow vorgetragenen Konzessionen der Sowjetunion, auf deren Basis die Westmächte zu einer Interimslösung in der Berlin-Krise zu kommen hofften”®, Brandt und Erler waren der Ansicht, daß für Chruschtschow die Androhung des Separatfriedens wichtiger als dessen Abschluß sei77. Dagegen war Schmid, für den die Appeasementpolitik des Jahres 1938 eine Schlüsselerfahrung war, der festen Überzeugung, daß Diktatoren ihre Drohungen auch wahrmachen. So gab es für ihn nur die Alternative Härte oder Eingehen auf die Zweistaatentheorie. Mit seiner Forderung nach Anerkennung der Zweistaatentheorie stand er im Parteivorstand allein. Arndt gehörte zu seinen heftigsten Widersachern. Der Kronjurist der SPD rief dazu auf, die Zweistaatentheorie, die er mit dem Grundgesetz für unvereinbar hielt, zu bekämpfen”®. Er berief sich bei seinen juristischen Darlegungen auf Schmids Ausführungen im Parlamentarischen Rat, aus denen Schmid selbst ganz andere Schlußfolgerungen zog’””. Mit dem Grundgesetz in der Hand war der Streit nicht
zu entscheiden. Es mußte eine politische Entscheidung gefällt werden. Der allgemeine Tenor lautete: die Anerkennung der DDR sollte der Regierung Adenauer überlassen werden. Carlo Schmid wurde mit erhobenem Zeigefinger ermahnt, das umstrittene Thema nicht in die öffentliche Diskussion zu bringen. Bisher war sein Eintreten für eine De-facto-Anerkennung der DDR kaum auf Resonanz gestoßen, weil die SPD den Mantel des Schweigens darüber ausgebreitet hatte. Wie schon so oft ordnete er sich auch diesmal dem Willen der Partei unter. Die sozialdemokratischen Vorschläge zur Pariser Konferenz wurden in die Form eines Briefes an Adenauer verpackt. Die Forderungen waren nicht neu. Fritz Erler arbeitete noch einmal Thesen zur Schaffung einer Zone verringerter Rüstung aus. In den von Klaus Schütz entwickelten Überlegungen zur Berlin-Frage wurde die Verantwortung der Vier Mächte für Berlin und die Verbundenheit West-Berlins mit der Bundesrepublik betont. Die Erklärung, daß die deutsche Frage auf der Tagesordnung der internationalen Konferenzen bleiben müsse, war nicht mehr als ein frommer Wunsch”. Wider besseren Wissens stimmte auch Carlo Schmid in diesen Appell ein. Um seine Skepsis zu verbergen, rettete er sich in.schöne Formulierungen. Zwei Wochen vor Beginn der. Konferenz schrieb er: „Weder Abrüstung, noch Sicherheit, noch die Berlin-Frage, noch das Problem der Koexistenz können ernsthaft in Angriff genommen werden, wenn dabei die Frage ausgeklammert wird, wie die politische Ordnung im Herzen Europas aussehen soll.“° ‚ Sein Pessimismus hinsichtlich der Erfolgschancen der Pariser Konferenz war berechtigt. Nach Abschuß eines amerikanischen U2 Aufklärers ließ Chruschtschow die Konferenz bereits im Vorbereitungsstadium platzen. In der SPD schlug die Stunde einer außenpolitischen Bestandsaufnahme, die eine Stunde Herbert Wehners wurde. Den Deutschlandplan hatte er schon im März offiziell zu Grabe getragen. Seit dieser Zeit bereitete er Zielstrebig einen außenpolitischen Kurswechsel der SPD vor. Bereits im Mai sprach er sich in der Öffentlichkeit für eine Außenpolitik der Gemeinsamkeit aus: „Die Ereignisse werden uns alle nötigen, unser Verhältnis zu den instenpolitischen Partnern und Gegnern in Sachen Außenpolitik zu versachlichen. Die Außenpolitik darf nicht zum innenpolitischen Schlaginstrument werden oder weiter als solches gebraucht werden.“ ®? Erler fürchtete, daß Adenauer zu einer gemeinsamen Außenpolitik nur bereit sei, wenn die SPD „sich selbst ohrfeigt““ 3.C arlo Schmid, der sich jahrelang vergeblich um eine gemeinsame Außenpolitik bemüht hatte, kämpfte einen verzweifelten, aussichtslosen Kampf gegen das Einschwenken auf die Adenauer-Linie°*. Als er Ende Mai beteuerte, die SPD werde sich nicht hinter die Außenpolitik der Bundesregierung stellen°, hatte er die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, daß die Mehrheit der Partei seinem außenpolitischen Kurs folgen werde. Vierzehn Tage vor Herbert Wehnersberühmter Bundestagsrede vom 30. Juni 1960 unternahm er einen letzten Versuch, die Parteifreunde für sein außenpolitisches Konzept zu gewinnen. Man müsse in der außenpolitischen Debatte aussprechen, daß die ‚ „Politik der Stärke“ in die „Ausweglosigkeit“ geführt habe. Er verlangte die Ausarbeitung eines alternativen außen- und deutschlandpolitischen Konzepts. In ihm müsse eindeutig Stellung zur Zweistaatentheorie bezogen werden°®. Im engeren Zirkel der Parteiführung gab es niemanden, der seinen Vorschlag unterstützte. Mittlerweile hatte Wehner, der Schmid sehr unwirsch abkanzelte, die Zauderer von der Notwendigkeit eines außenpolitischen Kurswechsels überzeugen können. Der sozialistische Prinzipienpolitiker hatte sich zum gewieften Taktiker gemausert. Schmid war kein Dogmatiker, der stur an einer einmal eingenommenen Position festhielt. Er fürchtete jedoch, daß eine Politik der Härte auf eine Zementierung des Status quo, auf ein Abschreiben der Menschen in der DDR und möglicherweise auch der West-Berlins hinauslaufe. Sein Mitleiden und seine Solidarität mit den Menschen in der DDR war emphatisch. Kurz vor Ausbruch der Berlin-Krise hatte er Axel Springer geschrieben: „Um eines Hundertstel dessen willen, was jenseits der Elbe geschieht, wäre früher das Gewissen der Welt aufgestanden. Heute gewöhnen sogar wir Deutsche uns an diese Dinge, als gehörten sie zum Normalen unseres Lebens.“ 87 Die Wende um 180° Grad, die Wehner am 30. Juni 1960 vollzog, wurde ihm als taktische Meisterleistung angerechnet. Der Mann, der am heftigsten gegen den Eintritt der Bundesrepublik in die Nato gefochten hatte, gelobte nun, daß für die SPD die atlantische Allianz der Rahmen und die Grundlage der Außen- und Deutschlandpolitik sei®®. Aus Schmids Mund hätte die Rede weniger sensationell geklungen. Die Notwendigkeit der Landesverteidigung und einer engen Zusammenarbeit mit den Westmäch- ‚ten unterstrich er schon lange Jahre. Daß die Bundesrepublik bis zum Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen Mitglied der Nato bleiben müsse, hatte er ebenfalls schon lange vor Wehner gesagt. Ihm ging es darum, die Westbindung durch eine aktive Ostpolitik zu ergänzen in der Hoffnung, daß sich in.einem sicherlich langwierigen Prozeß die Blöcke einmal auflösen würden. Den außenpolitischen Weg, den er aufgezeigt hatte, hielt er für den einzig gangbaren, um doch noch zu einer Wiedervereinigung zu kommen. Zum Atlantiker entwickelte er sich nie. Europa war und blieb die Bezugsgröße seines außenpolitischen Denkens. Der Dissens mit Wehner blieb der Öffentlichkeit verborgen. Schmid verteidigte die neue außenpolitische Marschroute so wortreich, daß jeder glauben mußte, er habe zusammen mit Wehner den außenpolitischen Kurswechsel eingeleitet. Er ließ die Leute in ihrem Glauben. In Wirklichkeit bedeutete die neue Linie eine schwere Niederlage für sein außen
politisches Konzept und letztendlich auch für ihn. Wehners Wende besiegelte das Ende seiner Aussichten auf die Kanzlerkandidatur, für die er lange Zeit als sicherer Aspirant galt.
Weder Bundespräsident noch Kanzlerkandidat: Das Ende aller Karriereträume
Mitte der soer Jahre hatte sich Schmid noch einmal Hoffnung gemacht, doch noch in das Rad der Geschichte greifen zu können. Nach der Gesundung von seiner schweren Krankheit und der Trennung von seiner Frau plante er in jeder Hinsicht einen Neuanfang. Wer, wenn nicht Schmid, konnte die SPD aus ihrer Talsohle herausholen? In den Jahren 1957/58 war er geradezu das Hätschelkind der Presse. Alle blickten auf ihn. Auch in der Bevölkerung war dieser elitäre Professor, den kaum einer so richtig verstand, überaus beliebt. Er galt als ein Mann, der das Herz auf dem rechten Fleck hat. Hinzu kam die Professorengläubigkeit der Deutschen. Schmid lachte herzlich über eine Glosse des „Mannheimer Morgen“, in der sich zwei Mannheimer Arbeiter über ihn unterhalten: „Schorsch, hoscht geschdern owend unsern Carlo gsehe im Fernsehe?“ „Nä, warum?“ „Also hör, der Carlo war hervorrachend! Er isch halt doch arich gscheid! Er hot jo viel Sache gsaacht, wu ich nit verschdanne hab, awer du hascht gemerkt, daß do en Professor red. Er hot ach schä erklärt, warum er zu unserer Pardei gange is. Ich kann’s der nimmi widderhole, s’war awer so richdich aus’m Herze gschbroche.“‘ Die Glosse verrät besser als jede wissenschaftliche Erörterung, warum Schmid 1958 der beliebteste Politiker der Bundesrepublik war. Wären die höchsten Ämter per Volkswahl vergeben worden, wäre Schmid sehr schnell an die Staatsspitze gelangt. Im modernen Parteienstaat aber sind politische Karrieren abhängig vom Erfolg der Partei und vom Erfolg des einzelnen innerhalb der Partei. Der Mann, dem überall attestiert wurde, daß er über den Parteien stand, wurde das prominenteste Opfer des Parteienstaates. Bereits im September 1957 hatte Marion Gräfin Dönhoff in der „Zeit“ Schmid als Nachfolger von Theodor Heuss vorgeschlagen?. Der Vorschlag fand nicht allzu viel Beachtung. Im Spätsommer 1957 zerbrach sich noch kaum jemand den Kopf über den zukünftigen Bundespräsidenten. Heuss hatte noch zwei Jahre vor sich. Erst Ende 1958 kam die Nachfolgediskussion in Gang. Da den Christdemokraten ein geeigneter Kandidat fehlte, machte sich Adenauer auf den Weg zu Heuss, um ihn zu einer nochmaligen Kandidatur zu bewegen. Eine nochmalige Kandidatur war nur bei einer Verfassungsänderung möglich. Heuss war nicht völlig abgeneigt, wollte sich aber nur darauf einlassen, wenn alle Parteien seine Kandidatur unterstützten?. Während Heuss mit sich zu Rate ging, brachte die SPD
Schmid als Heuss-Nachfolger in die Diskussion. Partei und Fraktion waren gegen eine „Lex Heuss“ *. Schmid hielt sich zurück. Beim Neujahrsempfang in der Villa Hammerschmidt drückte er seine Hoffnung aus, Heuss dort auch im nächsten Jahr die Neujahrswünsche überbringen zu dürfen‘. Aber das war natürlich auch Taktik. Er wollte wissen, ob Heuss sich schon entschieden hatte. Am 9. Februar gab der noch amtierende Bundespräsident Ollenhauer seinen Verzicht auf eine erneute Kandidatur bekannt‘. Noch am gleichen Tag beschloß das Parteipräsidium Schmids Kandidatur. Am ı2. Februar nominierten die Führungsgremien der Partei ihn zum Präsidentschaftskandidaten. Abends stellte er sich etwas schüchtern und mit übergroßer Bescheidenheit im Fernsehen vor: „Wer auch immer von der Bundesversammlung zum Bundespräsidenten gewählt werden wird, er wird es sehr schwer haben, es Theodor Heuss gleichzutun.“ 7 Heuss und Schmid wurden oft in einem Atemzug genannt. Es gab vieles, was sie verband, nicht zuletzt ihre Freundschaft. Nach Heuss’ Tod im Dezember 1963 schrieb Schmid dessen Nichte: „(I)ch habe den Mann Theodor Heuss sehr geliebt.“® Auch Heuss hatte Carlo Schmid „persönlich sehr gerne“?. Beides waren musische Menschen, die manchmal lieber Gedichte als politische Meinungen austauschten. Für beide stand Politik und Kultur in einem engen Zusammenhang. Bei Maultaschen und Uhlbacher Rotem unterhielten sie sich ebenso oft über Geschichte, Literatur und Philosophie wie über Politik. Ihre Bildung prägte ihr Selbst- und Weltverständnis. Ihr Verständnis von Politik wurzelte in antiker Staatsauffassung. Die res publica war für sie Aufgabede s mündigen Bürgers’°. Entsprechend negativ fiel ihr Urteil über die politische Kultur der Bundesrepublik aus. Heuss verstand und teilte Schmids Sorgen „über die Gesamtlage der deutschen seelischen Entwicklung“ “. Schmids Kulturkritik mag noch etwas radikaler gewesen sein als die Heuss’. Beide standen über den Parteien, waren praeceptores Germaniae, aber Schmid war „POlitischer“ als Heuss. Sein Pathos war Ausdruck innerster Betroffenheit. Heuss’ zuweilen bissige, zuweilen humorvolle Ironie war Ausdruck von Distanz. Um Heuss nicht zu kränken, sagte es Schmid zu dessen Lebzeiten nie laut: Ihm war das Bundespräsidentenamt politisch zu schattenhaft geblieben. Seiner Ansicht nach hatte Heuss die Möglichkeiten des Amtes nicht voll ausgeschöpft‘?. Schmid hatte Heuss einen „homme national“ genannt’. Oft bedachte man ihn mit ähnlichem Lob und übersah dabei, daß er auch ein Provokateur war, der heiße Eisen anfaßte und dadurch ins Schußfeld der öffentlichen Kritik kam. Als Bundespräsident hätte er seine Zunge mehr zügeln müssen als bisher. Einen Tag nach seiner Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten erklärte er einem dpa-Korrespondenten, daß ihn die Vorstellung, zum Bundespräsidenten gewählt zu werden, mit „großer Trauer“ erfülle. Dies Amt sei ein „goldener Käfig“ ‚*. Das Amt reizte ihn und es reizte ihn auch nicht. Heuss, der großen Wert auf einen würdigen Nachfolger legte, hatte einige Bedenken wegen Schmids Privatleben. Im Parteipräsidium fand eine für Schmid höchst peinliche Diskussion darüber statt. Man drängte ihn, zu seiner Frau zurückzukehren’S. Er bat um Verständnis, „daß er unmöglich mit seiner Frau zusammenleben könne. Hier könne er weder der Partei noch der Bundesrepublik ein Opfer bringen“ ‚. Er hatte selbst Furcht, daß seine Gegner eine Schmutzkampagne entfachen könnten’, und pochte deshalb nicht mit aller Gewalt auf seine Kandidatur. Das Präsidium entschied sich trotzdem für seine Nominierung, obwohl auch Max Brauer einen Anspruch auf die Präsidentschaftskandidatur angemeldet hatte. Der Hamburger Bürgermeister war überaus ungehalten darüber, daß Schmid ihm vorgezogen wurde“. Von der Parteispitze hielt einzig Wehner Brauers Kandidatur für „diskutabel“ 2, Teilte der Puritaner Wehner Heuss’ Bedenken? Oder fürchtete er, daß die Wahl Schmids zum Bundespräsidenten der Auftakt zu einer Großen Koalition sein könnte? Gerstenmaier hatte sich zustimmend zur Kandidatur Schmids geäußert. Der Bundestagspräsident hatte bereits hinter den Kulissen der offiziellen Politik Fäden zu spinnen begonnen. Er stellte Schmid ein Drittel der CDU-Stimmen in der Bundesversammlung in Aussicht, wenn er sich bis zur Bundespräsidentenwahl von seiner Frau scheiden lasse. Schmid konnte dann mit der Unterstützung des protestantisch-norddeutschen Flügels der CDU rechnen, der ihn ebenso wie Gerstenmaier gern in der Villa Hammerschmidt gesehen hätte. Koalitionspolitische Überlegungen mögen dabei eine Rolle gespielt haben. Landesbischof Lilje erbot sich, mit Lydia Schmid zu reden. Carlo Schmid bat Lilje, dies nicht zu tun. Jeder Überredungsversuch wäre vergeblich gewesen”. So hatte Schmid schon halbwegs resigniert, wenngleich der Parteivorstand seine Kandidatur fast einstimmig unterstützte. Wehner stimmte der Nominierung Schmids schließlich doch zu. Nur Brauer enthielt sich der Stimme*“. Im Regierungslager löste die Nominierung Schmids Panikstimmung aus. Der redliche, aber farblose Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Heinrich Krone, der als Heuss-Nachfolger im Gespräch war, war keine Alternativezur imponierenden Gestalt Schmids. Die von Adenauer und einigen Spitzenpolitikern der CDU betriebene Nominierung Erhards scheiterte an einer „wilden Rebellion“ der CDU/CSU-Fraktion?”. Einige Abgeordnete drohten Schmid zu wählen, um Erhard die Adenauer-Nachfolge zu sichern. Es begann ein böses Possenspiel. Carlo Schmids Einzug in die Villa Hammerschmidt zu verhindern, wurde zu einer „wesentlichen Phantasiebeschäftigung“ des greisen Kanzlers”’, der nicht verstehen wollte, daß Schmids Kandidatur in der Öffentlichkeit so viel Widerhall fand. Mit Entsetzen vernahm er, daß das Herz selbst vieler CDU-Frauen für Carlo Schmid schlug”*. Persönlich hatte er nichts gegen Schmid, aber dieser
brillante Professor war seiner Ansicht nach in der falschen Partei. Im CDU-Bundesvorstand malte er ein Schreckgemälde an die Wand: „Wenn Carlo Schmid Bundespräsident wird, dann hat er in zwei Jahren die SPD hoffähig gemacht.“ Möglicherweise würde er Arndt oder Erler zum Staatssekretär berufen, der dann an allen Kabinettssitzungen teilnehmen konnte”. Ein Alptraum für den Alten. Er war zu allem bereit, wenn er verhindern konnte, daß Carlo Schmid Hausherr in der Villa Hammerschmidt wurde. Schmid selbst rechnete sich nach der Weigerung seiner Frau, sich von ihm scheiden zu lassen, keine allzu großen Chancen aus: „Das Beste, was ich erwarten kann, ist ein Prestige-Erfolg. Es wäre schön, wenn der CDU-Kandidat nur mit einer Stimme Mehrheit durchkäme.“ ?7 Die ganze Sache begann, wie Heuss erbost feststellte, „unwürdig zu werden“ ?®, Gegen Schmid wurde eine „Flüsterpropaganda“ in Gang gesetzt”. Die Oberkirchenrätin und stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Elisabeth Schwarzhaupt erklärte in moralingesäuertem Ton, daß neben dem Staatsoberhaupt eine Frau stehen müsse, „die mit ihm zusammen das Vertrauen und das Ansehen in unserem Volk genießt“3° . Heuss hatte seine diesbezüglichen Bedenken inzwischen zurückgestellt. Ihm wäre Schmid, allein schon deswegen, weil er kein „bloßer Parteirepräsentant“ war, als Nachfolger recht gewesen?‘. Am 7. April geriet Elisabeth Schwarzhaupt in Verlegenheit. An diesem Tag gab der Witwer Konrad Adenauer einer überraschten deutschen Öffentlichkeit seine Kandidatur für das höchste Staatsamt bekannt. In der Bonner SPDBaracke brach Jubel aus. Schmid veröffentlichte sofort eine Presseerklärung: „Ich rechne es mir zu hoher Ehre, daß die CDU glaubt, nur mit ihrem besten Mann gegen mich bestehen zu können.“3 ? Die Kandidatur Adenauers war ein unerwarteter Erfolg für die SPD. Der gefährlichste Gegner räumte freiwillig das Feld. Schmid gab die Parole aus: „Laßt uns alle miteinander Adenauer auf dem Präsidentenstuhl ins Altenteil hieven.“ 3 Er jedenfalls wollte Adenauer wählen. Dessen Wahl galt bereits als ausgemachte Sache. Schmid stellte, von Euphorie ergriffen, schon Überlegungen an, in welcher Weise das in der CDU/CSU-Fraktion notwendig werdende Machtrevirement von der SPD beeinflußt werden könne. Erhard, Gerstenmaier und Schröder schleiften dort, wie Heuss mit bissiger Ironie schrieb, ihre Schlachtschwerter3*. Schmid versuchte den Parteivorstand davon zu überzeugen, daß auf jeden Fall ein weiterer Machtzuwachs des „Polizeiministers Schröder“ verhindert werden müsse. Er wünschte sich eine Stärkung des kooperationsbereiten Flügels der CDU/CSU-Fraktion3s. Natürlich dachte er, ohne das offen auszusprechen, an seinen Freund Eugen Gerstenmaier, der maßgebend daran beteiligt war, Adenauer den Präsidentenstuhl schmackhaft zu machen. Die Große Koalition schien in greifbare Nähe gerückt.
Der Triumph der Adenauer-Opponenten war zu laut gewesen. Der Alte merkte schon bald, daß er einen Fehler begangen hatte. Der ehemalige Präsident des Parlamentarischen Rates hatte die Kompetenzen, die dem Bundespräsidenten nach dem Grundgesetz zustehen, total überschätzt. Selbst bei extensiver Auslegung der Verfassung konnte er vom Präsidentenstuhl aus nicht weiter die Außenpolitik lenken. Aus Furcht, daß ein Kanzler Erhard in kürzester Zeit sein außenpolitisches Werk verspielen könnte, nahm er sogar einen eklatanten Gesichtsverlust in Kauf. Am 4. Juni verkündete er einem zum Teil verdutzten, zum Teil ergrimmten Publikum, daß er seine Präsidentschaftskandidatur zurückziehe. Gerstenmaier war darüber so erbost, daß er vergeblich die CDU/CSU-Fraktion dazu aufrief, Adenauer das Mißtrauen auszusprechen?‘. Auch Schmid konnte seine Enttäuschung kaum verbergen, die noch zunahm, als er erfuhr, daß Heinrich Lübke sein Gegenkandidat sein sollte. Verbittert stellte er fest, daß der Parteienproporz und nicht das Format des Kandidaten die Präsidentenwahl bestimmte3’. Am ı. Juli wurde Lübke im zweiten Wahlgang mit der absoluten Mehrheit von 526 Stimmen zum Bundespräsidenten gewählt. Auf Schmid entfielen 386 Stimmen, der FDP-Abgeordnete Becker erhielt 99 Stimmen. Noblesse oblige. Schmid ging als erster auf Lübke zu und gratulierte ihm. Wenngleich er gern betonte, daß Lübke nur die einklassige Volksschule im Sauerland besucht hatte, gehörte er nicht zu denen, die über den zweiten Präsidenten der Bundesrepublik witzelten und spotteten. Er rechnete es Lübke als Verdienst an, daß er das Amt politischer führte als Heuss. Immerhin gehörte Lübke, der sich für Schmids politische Ratschläge immer aufrichtig bedankte, zu den Wegbereitern der Großen Koalition. Schmid tröstete sich über die Niederlage relativ schnell hinweg. „Wahrscheinlich ist es gut so“, schrieb er acht Tage später Konrad Heiden. „(D)ie Folge wird sein, daß die SPD den Wahlkampf 1961 unter meiner Firma führen wird und dann könnte die Wahl anders aussehen als bisher.“ 3® In der Presse hatte man schon im Frühjahr lesen können, daß Schmid als Präsidentschaftskandidat nominiert worden sei, um ihn als Kanzlerkandidaten populär zu machen??. „Der Spiegel“ wußte zu berichten, daß Schmid bereits Ministerlisten zusammenstelle. Erler und Brandt stünden darauf. Wehner sei nicht für ein Ministeramt vorgesehen*°. Francois Seydoux bekam aus Schmids Munde ähnliches zu hören“. Am s. Juli hatte der Parteivorstand erstmals Überlegungen zum Wahlkampf 1961 angestellt und auch einige Vorentscheidungen getroffen. Ollenhauer verzichtete schweren Herzens endgültig auf die Kanzlerkandidatur. Willy Brandt schlug Carlo Schmid als Kanzlerkandidaten vor. Schmid wimmelte ab. Zunächst brauche man eine Mannschaft. Später müsse man dann auch einen Kapitän für sie bestimmen. Fr tat so, als ob er sich ziere, die angetragene Ehre anzunehmen: „Er wisse, wo die Grenzen seiner Eignung liegen.“ *? Er brachte eher die Bedenken der anderen als seine eigenen zum Ausdruck. Die meisten Sozialdemokraten hielten Schmid für einen ausgezeichneten Bundespräsidenten, aber für einen schlechten Bundeskanzler. Einen Schöngeist, dem man mangelnden Fleiß und geringes Durchsetzungsvermögen nachsagte, konnte man sich nur schlecht als politischen Lenker der Bundesrepublik vorstellen. Mag sein, daß er an der Innen- und Wirtschaftspolitik gescheitert wäre, wenn es dort zu größeren Konflikten und Kontroversen gekommen wäre. Seinen außenpolitischen Kurs hätte er unbeirrbar durchgesetzt. Er dachte nicht an eine reine SPDRegierung, sondern an eine Koalitionsregierung, in der seine Kompromißbereitschaft und seine Fähigkeit zum Dialog über die Parteigrenzen hinweg von Vorteil gewesen wäre. Gewiß, Zweifel sind erlaubt, ob seine eigene Partei sich immer hinter ihn gestellt hätte. Vorerst taktierte er. Eine Tübinger Genossin, die sich mit Vehemenz für seine Kanzlerkandidatur einsetzte, bat er seine Kandidatur nicht allzu sehr zu forcieren: „Die Erfahrung zeigt, daß ein zu frühes Ins-Gespräch-Kommen oft das Gegenteil des Bezweckten bewirkt.“ Er wollte sich noch nicht vergattern lassen. Sein politischer Bewegungsspielraum, so meinte er, würde dadurch eher geringer als größer**. Die Möglichkeit zum Aufbau einer innerparteilichen Fronde hatte er nicht. Wehner, Brandt und Erler, die drei anderen mächtigen Männer in der SPD, hatten mehr Rückhalt in der Partei oder zumindest eine Hausmacht, auf die sie sich stützen konnten. Willy Brandt zögerte, einen Anspruch auf die Kanzlerkandidatur anzumelden. Er konnte sich für 1965 bessere Chancen ausrechnen als für 1961. Schmid hatte lange Zeit in der Wählergunst weit vorne gelegen. Doch der Publikumsgeschmack ist launisch. Sein Ansehen sank. Brandt konnte sich in der Berlin-Krise profilieren. Immer häufiger wurde er in der Presse als Favorit genannt. Anfang 1960 befaßte sich der Parteivorstand mit der Kandidatenfrage. Wehner gab den Ton an: „In den nächsten Monaten werden wir bei ständiger Abwertung Carlo Schmids eine Aufwertung Willy Brandts bis zu dem Punkt erleben, wo Brandt dann um so tiefer stürzen wird.“ # Noch hielt Wehner an Schmid fest. Persönliche Sympathie spielte dabei nur eine geringe. Rolle. Wehner war klar, daß er Schmid noch eher als Brandt auf seinen deutschlandpolitischen Kurs festnageln konnte. Brandt verfügte im Gegensatz zu Schmid in Berlin über eine solide Truppe, die ihn unterstützte. Bei Schmid machten sich bereits Anzeichen von Resignation bemerkbar. Fatalistisch erklärte er, „daß er jede Entscheidung der Partei akzeptiere, ganz gleich, ob die Wahl auf ihn oder Willy Brandt falle“*°. Manchmal neigte er in einem Anflug von Masochismus dazu, freiwillig die Opferrolle zu übernehmen. Freilich, ohne den Rückhalt der Partei konnte er nicht in die politische Arena steigen. Er hatte wenig Möglichkeiten, sich diesen zu erzwingen.
Die Partei rückte zusehends von ihm ab. Schon Ende 1959 versuchten die Parteifreunde ihn fortzuloben. Er sollte das Präsidentenamt in der Beratenden Versammlung des Europarates übernehmen. Schmid war alles andere als begeistert: „Dieses neue Amt würde mich (…) einige 20 bis 30 zusätzliche Tage kosten.“ 7 Als Kanzlerkandidat mußte er in Bonn präsent sein. Durch seine vielfältigen auswärtigen Verpflichtungen war er ohnehin viel zu oft abwesend. Trotzdem war er bereit, zu kandidieren, wenn die Partei es wünschte. Seine Kandidatur scheiterte am Widerstand der CDU. Paul Sethe, der Leitartikler der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, war erbost darüber, daß der von ihm so hochgeschätzte Carlo Schmid nicht um die Kanzlerkandidatur kämpfte. Vorwurfsvoll fragte er Schmid, ob er „nur deshalb so gescheit über Machiavelli schreiben“ könne, weil er „so sehr, ach allzusehr über den Dingen steh(e).“ Konnte er den „Machttrieb als Beobachtender besser erläutern“, als wenn er ihn „selber in sich trüge“?*° Schmid fand sich in Sethes Bild des Machiavelli-Verehrers ohne Gespür für die Macht nicht wieder. Er widersprach: „Die Ritterlichkeit des Vercingetorix, mich waffenlos in Caesars Zelt zu begeben, liegt mir nicht in jedem Falle und dem Phänomen der Macht gegenüber habe ich nicht nur ein ästhetisches Verhältnis.“ Allein schon um der Verwirklichung seines außen- und deutschlandpolitischen Programms willen strebte er nach Macht. Erst später schrieb er wahrheitswidrig, daß die „Schlange der Politik mit den Giftzähnen des Ehrgeizes“ ihn nie gebissen habe. Kurz vor seinem Tod gestand er Ben Witter, daß es ihm an der „nötigen Härte“ gefehlt habe, die Wirkung anderer zu beschränken und die seine zu verstärken?‘. 1945 in Tübingen hatte es ihm an einem Gespür für die Macht nicht gefehlt. Damals herrschte freilich Schmid zufolge ein System des aufgeklärten Absolutismus und keine Parteiendemokratie. Er selbst hatte sich in jenen Anfangsjahren in einer euphorischen Aufbruchstimmung befunden. Auch im Parlamentarischen Rat hatte er noch sein Durchsetzungsvermögen unter Beweis gestellt. Aber er hatte es nicht verstanden, sich den Rückhalt seiner Partei zu sichern, und vielleicht war, auf die Dauer gesehen, Saturn wirklich der Gegendämon des Machtpolitikers, wie Wallenstein glaubte. Die Fäden für die Kanzlerkandidatur wurden hinter den Kulissen gesponnen. Bereits Anfang 1960 trafen sich im Hause Annemarie Rengers einige jüngere Genossen, die Fritz Erler auf den Schild heben wollten. Erler fürchtete bei der breiten Masse der Wähler wegen seiner intellektuellen Unterkühltheit nicht anzukommen‘?. Sein Bekanntheitsgrad bei den Wählern war äußerst gering?. Er strebte das Amt des Außenministers an und drängte darauf, als Schattenaußenminister aufgestellt zu werden, um seinen ehemaligen Mentor Schmid als Konkurrenten auszuschalten®*. Für die Kanzlerkandidatur schlug er Willy Brandt vor, den die Woge der Publikumsgunst immer höher trug. „Der Spiegel“ stellte bereits im April fest, daß die SPD nicht willens war, der Abwertung ihres bisherigen Kandidaten Carlo Schmid entgegenzuwirken‘®. Sie veranstaltete im Frühsommer Meinungsumfragen, bei denen Brandt klar vor Schmid lag°“. Als sich am 9. Juli etwa 80 jüngere SPD-Mitglieder in Barsinghausen versammelten, um Willy Brandt zum Kanzlerkandidaten zu küren, waren Schmids Aussichten schon auf den Nullpunkt gesunken. Die Initiative für dieses Treffen ging nicht in erster Linie von Brandt aus, der anscheinend Skrupel hatte, später sogar behauptete, Zinn wäre sein Gegenkandidat gewesen, vermutlich um seinen wirklichen Konkurrenten nicht nennen zu müssen”. Brandt wäre bereit gewesen, die ganze Sache abzublasen, wenn an der Parteispitze dagegen Bedenken bestanden hätten®. Dort bestanden aber keine. Die Entscheidung für Brandt war spätestens am 30. Juni 1960 gefallen, als Wehner die feste Verankerung der Bundesrepublik im transatlantischen Bündnis beschwor. Der Regierende Bürgermeister Berlins hatte enge Verbindungen zu den Vereinigten Staaten. In Washington gab es Kräfte, die einen Kanzler Brandt einem Kanzler Adenauer vorzogen°?., Carlo Schmid hatte auf den Tagungen der Bilderbergkonferenz Kontakte zu amerikanischen Politikern geknüpft. Aber enge Beziehungen hatte er nur zu Kennan. Kissinger schätzte ihn, aber es scheint nicht häufig zu einem Meinungsaustausch zwischen beiden gekommen zu sein. Schmid war kein Atlantiker, er war Europäer. Wehner, der lange Zeit Schmid favorisiert hatte, war nun plötzlich ein energischer Verfechter einer Kandidatur Brandts. Auf einer Klausurtagung am ı1. Juli, zu der sich das Parteipräsidium und eine siebenköpfige Wahlkampfkommission versammelten, fiel die definitive Entscheidung für Brandt. Am 24. August wurde Brandts Kandidatur offiziell bekanntgegeben, nachdem zuvor Parteivorstand und Parteirat ihr zugestimmt hatten. Schmid, der in seiner Ferienhütte in der Provence Abstand von den Bonner Machtrivalitäten zu gewinnen suchte, wurde zum stellvertretenden Mannschaftsführer ernannt‘”. Fritz Erler, der diese Funktion gern übernommen hätte, konnte sich nicht durchsetzen‘“. Schmid fraß die Niederlage in sich hinein, wollte sie vielleicht auch noch gar nicht ganz wahrhaben. Einer enttäuschten Anhängerin schrieb er Anfang September: „(K)eine der Gleichungen, die man heute aufstellt, wird in drei Monaten noch stimmen. Es werden noch viele Entscheidungen zu treffen sein, ehe es zu dem kommt, was so viele für die Entscheidung halten.“ ° Das außenpolitische Szenario konnte sich schnell ändern. Schmid klammerte sich an einen Strohhalm, um nicht ganz zu resignieren. Nach außen hin ließ er sich seine Enttäuschung kaum anmerken. Brandt dankte ihm für seine „noble Haltung“ und bat ihn um eine enge Zusammenarbeit: „Es wird darauf ankommen, daß wir einen wirklichen Arbeitskontakt herstellen und uns vornehmen, wirklich an einem Strang zu ziehen®. Carlo Schmid ließ Brandt seine Verbitterung nicht spüren. Die loyale Zusammenarbeit mit Brandt war für ihn selbstverständlich. Mit Brandt und Schmid trafen zwei Männer zusammen, die einen ganz unterschiedlichen Lebensweg hinter sich hatten. Der fast zwanzig Jahre jüngere Brandt war in der Arbeiterbewegung groß geworden. Nach unbehauster Jugend mußte er emigrieren. Norwegen und Schweden wurden seine zweite Heimat. Er lernte den skandinavischen Wohlfahrtsstaat kennen, den er nun auch in der Bundesrepublik verwirklichen wollte. Der junge Willy Brandt verkörperte den Fortschrittsoptimismus der sechziger Jahre. Er ließ sich zum deutschen Kennedy stilisieren. Wie sollte er mit dem radikalen Kulturkritiker Schmid, für den der moderne Wohlfahrtsstaat die Gefahr einer Korrumpierung der Massen mit sich brachte, zusammenarbeiten? Brandt schätzte Schmid, aber zu dem Stefan-George-Mann fand er keinen Zugang. Er hatte manchmal den Eindruck, daß dessen Bildungsbeflissenheit eine Pose sei°*. Schmid hatte das Gefühl, daß Brandt seine Erfahrung und Bildung zu wenig schätzte und war darüber gelegentlich auch etwas verbittert°S. Der Stachel der Niederlage saß bei ihm verständlicherweise tief. Für ihn war die Nominierung Brandts, dem er seine Publizitätssüchtigkeit verübelte, eine Kontribution an den Publikumsgeschmack. Gewiß, Brandts Begabung hatte er schnell erkannt. Schließlich hatte er sich mit dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit für Brandts Nominierung zum Regierenden Bürgermeister von Berlin eingesetzt und ihn auch für ein Ministeramt vorgesehen. Doch jetzt erschien ihm dieser Mann doch etwas zu eindimensional, der ganze Fortschrittsoptimismus zu aufgesetzt. Später stellte er erstaunt fest, daß Brandt ein viel „komplizierterer Mensch“ sei, als er das gedacht habe’. Das war ein großes Kompliment. In den siebziger Jahren lobte er Brandts Mut zur Vision, den man bei aller Verschiedenheit gemeinsam habe°*. In der Deutschland- ‚ und Ostpolitik zog man von Anfang an an einem Strang. Wenn es zu Auseinandersetzungen kam, konnte Brandt auf Schmids Beistand vertrauen. Einen ernsthaften Streit hat es zwischen beiden wohl nie gegeben. Aber bei allem Verständnis und menschlichem Wohlwollen, das man füreinander aufbrachte, blieb doch eine unüberwindbare Distanz, zu der Schmid mehr beitrug als Brandt. Schmid entfloh erst einmal den Widrigkeiten der Bonner Politik. Ge. rade erst zurückgekehrt aus dem Urlaub in der Provence, trat er eine Ostasienreise an, die ihn durch Japan, Korea, Vietnam und Hongkong führen sollte. Die Interparlamentarische Union hatte ihre Mitglieder für Ende September 1960 nach Tokio eingeladen. Abrüstung, Stabilisierung der Rohstoffpreise, Kolonialismus und Demokratie in Asien waren Pro- . grammpunkte der Konferenz. Der Kalte Krieg bestimmte die Debatten auch dieser Tagung. Die Abgesandten des Sowjetblocks griffen die Bundesrepublik wegen ihrer „militaristische(n) und neonazistische(n) Tendenzen“ an. Carlo Schmid stellte mit Sorge fest, daß die meisten westlichen Verbündeten die Angriffe unwidersprochen ließen. Durch das Wiederaufleben des Antisemitismus war das Ansehen der Bundesrepublik in der Welt stark gesunken. In seiner eigenen Rede wandte sich Schmid insbesondere gegen den Begriff der friedlichen Koexistenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus, durch den der wirkliche Konflikt zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker auf der einen Seite und dem sowjetischen Imperialismus auf der anderen Seite verdeckt werde’°. Nach Abschluß der Tagung flog er mit einigen anderen Mitgliedern der deutschen Delegation nach Korea, wo sich Gelegenheit zu einem Besuch des Parlaments und zu einem Meinungsaustausch mit dem Präsidenten Syngman Rhee bot. Bei einer Rundreise durch das Land drang man bis in das Niemandsland am 38. Breitengrad vor. Carlo Schmid war erschrocken über die „grassierende Korruption“ in Südkorea und Vietnam, die die politische Stabilität dieser Staaten unterhöhlen mußte. Auf die Jugend dieser Länder übte das kommunistische China eine große Anziehungskraft aus”‘. Die Schönheit Japans ließ die düsteren politischen Eindrücke vergessen. Reisen in die Ferne sind nicht nur politisch lehrreich, sondern immer auch eine touristische Attraktion. Manchmal blieb Carlo Schmid den Sitzungen fern, um die Pagoden, Kunstwerke und Gärten Japans zu bewundern. Helmut Schmidt erinnert sich, daß sein Freund Carlo Schmid ganz besonders von der Schönheit der Frauen hingerissen war??. Carlo Schmid berichtete nach Bonn, daß sein Freund Helmut Schmidt noch mehr Sitzungen „schwänze“ als er”3. „Man möchte träumen, aber man darf es nicht.“ ”* Es gab Augenblicke, da verwandelte sich Japan für Schmid in ein Märchenland. Die fernöstliche Kultur entrückte ihn der harten Realität der Politik. Einige Jahre später sandte er seiner Mitarbeiterin Friedel Ahlgrimm eine Karte, die auf der Vorderseite einen Buddha-Kopf zeigte. Auf die Rückseite schrieb er, daß er sich in einer solchen ‚‚Enthobenheit“ einmal wiederfinden möchte”. Mitte Oktober war er wieder in Bonn, wo er sich wie in der „Verbannung“ fühlte. Kimonos hatte er mitgebracht und einige Farbholzschnitte, die ihn an die „Wonnen Ostasiens“ erinnerten”, In Bonn begann langsam der Vorwahlkampf. Auf dem Mitte November in Hannover stattfindenden Parteitag wollte die SPD Meilensteine auf dem Weg zu einer neuen Politik setzen. Eine Politik neuen Stils, geprägt durch Sachlichkeit und Offenheit, sollte dort verkündet werden. Als der Parteitag am 21. November begann, sah es so aus, als ob die SPD endgültig allen Ballast über Bord geworfen habe. Außer einer roten Fahne erinnerte nichts mehr an die Parteitradition. Alles schien bestens vorbereitet. Dann passierte gleich zu Beginn eine schwere Panne. In seinem Eröffnungsreferat erklärte Ollenhauer unter brausendem Beifall, daß die
SPD die atomare Aufrüstung der Bundeswehr weiterhin ablehne, denn seit dem Godesberger Programm habe sich „nichts ereignet“, was zur „Aufgabe des bisher eingenommenen Standpunktes veranlassen“ könne’7. Jeder mußte glauben, die SPD habe erneut eine Wende um 180° vollzogen. Brandt, Wehner und Carlo Schmid saßen mit versteinerten Gesichtern auf der Vorstandstribüne”®. Ollenhauer hatte Adenauer das Stichwort gegeben, um die SPD wieder als außenpolitisch unzuverlässig zu brandmarken. Zusammen mit Fritz Erler und Helmut Schmidt versuchte Carlo Schmid die Delegierten für die außenpolitische Resolution des Parteivorstandes zurückzugewinnen, in der eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr nicht gänzlich ausgeschlossen wurde”. Seine Losung „Politik kann man nicht auf seinen Wünschen aufbauen, man muß sie machen auf Grund der Verhältnisse, wie sie sind“ °°, wurde zum Leitmotiv des Parteitages“. Er hatte es auf sich genommen, am Ende des Parteitages den neuen Kanzlerkandidaten vorzustellen und den Appell von Hannover, der eine Art vorweggenommenes Regierungsprogramm war, zu verlesen. Leicht dürfte es ihm nicht gefallen sein, sich mit hochlobenden Worten hinter Brandt zu stellen, der bei den Wahlen zum Parteivorstand ein weitaus schlechteres Ergebnis erzielt hatte als er°?. Aber er tat es mit einer Überzeugungskraft, daß alle glauben mußten, er habe seit eh und jeh für eine Kanzlerkandidatur Brandts plädiert”. Der Appell von Hannover trug Brandts Handschrift, nicht die seine. Schmid hätte niemals die Verdoppelung des Lebensstandards noch in dieser Generation zu einem zentralen Postulat erhoben. Nur ein Passus des Appells entsprach ganz Schmids Vorstellungen und dürfte wahrscheinlich auch von ihm stammen: „Deutschland muß eine Regierung haben, die die Herausforderung der kommunistischen Welt annimmt, und ihr nicht nur mit militärischen Rüstungen, sondern auch mit geistiger und sozialer Aufrüstung begegnet, die darum die technischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Begabungen in unserem Volk fruchtbar werden läßt, die den jungen Menschen die besten Schulen und Ausbildungsstätten verschafft und allen den Weg zu Bildung-und beruflichem Aufstieg frei macht.“ % Schmid verstand es, durch seine eindringlichen Worte den Parteitag zu mobilisieren. Der Dissens über die Atombewaffnung war vergessen. Man schied in großer Einmütigkeit auseinander. Der alte Paul Löbe schrieb Schmid einen Geburtstagsbrief, in dem er ihm mit fast überschwenglichen Worten auch zu der abschließenden Leitung des Parteitages gratulierte: „Durch Dich erreichte der Parteitag eine glückliche Höhe, und dies empfanden viele in unserer Gemeinschaft als ein Ereignis, das einmal historische Bedeutung gewinnen wird.“°S Auch Schmid war, obwohl er nicht jede Zeile des Appells von Hannover unterschreiben konnte, mit dem Verlauf des Parteitages sehr zufrieden. „Der Parteitag in Hannover war
ein großer Erfolg, endlich ist die SPD zu dem geworden, zu dem ich sie machen wollte“, berichtete er drei Wochen später einem im Ausland lebenden Bekannten®”. Der neue Gemeinsamkeitskurs der SPD, der in der Presse als alternativlose Leisetreterei kritisiert wurde, ging ihm jedoch etwas zu weit. Soviel pragmatischen Opportunismus brachte der Visionär Schmid nicht auf. Er hielt nichts von Brandts Slogan „Wir sind alle eine Familie.“°” Er war der Auffassung, daß man im Wahlkampf eine klare Alternative aufzeigen müsse. Seine Betroffenheit über die deutsche Teilung ließ ihn kämpferisch wie ein Emile Zola werden. Ein j’accuse wollte er der Bundesregierung entgegenschleudern. Anfang April erläuterte er Brandts Wahlkampfmanagern seine Vorstellungen über die Wahlkampfführung: „Die Wahlreisen von Willy Brandt in der Bundesrepublik sollten unter dem Motto stehen: ‚Ich klage an!‘ Eine Sympathiewelle allein reiche zu einem Wahlerfolg nicht aus. Angeklagt werden sollte jedoch nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die Sowjetunion und Chruschtschow, deren Politik die Bereitschaft der SPD, im Interesse der Nation und des Friedens auf gewisse Dinge zu verzichten, unmöglich gemacht hat.“° ® Willy Brandt, der zu Beginn des Jahres Schmid noch einmal um eine enge Zusammenarbeit gebeten hatte”, griff den vorgeschlagenen Slogan in dem von ihm am 28. April in der Bonner Beethovenhalle vorgestellten Regierungsprogramm der SPD auf. Er warf der Bundesregierung nicht nur Fehler in der Außen- und Deutschlandpolitik vor, sondern auch ein Verschleppen der großen Gemeinschaftsaufgaben, eine Gefährdung der demokratischen Fundamente der inneren Ordnung der Bundesrepublik und Schwäche und Opportunismus gegenüber den Interessengruppen. Ansonsten war das Regierungsprogramm auf den neuen Gemeinsamkeitskurs abgestellt. Die großen Gemeinschaftsaufgaben Volksgesundheit, Städtebau- und Raumordnung, Finanzreform, Vermögensbildung auf breiter Grundlage, Bildung und Forschung bildeten den programmatischen Schwerpunkt?°, Im außenpolitischen Teil des Programms wurde die Notwendigkeit einer Arbeitsteilung im atlantischen Bündnis hervorgehoben. Die Zweistaatentheorie wurde ausdrücklich abgelehnt?‘. Schmid verschwieg, was er dachte. Ihm konnte nicht daran liegen, dem Parteigegner Wahlkampfmunition zu liefern. Er versuchte die SPD als die Regierung von morgen darzustellen. In seinen einleitenden Worten zum Regierungsprogramm hob er das staatspolitische Verantwortungsbewüßtsein der SPD hervor: „Die Regierung Willy Brandt wird eine Staatsregierung sein und nicht eine Parteiregierung, die glauben könnte, daß das, was für die Partei gut sein mag, auch für den Staat gut sein müsse.“ Unterderhand ließ er wieder einmal seine Abneigung gegen die moderne Parteiendemokratie durchblicken.
Der außenpolitische Gemeinsamkeitskurs machte es Carlo Schmid schwer, sich als zukünftiger Außenminister zu profilieren. Außerdem machte ihm Fritz Erler dieses Amt streitig. Überall in der SPD wurde gemunkelt, daß er für dieses Amt wegen seiner einseitigen Bindung an die romanische Welt nicht geeignet sei??. Er war in den letzten Jahren viel gereist und keineswegs nur in die Länder des romanischen Sprachkreises. In Polen, der Sowjetunion, Israel, Marokko, Island, Finnland und Schweden war er mit Regierungsvertretern zusammengekommen. Die Reise nach Finnland war politisch so erfolgreich gewesen, daß Außenminister Brentano sich genötigt sah, Schmid zu seinem politischen Erfolg zu gratulieren ®*, Freilich, als Außenminister in spe brauchte er vor allem gute Verbindungen zur amerikanischen Führungsmacht. Ein im Februar vom American Council on German und der Atlantikbrücke veranstaltetes Deutsch-Amerikanisches Gespräch bot Gelegenheit zur Kontaktaufnahme mit Persönlichkeiten der neuen Kennedy-Administration. Der neue amerikanische Außenminister Dean Rusk wurde als Gesprächsteilnehmer erwartet. Auch Adenauer hatte ursprünglich an der Konferenz teilnehmen wollen, dann aber seinen Außenminister nach Washington entsandt?°. Schmid wollte schon vor seinen Parteifreunden Erler, Deist, Brauer und Helmut Schmidt nach Washington reisen, um dort vor der Tagung einige politische Unterredungen führen zu können. Im Dezember schon hatte er seinen früheren Schüler Georg Federer gebeten, ihm Zusammenkünfte mit einigen Politikern aus dem Umkreis des Council on Foreign Relations zu vermitteln. Wenn es sich einrichten ließ, wollte er auch mit einigen Journalisten, möglichst Sulzberger, Lippmann oder Alsop, zusammentreffen. McCloy und Shephard Stone wünschte er in alter Verbundenheit wieder einmal die Hand zu schütteln”, In seiner Rede, die er vor dem deutsch-amerikanischen Gesprächskreis hielt, trug er Kennedys Programm der New Frontier Rechnung. Für die amerikanische Forderung nach einem burden sharing, insbesondere auf dem Gebiet der Entwicklungspolitik, zeigte er großes Verständnis. Zur „geistigen Aufrüstung“ gegen den Kommunismus schlug er eine Forschurigskooperation zwischen den USA und der Bundesrepublik vor?”. Nach einem längeren Gespräch mit Kennan stellte er mit Genugtuung fest, daß die neue Militärstrategie der USA mit den sozialdemokratischen Vorstellungen fast völlig übereinstimmte?®. Daß die Amerikaner zu einer Aufnahme diplomatischer Beziehungen der Bundesrepublik mit Polen drängten, verstand er nur zu gut. Kurz vor seiner Abreise in die USA hatte er selbst die Bundesregierung dazu aufgefordert und sie scharf kritisiert, weil sie die Vermittlungsbemühungen Bertold Beitz’ nicht genug unterstützt hatte. Ebenso erschrocken wie Erler war er über den starken Sympathieverlust, den die Bundesrepublik in den USA erlitten hatte.
Schuld daran seien die Emigrantenhetze, die Hakenkreuzschmierereien und die Fälle Oberländer und Globke’“. Er hätte als Außenminister mit den Amerikanern eine gemeinsame außenpolitische Linie finden können. Freilich, ein Mann der Amerikaner wäre er nie geworden. Sein ganzer Habitus widersprach der amerikanischen Mentalität. Am ır, Juni hatte Chruschtschow seine Drohung mit einem Separatfriedensvertrag erneuert. Carlo Schmid nahm das Chruschtschow-Memorandum ernst’°‘, Die von Brandt angeregte Aufklärungskampagne in der Berlin- und Deutschlandfrage fand seine volle Zustimmung. Falls die Frage vor die UNO käme, müßten alle Mitgliedsstaaten informiert sein’”?. Mit eigenen Vorschlägen hielt er sich entsprechend der in der Parteiführung getroffenen Vereinbarungen zurück’”. Man wartete auf Initiativen aus dem Regierungslager. Am 30. Juni hielt sein Freund Eugen Gerstenmaier im Bundestag eine mutige Rede, in der er Verhandlungen über einen Friedensvertrag mit Deutschland als ein Gebot der Stunde bezeichnete. Dabei müsse auch über den politischen und militärischen Status des zukünftigen Gesamtdeutschland und über die Frage der Reichsgrenzen gesprochen werden’“#*. Carlo Schmid war der erste, der Gerstenmaier zu dieser Rede beglückwünschte’°. Die SPD, allen voran Schmid, begrüßte die Rede Gerstenmaiers als einen Ansatzpunkt, um zu einer gemeinsamen außenpolitischen Bestandsaufnahme zu kommen’“. Schmid mochte gehofft haben, sein eigenes außenpolitisches Konzept doch noch in die Diskussion einbringen zu können. Zur gemeinsamen außenpolitischen Revision kam es nicht, weil der Bundeskanzler seinen aufmüpfigen innerparteilichen Gegenspieler zur Parteiräson rief. Der Wahlkampf ließ die meisten Politiker den Ernst der Lage vergessen, obwohl die Fluchtbewegung aus der DDR rapide zunahm, so daß mit Aktionen gerechnet werden mußte. Schmid überraschte der Mauerbau nicht. Am 8. August veröffentlichte er in der Münchener „Abendzeitung“, für die er seit einiger Zeit regelmäßig Kolumnen schrieb, einen Artikel mit der Überschrift: „So denken die Franzosen“. Er hätte auch schreiben können: So denkt Carlo Schmid, denn nicht nur die Franzosen, auch er selbst stellte sich die besorgte Frage: „Wenn das Ventil Berlin von den Sowjets geschlossen würde, kann es dann in der Zone nicht wieder einen Überdruck an Widerstandswillen geben, einen neuen 17. Juni?“ Er scheint blutige Auseinandersetzungen, einen Einmarsch der Sowjetunion in die DDR befürchtet zu haben. Drei Tage später berichtete er im Parteivorstand, daß in Washington die Lage sehr kritisch eingeschätzt werde. Er habe vertrauliche Informationen, daß man in den USA „verstimmt“ sei, weil man sich dort bemühe, „einen Ausweg aus der Krise zu finden, und die Bundesregierung völlig passiv“ bleibe. Die USA habe eine sofortige Verlängerung der Dienstzeit der Wehrpflichtigen gefordert. Die Bundesregierung sei aber nicht initiativ geworden!”, Anscheinend wußte Schmid nicht, daß Adenauer aus wahltaktischen Gründen es abgelehnt hatte, die zur Entlassung stehenden Wehrpflichtigen wieder in die Kasernen zurückzuschicken’®®. Die von den USA angeregten Verhandlungen mit Moskau sollten nach dem Willen des Bundeskanzlers bis nach den Wahlen verschoben werden. Auch Wehner dachte zuerst an die Wahl. Einzig Schmids Forderung nach Einberufung des Verteidigungsausschusses wurde von ihm akzeptiert. Ansonsten aber verordnete er der Partei Schweigen, „solange die Bundesregierung nichts sagt“. Wehner war zwar auch der Meinung, daß einige deutschlandpolitische Tabus nicht mehr lange aufrechterhalten werden könnten, wollte aber alle Entscheidungen bis nach der Wahl vertagen“°. Schmid gab sich geschlagen. In der modernen Demokratie bestimmte der Wahlkampf das politische Handeln. Noch am selben Tag begab auch er sich auf Wahlreise. In 34 Städten trat er als Redner auf. An die 100 Kundgebungen und Wahlversammlungen hatte er bis zum ı6. September zu absolvieren. Die Nachricht vom Mauerbau erreichte ihn auf der Wahlreise von Würzburg nach Schney“!. Er unterbrach den Wahlkampf für fünf Tage. An entscheidender Stelle in das Geschehen eingreifen konnte er nicht. Er hielt die Bildung einer Großen Koalition für ein Gebot der Stunde. Die Krise konnte nur gemeinsam gelöst werden. Die Hoffnung schwang mit, daf% Adenauer als Regierungschef abgelöst werde, dessen außenpolitische Unbeweglichkeit er für den Mauerbau mitverantwortlich machte“”, Wehner war erbost, daß Schmid das Thema Große Koalition aufgeworfen hatte. Die SPD dürfe sich auf solche Diskussionen nicht einlassen“?. Warum erläuterte er nicht. Wollte er die FDP als Koalitionspartner nicht verprellen oder fürchtete er, daß Gerstenmaier und Schmid hinter seinem Rücken irgendwelche Vereinbarungen treffen könnten? Brandt setzte schließlich die Formulierung durch, daß eine „Regierung auf breiterer Basis“ anzustreben sei“*. “ Die Sozialdemokraten blickten dem Wahlausgang mit viel Optimismus entgegen. Schmid gab keine Prognose ab. Journalisten, die ihn kurz vor der Wahl nach deren Ausgang fragten, mußten sich mit Hegelscher Dialektik begnügen: „Der Ausgang der Wahl wird im geraden Verhältnis zur politischen Intelligenz des deutschen Volkes stehen. Ich schätze diese Intelligenz hoch ein. Ob ich mich darin getäuscht habe oder nicht, werden wir morgen wissen. Zuweilen erlaubt sich die Vernunft, in Gestalt ihres Gegenteils aufzutreten. Dies muß dann aus Respekt vor der Vernunft hingenommen werden.“ “5 Zu Sarkasmus neigte er immer, wenn er ziemlich hoffnungslos war.