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1896-1979 eine Biographie : Landeschef in Württemberg-Hohenzollern

Amerikaner und Franzosen waren nach Deutschland gekommen, um in dem von einer obrigkeitsstaatlichen Tradition geprägten Land einen demokratischen Staat aufzubauen. Sie kamen als Militärs und reklamierten alle Gewalt für sich. Auf den Widerspruch zwischen Besatzungsherrschaft und Demokratie ließen sie sich nicht gerne ansprechen. Carlo Schmid scheute sich nicht, laut zu sagen, was ist. In Anlehnung an Carl Schmitts bekanntes Diktum „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, zerstörte er die von Amerikanern und Franzosen aufgebaute Fiktion, daß der staatliche Neubeginn in Deutschland ein demokratischer sei: „Souverän ist, wer über den Belagerungszustand entscheidet, und das tut niemand anders als die Militärregierung. Demokratie ohne Souveränität ist ein Widerspruch in sich selbst, nicht nur aus historischen Gründen – alle demokratischen Revolutionen hatten zum Ziel die Errichtung der Volkssouveränität – sondern auch aus Gründen, die in der Sache selbst liegen. Demokratie bedeutet ja nichts anderes, als daß das Volk aus eigenem Willen über sich selbst verfügt.“ Die Rede, die er am ı8. September 1945 in Stuttgart hielt, endete mit dem Satz, „daß heute Demokratie in Deutschland nicht möglich ist.“‘ Das mußte in den Ohren der Besatzungsmächte provokativ klingen. Schmid hatte freilich keinerlei Interesse daran, die Besatzungsmächte zu provozieren. Er fürchtete, daß den deutschen Politikern, die unter den Bedingungen der Besatzungsherrschaft Verantwortung übernommen hatten, abermals nachgesagt würde, sie seien Erfüllungspolitiker, „Knechte des Siegers“*, die sich von der Besatzungsmacht als willfähriges Werkzeug benutzen ließen. Um dies zu vermeiden, stellte er klar, wer der alleinige Machtträger im Lande war.
Autoritär war nicht nur die Struktur des Besatzungsregimes, sondern auch die politische Organisation der entstehenden Länder. Es gab Regierungen und Verwaltungen, aber keine Volksvertretungen und Parteien. Die Presse stand unter Zensur. Der privilegierte Zugang zu den Spitzen der Besatzungsmacht machte den Regierungschef nahezu unabhängig von seinen Kollegen im Kabinett. Carlo Schmid sprach von „aufgeklärter Demokratie“ in Anlehnung an den aufgeklärten Absolutismus?. Die Demokratie entwickelte sich erst langsam aus einem Regime, das viel Ähnlichkeit mit dem des aufgeklärten Absolutismus hatte. Schmid kam es durchaus entgegen, daß die Franzosen einen Neubeginn von oben wollten. Er hegte noch immer eine heimliche Bewunderung für den aufgeklärten Absolutismus und dessen kulturelle Leistungen. Als Bonner Politiker blickte er oft wehmütig auf die schöne Zeit in Tübingen zurück, wo die Parteien noch kaum eine Rolle spielten. Im nachhinein verklärte sich vieles. Ein Duodezfürst nämlich, wie böse Zungen behaupteten‘, war er nicht. Er, mußte einen Staat aus dem Nichts bauen, noch dazu unter einer Besatzungsmacht, die ihm die Arbeit nicht immer leicht machte.
Die Auffassung der französischen Besatzungsmacht, daß das deutsche Volk zur Demokratie erst erzogen werden müsse, teilte er. Ohne „ernsten Willen zur Verantwortung“ waren seines Erachtens politische Ansprüche nichts’anderes als, „politisches Gefasel“5. Demokratie könne nicht von heute auf morgen verwirklicht werden: „Die Entwicklung wird sich in langsamen Übergängen vollziehen müssen, etwa so, daf% man in das heute noch rein administrative Gefüge des Staatsapparates immer mehr und von Stufe zu Stufe fortschreitend demokratische Elemente einbaut, die dann allmählich sich zu einer Staatsdemokratie ausweiten werden.“° Carlo „Schmid war nicht der einzige Regierungschef, der es begrüßte, daß die Besatzungsmächte die Gründung der Parteien und die Bildung von Volksvertretungen verzögerten. Auch sein Stuttgarter Kollege Reinhold Maier war froh, daß er zunächst von parteipolitischen Auseinandersetzungen verschont blieb. Beide verstanden sich wohl auch deshalb recht gut, weil sie keine ausgesprochenen Parteipolitiker waren.
Schmid war mehr Administrator, als Parteipolitiker, freilich kein Bürokrat – das war er beileibe nicht. Über niemand spottete er soviel als über Fachleute und Bürokraten. Ihnen wollte er den Neuaufbau Württemberg- Hohenzollerns nicht anvertrauen. In Südwürttemberg gab es keine Zentralbehörden. Die Landesdirektionen mußten buchstäblich aus dem Nichts heraus aufgebaut werden. Das Gebäude in der Nauklerstraße 47, in der die Staatskanzlei und die Landesdirektionen für Kultus und Justiz untergebracht waren, befanden sich in einem fürchterlichen Zustand. Die Tapeten hingen halb abgerissen von den Wänden, außer einigen alten Sofas gab es kaum Sitzgelegenheiten und obendrein roch es auch noch übel, weil das Gebäude gerade erst desinfiziert worden war. Die äußeren Widrigkeiten lähmten die Arbeit nicht. Es herrschte große Euphorie und ein enges Zusammengehörigkeitsgefühl”.
Carlo Schmid hatte ein gutes Gespür für die Eignung von Personen und konnte zudem zahlreiche frühere Freunde für die Mitarbeit gewinnen. Junge Leute wollte er um sich haben. Kokett erklärte er, daß er der älteste Beamte des Staatssekretariats bleiben müsse‘. Er war damals noch nicht ganz fünfzig. Da das Reservoir an unbelasteten kompetenten Personen klein war, war Patronage das Gebot der Stunde. Schmids Stellvertreter in der Kultdirektion wurde sein Schüler Dieter Roser, der die Dichtung Georges und vor allem die Baudelaires nicht weniger liebte als sein Lehrer”. Für den Bereich der Kunst war zunächst Zweigert zuständig, danach Gustav Adolf Rieth, den Schmid vom Künstlerstammtisch des Cafe Völter her kannte’°. Wolf Donndorf, sein persönlicher Sekretär, war ihm von Gerd Müller, Schriftsteller und ebenfalls Stammtischkunde im Cafe Völ- ‚ter, empfohlen worden. Auch er war musisch veranlagt, später leitete er als Ministerialdirigent die Abteilung Kunst im Kultusministerium in Baden- Württemberg“. Gebhard Müller wurde kommissarischer Leiter des Justizressorts. Müller war zwar ein Bürokrat, doch Schmid schätzte die Zähigkeit, mit dem dieser auch spröde Aufgaben gewissenhaft erledigte. So einen Mann brauchte er für das Justizressort, um das er sich selbst nur wenig kümmern konnte. Müller freilich war verschnupft und wollte zunächst alles hinwerfen. Es bedurfte Schmids ganzer Überredungskunst, um ihn doch noch für die Mitarbeit zu gewinnen‘?. Schmid ernannte ihn zum Ministerialrat. Müller leitete das Justizressort weitgehend selbständig. Nur ab und zu gab der Chef einige Direktiven’3,
Das Finanzressort leitete Paul Binder, ein versierter Nationalökonom, der vor 1945 als stellvertretender Direktor der Dresdner Bank und selbständiger Wirtschaftsprüfer tätig war. Binder, den Schmid aus dessen Studienzeit in Tübingen kannte, war nach dem Vorsitzenden der einflußreichste Mann im Staatssekretariat“4. Gustav Kilpper und Lothar Ross-
mann hatte Schmid nolens volens übernommen. Mit Lothar Rossmann, dem Sohn des späteren Generalsekretärs des Länderrates Erich Rossmann, kam er überhaupt nicht zurecht. Er war ihm ein zu „pingeliger Aktenmensch“, so daß er auf seine Ablösung drängte, was ihm Erich Rossmann anscheinend sehr übelnahm’°. 1946 konnte er die Ernennung seines Freundes Victor Renner zum Landesdirektor des Innern durchsetzen. Das Wirtschaftsressort übernahm 1946 Eberhard Wildermuth, mit dem Schmid die gemeinsame Erinnerung an den Kampf im Studentenbataillon verband. Clemens Moser, der Vertreter Hohenzollerns, verfügte nur über geringe Durchsetzungskraft. Parteipolitische Gesichtspunkte hatten bei der Stellenbesetzung keine Rolle gespielt. Paul Binder und Gebhard Müller wurden zu Mitbegründern der CDU in Württemberg-Hohenzollern, was Schmids Verhältnis zu beiden nicht im geringsten trübte.Bei den zweimal in der Woche stattfindenden Direktoriumssitzungen war Schmid der „primus supra pares“’°. Er bestimmte die Richtlinien der Politik, noch ehe die Richtlinienkompetenz des Regierungschefs verfassungsrechtlich verankert war. Daß er in den Verfassungsberatungen für sie eintrat, gründete in seiner Regierungspraxis’7. Dabei leitete er die Direktoriumssitzungen keineswegs autoritär. In Detailfragen gab er manchmal sogar nach und pochte nicht auf die Durchsetzung seiner Auffassung. Er hatte den Blick für das Ganze, für das politische Koordinatensystem, wie er selbst zu sagen pflegte, und legte so die großen Linien in der Entnazifizierungs- und Verfassungspolitik, in der Schul- und Kunstpolitik fest. Auch in die Wirtschaftspolitik mischte er sich manchmal ein, obwohl er von Ökonomie nicht sehr viel verstand. Er sprühte vor Einfällen und Ideen und wirkte so auf fast allen Gebieten anregend. Kärrner- und Detailarbeiten ließ er gern seine Mitarbeiter erledigen. Das heißt nicht, daß er keine Akten las. Er konnte gelegentlich Referentenentwürfe sehr stark überarbeiten, wenn es sich um wichtige Materien, wie z.B. die Bodenreform, handelte’®. In jener Zeit sah man ihn oft mit hochgekrempelten Ärmeln in seinem Büro sitzen‘. Er bemühte sich trotz Aktenstudiums kein Bürokrat zu werden. Einem Freund aus alten Tagen berichtete er, daß er selbst dann, „wenn er sich um die Versorgung der Menschen mit Kartoffeln bekümmer(e)“, aus demselben „Zentrum der Seele“ heraushandle, „das ihn in müßigen Zeiten Verse schreiben ließ“ °, Manchmal schrieb er noch welche. Gebhard Müller ertappte ihn gelegentlich dabei, wie er versteckt hinter Bergen von Akten an Versen feilte!.
Mußestunden hatte er kaum noch – auch nicht seine Mitarbeiter, die er forderte. Das Staatssekretariat mußte mit einem Drittel der Beamten auskommen, über die die Landesverwaltung in Stuttgart verfügte. Die Landesdirektion für Kult begann mit neun Personen. Eine der ersten Maßnahmen, die Schmid anordnete, war die Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit der Angestellten der Tübinger Verwaltung auf 48 Stunden.
Auch das Wochenende war nicht immer frei. Der Sonntagsdienst blieb keinem erspart”. Ein Vierteljahr, nachdem das Staatssekretariat seine Tätigkeit aufgenommen hatte, verfügte Württemberg-Hohenzollern über eine funktionsfähige Verwaltung. In Stuttgart war man noch lange nicht so weit. Gouverneur Widmer war beeindruckt. Zu Neujahr beglückwünschte er Schmid zu dem zügigen Auf- und Ausbau der Landesdirektionen°*. Schmid seinerseits war der französischen Besatzungsmacht dankbar, daß sie keine schematische politische Säuberung der Verwaltung verlangte wie die Amerikaner in ihrer Zone. Dadurch war ihm der Aufbau eines Verwaltungsapparates erleichtert worden.
Ein einheitlicher Verwaltungsstil war nur möglich, wenn es gelang, zum Unterbau der Verwaltung in den Kreisen und Gemeinden Kontakte herzustellen. Seit November 1945 rief Schmid allmonatlich die Landräte zu einer ganztägigen Beratung mit dem Direktorium zusammen. Die Landrätekonferenzen trugen viel dazu bei, daß die Verwaltung in Südwürttemberg so gut funktionierte. Die lokalen französischen Militärbehörden hatten gleich nach der Besetzung ihnen genehme Bürgermeister und Landräte eingesetzt, in denen sie Erfüllungsgehilfen für ihre jeweiligen lokalen Besatzungsmaßnahmen sahen. Die Landrätetagungen sollten eine Zersplitterung der Verwaltung und einen allenthalben um sich greifenden Bezirksegoismus verhindern. Demokratische Foren waren es nicht. Nur die Besatzungsmächte wollten sie als solche verstanden wissen, weil sie den undemokratischen Charakter der Besatzungsherrschaft nicht gerne zugaben. Carlo Schmid ließ keinen Zweifel darüber, daß die Landrätetagungen nur „administrativen Charakter“ hatten und keine Gremien waren, in denen politische Entscheidungen fielen*‘.
Es war zunächst gar nicht leicht, die Landräte, die sich wie Kreiskönige aufführten, zur Zusammenarbeit mit dem Staatssekretariat zu bewegen. Carlo Schmid mußte sie recht energisch dazu auffordern, ihre Sorgen nicht beim zuständigen Kreiskommandanten vorzutragen, sondern dem Staatssekretariat mitzuteilen. Ein Gebiet, in dem jeder Landrat nur seinen Kreis im Auge habe, könne nicht verwaltet werden“. Die Landrätekonferenzen, die immer an einem anderen Ort stattfanden, begarinen mit einem einleitenden Referat des Vorsitzenden des Staatssekretariats, das zumeist nicht nur einen politischen Lagebericht enthielt, sondern auch eine Lektion in „Staatsbürgerkunde“ war?””. Schmid, der Lehrer und Erzieher aus Leidenschaft, betrieb politische Pädagogik, die auch vonnöten war, denn nur wenige machten sich damals Gedanken über den Neuaufbau des Staates. Studenten könnten anhand der Protokolle der Landrätekonferenzen lernen, „wie man einen Staat baut“, schrieb er später”*.
Schmid, der einst so schüchterne junge Mann, mußte gelegentlich recht energische Töne anschlagen. Die Landräte mußten begreifen, daß Maßnahmen und Anordnungen der Besatzungsmacht, die das Mißfallen der Bevölkerung hervorriefen, nicht einfach obstruiert werden durften. Das galt für die Entnazifizierung ebenso wie für die Ablieferung landwirtschaftlicher Produkte an die Besatzungsmacht. Immer wieder versuchte Schmid die Einsicht dafür zu wecken, daß die politische Säuberung eine Notwendigkeit war und kein Oktroi der französischen Militärregierung. Man solle sich bei der Durchführung der politischen Säuberung nicht als „Büttel“, sondern als „politischer Arzt“ fühlen”?. Seine flammenden Worte über die Notwendigkeit einer politischen Säuberung entsprangen eigener innerer Überzeugung. Wie aber sollte er die Landräte dazu anhalten, bei den Ernte- und Ablieferungssätzen für Lebensmittel keine falschen Zahlen anzugeben, wo doch jeder wußte, daß die Lebensmittelrationen nirgends so niedrig lagen wie in der französisch besetzten Zone? Er hatte Verständnis für das Verhalten der Landräte. Der Schwarzmarkt jedoch verschlimmerte die Ernährungskrise nur. Das Mißtrauen der Militärregierung wuchs, so daß das Ablieferungssoll immer höher geschraubt wurde. Die Landräte mußten erkennen, daß sie sich selbst schadeten, wenn sie die Besatzungsmacht zu hintergehen versuchten?°. Carlo Schmid hatte die undankbare Aufgabe, die Landräte zur Durchführung von Anordnungen des Staatssekretariats aufzufordern, die Anordnungen der Militärregierung waren, aber nicht als solche ausgegeben werden durften?“.
Die Landräte, allen voran ihr Sprecher Victor Renner, machten ihrerseits auf die Mißstände in ihren Kreisen aufmerksam. Grund zum Klagen gab es genug. Requisitionen, Beschlagnahmungen, Demontagen, Entnahmen von Lebensmitteln machten jedem Landrat zu schaffen, ebenso die Einschränkung seiner Kompetenzen und materiellen Mittel zur Durchführung seiner Aufgaben. Schmid gab zu, daß ihre Kritik berechtigt war. Auf den Konferenzen waren in der Regel keine Mitglieder der französischen Militärregierung anwesend, so daß eine freie Aussprache möglich war. Die Protokolle über die Landrätetagungen wurden allerdings nachträglich von der französischen Militärregierung zensiert. Schmid war froh, wenn die Landräte ihre Beschwerden und Petitionen in scharfer Form vortrugen. Die Landräte waren weniger ein „Widerlager“ gegen die Politik des Staatssekretariats?? als eine Stütze des Staatssekretariats gegen die Politik der Besatzungsmacht. Carlo Schmid konnte bei den Verhandlungen mit der Militärregierung auf die Petitionen und Interpellationen der Landräte verweisen},
Nach hitziger Debatte setzte man sich zu einem Abendessen und einem „eirenischen Umtrunk“ zusammen’#. Es gehörte zu den Maximen Schmids, daß man am weißen Tisch leichter zu Vereinbarungen komme als am grünen. Im vertrauten Gespräch konnte er auch schon einmal unkonventionelle Methoden empfehlen, um Anordnungen der Besatzungsmacht zu umgehen. Zudem konnten die Mitglieder des Direktori-
ums so einer Einladung durch die Kreisgouverneure entgehen. Die Landräte blieben fast immer bis zum Schluß, weil sie sich das Abendessen nicht entgehen lassen wollten. Zunächst gab es warme Brezeln und Viertele, später auch mal ganze Menüs mit Buttercremetorte zum ‚Nachtisch, für die Carlo Schmid eine ganz besondere Schwäche hatte. Als die Bevölkerung davon erfuhr, herrschte helle Empörung darüber, daß die „Herren“ praßten, während das Volk hungerte. Schmid ließ bekannt geben, daß die Landrätekonferenzen auch in Zukunft mit einem Abendessen enden würden? 5.-Er heischte nicht nach Popularität und wurde trotzdem bald populär.Was er damals auf Befehl der Besatzungsmacht durchsetzen mußte, brachte ihm freilich nur selten den Beifall der Bevölkerung ein. Auf den Landrätetagungen konnte er sich die notwendige Autorität verschaffen, damit Anordnungen des Staatssekretariats, auch wenn sie unpopulär waren, durchgeführt wurden. So verfügte Württemberg-Hohenzollern schon bald über eine einheitliche und effiziente Verwaltung, die seit Ende 1946 von einem Verwaltungsgericht kontrolliert wurde. Schmid freute sich insbesondere, daß durch die Landrätekonferenzen die Verwaltung nicht in bürokratischer Routine erstarrte, sondern eine „spannungsreiche und lebendige Angelegenheit“ blieb3°. Die klassische Zeit der Landrätetagungen ging im Mai 1947 mit der Abstimmung über die Verfassung von Württemberg- Hohenzollern zu Ende.
Schon zuvor waren demokratische Elemente in den autoritären Verwaltungsstaat eingebaut worden. Am 22. November 1946 trat in Bebenhausen ein Landtag zu seiner ersten Sitzung zusammen. Er hatte allerdings nur beratende Funktion und unterlag auch sonst zahlreichen Beschränkungen durch die französische Besatzungsmacht. Bereits am 15. September und 13. Oktober 1946 wurden die Einwohner Südwürttembergs und Hohenzollerns zur Wahlurne gerufen. Zu wählen waren die Kreisversammlung, der Gemeinderat und der Bürgermeister. Sowohl die Gemeinde- als auch die Kreisordnung waren von der französischen Militärregierung gegen den Willen des Staatssekretariats erlassen worden, dessen eigene Entwürfe die Militärregierung abgelehnt hatte. Auf Mißfallen bei den Verantwortlichen auf deutscher Seite stieß insbesondere die Ersetzung des bisherigen „Berufsbürgermeisters“ durch einen „ehrenamtlichen“ Bürgermeister?”. Schmid hatte wiederholt bei Gouverneur Widmer gegen die Einführung eines „ehrenamtlichen“ Bürgermeisters interveniert. Er hätte es gern gesehen, wenn die Bürgermeisterwahlen zumindest in den großen Städten verschoben worden wären. Noch gab es ihm zu wenig aufgeklärte Demokraten. Er fürchtete zudem um die Effizienz der Verwaltung, da unter den gegebenen Verhältnissen „Zufallswahlen“ nicht ausgeschlossen werden konnten’. Die Interventionen bei Widmer waren umsonst. Es blieb ihm nur der ohnmächtige Protest. Wie ein „Schulbube“ werde er und seine Kollegen im Direktorium von der französischen Besatzungsmacht behandelt, schimpfte er auf einer Landrätekonferenz im September 1946°°. Regierungschef in der französischen Besatzungszone zu sein, glich manchmal tatsächlich einem „Gang durch tausend Erniedrigungen“ #, Die Interventionen und Eingriffe der französischen Militärregierung nahmen zunächst nicht ab, sondern zu. Generaladministrator Laffon hatte die Passivität der Militärverwaltung in Südwürttemberg gerügt und Sanktionen angedroht. Der Gouverneur in Tübingen verfuhr der Militärregierung in Baden-Baden zu gemäßigt*‘. Schmids Handlungsmöglichkeiten verringerten sich. Das Besatzungsregime entwickelte sich immer mehr zu einem allgegenwärtigen Interventions- und Kontrollregime. Das Staatssekretariat diente als Exekutive der französischen Militärregierung, was allerdings nach außen hin nicht sichtbar werden sollte. Sie verbat sich, daß Erlasse den Passus „Auf Anordnung der Militärregierung“ enthielten*°, Erlasse und Anordnungen bedurften der Genehmigung Gouverneur Widmers, selbst wenn es sich um Runderlasse innerhalb der Behörden handelte. Auch Stellenbesetzungen durften nicht ohne Zustimmung der Militärbehörden vorgenommen werden.
Carlo Schmid traf jeden ersten und dritten Dienstag im Monat zu Besprechungen mit Gouverneur Widmer und seinem Kabinettschef de Mangoux zusammen, in denen er einen Bericht über die Tätigkeit des Direktoriums abzugeben und Beanstandungen und Aufträge der Militärregierung, die zunächst oft „Befehlsausgaben“ glichen, entgegenzunehmen hatte*. Die Besprechungen verliefen, was den politischen Teil anging, häufig in einer frostigen Atmosphäre, obwohl Widmer und de Mangoux gezielte Demütigungen vermieden, und sich Schmid insbesondere mit de Mangoux überaus gut verstand. Bei den meisten Angehörigen der Militärregierung herrschte eine Siegermentalität vor. Es kam des öfteren vor, daß Schmid auch als Regierungschef noch stehend referieren mußte** oder um Mitternacht aus dem Bett geklingelt wurde, um irgendwelche Auskünfte zu geben, die er am nächsten Morgen noch genausogut hätte erteilen können*5. Dem ersten Besatzer, der ihm einen Stuhl angeboten hatte, dankte er noch Jahre später dafür“. Carlo Schmid, der Demütigungen ohnehin nur schlecht verkraften konnte, ächzte unter den Kröten, die er zu schlucken hatte’. Verbittert stellte er fest, daß nach dem alliierten Handbuch für die Behandlung Deutschlands fast alle Militärverwaltungsbeamten aus dem Dienst entlassen werden müfßten*°. Solche Kritik äußerte er selten in Briefen. Die französische Militärregierung übte eine strenge Brief- und Telefonkontrolle aus, der auch die Post des Vorsitzenden des Staatssekretariats unterzogen wurde.
Requisitionen und Lebensmittelentnahmen wurden als gerechte Sühne für das Leiden der französischen Bevölkerung unter der deutschen Besatzung und für die von Deutschen in Frankreich begangenen Verbrechen betrachtet*?. Es war frustrierend für Carlo Schmid, immer wieder von neuem darlegen zu müssen, daß es „psychologische und materielle Grenzen“ der Lebensmittelablieferung gab, zumal die Vorbehalte immer so vorgebracht werden mußten, daß kein Konflikt mit der Militärregierung Entstand’°. Auch um Requisitionsbestimmungen mußte noch immer gerungen werden. Schmid ließ Informationen über Übergriffe von seiten der Besatzungstruppen sammeln, um bei der Militärregierung deren Einstellung zu’erreichen‘‘. So mußte er oft die undankbare Rolle des Bittstellers übernehmen. Erschwerend kam hinzu, daß die Zuständigkeiten innerhalb der Militärverwaltung nicht geklärt waren, so daß sich die Anordnungen und Anweisungen der einzelnen Abteilungen der Militärverwaltung, in denen sich ein Ressortegoismus ausbildete, konterkarierten‘”. Nur mit viel „Geschicklichkeit“ und einer „gewissen Geschmeidigkeit“ könne man die französische Militärregierung zu Zugeständnissen bewegen, erklärte Schmid am 4. Mai 1946 den in Tettnang versammelten Landräten, die ein energischeres Auftreten gegenüber der Besatzungsmacht gefordert hattenS?. Auf die Dauer gesehen war seine Methode erfolgreich. Es gelang ihm, die Maßnahmen der französischen Besatzungsmacht abzumildern und Schritt für Schritt Aufgaben in deutsche Zuständigkeit zu überführen. In den Augen mancher Franzosen war Schmid ein „excellent comedien“, der allerlei Listen anwand, um seine Ziele zu erreichen. Das war nicht abfällig gemeint, sondern beinahe schon bewundernd°*. Er besaß eine gewisse schwäbische Schlitzohrigkeit und er schreckte auch vor unkonventionellen Mitteln nicht zurück. Hellmut Becker, damals Rechtsanwalt in der Zahnradfabrik in Friedrichshafen, erinnert sich, daß Schmid ihm zur Korruption riet, um wertvolle Rembrandt- und Rubensstiche vor dem Zugriff der Franzosen zu bewahren’. Becker folgte Schmids Rat und hatte Erfolg.
Die Franzosen liefen ihn viele Kröten schlucken. Trotzdem betonte er, daß er froh sei, in der französischen Zone zu sein°, Es gab einige Bereiche, in denen sich seine Vorstellungen und Pläne, mit denen der französischen Besatzungsmacht weitgehend deckten: die Kultur-, Bildungs- und Jugendpolitik und vor allem die Entnazifizierungspolitik. Wenn er Ende 1945 den „konstruktiven Willen“ der französischen Besatzungsmacht lobte, so meinte er vor allem deren Haltung in der Frage der Entnazifizierung”.
Pädagogische Provinz: Entnazifizierungs-, Jugend- und Kulturpolitik
„Die politische Säuberung, im allgemeinen Denazifikation genannt, ist eines der wichtigsten und bösesten Probleme, mit denen wir uns herumzuschlagen haben. Je nachdem, wie wir vorgehen, kann sich das, was auf diesem Gebiet geschieht, zum Segen oder zum Unsegen für unser Volk auswirken.“‘ Als Carlo Schmid am 9. Januar 1947 vor der Beratenden Landesversammlung Württemberg-Hohenzollerns so seine Ausführungen zur Entnazifierungspolitik begann, war um die politische Säuberung bereits ein heftiger Streit entbrannt. War die Entnazifizierung ein Rechtsproblem oder war sie ein politisches Problem? War es möglich, Tätern, die laut Strafgesetzbuch nichts Verbotenes getan hatten, mit juristischen Mitteln oder gerichtsähnlichen Verfahren beizukommen? Schmid glaubte es nicht”. Deshalb war er froh, daß das von der amerikanischen Besatzungsmacht eingeführte Spruchkammersystem, das einem gerichtsähnlichen Verfahren glich, in der französischen Zone nicht zur Anwendung kam. Als die französische Besatzungsmacht im Oktober 1945 eine Direktive zur Entnazifizierung erließ, die Ähnlichkeit hatte mit dem Formalismus und Schematismus der amerikanischen Belastungskategorien, intervenierte Schmid sofort bei der Militärregierung. Mit Erfolg. Sie bestand nicht weiter auf die von ihr verfügten automatischen Entlassungen. Man kam überein, in jedem einzelnen Fall eine „individuelle Prüfung“ vorzunehmen. Strenge Maßstäbe sollten lediglich bei den Beamten in politischer Stellung angelegt werden?.
Im Gegensatz zur amerikanischen Militärregierung begnügte sich die französische mit einer Überwachung des Säuberungsverfahrens, für das deutsche Stellen die Verantwortung trugen. Die Entnazifizierung oblag zunächst lokalen, aus Gegnern des Nationalsozialismus zusammengesetzten Kreisuntersuchungsausschüssen, die abgestufte Sanktionsvorschläge von Geldbußen bis zur Entlassung unterbreiten konnten. Die Kreisuntersuchungsausschüsse arbeiteten ohne „formale Rechtsgrundlage“ +, so daß ihre Urteilspraxis sehr disparat war. Schmid war mit dem Modus und der Praxis der Säuberung unzufrieden. Zunächst hatte er gefürchtet, daß die „Scharfmacher“ in den Kreisuntersuchungsausschüssen sich für überzogene Mafsnahmen aussprechen könnten’. Nun mußte er feststellen, daß die Ausschüsse eine zu große Milde walten ließen. Im Bereich der Wirt- ° schaft war die Entnazifizierung überhaupt noch nicht in Gang gekommen. Die Landesdirektoren für Wirtschaft und Finanzen versuchten die Bestimmungen zur Wirtschaftssäuberung so zu fassen, daß sie nahezu folgenlos bleiben mußten“. Schmid konnte sich damit nicht einverstanden erklären. Er verlangte, daß die verhängten Geldbußen mindestens so hoch sein mußten, daß die „Bereicherung abgeschöpft“ werde’. Im Direktorium hatte er Schwierigkeiten, sich mit dieser Auffassung durchzusetzen. Dem Argument, daß durch die politische Säuberung der Wiederaufbau gefährdet werde, trat er mit dem Vorschlag entgegen, sich rechtzeitig nach geeigneten Kandidaten zur Übernahme der Betriebe umzusehen®. Auch dieser Vorschlag stieß im Direktorium auf wenig Gegenliebe.
Im Frühjahr 1946 schlug die französische Militärregierung einen radikalen Kurswechsel in der Entnazifizierungspolitik ein. so% aller Beamten, die Mitglieder der NSDAP waren, sollten entlassen, so-75 % aller ehemaligen nationalsozialistischen Betriebsführer enteignet werden. Die Zustimmung der Parteien hierfür hatte die französische Militärregierung ‘mehr oder weniger erpreßt?. Carlo Schmid durchschaute den Kurswechsel der Franzosen sehr schnell als einen Propagandacoup, den man brauchte, um die in Frankreich bevorstehenden Wahlen zu gewinnen. Er glaubte, daß im Höchstfall 35% der belasteten Beamten und Betriebsführer entlassen werden konnten’°, Seinen französischen Gesprächspartnern, die auf radikale Maßnahmen drängten, gab er zu bedenken, daß man dem Nazismus seine Truppen lasse, wenn man ein Drittel der Bevölkerung in die Opposition zum neuen Staat treibe“. Diesem Argument konnte sich auch die französische Militärregierung nicht verschließen.
Schmid befürwortete die gesellschaftliche Integration der ehemaligen Nationalsozialisten, soweit sie nicht zu den „Hauptschuldigen“ zählten, denen jeglicher Einfluß auf das öffentliche Leben verweigert werden sollte. Zu den Hauptschuldigen rechnete er nicht nur Gauleiter und Reichsleiter von NS-Organisationen, sondern auch alle die, „die ihren Mitbürgern das Leben höllisch schwer gemacht haben“, z.B. Denunzianten’*, Sie hatten während der dreißiger Jahre sein eigenes Leben in Gefahr gebracht. Für sie konnte es keine Milde und Nachsicht geben. Auch die Mitläufer sollten einen „Denkzettel erhalten“ in Form finanzieller Bußen. Schmid begriff die Entnazifizierung nicht nur als ein politisches, sondern auch als ein moralisch-pädagogisches Problem. In Vermögens- und Gehaltskürzungen sah er die „einzig wirksame Art und Weise, die Menschen zum Nachdenken über das Vergehen und über die eigene Beteiligung an dieser Vergangenheit zu veranlassen“ ‚3. Ohne einen solchen Lernprozeß hielt er einen politischen Neuanfang nicht für möglich. Damit bei den Betroffenen nicht das Gefühl aufkomme, aus Rache „um eine Geldmenge geschröpft“ worden zu sein, wurden die Geldbußen zur Begabtenförderung verwandt’*. Schmid war ein unverbesserlicher pädagogischer Optimist. Die Idee war glänzend. Die ehemaligen Mitläufer legten einen „persönlichen Baustein für die deutsche Zukunft“ ‚5. Doch die meisten Betroffenen waren unbelehrbar und hielten die Geldbußen für höchst ungerecht. Ende März 1946 begann er zusammen mit seinen Mitarbeitern eine diesen Zielen entsprechende Rechtsanordnung zur politischen Säuberung auszuarbeiten, die Mitte Mai der französischen Militärregierung, die trotz ihrer rigorosen Verlautbarungen keinen eigenen detaillierten Plan zur Entnazifizierung ausgearbeitet hatte, vorgelegt werden konnte. Widmer beglückwünschte Schmid zu der „vorzüglichen Arbeit“, die bei der Militärregierung in Baden-Baden den besten Eindruck gemacht habe’°. Die Anordnung deckte sich mit Vorstellungen, die Laffon bereits im August 1945 entwickelt hatte, die Schmid freilich nicht kannte’”. Am >8. Mai 1946 erhielt die Anordnung Gesetzeskraft.
Die Rechtsanordnung sicherte der Landesdirektion ein entscheidendes Mitspracherecht bei der politischen Säuberung, die keinen strafrechtlichen Charakter hatte, sondern in einem reinen Verwaltungsverfahren durchgeführt wurde. Allein verantwortlich für die Entnazifizierung war ein dem Staatssekretariat unterstellter Säuberungskommissar, der bereits Mitte April ernannt worden war. Schmid hatte sich für Otto Künzel entschieden, dessen Arbeit als Leiter des Kreisuntersuchungsausschusses in Reutlingen von der französischen Militärregierung als „mustergültig“ bezeichnet worden war. Künzel war 1932 der SPD beigetreten und hatte sich während der NS-Zeit einer Reutlinger Widerstandsgruppe angeschlossen. Er galt als energisch und entschlossen genug für dieses undankbare Amt’®,
Durch die Zentralisation des Säuberungsverfahrens sollte eine einheitliche Urteilssprechung garantiert und die beschleunigte Durchführung der Entnazifizierung erreicht werden. Schon aus psychologischen Gründen hielten sowohl Schmid als auch die französische Militärregierung einen schnellen Abschluß der politischen Säuberung für notwendig. Für Künzel war das keine leichte Aufgabe. Er mußte wöchentlich bis zu 2000 Entscheidungen fällen und zudem noch gegen Verschärfungen kämpfen, die die Militärregierung forderte, die immer noch an ihrer so %-Klausel festhielt. Mit Unterstützung Schmids gelang es Künzel, die verlangten Verschärfungen wieder rückgängig zu machen oder wenigstens abzumildern‘?. Solche Bemühungen konnten Schmid und Künzel freilich nicht an die große Glocke hängen. So wurde Künzel in der Bevölkerung für die Verschärfung der Entnazifizierung verantwortlich gemacht. Die Künzel- Bescheide gerieten in das Kreuzfeuer der Kritik. Bei dem Druck, unter dem Künzel arbeiten mußte, waren Fehlbescheide unvermeidlich. Sie wurden zum Anlaß genommen, um das ganze Verfahren zu diskreditieren. Es half nur wenig, daß Schmid sich hinter Künzel stellte und ihm bescheinigte, daß seine Arbeit, „was Qualität und Menge anbetrifft“, nicht besser hätte geleistet werden können“.
Bei den Landrätetagungen mußte Schmid feststellen, daß die Entnazifizierung immer unpopulärer wurde. In der Bevölkerung herrschte eine Schlußstrichmentalität. Im Sommer 1946 mahnte er: „Wir dürfen in dieses ganze Säuberungsverfahren nicht Mental-Reservationen hereinbringen, indem wir so tun als ob. Wir müssen die politische Säuberung ernsthaft durchführen.“ *'“ Trotz Schmids Mahnworten wuchs der Widerstand gegen die Entnazifizierung in der Bevölkerung und auch in den Tübinger Landesdirektionen, die die Säuberung der Wirtschaft zu obstruieren versuchten. Dabei hatte Schmid in Absprache mit der französischen Militärregierung die Grundsätze für die politische Säuberung in der Wirtschaft so festgelegt, daß „katastrophale Auswirkungen“. für den wirtschaftlichen Wiederaufbau vermieden werden konnten”,
Je mehr die Parteien zu politischen Machtträgern wurden, je weniger konnte sich der Regierungschef Württemberg-Hohenzollerns durchsetzen. Konservative Kreise, einschließlich der CDU, versuchten das Säuberungsverfahren in Mißkredit zu bringen. Ende 1946 entstand eine heftig geführte Kontroverse darüber, ob das bisherige Verfahren beibehalten oder wie in der amerikanischen Zone ein Spruchkammersystem eingeführt werden solle. Im Februar 1947 setzte die französische Militärregierung dem Streit ein Ende, in dem sie die Einführung eines Spruchkammerverfahrens, das sich mir in Einzelpunkten von dem der amerikanischen Zone unterschied, anordnete. Carlo Schmid war enttäuscht und empört über diesen Oktroi der französischen Militärregierung, die damit ihre Zusage, den Deutschen die Entnazifizierung selbst zu überlassen, zurücknahm. Für den plötzlichen Gesinnungswandel der Franzosen waren interalliierte Beschlüsse verantwortlich, nicht Bedenken gegen das Verfahren an sich”’. Das tröstete Schmid nur wenig. Die Anordnung der französischen Besatzungsmacht war eine Absage an sein Konzept der Entnazifizierung, dessen Vorteile gegenüber einem gerichtsähnlichen Verfahren auch in den übrigen Besatzungszonen anerkannt worden waren”*. Nicht höher als 5% habe die Fehlerquote gelegen, verteidigte Schmid das bisherige Verfahren. Künzel habe eine „sehr menschliche Haltung“ eingenommen im Vergleich zu den ursprünglichen Forderungen der Militärregierung”°.
Tatsächlich waren Künzels Maßstäbe alles andere als übermäßig streng gewesen. Selbst in der Verwaltung, in der die Entnazifizierung am rigidesten durchgeführt worden war, sollten nur 9% aller Angehörigen des öffentlichen Dienstes ohne Bezüge entlassen werden. Die meisten Belasteten hatten nur Geldbußen zu zahlen?°. Die wenigen Fehlurteile wären in einem Revisionsverfahren zu korrigieren gewesen. Nun wurde auch in Württemberg-Hohenzollern Weißwäsche betrieben. Die Zahl derer, die aus dem Verwaltungsdienst entlassen wurden, lag unter einem Prozent. Hatte Albert Camus nicht recht, als er 1945 schrieb: „Ein Land, das seine politische Säuberung versäumt, versäumt es, sich zu erneuern“?? 7 Ein pädagogischer Erfolg, wie Carlo Schmid gehofft hatte, wurde die Entnazifizierung nicht. Sie ließ sich nicht als Beweis für das „andere Deutschland“ bei den Verhandlungen mit den Besatzungsmächten ins Spiel bringen. Schmid hatte darin eine große Chance gesehen”®. Fr setzte zu hohe Erwartungen in ein Volk, das täglich ums Überleben kämpfte. Ein Großteil der Bevölkerung versuchte die Vergangenheit erst einmal zu verdrängen. So fand auch sein Appell, die Aufklärung und Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen zügig voranzutreiben, wenig Resonanz.
Schon Anfang 1946 hatte er die Landräte aufgerufen, der „Gerechtigkeit Genüge zu tun“, und in den Landkreisen nach Nationalsozialisten zu forschen, die an Synagogenbrandstiftungen beteiligt waren oder Nicht- Nationalsozialisten mißhandelt und gequält hatten??. Das entsprach den Richtlinien der Kreisauer, die eine Bestrafung von „Rechtsschändern“ gefordert hatten’, Die Mithilfe der Bevölkerung bei der Aufklärung der NS-Verbrechen war jedoch gering. Von der Militärregierung wurde Schmid vorgeworfen, daß die Verfahren wegen Ausschreitungen gegen Juden absichtlich verschleppt würden. Nichts lag ihm mehr am Herzen als die Aufklärung dieser Verbrechen. Doch wie sollte man die Verbrecher aburteilen, wo die meisten von ihnen untergetaucht waren? Bei den Verhandlungen schoben die Beschuldigten die Verantwortung auf die, derer man nicht habhaft werden konnte®‘. Schmid war ratlos. Ohne Mithilfe der Bevölkerung waren diese Verbrechen nicht aufzuklären. Dort aber herrschte selbst bei den Betroffenen der Wunsch, nicht mehr an die Vergangenheit erinnert zu werden. So bat Bischof Sproll, dessen bischöfliches Palais 1938 vom nationalsozialistischen Mob gestürmt und durchwühlt worden war, um Einstellung des wegen Landfriedensbruch in Gang gesetzten Verfahrens. Er hielt ein solches „verspätetes Verfahren“ sowohl im Hinblick auf seine Person und sein Amt als auch auf staatliche Interessen für „abträglich“3?, Schmid lehnte das Ersuchen Sprolls ab: „Ich würdige vollkommen die Absichten Euer Exzellenz, bin jedoch als der für die Rechtspflege Verantwortliche nicht in der Lage, ein so schweres Verbrechen gegen die öffentliche Ordnung, wie es die Rottenburger Ereignisse vom Jahre 1938 darstellen, ungesühnt zu lassen.“ 3? Die Rottenburger Ausschreitungen gehörten neben der Inbrandsetzung der Tübinger Synagoge zu den schwersten Vergehen, die während des NS-Regimes im Raum Tübingen begangen worden waren. Schmid hätte einer allgemeinen Amnestie für NS-Verbrechen Vorschub geleistet, wäre er Sprolls Bitte nachgekommen. Eine solche Amnestie verbot sich allein schon aus pädagogischen Gründen. Schmid war empört, als ihm auf der Straße schon bald wieder Nationalsozialisten begegneten, die in Tübingen und Württemberg führende Ämter in der Partei und SS innegehabt hatten. Er fürchtete um das moralische Bewußtsein der Bevölkerung und verlangte eine sofortige Strafverfolgung®*.
Carlo Schmid, der als Politiker immer auch politischer Pädagoge war, war einer der wenigen deutschen Politiker, die bereits in den Jahren 1945/46 die Schuldfrage thematisierten und ihre Bedeutung für die geistige und kulturelle Zukunft Deutschlands erkannten. Er lehnte die Kollektivschuldthese der Alliierten ebenso ab wie die zur Selbstabsolution vorgebrachte Behauptung, man sei das Opfer einer „Bande von Gangstern“ geworden’. Genausowenig wie eine Kollektivschuld könne es eine Kollektivunschuld geben, selbst wenn die meisten nicht alles wußten. Aber wollte man denn wissen? Schmid versuchte das Gewissen seiner Zuhörer aufzurütteln: „Fast keiner wollte Gewisses wissen, denn wir wollten uns alle den Seelenfrieden wahren, den wir brauchten, um ohne allzuviel innere Beschämung weitergehorchen zu können, (…) denen wir einmal aus Feigheit oder Verblendung die Geißel in die Hand gegeben hatten, die sie nun über uns so schwangen wie über den unterjochten Ländern.“ 3° Diesmal sollten die Deutschen sich nicht wieder von ihrer Schuld freisprechen, indem sie auf die Schuld der anderen verwiesen: „Keine fremde Schuld kann unsere ungeschehen machen.“ 37 Welche gesellschaftlichen und politischen Kräfte die Hauptschuld für die Machtergreifung der Nationalsozialisten trugen, war für ihn eine zweitrangige Frage. Ihm kam es darauf an, daß die Deutschen in personaler Verantwortungsbereitschaft ihre Zukunft gestalteten und nicht abermals ein Volk von Untertanen wurden. Nur wenn sie ihre Schuld begriffen, war eine geistig-moralische Neuorientierung möglich. Schmids existentialistische Grundhaltung kam auch in seinem Schuldbekenntnis zum Ausdruck.
Karl Barth, der innerhalb der evangelischen Kirche für ein eindeutiges Schuldbekenntnis eingetreten und dort auf viel Widerstand gestoßen war, hatte ähnliche Gedanken geäußert. Carlo Schmid lud den von ihm hoch geschätzten Basler Theologen für November 1945 zu einem Vortrag an der Tübinger Universität ein. Die vom Krieg zurückgekehrten Studenten heischten nach geistiger Orientierung und Karl Barth war einer der wenigen, der sie zu geben vermochte. Er war der erste ausländische Professor in Zivil, der an einer deutschen Universität sprach. Im dichtbesetzten Festsaal der Tübinger Alma mater rief Barth zu einer Besinnung auf die eigenen Verfehlungen als einer notwendigen „Katharsis“ auf, die es dem deutschen Volk erst möglich mache, zu einem „anderen, einem neuen, einem freien Deutschland“ Ja zu sagen°. Schmid war Karl Barth für seine Rede dankbar. Im Anschluß an den Vortrag lud er Barth, mit dessen Theologie er sich intensiv beschäftigt hatte, zu sich nach Hause ein, wo man anscheinend ein sehr anregendes Gespräch führte, denn Barth erinnerte sich noch nach Jahren an die Gastfreundschaft, die er im Hause Schmid genießen durfte??.
Bei einem Teil der ı soo Zuhörer war Barths Vortrag auf heftige Ablehnung gestoßen. Fünf Tage später wurde Helmut Thielicke gebeten, zu Barths Ausführungen Stellung zu nehmen. Thielicke sparte in seiner Replik nicht mit Ressentiments gegen den „Emigranten“ Barth, dessen „Zwischenruf aus dem neutralen Polsterparkett Europas“ nicht willkommen sei. Ein Schuldbekenntnis lehnte er u.a. deshalb ab, weil die Schuldfrage grundsätzlich als „taktisches Mittel“ mißbraucht werde, „um sich gegenüber dem wirklich oder vermeintlich Schuldigen eine gewisse Ellenbogenfreiheit zu sichern.“*° Er verwies auf das Beispiel des Versailler Vertrags.
Die Kontroverse Barth-Thielicke erregte in Tübingen fast alle Gemüter. Thielicke hatte in seiner Ressentiment geladenen Polemik gegen Barth gesagt, was viele hören wollten. Sein Auftreten, seine Sprechweise glich der eines Demagogen, der das „Bad in den Massen“ liebte*‘. So haftete ihm bald der Ruf an, ein „Kirchengoebbels“ zu sein. Die französische Militärregierung, die mit einigem Unbehagen sah, welche Faszination Thielicke auf die Studenten ausübte, verhängte ein Lehrverbot über ihn. Nach Absprache mit seinen Kollegen im Direktorium setzte sich Schmid aus grundsätzlichen Erwägungen – die Lehrfreiheit sollte nicht schon wieder eingeschränkt werden – für eine Aufhebung des Lehrverbots ein. Die Rede Thielickes hielt er ebenso wie die französische Militärregierung für ein Skandalon*?. Und er hatte sich auch noch für die Berufung Thielickes nach Tübingen eingesetzt in der Hoffnung, daß er für die Studenten zu einer geistigen Autorität werde. In einer Ansprache zum Gedenken der Opfer des Faschismus im Januar 1946 distanzierte er sich eindeutig von Thielicke und seinen zahlreichen Anhängern: „Denen aber, die sagen sollten, man beschmutze im Bekennen (der Schuld) das eigene Nest, sei hier gesagt: das Nest hat jener beschmutzt, der es dreckig machte, und nicht der andere, der feststellt, daß es schmutzig ist und wieder sauber gemacht werden muß!“# Thielicke sollte nicht mehr so viel Raum zur Entfaltung seiner Demagogie bekommen. Schmid vereinbarte mit Rektor Schneider, daß die Besucher der Thielickeschen Vorlesungen kontrolliert wurden, so daß nur noch ordentlich eingeschriebene Studenten seine re tungen besuchen konnten. Außerdem durfte Thielicke nicht mehr im Festsaal der Universität lesen, sondern mußte sich mit einem gewöhnlichen Hörsaal zufrieden geben**. Ein neuerlicher Skandal blieb aus, so daß man nicht zum letzten Mittel schreiten mußte: der Entlassung Thielickes*.
Schmid war so stolz gewesen auf die gelungene Erneuerung der Universität. Jetzt entwickelte sie sich immer mehr zu seinem Sorgenkind. Geistige und moralische Impulse für ein anderes, freies Deutschland hätten von ihr ausgehen sollen. Nun befürchtete er schon fast, daß sie zu einem „Hort der Reaktion“ werde*. Ende Dezember 1945 mußte er in einer Sitzung des Direktoriums feststellen, daß die „Gesamthaltung der Studentenschaft höchst bedauerlich“ sei, was zum einen an der hohen Zahl eingeschriebener ehemaliger aktiver Offiziere läge, nicht minder aber auch an einer Reihe von Professoren, die einen negativen Einfluß auf die Studenten ausübten?’. Guardini, Spranger und Weischedel erreichten beileibe nicht alle Studenten und schon gar nicht die, die noch in einer Welt von gestern lebten. Die suchten sich ihre Professoren, die ihnen nach dem Munde redeten.
Extrem konservative Professoren wie beispielsweise Rektor Hermann Schneider konnten aus ihren Ämtern nicht entfernt werden, selbst wenn man die Entnazifizierungsgesetze verschärfte. Schneider legte erst nach massivem Druck der französischen Militärregierung im Frühjahr 1946 sein Amt nieder. So äußerte sich Schmid noch im Januar 1946 äußerst skeptisch über den Erfolg einer schärferen politischen Säuberung der Universität*®, war dann aber doch ganz froh, daß im Frühjahr 1946 aufgrund der von den Franzosen angeordneten Verschärfung der Entnazifizierung noch eine Reihe von belasteten Professoren entlassen werden konnten*. Immerhin bestand jetzt die Chance, noch einige hervorragende akademische Lehrer nach Tübingen zu berufen.
Fünf Tage nach der Entlassung der belasteten Hochschullehrer ließ er den Rektor wissen: „Da mit einer Wiedereinsetzung der ihres Amtes enthobenen Mitglieder des Lehrkörpers der Universität in keinem Falle zu rechnen ist, ersuche ich, die Fakultäten zu veranlassen, daß so bald als möglich Vorschläge für die Neubesetzung der freiwerdenden Lehrstühle eingereicht werden. Außerdem ist es vordringlich, daß für die Zeit bis zur endgültigen Neubesetzung der freien Lehrstühle sofort Vorschläge für eine entsprechende zeitweilige Vertretung der Lehrstühle gemacht werden.“° ° Schmid hatte guten Grund, gleich zu Beginn dem Rektor ein Mahnschreiben zu senden. Die Fakultäten verfolgten nämlich eine Verschleppungstaktik. Die Lehrstühle sollten so lange vakant bleiben, bis die entlassenen Kollegen im Rahmen eines Spruchkammerverfahrens rehabilitiert waren. Einen Monat später sandte die Kultdirektion dem Rektor noch einmal einen Mahnbrief5?. Nichts geschah. Die Universität probte den Aufstand gegen das Kultministerium. Ende 1946 waren noch immer wichtige Lehrstühle nicht neu besetzt. Die Kultdirektion intervenierte noch einmal beim Rektor der Universität: „Ich habe den Eindruck, daß die betroffenen Fakultäten mit der Vorlage von Berufungsvorschlägen deshalb zögern, weil sie immer noch eine Wiedereinstellung der entlassenen bisherigen Lehrstuhlinhaber erwarten, obwohl von seiten des Staatssekretariats wie auch von seiten der französischen Militärregierung mehrfach und mit Nachdruck erklärt worden ist, daß damit in keinem Fall zu rechnen ist.“3
Schmids Plan, an die Tübinger Universität weitere hervorragende Wissenschaftler und Gelehrte zu berufen, wurde von den Fakultäten obstruiert. Er war maßlos enttäuscht und zornig, daß er sich gegenüber den Fakultäten nicht durchsetzen konnte. Anfang 1947, er war schon nicht mehr Kultminister, verfaßte er für die französische Besatzungsmacht eine Denkschrift über die „Lage der Universität Tübingen“ +, Er mag gehofft haben, mit Hilfe der französischen Besatzungsmacht, die auch „keine im Treibhaus gezüchteten Professoren“ mehr wollteS, den Machtkampf mit der Universität doch noch gewinnen zu können. Eindringlich warnte er davor, der Universität jetzt schon die volle Selbstverwaltung wiederzugeben. Der Staat müsse bei den Berufungen maßgebend mitwirken, denn: „Die Gefahr der Beherrschung der Hochschule durch eine Clique, die sich jeder, auch der geringsten von staatlicher Seite geplanten Neuerung gegenüber sofort ablehnend einstellt, ist heute schon wieder sehr groß.“ 5© Schmids Denkschrift war diktiert vom Zorn. Er machte aus seiner Verärgerung gegenüber den Fakultäten keinen Hehl. Als „Zünfte“ bezeichnete er sie auch später noch und verteidigte ihnen gegenüber den aufgeklärten Absolutismus des Staates.
Sein Verhältnis zu Professoren war nicht gerade von besonderer Hochschätzung getragen, obwohl er im April 1946 endlich selbst zum Ordinarius ernannt wurde und nun auch dieser „Zunft“ angehörte. Bereits im Dezember 1945 hatte ihn die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Tübingen auf Platz 2 der Berufungsliste für die Nachfolge des emeritierten Staatsrechtlers Felix Genzmer gesetzt’’. An erster Stelle der Liste stand der renommierte Völkerrechtler Alfred Verdross, der in Wien lehrte und keinerlei Interesse an einem Lehrstuhl in Tübingen hatte. Im Großen Senat wurden Vorbehalte gegen die Berufung des an der Universität nicht gerade besonders beliebten Kultministers laut. Nur wenn Schmid die Professur „vollamtlich“ ausfülle, könne man der Berufung zustimmen®. Das Staatssekretariat setzte sich am 23. April über die Bedenken des Großen Senats hinweg und ernannte Carlo Schmid zum ordentlichen Professor. Eine Woche später teilte er dem Rektor der Universität mit: „Ich werde meine Lehrtätigkeit im Rahmen ausüben, den mir meine Pflichten als Vorsitzender des Staatssekretariats gestatten werden, jedoch bitte ich schon jetzt davon Kenntnis nehmen zu wollen, daß ich mich über die Dauer meiner staatlichen Tätigkeit an den Arbeiten des Großen Senats nicht werde beteiligen können.“ 59
Der Kultminister war persona non grata an der Universität. Schon bald wurde das Gerücht ausgestreut, er habe sich selbst zum Professor ernannt° ®, Die Bedenken des Großen Senats freilich waren nicht von der Hand zu weisen: er konnte unmöglich seinen politischen Ämtern und noch seinen Lehrverpflichtungen in vollem Umfange nachkommen. Aber konnte Carlo Schmid 1946 wissen, wie lange er noch sein politisches Amt ausüben würde? Die politischen Konstellationen konnten rasch wechseln. Dann wäre er auf der Straße gestanden und hätte nicht gewußt, wie er seine Familie ernähren sollte. Zudem wäre er schon längst Ordinarius gewesen, wenn die Nationalsozialisten nicht seine Berufung verhindert hätten.
Während man sich über Schmids Berufung empörte, kehrten die entlassenen Professoren auf ihre Lehrstühle zurück. Schmid hatte bis zuletzt versucht, ihre Rehabilitierung durch das Spruchkammersystem zu verhindern°‘. Doch seine Möglichkeiten schwanden. Seit Dezember 1946 war nicht mehr er, sondern der auf kulturellem Gebiet überaus konservativ eingestellte CDU-Politiker Albert Sauer Kultminister, der ein offenes Ohr für die zahlreichen Klagen über die „ungerechtfertigten“ politischen Säuberungen seines Vorgängers hatte. Es muß zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Sauer und Schmid gekommen sein‘, der mit Hilfe der französischen Besatzungsmacht noch eine Zeitlang die Wiedereinstellung der im Spruchkammerverfahren weißgewaschenen ehemaligen Lehrstuhlinhaber verzögern konnte‘. Als 1949 der Einfluß der französischen Militärregierung auf die Kulturpolitik endete, stand der Wiedereinstellung der entlassenen Hochschullehrer kein Hindernis mehr im Wege. Carlo Schmid seufzte: „Wenn ich denke, wer an meiner eigenen Universität wieder alles lesen darf.“ Nur gut, daß er 1945 gleich handelte, als die Fakultäten noch gelähmt waren. Hätte er damals nicht sofort die Initiative ergriffen, wäre die Tübinger Universität eine Brotuniversität geblieben, an der wie bereits vor dem Krieg nur die Landeskinder studierten.
Was sollte aus der HJ-Generation werden, die nichts weiter kannte als die NS-Ideologie und nun völlig orientierungslos war? Für Schmid, der sich als ein Mentor der Jugend fühlte, war das einer der wichtigsten Fragen der Nachkriegszeit. Die französische Militärregierung hatte im Dezember 1945 sehr rigide alle Schüler nationalsozialistischer Erziehungsanstalten und Funktionsträger der NS-Jugendorganisationen vom Besuch der Hochschule ausgeschlossen‘. Sie befürchtete, daß diese Jugendlichen ihre Kommilitonen im Sinne der NS-Ideologie indoktrinieren könnten. Im Februar 1946 bat Schmid die Militärregierung um Zurücknahme dieser Anordnung: „Ich komme mehr und mehr zu der Überzeugung, daß Jugendliche dieser Altersstufe nicht für ihre politische Haltung verantwortlich gemacht werden sollten, da sonst die Gefahr besteht, sie in eine Stimmung des Trotzes und der Verstocktheit zu versetzen, aus der es nur den Ausweg in unbedachte Opposition gibt.“ Die HJ-Generation, einschließlich ihrer ehemaligen Führer, mußte für die Mitarbeit am neuen Staat gewonnen und erzogen werden.
Am 25. März 1946 kam der 31 jährige Heinrich Hartmann, ein ehemaliger Offizier der deutschen Wehrmacht und Leiter der Hauptabteilung Kunst im Kulturamt der Reichsjugendführung zu Carlo Schmid. Auf der Suche nach seiner Frau und seinen Eltern hatte er Tausende von Jugendlichen getroffen, die verzweifelt und resigniert auf der Straße herumvagabundierten. Er fühlte sich verantwortlich für das Schicksal dieser Jungen und Mädchen und wollte zusammen mit anderen früheren HJ-Führern seinen Teil dazu beitragen, sie von der Straße wegzuholen, wobei er vor allem an die Einrichtung freiwilliger Arbeitslager dachte. Er hoffte, daß Schmid, der für seinen Humanismus und seinen Willen, die HJ-Generation in den neuen Staat zu integrieren, bekannt war, ihn bei der Verwirklichung seiner Pläne unterstützen werde. Schmid, der das Gespräch mit Hartmann ohne jeden „Anflug von Diffamierung“ führte, war bereit, das Risiko einzugehen. Er sah in dem Vorhaben eine Chance zur Bewährung für die ehemaligen HJ-Führer, deren Resignation leicht in Widerstand gegen den neuen Staat hätte umschlagen können”. Er wußte aber auch, daß die französische Militärregierung die Funktionsträger der NS-Jugendorganisationen für kriminell hielt und sie mit Lagerhaft bedrohte. So bat er noch am selben Tag Henri Humblot, der die Jugendabteilung bei der französischen Militärregierung leitete, Hartmannz u empfangen. Humblot war dazu bereit und konnte die Zustimmung von Widmer und de Mangoux für das von Hartmann vorgeschlagene Projekt erwirken, das in der Öffentlichkeit nicht bekannt werden durfte. Die ehemaligen HJ-Führer arbeiteten zunächst in der Illegalität, unterstützt durch Humblot, Victor Renner, Dieter Roser und Carlo Schmid‘®, der einige der „illegal“ Tätigen auch zu politischen Diskussionen und Dichterlesungen zu sich nach Hause einlud‘,
Anfang 1948 erteilte die Militärregierung endlich die Erlaubnis, ein freiwilliges Arbeitslager einzurichten, das im Frühjahr in Bad Teinach im Schwarzwald aufgebaut wurde. Nicht alle Kreise der französischen Miljtärregierung standen dem Unternehmen wohlgesonnen gegenüber. Mitte April wurden die ehemaligen HJ-Führer verhaftet und interniert, aber auf Verlangen Humblots und der Tübinger Landesregierung schon bald wieder freigelassen. Mit dem gleichen Engagement, mit dem er einst den Arbeitsdienst in Münsingen geleitet hatte, kümmerte Schmid sich jetzt um das Arbeitslager in Bad Teinach. Er fand sogar Zeit, sich an den dortigen Diskussionsabenden zu beteiligen. Das Ganze war ein großes pädagogisches Wagnis, für dessen Gelingen er mit seiner Person einstand. Seit 1948 bemühte er sich um eine überzonale Organisation des Projekts und fand hierfür auch die Zustimmung Kurt Schumachers und der SPD”°, Die ehemaligen HJ-Führer, allen voran Heinrich Hartmann und Hans-Jörg Kimmich, mißbrauchten sein Vertrauen nicht. Am ı1. Januar 1949 wurde in Tübingen das Jugendsozialwerk gegründet, das sich zunächst der heimatund berufslosen Jugendlichen annahm. In späteren Jahren machte es die Eingliederung der DDR-Flüchtlinge und der Gastarbeiter zu seiner Hauptaufgabe. Carlo Schmid blieb dem Jugendsozialwerk bis zu seinem Tod verbunden. In einer Stunde der Resignation meinte er einmal, daß die Integration der HJ-Führer und der Aufbau des Jugendsozialwerks zu den wenigen politischen Leistungen zählten, die seinem Leben Sinn gäben’”“,
Schmid war auch als Politiker Pädagoge, dem nichts so sehr am Herzen lag als die Erziehung der Jugend, einer Jugend, die ohne geistige Orientierung war. Die HJ-Generation sollte auch an der Universität mit ihren Fragen und Problemen nicht allein bleiben. Ihr sollte mehr geboten werden als ein bloßes Fachstudium. Auch deshalb hatte er hochrangige Gelehrte an die Tübinger Universität berufen und setzte sich jetzt dafür ein, daß bereits im Wintersemester 1945/46 ein dies academicus in Tübingen eingeführt wurde. Jeden Donnerstag wurden fächerübergreifende Kollegs für alle Hörer angeboten, in denen Probleme der Existenz- und Weltorientierung thematisiert wurden. Fachvorlesungen wurden an diesem Tag nicht abgehalten””. Darüber hinaus wurde in sogenannten „Besinnungsvorträgen“, bei denen auch Studenten zu Wort kamen, die existentielle Situation der in einer Zusammenbruchsgesellschaft lebenden Studenten behandelt. Carlo Schmid war überzeugt vom erzieherischen Wert dieser Vorträge und Kollegs, den sie damals tatsächlich auch hatten. Die „Besinnungsvorträge“ wurden ein Erfolg. Projekte für weitere Vortragsreihen wurden diskutiert und von Schmid mit Nachdruck unterstützt. Nur ein Teil der Pläne konnte verwirklicht werden, weil zu wenige Redner greifbar waren, die Gewichtiges zur geistigen Situation der Zeit zu sagen hatten”,
Im-Februar 1948 wurde in Tübingen eine Einrichtung eröffnet, die Schmid ganz besonders am Herzen lag, ein Internat nach dem Vorbild der englischen Colleges: das Leibniz-Kolleg. In zweisemestrigen propädeutischen Kursen wurden etwa 60 Studenten unter Anleitung von Tutoren auf das Hochschulstudium vorbereitet. Auch dem Leibniz-Kolleg, in dem pädagogische Arbeit und Wissenschaft sich ergänzen sollten, lag die Idee eines studium generale zugrunde. Vor Aufnahme des Fachstudiums sollten die dort Studierenden eine fächerübergreifende Bildung erhalten, damit sie später das Einzelwissen in einen umfassenden Zusammenhang einzuordnen vermochten. Die Errichtung des Kollegs war ein Experiment, das Schmid schon lange vor 1945 ins Auge gefaßt hatte. In den 30er Jahren hatte er mit dem Gedanken gespielt, ein Oberschulprogramm zu entwerfen, „in dem alles Einzelwissen organisch aus der Interpretation von Goethes Faust hervorging“ ”*. Schmid war ein Mann, der noch Utopien hatte. Allein schon wegen des „schlechten Bildungsstandes der Abiturienten“ ”> hätte er es gern gesehen, wenn der Besuch des Kollegs obligatorisch gewesen wäre. Die Unterstützung der Militärregierung hatte er, aber die finanziellen Mittel hierfür waren nicht aufzubringen”°. So konnte nur ein Bruchteil der Studenten aufgenommen werden, die sich einer Begabtenauslese zu unterziehen hatten. Als das Leibniz-Kolleg am 5. Februar 1948 seine Pforten öffnete, geschah das ohne Wissen und Zustimmung des amtierenden Kultministers Albert Sauer, der sich über das „eigenmächtige Vorgehen der Universität“ entrüstete?””. Manchmal gelang es Schmid, seinen Nachfolger auszuspielen. Mit der Leitung des Leibniz-Kollegs wurde der Biochemiker Paul Ohlmeyer betraut, der in den 30er Jahren an Schmids Dante-Abenden teilgenommen hatte. Schmid selbst blieb bis zu seinem Tod ein Förderer des Leibniz-Kollegs, das seines Erachtens eines der „besten pädagogischen Zentren Deutschlands“ war”*.
Wenn er sich nur selbst mehr um die Studenten, um diese HJ-Generation, die nach geistigen Mentoren suchte, hätte kümmern können. Mehr als eine Lehrveranstaltung pro Semester konnte er beim besten Willen nicht anbieten. Spätabends fand er dann doch noch Zeit, dieser verunsicherten Generation ein neues Wertbewußtsein zu vermitteln. Trotz seiner großen politischen Beanspruchung lud er einige Studenten zu sich nach Hause ein, um mit ihnen Dichtung zu lesen und zu interpretieren oder ihnen das ABC der politischen Demokratie beizubringen. Noch immer hatte die ästhetische Erziehung der Jugend für ihn eine überragende Bedeutung. Da in jenen widrigen Zeiten auch die Familie Schmid fror, hatten die studentischen Besucher im Winter ein Brikett, eingewickelt in ein Papier, mitzubringen”®. Irgendwelche Sonderzulagen bekamen die Schmids nicht. Ihnen ging es genauso schlecht wie anderen Familien auch. Schmid, den seine eigene Familie kaum noch sah, saß? mit seinen Studenten oft bis gen Mitternacht zusammen”.
In seinen Seminaren griff er wie eh und je aktuelle Themen auf. So ließ er in einem seiner Seminare mögliche Varianten des von ihm geforderten Besatzungsstatutes diskutieren®. Nicht immer ließ er diskutieren, manchmal dozierte er auch, weil er eine strenge Erziehung für notwendig hielt. Obwohl er seine Professur nur im „Nebenamt“ versah, trug er durch die Wahl seiner Themen und die intensive Betreuung der Studenten mehr zu ihrer geistigen und politischen Orientierung bei als manch anderer Hochschullehrer, der sein Soll an Lehrveranstaltungen erfüllte. Mit der Entwicklung der Studentenschaft konnte Schmid zufrieden sein. Gar so reaktionär, wie er zunächst befürchtet hatte, waren die Tübinger Studenten nicht. Die französische Militärregierung konnte Ende 1946 befriedigt feststellen, daß sich eine wachsende Zahl von Studenten mit den Ideen des religiösen Existentialismus und des „socialisme communautaire“ befasse®?.
Alle seine bildungspolitischen Blütenträume reiften nicht, obwohl es eine große Übereinstimmung zwischen seinen bildungspolitischen Plänen und denen der französischen Militärregierung gab. Das bildungspolitische Programm des Abteilungsleiters der Education Publique der französischen Militärregierung Raymond Schmittlein hätte, was die grundlegenden Forderungen betraf, auch aus der Feder Schmids stammen können: Priorität der Bildungspolitik vor anderen politischen Aufgaben, Erneuerung der Lehrerausbildung, Förderung der Elitebildung, Konzentration der Lehrpläne auf philosophische und literarische Bildung®?. Das entsprach voll und ganz den Grundsätzen, die der Kultminister Württemberg-Hohenzollerns in praktische Politik umsetzen wollte.
Keine Gelegenheit ließ er aus, um seine Kollegen im Direktorium davon zu überzeugen, daß am Erziehungswesen „zuletzt gespart werden“ dürfe°+, Der Bereich Unterricht und Erziehung blieb von den „einschneidenden Sparmaßnahmen“, die der Verwaltung Württemberg-Hohenzollerns auferlegt wurden, ausgenommen. Man habe sich, so erklärte Schmid im November 1946 der Beratenden Landesversammlung, auf den Standpunkt gestellt, „daß die Neuordnung unseres sozialen und politischen Lebens in erster Linie eine geistige Neuordnung sein muß und die Erfüllung der uns hier gestellten Aufgaben nicht unter der Kargheit unserer materiellen Mittel leiden darf“°5. Wenn Deutschland jemals wieder eine führende wissenschaftliche, politische und wirtschaftliche Macht werden sollte, war die „Lösung des Nachwuchsproblems“ die wichtigste politische Aufgabe, die es in Angriff zu nehmen galt”. Begabtenförderung war das Leitmotiv aller seiner schulreformerischen Pläne. Er knüpfte an sein bereits in Stuttgart entwickeltes Programm an. Aus dem Gymnasium wollte er eine „Gelehrtenschule“ machen, die nicht nur dem Wortlaut nach zur Hochschulreife führte. Die Landesdirektion für Kult behielt sich vor, über die Aufnahme der Schüler in das Gymnasium zu entscheiden”. Carlo Schmid plädierte für eine „scharfe Auslese“°® , unterstrich aber gleichzeitig, daß das Gymnasium nicht wieder zu einer „Standesschule“ werden dürfe. Elitebildung und Chancengleichheit waren seines Erachtens keine Gegensätze. Er setzte durch, daß eine Stiftung öffentlichen Rechts gegründet wurde, die Arbeiterkindern den Zugang zur höheren Bildung ermöglichen sollte. Ungefähr 10% der Schüler höherer Schulen konnten durch diese Stiftung unterstützt werden”. Nicht selten mußte Schmid mit seinem Kollegen aus dem Finanzressort Paul Binder hartnäckig um die seiner Ansicht nach notwendigen Summen feilschen?®. Zumeist konnte er sich durchsetzen.
Auch aus ganz pragmatischen Gründen waren in den ersten Jahren der Nachkriegszeit strenge Aufnahmeprüfungen für den Besuch der höheren Schulen und der Hochschulen notwendig. Der Ansturm von Schülern und Studenten überforderte die Aufnahmekapazität von Gymnasien und Hochschulen. Die französische Militärregierung fürchtete das Entstehen eines akademischen Proletariats und ordnete deshalb 1947 die Einführung eines Zentralabiturs nach dem Vorbild des französischen baccalaur£at an, wodurch die Reifeprüfung erheblich erschwert wurde?‘. Im Lande herrschte darüber helle Empörung. Schmid durfte nicht zugeben, daß er die Entscheidung der französischen Militärregierung begrüßte. Er hielt es allerdings für unklug, daß die Besatzungsmacht ohne Rücksichtnahme auf landeseigene Traditionen ihr eigenes Schulsystem einfach oktroyierte. Gab es doch in Württemberg das Landexamen, ein hartes Auswahlverfahren, das die Stipendiaten des Tübinger Stifts zu durchlaufen hatten. Schmid erklärte seinen französischen Gesprächspartnern, daß sie besser das Landexamen eingeführt hätten, von dessen Vorbildlichkeit er zutiefst überzeugt war”.
Alarmiert war er, als er von den Gymnasialreformplänen der französischen Besatzungsmacht erfuhr, die auf die Einführung von Gesamtschulen hinausliefen. Sofort brachte er seine Bedenken zu Papier: „Eine Einschränkung des konzentrierten fremdsprachlichen und mathematischen Unterrichts, wie er nur auf einer höheren Schule möglich ist, auf 4 oder 6 Jahre ist unmöglich, wenn man nicht auf eine echte Hochschulreife der Absolventen von vornherein verzichten will.“° Um das Bildungsprivileg der Besitzenden zu brechen, wollte er nicht wie die französische Militärregierung die Gymnasien abschaffen, sondern begabten Schülern unabhängig vom elterlichen Einkommen den Zugang dazu öffnen.
Im übrigen sah er ohnehin mit großem Unbehagen, daß die Volksschule zu einer „Schule für Minderbegabte“ herabsank und die handwerklichen Berufe immer mehr in Mißkredit gerieten?*, Ihm lag daran, das Niveau der Volksschulen zu heben u.a. durch die Einführung eines neunten oder zehnten Schuljahres. Wer begabt war, konnte nach Absolvierung dieser beiden Aufbauklassen in die Oberrealschule übernommen werden?5. Bereits 1946 setzte er sich dafür ein, Einrichtungen des Zweiten Bildungswegs zu schaffen“. Trotz des Vorrangs, den er der Elitebildung einräumte, bemühte er sich immer auch, ein Höchstmaß an Chancengleichheit zu verwirklichen.
Seine emphatischen Klagen über die „Niveaulosigkeit und Mittelmäfigkeit der Lehrer“” waren Legion. Außerdem war er nach wie vor der Meinung, daß die Wendehälse, die von heute auf morgen sich zu Demokraten gewandelt hatten, die denkbar schlechtesten Erzieher waren. So richtete er im Februar 1946 noch einmal mahnende Worte an die Lehrerschaft: „Eine außerordentlich unglückliche Figur stellt jedoch der Lehrer dar, der vor dem Zusammenbruch vor den Schülern als mehr oder weniger eifriger Nationalsozialist tätig war und der sich jetzt ebenso eifrig als Antifaschist gebärdet. Wenn solche Lehrer sich gar zu haßerfüllten Ausbrüchen gegen die Jugend selbst oder zu einer Abwälzung ihrer eigenen Verantwortung und Schuld auf die Jugend hinreißen lassen, verdienen sie die Verachtung, mit denen die Jugend ihnen antwortet. Dagegen sind dem Lehrer, der sich in echter Besinnung aus den geistigen Verführungen des Nationalsozialismus zu befreien versucht, besonders glückliche pädagogische Möglichkeiten gegeben: er kann die ihm anvertrauten Jugendlichen an seiner eigenen Besinnung teilhaben lassen, kann auf ihre Verkehrtheit als auf seine bisher eigene eingehen, kann die Jugend behutsam leiten, ohne daß ihr empfindliches Selbstgefühl getroffen wird.“ ?®
Die französische Militärregierung vertrat die rigorose Auffassung, daß nur eine neue unbelastete Lehrergeneration der Aufgabe, demokratische Staatsbürger zu erziehen, gewachsen sei. Daß sie im Sommer 1946 die bisher in Württemberg übliche Lehrerbildung in konfessionell getrennten Lehrerbildungsseminaren untersagte, wurde von Carlo Schmid mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, wenngleich er das nicht allzu laut sagen durfte, denn in katholischen Kreisen stieß die Anordnung auf erbitterte Ablehnung??. Wenn Schmid die Pläne der Militärregierung nicht unterstützt hätte, wäre sie höchstwahrscheinlich gezwungen gewesen, die Anordnung zurückzunehmen. Die Lehrerausbildung erfolgte nun im Pädagogischen Institut in Reutlingen. In das Reutlinger Institut sollten nicht nur Abiturienten aufgenommen werden, sondern auch Volksschüler, die einen vierjährigen Lehrgang an Lehreroberschulen durchlaufen hatten. Auf diese Weise konnten die Vorzüge der seminaristischen und der akademischen Ausbildung vereinigt werden’°°. Das war eine Kompromißlösung, die die Reform der Lehrerausbildung bei der Bevölkerung akzeptabler machen sollte. Verärgert war Schmid über das geringe Mitspracherecht, das die Militärregierung der Kultverwaltung bei der Auswahl der Lehrer ließ. Diese Aufgabe hätte er am liebsten selbst übernommen. Nach dem Abzug der französischen Besatzungsmacht wurde auf Druck katholischer Kreise in den Lehreroberschulen wieder eine konfessionelle Trennung durchgeführt.
Bereits im November 1945 hatte Carlo Schmid angeregt, daß die höheren Schulen wieder Programmschriften veröffentlichen, in denen der Zusammenhang zwischen erzieherischer Arbeit und Wissenschaft thematisiert werden sollte’°‘. Er wünschte, daß der Unterricht wieder mehr wissenschaftlichen Charakter erhalte’”, wobei er unter Wissenschaft kein exaktes Tatsachenwissen verstand, sondern humanistische Bildung. Immer wieder betonte er: „Die Schulen aller Stufen dürfen nicht Vorbereitungsanstalten für künftige Berufe sein, sie müssen Bildungsanstalten werden.“ !%3 Den Gedanken, das Schulsystem allein auf die Erfordernisse einer hochtechnisierten Industriegesellschaft auszurichten, hätte er geradezu als verwerflich empfunden. Humanistische Bildung und ästhetische Erziehung waren für ihn ein Widerlager für die Vereinnahmung des Menschen durch Technokratie und Bürokratie. Er war kaum eine Woche als Lardesdirektor für Kult im Amt, da schlug er den Bezirksschulämtern schon die Einrichtung von Schulbühnen vor: „Die Schulbühne bietet die Möglichkeit die dramatische Literatur des Abendlandes durch eigenes Spiel und eigene Regie der Schüler unter Anleitung befähigter Lehrer zu einem vertieften Bildungserlebnis werden zu lassen. Darüber hinaus werden auf ihr Stimme, Haltung und Bewegung des jungen Menschen zu zuchtvoller Beherrschheit und Sicherheit gesammelt.“ ‚% Einige Franzosen spotteten, Schmid sei ein „oiseau de Paradis“ ‚°S. Er war es und er war es auch nicht. Utopie und waches Realitätsbewußtsein waren bei ihm immer unzertrennbar miteinander verbunden.
Sein Plan, aus Württemberg-Hohenzollern eine pädagogische Provinz zu machen, ließ sich nur zum Teil verwirklichen. Daß er den Kampf mit der katholischen Kirche um die Einführung der christlichen Gemeinschaftsschule verlor, schmerzte ihn ganz besonders. Er hatte gehofft, daß die französische Militärregierung ihn unterstützen werde. Wider Erwarten jedoch konnte sich der katholische Klerus bei den Franzosen Gehör verschaffen. Die Interventionen des Heiligen Stuhls in Rom hatten Erfolg. Im März 1946 gab die französische Militärregierung offiziell bekannt, daß Bekenntnisschulen dort errichtet werden konnten, „wo die Erziehungsberechtigten von mindestens 80 schulpflichtigen Volksschulkindern dies beantragen und für etwa entstehende Minderheiten ein geordneter Schulbetrieb gewährleistet bleibt.“’° Die katholische Kirche mobilisierte im Frühjahr 1946 die Elternschaft, die sich zu 90 % für die Wiedereinführung der Konfessionsschule aussprach. Schmid konnte das Ergebnis nicht einfach ignorieren. Zwergschulen jedoch sollten, solange er Kultminister war, nicht wieder eingeführt werden. Seine ganzen Pläne zur Begabtenförderung hätte er sich dann sparen können. So ordnete er an, daß lediglich an Orten, an denen mindestens 60 Schüler jeder Konfession die jeweilige Bekenntnisschule besuchen würden, nach Bekenntnissen getrennt unterrichtet werden durfte’””. Das war nur in 4o größeren Orten des Landes der Fall. Schmid konnte damit die Einführung der Konfessionsschule bis zur Verabschiedung der Landesverfassung im Frühjahr 1947 verzögern, verhindern konnte er sie nicht. Der Konflikt um die Konfessionsschule ging zugunsten der katholischen Kirche aus.
Schon im Dezember 1946 hatte er das Kultressort an Albert Sauer, der ein Wortführer der Interessen der katholischen Kirche war, abtreten müssen. Er konnte allerdings durchsetzen, daß seine Mitarbeiter in der Kultverwaltung blieben, so daß Sauer auf Widerstand stieß, wenn er versuchte, die Entscheidungen seines Vorgängers wieder rückgängig zu machen’®,
Weil er den besseren Zugang zur Besatzungsmacht hatte, gelang es ihm, hin und wieder in Sauers Kulturressort hineinzuregieren. Aber das war nur ein schwacher Trost.
Zudem lag er nicht nur mit der katholischen Kirche und Sauer über Kreuz, sondern zuweilen auch mit der französischen Besatzungsmacht. Einmal ging Carlo Schmid sogar mit Albert Sauer und der katholischen Kirche ein Bündnis gegen die französische Militärregierung ein. Diese verfügte im Sommer 1947, daß in Zukunft der Latein- und Griechisch- Unterricht zugunsten des Französisch-Unterrichts eingeschränkt werden solle. Latein sollte nur noch von der 4. Klasse der höheren Schule an erteilt werden. Das wäre ein Todesurteil für das Humanistische Gymnasium gewesen. Schmid nutzte ein Gespräch mit dem politischen Berater General Koenigs Saint-Hardouin, um energisch dagegen zu protestieren’” ®. Nach so viel massivem Widerstand von allen Seiten gab sich die Militärregierung geschlagen und verzichtete auf die Durchführung ihrer Anordnung.
Vergebliche Mühe hatte Schmid darauf verwandt, die Franzosen von ihren Lesebuchprojekten abzubringen. Corbin de Mangoux hatte Verständnis gezeigt, aber deutlich gemacht, daß die Befehle aus Baden-Baden diesmal durchgeführt werden mußten“°, Die Lesebücher, die die französische Militärregierung Ende 1947 herausgab, übertrafen Schmids schlimmste Befürchtungen. Er hielt sie geradezu für eine Katastrophe. Empört und aufgebracht, wie er war, warf er den Franzosen vor, daß sie nach der wirtschaftlichen nun auch noch eine „geistige Demontage“ des deutschen Volkes betrieben“‘. Er hatte Grund zur Klage. Auch die „Neue Zeitung“, das Organ der amerikanischen Militärregierung, empfand die Lesebücher als eine Zumutung: „Lesebücher, in denen die deutsche Jugend nur überall dort, wo heute ‚Frankreich‘ steht, das Wort „Deutschland‘ zu setzen braucht, um ihren fehlgeleiteten Idealismus bestätigt zu finden, sind gefährliche Rauschgifte und keine Heilmittel.“ “* Man konnte die Deutschen kaum dadurch zur Demokratie erziehen, daß man sie lehrte, wie Franzosen zu denken, noch dazu wie Franzosen, die in Vorurteilen befangen waren. Schmid wollte nichts unversucht lassen, das von Gerhard Storz Ende 1947 fertiggestellte Lesebuch auch in Württemberg- Hohenzollern einzuführen“3. Erfolg war seinen Bemühungen nicht beschieden.
Auch im Bereich Bildung und Erziehung war die Zusammenarbeit mit den Franzosen, die sich in der Bildungspolitik auch nach 1947 noch ein Initiativrecht vorbehielten“*, nicht immer konstruktiv. Einige Neuerungen waren ohne Zweifel ein Fortschritt. Wenn die Franzosen mit Emphase den Vorrang der Bildung und Erziehung betonten, sprachen sie Schmid aus dem Herzen. Doch der Humanist verkannte nicht, daß das ganze Umerziehungsprogramm scheitern mußte, wenn die Franzosen weiterhin das Land ausbeuteten. Im Herbst 1946 konnten zahlreiche Kinder nicht in die Schule gehen, weil sie keine Schuhe hatten. Der größte Teil der in Württemberg-Hohenzollern produzierten Schuhe mußte an die Besatzungsmacht abgegeben werden. Kritik an der Besatzungsmacht mochte verboten sein. Schmid äußerte sie trotzdem und diesmal in unmißverständlicher Schärfe: „Die deutsche Jugend wächst unter Lebensbedingungen heran, die zu nicht wieder gut zu machenden gesundheitlichen Schädigungen führen müssen. Für die Lehrerschaft ist es eine schwierige Aufgabe, die Jugend im Geist der Menschlichkeit, der Versöhnlichkeit und der Völkerverständigung zu erziehen, wenn es den Kindern an Lebensnotwendigem gebricht. Hierauf hinzuweisen, hält die Landesdirektion für ihre Pflicht.““5 So offen wies selten jemand die Franzosen auf die Widersprüchlichkeit ihrer Politik hin: Völkerverständigung und Demontage ließen sich nur schwer vereinbaren. Eine Bevölkerung, die unter Hunger litt, verlor das Interesse an kulturellen Werten. Carlo Schmid blieb nicht verborgen, daß einem Großteil der Bevölkerung Butter lieber war als Kultur.
Trotzdem betrieb er weiterhin den Ausbau Tübingens zu einem Kulturzentrum, nicht nur weil er selbst ein Musensohn war und ohne Kunst nicht leben konnte, sondern auch weil er zutiefst davon überzeugt war, daß in einer Zeit der Resignation die Kunst die „schöpferischen Kräfte“ der Menschen zu wecken vermochte“°. Vielleicht war das illusorisch, vielleicht schloß er zu sehr von sich auf andere. Er jedenfalls sah das so und machte deshalb das Tübinger Kulturleben zu seiner ureigensten Domäne. Das „besonders hohe kulturelle Niveau“ Tübingens, so teilte er gleich im November 1945 der Abteilung Kunst der französischen Militärregierung mit, sei nur zu erhalten, wenn sein Ressort die Aufsicht über das Tübinger Kulturleben übernehme und alle Anträge auf Genehmigungen von Veranstaltungen auf den Gebieten Theater-, Konzert- und Vortragswesen seinem Ressort zur Begutachtung vorgelegt werden müßten!’7, Nein, eine staatliche Kunstdiktatur wollte er nicht errichten. Aber er glaubte, erzieherisch wirken zu müssen in einem Land, in dem man die Kunst zwölf Jahre lang gegängelt, unterdrückt und verboten hatte. Ein von ihm ins Leben gerufener Kulturbeirat sollte ihn bei dieser Aufgabe unterstützen.
Seine besondere Protektion genoß – das braucht kaum mehr eigens erwähnt zu werden – das Schauspielhaus Tübingen-Reutlingen. Wenn es um die finanziellen Belange des Tübinger Theaters ging, war der Landesdirektor für Kult so beredsam, daß der sonst auf äußerste Sparsamkeit bedachte Paul Binder ohne Abstriche die geforderte Summe bewilligte. Im Januar 1946 stellte das Staatssekretariat dem Theater 100 000,- RM zur Deckung seiner Defizite in Aussicht!’®, Es gab eine enge Beziehung zwischen Staatssekretariat und Schauspielhaus, denn nach getaner Arbeit aß und plauderte man zusammen in der gleichen Kantine, so daß auch bald Schmids Kollegen von der Theaterleidenschaft angesteckt wurden“?, Ein Theaterbeirat wurde geschaffen, in dem auch zahlreiche Mitarbeiter des Staatssekretariats vertreten waren. Tonangebend war Carlo Schmid, der, wann immer er Zeit fand, sich in Tübingen an den Regiearbeiten beteiligte’*°,
Am 6. Januar 1946 erlebte er einen großen Theatererfolg. Nicht, daß er selbst Theater gespielt hätte, solche Flausen hatte er mittlerweile nicht mehr im Kopf. Seine Übersetzung von Calderons „Morgen kommt ein neuer Tag“ wurde nun endlich aufgeführt, nachdem aus der erhofften Aufführung in Lille nichts geworden war. Carl Ballhaus, der Freund aus Liller Tagen, und Günther Stark hatten die Inszenierung vorbereitet. Nach einer strengen Textkontrolle hatte auch die französische Militärregierung der Aufführung zugestimmt’”‘. Lotte Hardt spielte die weibliche Hauptrolle, Hannes Messemer die des graciosos Roque. Schmid wurde nach der Aufführung von allen Seiten beglückwünscht’”*. Ein großer Augenblick in seinem Frustrationen reichen Leben. Damals verleugnete er seine Doppelexistenz als Künstler und Politiker noch nicht. Sogar seine frech-frivolen Chansons gab er aus der Hand. Hanne Wieder trug sie vor‘?. Ein Hauch von Großstadtluft durchzog die Tübinger Provinz.
Im Bereich der Kunst und Kultur war sein Ideenreichtum kaum zu bremsen. Im Frühjahr 1946 faßte er ein großes Vorhaben ins Auge: die Veranstaltung von Kunstwochen in Tübingen. Theateraufführungen, Kunstausstellungen, Vorträge und Konzerte sollten dem Ausland vor Augen führen, daß Deutschland trotz aller Barbarei eine Kulturnation war. Die Leistungen der wenigen übriggebliebenen „repräsentativen Geister“ seien, schrieb er Romano Guardini, „die einzige Möglichkeit unserem Land wieder Achtung in der Welt zu erwerben“ ‚**. Gegenüber der französischen Militärregierung betonte er vor allem den „Erziehungswert der Kunstwochen“‘?5, Landeskonservator Gustav Adolf Rieth, mit dessen ‘ Hilfe Schmid die Kunstwochen vorbereitete, hatte Sorgen, daß das „Riesenprogramm“, das man sich vorgenommen hatte, die Franzosen „falsche Schlüsse“ auf die deutsche Leistungsfähigkeit ziehen ließ und schlug deshalb Kürzungen vor’*°. Sein Chef wies diesen Vorschlag brüsk zurück und verbat”sich irgendwelche Streichungen. In solchen Situationen soll er manchmal mit der Bemerkung provoziert haben: „Mit mir lebt Württemberg über seine Verhältnisse.“ ‚* Ja, manchmal war er schon ein „oiseau de Paradis“.
Am 27. Juli konnte er die Kunstwochen in Tübingen eröffnen. In seiner Eröffnungsansprache appellierte er an die Zuhörer: „Die Kunst muß aufhören das bloße Ergötzen unserer Feiertage zu sein.“ Sie müsse vielmehr das „ganze Leben durchtränken wie geweihtes Brot und geweihter Wein“ ‚2®, Gespielt wurden u.a. Shakespeares „Othello“, Molieres „Der eingebildete Kranke“, Schillers „Maria Stuart“ mit Elisabeth Flickenschildt als Königin Elisabeth und Anna Dammann als Maria Stuart. Bilder der von den Nationalsozialisten verfemten Maler Otto Dix und Frich Heckel wurden ausgestellt, HAP Grieshaber konnte seine Werke erstmals einer breiten Öffentlichkeit vorstellen, die Musik Paul Hindemiths fand wieder Anerkennung. Es sollte gezeigt werden, daß es auch in der Kunst ein anderes Deutschland gab. Die Deutschen, bei denen die Vorurteile gegen die „entartete Kunst“ tiefe Wurzeln geschlagen hatten, mußten dazu erzogen werden, die Freiheit der Kunst zu akzeptieren. Das war damals alles andere als eine Selbstverständlichkeit.
Auch die französische Militärregierung war nicht gerade ein Vorbild an Toleranz. Sie ließ Bilder von Otto Dix abhängen, weil sie befürchtete, daß durch seine Malerei sich die ehemaligen Nationalsozialisten bestätigt fühlen müßten’”. Bilder Heckels wurden ebenfalls beanstandet, schließlich aber dann doch akzeptiert‘?°. Gewiß, Otto Dix’ veristische Wirklichkeitsdarstellung erinnert teilweise an die Malerei von NS-Künstlern. Der Aussagegehalt seiner Bilder war aber ein grundlegend anderer. Wie wollte die Militärregierung Toleranz und Demokratie lehren, wenn sie Bilder eines Malers abhängte, dessen Malerei von den Nationalsozialisten als entartet diskreditiert worden war? Seine ganze Überredungskunst mußte Schmid auch aufwenden, damit Schillers „Maria Stuart“ aufgeführt werden konnte. Die Franzosen trieb die Furcht um, die Deutschen könnten sich mit der gefangengehaltenen Maria Stuart identifizieren’3′, Außerdem wurde kritisiert, daß die Kultdirektion zu viele Lizensen an Künstler erteilt habe‘??. Kulturbanausen waren die Franzosen freilich nicht. Im Bereich der Kunst traten sie in der Regel eher als Förderer denn als Zensoren auf. So gelang es Schmid mit ihrer Hilfe, den Nachlaß Wilhelm Lehmbrucks von Berlin nach Tübingen zu bringen und dessen Skulpturen, die den meisten Jüngeren unbekannt waren, dort auszustellen’
An den Rand der Verzweiflung brachte Schmid die Pressepolitik der Franzosen. Seine Versuche, Einfluß auf die Presse zu gewinnen, wurden fast immer mit „brennenden Ohrfeigen“ beantwortet’3*, Ein ständiger Zankapfel war das „Schwäbische Tagblatt“, das Schmid in der Hoffnung, eine gute Presse werde erzieherisch wirken, zu einer überregionalen Zeitung umgestalten wollte’35. Trotz der scharfen Vorzensur der Franzosen bot die Presse eine Möglichkeit, die eigene Politik darzustellen und zu begründen. Mit Zustimmung Gouverneur Widmers ordnete Schmid im Februar 1946 die Umwandlung des „Schwäbischen Tagblattes“ in eine Genossenschaft an, an der sich Vertreter aller Parteien beteiligen sollten. Das entsprach durchaus dem Pressekonzept der französischen Besatzungsmacht, die die Gründung überparteilicher Informationszeitungen favorisierte‘ 3°. Auch um einen Redaktionsstab hatte er sich schon bemüht. Es war ihm gelungen, ehemalige Redakteure der „Kölner“ und der „Vossischen Zeitung“ für das „Schwäbische Tagblatt“ zu gewinnen’37, Anfang April – es war schon die erste Nummer des in neuer Aufmachung erscheinenden „Schwäbischen Tagblattes“ gedruckt – brach das ganze Vorhaben zusammen. Loutre, der Leiter der Presseabteilung der Militärregierung in Baden-Baden, legte ein Veto ein mit der Begründung, Schmid mache das „Schwäbische Tagblatt“ zu einem Regierungsblatt. Persönliche Animosität war wohl der Hauptgrund für Loutres Handeln, der nach eigener Aussage monatelang darum gekämpft hatte, das „Schwäbische Tagblatt“ dem Einfluß Schmids und seiner „creatures“ zu entziehen’3®. Die Wortwahl spricht Bände. Carlo Schmid konnte nur resigniert feststellen, daß das Staatssekretariat in der Frage der Neuorganisation der Presse ohne jeden Einfluß war’’”. Daran änderten auch die zahlreichen Klagen der Landräte und selbst der katholischen Kirche über das „Schwäbische Tagblatt“ nichts’, Saint-Hardouin, der verständnisvolle Berater General Koenigs, gab Schmids bittere Beschwerde über die „erbärmliche Mittelmäßigkeit“ der Presse in Württemberg-Hohenzollern nach Paris weiter“, Dort nahm man wohl nicht weiter Notiz davon. Das „Schwäbische Tagblatt“ blieb das Stiefkind der französischen Besatzungsmacht.
Halb spöttisch, halb bewundernd wird oft gesagt, Carlo Schmid habe in Württemberg-Hohenzollern einen „Wilhelm-Meister-Staat“ ‚#? geschaffen. In der Tat: Schmid plante aus diesem kleinen Ländchen eine pädagogische Provinz zu machen, konnte seinen Plan aber nur zum Teil verwirklichen. In euphorischer Aufbruchstimmung hatte er sich an den Aufbau Württembergs-Hohenzollerns gemacht, war dabei aber immer wieder auf den Widerstand konservativer Kreise, der katholischen Kirche und der französischen Besatzungsmacht, die durch ihre Ausbeutungspolitik den Neuaufbau blockierte, gestoßen. So mischten sich in den Enthusiasmus des Neubeginns bald resignative Töne.
Schmid litt unter der starken politischen Beanspruchung. Einem Bekannten aus Liller Zeit klagte er im August 1946: „Wie beneide ich Dich, daß Du einigermaßen leben kannst, wie es einem Menschen ziemt und nicht wie ich, der bald nichts mehr eigenes am Leben hat. Wenn ich höre, daß Du im Garten arbeiten kannst, daß Du so etwas hast wie Mußestunden, dann muß ich mich wehren, daß mich nicht der Neid befällt. Ich selber’habe meinen Garten seit Wochen nicht einmal betreten und an das Lesen anderer Dinge als der Akten kann ich nicht einmal mehr denken.“ ‚#3 Ganz vom Aktenstudium auffressen ließ er sich jedoch nicht. Er fand noch immer Zeit für das Theater und für die Dichtung, Zeit um mit Peter Bamm „Geschichten von Tausendundeinem Tag“ zu erfinden’** und bei Ernst Jünger anzuklopfen, um sich mit ihm über Baudelaire zu unterhalten oder über die „Kraft des Verstandes und des Herzens“, mit der sein Sohn Martin „die Dichter der Zeit rund um den Erdball herum“ ergriff’#5, Er war stolz auf den künstlerisch begabten Jungen und beneidete ihn wohl auch etwas. Hans hatte inzwischen das Medizinstudium ergriffen, die beiden Kleinen Raimund und Beate gingen noch zur Schule und sahen den Vater nur selten.
Die Politik forderte ihren Tribut. Im „tiefsten Untergrund seiner Seele“ beschlich Schmid zuweilen das Gefühl, daß er „Entscheidendes verrate“ 14°. Er dachte jedoch keinen Moment daran, aus der Politik auszusteigen. Der politische Ehrgeiz hatte ihn gepackt und das Pflichtgefühl mahnte ihn, weiterzumachen, nicht zu resignieren. Solange Württemberg-Hohenzollern von den Franzosen besetzt war, war er der Mann, der es am besten verstand, das Joch der Besatzungsherrschaft zu mildern und zu begrenzen. In Zukunft wollte er noch mehr als bisher sich zur Wehr setzen und laut sagen, was ist.
Kritik muß erlaubt sein
Am 23. Oktober 1946 wurde in Schömberg ein Friedhof für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft eingeweiht. In dem 25 Kilometer von Tübingen entfernten Schömberg war Ende 1943 ein Außenkommando des Konzentrationslagers Natzweiler errichtet worden, in dem etwa 2000 Menschen an Hungertyphus verstorben und in Massengräbern verschart worden waren. Die französische Militärregierung hatte die Exhumierung der Leichen und die Anlage des Friedhofs als Gedenkstätte nationalsozialistischer Gewaltherrschaft veranlaßt. Carlo Schmid, der von der Existenz des Konzentrationslagers nichts gewußt hatte, war tief beschämt darüber. Er begrüßte General Koenig, der persönlich zur Einweihung des Friedhofs erschien, in tiefer Verneigung und bekannte sich in einer anschließenden Ansprache zur Schuld und Verantwortung der Deutschen für die Opfer nationalsozialistischer Gewaltverbrechen‘. Es war eine ergreifende Rede, die auch die französischen Zuhörer beeindruckte.
Von der Begrüßung Koenigs durch Carlo Schmid war ein Foto gemacht worden, das gegen seinen Willen in allen Zeitungen der französisch besetzten Zone abgebildet wurde. Seine tiefe Verneigung vor Koenig stieß in der deutschen Bevölkerung auf Unverständnis und wurde hämisch kommentiert. Schmid, der Mann der Franzosen, der sich der Besatzungsmacht unterwirft. Selbst seine Söhne mußten sich hämische Bemerkungen von ihren Mitstudenten gefallen lassen?. Schmid fühlte sich gekränkt und war verärgert über die Veröffentlichung des Fotos. Bei seinem nächsten Besuch in Baden-Baden versuchte er seinen französischen Gesprächspartnern einsichtig zu machen, daß sie mit solchen Fotos ihn diskreditierten und seine Stellung als Regierungschef schwächten?. Jeder mußte glauben, er begegne den Franzosen nur mit gekrümmtem Rücken. Dabei konnte man ihm Unterwürfigkeit ganz gewiß nicht nachsagen. Er hatte es mit
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der Taktik der Geschmeidigkeit versucht, weil eine Konfliktstrategie zu nichts geführt hätte. Er gab zu verstehen, daß er sein Amt niederlegen müsse, wenn er weiter gedemütigt werde. Die Sache hatte ihn offensichtlich schrecklich mitgenommen. Er war bei dem Gespräch den Tränen nahe.
In Baden-Baderg dem Sitz der französischen Militärregierung in Deutschland, hatte er sich bis jetzt kaum Gehör verschaffen können. Erst im August 1946 wurden unter Leitung Laffons Zonenkonferenzen eingerichtet, auf denen die Regierungschefs der französisch besetzten Zone än oberster Stelle der Militärregierung ihre Probleme vorbringen konnten. Zunächst freilich kritisierte die Militärregierung eher die Landesverwaltungen als umgekehrt’. Als am 6. September der Leiter des Staatssekretariats für deutsche und österreichische Angelegenheiten Pierre Schneiter Tübingen besuchte, hielt Schmid mit seiner Kritik an der französischen Besatzungspolitik nicht hinterm Berg. Die deutschen Verantwortungsträger fühlten sich wie „Schulbuben“ behandelt‘. Auf dem Sektor der Ernährung drohe eine schwere Krise, weil durch die gegenüber Nordwürttemberg ungleich schlechtere Ernährungslage ein blühender Schwarzhandel entstanden sei. Die Bevölkerung verstehe nicht, daß das Ablieferungssoll in der französisch besetzten Zone weitaus höher sei als in der amerikanischen Zone, und nehme daher zu unerlaubten Mitteln Zuflucht’. Seine Beschwerde hatte nicht den gewünschten Erfolg. Pierre Schneiter, der offensichtlich Verständnis für die vorgebrachten Klagen hatte, hatte wenig Einfluß auf die Besatzungspolitik.
Am gleichen Tag, als Pierre Schneiter Tübingen besuchte, versprach der amerikanische Außenminister Byrnes in seiner berühmt gewordenen Rede, daß die USA Deutschland helfen werde, „zu einem ehrenvollen Platz unter den freien und friedliebenden Nationen der Welt“ zurückzufinden ®. Carlo Schmid, der regelmäßig an den Kabinettssitzungen in Stuttgart teilnahm, blieb nicht verborgen, daß die amerikanische Regierung den Wiederaufbau betrieb, während in der französisch besetzten Zone die Ausbeutung des Landes weiterging. Der Prozeß der Demokratisierung und der Überführung von Aufgaben in deutsche Zuständigkeit war in der amerikanisch besetzten Zone schon sehr viel weiter fortgeschritten. Schmid hielt die Zeit für gekommen, die französische Militärregierung nun auch öffentlich zu kritisieren.
In einer Rede am ı0. Oktober 1946 anläßlich der ersten Sitzung des Landeswirtschaftsrates, der als Grundstein für eine Wirtschaftsdemokratie galt, wies er darauf hin, daß die Regierung Württemberg-Hohenzollerns „niemandem anderen verantwortlich“ sei als der Militärregierung und deshalb von einer Demokratie nicht die Rede sein könne. Überhaupt, so führte er weiter aus, sei Demokratie unter einer Besatzungsherrschaft, die durch ein „kriegsrechtliches Befehlsverhältnis“ gekennzeichnet sei, nicht möglich?. Das hatte er bereits ein Jahr zuvor schon gesagt, ohne daß es Anstoß erregt hatte. Es war auch nichts anderes als eine Tatsachenbeschreibung. Doch diesmal war man in Baden-Baden ungehalten über Schmids offene Worte. Die Passagen der Rede, die Kritik an der Besatzungsherrschaft enthielten, wurden exzerpiert, ufh Schmid bei einem seiner nächsten Besuche in Baden-Baden dafür zur Rechenschaft zu ziehen‘ ®. Die Franzosen verbaten sich weiterhin jede Kritik an ihrer Besatzungspolitik. Jetzt, da die Amerikaner von ihrer Morgenthau-Ideologie abgerückt waren und den Wiederaufbau Deutschlands unterstützten, war Kritik für sie gefährlicher als noch vor einem Jahr. Die Amerikaner registrierten negative Beurteilungen der französischen Besatzungspolitik sehr genau. Das waren Argumente, um die Franzosen zu einem Wandel ihrer Besatzungspolitik zu bewegen.
Carlo Schmid ging es nicht um einen Affront gegen die Franzosen, aber nach anderthalb Jahren Besatzungsherrschaft wurde das autoritäre Besatzungsregime zu einem gefährlichen Hemmschuh für eine demokratische Entwicklung in Deutschland. Es konnte nicht immer so weitergehen, daß er mit Geschmeidigkeit und manchmal auch etwas List die elementaren Lebensrechte seiner Landsleute gegenüber der Besatzungsmacht verteidigen mußte.
Am 22. November 1946 trat die Beratende Landesversammlung für Württemberg-Hohenzollern im Schloß Bebenhausen – das Schmid zu einem Museum hatte machen wollen “ – zu ihrer ersten Sitzung zusammen. Die Mitglieder der Versammlung waren nicht durch Volkswahl, sondern durch die Kreisdelegierten und die Gemeinderäte der Städte mit über 7000 Einwohnern gewählt worden. Das indirekte Wahlverfahren entsprach der eingeschränkten Aufgabenstellung der Landesversammlung, die lediglich beratende Funktion, aber kein Kontrollrecht gegenüber der Regierung hatte, die weiterhin allein der Militärregierung verantwortlich war. Eine parlamentarische Demokratie war durch die Einrichtung der Landesversammlung nicht entstanden. Carlo Schmid sagte dies ganz offen, als er vor der Versammlung den Rechenschaftsbericht des Staatssekretariats abgab, den er zur Diskussion stellte, um zumindest ansatzweise demokratischen Spielregeln Rechnung zu tragen‘?. Nur der erste Teil der Rede war ein Rechenschaftsbericht, im zweiten Teil formulierte er eine schneidende Kritik an der französischen Besatzungsmacht. Er wußte, daß Kritik nicht erlaubt war, und er sich Ärger mit der Besatzungsmacht einhandeln würde. Aber sollte er schweigen, wo er den wirtschaftlichen Ruin des Landes und einen „Ernährungsbankrott“ befürchtete?“? Der Verbraucher erhielt nicht einmal mehr die im Ernährungsplan vorgesehene Ration von ı soo Kalorien. Ende Oktober hatte er vergeblich gegen eine Kürzung der Brotration bei der Militärregierung interveniert’*.
Schmid vermied es, von Ausbeutung zu sprechen, machte aber deutlich, daß die französische Besatzungspolitik nichts anderes war. U.a. zählte er auf: „die Unfreiheit der Verfügung über die noch im Lande befindlichen Rohstoffe, Halbfabrikate und Fertigerzeugnisse, der Abtransport der neuesten und leistungsfähigen Maschinen für Reparationszwecke, der Mangel an Facharbeitern, bedingt durch die Zurückhaltung von Millionen von Kriegsgefangenen, die man nun endlich heimlassen sollte (…), die unzureichende Ernährung und die völlig ungenügende Versorgung der Arbeiter- – und Angestelltenschaft mit Arbeitskleidern und -schuhen und schließlich noch die fortschreitende Kürzung der Strom- und Kohlenkontingente“ ‚°. Das Holzkontingent, das die Militärregierung den einzelnen Kreisen zuteile, decke nicht einmal den Bedarf für die Särge. Für die katastrophale Ernährungslage, die weiteren Kürzungen der Kartoffel- und Brotrationen machte er die hohen Ablieferungsverpflichtungen an die Armee verantwortlich, was er an konkreten Zahlenbeispielen zu veranschaulichen wußte. Es war weithin bekannt, daß das Staatssekretariat von der Militärregierung zur Exekutivbehörde degradiert wurde. Er sagte es trotzdem noch einmal ausdrücklich: „Vieles von dem, was mit unserer Unterschrift ins Land hinausgeht, ist nicht die Frucht unserer eigenen Entschlüsse: manches würde anders geschehen, wenn wir allein zuständig wären.“ ‚° Seine Kritik richtete er an die Adresse der Militärregierung in Baden-Baden und an die der Regierung in Paris. Den für Württemberg-Hohenzollern zuständigen Offizieren und Beamten dankte er ausdrücklich für die verständnisvolle Zusammenarbeit’”.
Schmids Rede erregte weit über die Zonengrenze hinaus Aufsehen und bestärkte bei Amerikanern und Briten den Eindruck, daß die französischen Statistiken auf dem Ernährungssektor „reine Erfindung“ seien'“. Schmid hatte vermutlich gehofft, daß seine Rede auch außerhalb Württemberg- Hohenzollerns vernommen werde und deshalb seine Kritik so beherzt vorgetragen. Er mußte damit rechnen, daß die Franzosen sich diese Ohrfeige nicht gefallen lassen würden. Einen Tag nach seiner mutigen Rede wurde er nach Baden-Baden zitiert, wo er sich vor Generaladministrator Emile Laffon verantworten sollte. Er hatte in Begleitung eines französischen Offiziers anzureisen. Drohte Hausarrest oder Verhaftung? Er hielt es für angebracht, „einen Koffer mit dem Nötigsten mit auf die Reise zu nehmen“ ‚?,
Der Generaladministrator warf ihm vor, Frankreich verleumdet und der Militärregierung gegenüber einen Akt der Resistance begangen zu haben. Seinen Erinnerungen zufolge antwortete Schmid Laffon, daß er in Lille vier Jahre Widerstand gegen die eigene Regierung geübt habe”. Laffon scheint das nur wenig beeindruckt zu haben. Er ließ Schmid die Macht des Siegers über den Besiegten spüren. Der Generaladministrator, der im ökonomischen Bereich eine äußerst harte Linie vertrat”“, verlangte, daß Schmid in der nächsten Landesversammlung die in französischen Statistiken aufgeführten Zahlen über die Ernährungslage vorlas. Verhaften ließ er Schmid wohlweislich nicht. Das hätte bei der Bevölkerung Württembergs Empörung ausgelöst und auch in der amerikanischen Zone für Aufsehen gesorgt. Schließlich war Schmid in der amerikanischen Zone kein Unbekannter. Als Schmid kurz nach der Auseinandersetzung mit Laffon in das General Koenig unterstellte Zivilkabinett kam, war er noch sehr niedergeschlagen. Mußte Laffon nicht einsehen, daß seine Stellung als Regierungschef unhaltbar wurde, wenn er bei der Bevölkerung als Erfüllungsgehilfe der französischen Besatzungsmacht galt? Im Zivilkabinett Koenigs fand er Verständnis für seine Haltung?”
Im Endeffekt ging er gestärkt aus dieser Regierungskrise hervor. In der Bevölkerung hatte er durch die Auseinandersetzung mit der Besatzungsmacht an Achtung gewonnen. Als er am >». Dezember 1946 die korrigierten Zahlen verlas, wußte jeder seiner Zuhörer, daß er dies auf Befehl der Militärregierung tat. Landtagspräsident Gengler bat von einer Veröffentlichung der abgegebenen Erklärung abzusehen *#,
Schmid ließ sich durch die Zurechtweisung nicht einschüchtern. Die Möglichkeiten der Franzosen, ihn mundtot zu machen, waren gering. In einem Artikel zum Weihnachtsfest 1946 las er der Besatzungsmacht erneut die Leviten. Die uferlosen Demontagen kommentierte er mit den Worten: „Könnte aber Vernunft es zulassen, daß unser Volk außerstande gesetzt wird, sich sein Brot durch ehrliche Arbeit zu verdienen und daß es statt dessen zum Almosenempfänger derer herabgewürdigt wird, die gekommen sind, um eine bessere Welt zu schaffen?“ ?5 Der Großteil der Demontagen wurde in Württemberg-Hohenzollern vorgenommen, noch bevor die Alliierten Ende 1947 eine Demontageliste vereinbarten. Entgegen alliierten Abmachungen hatte die französische Besatzungsmacht 1946 das ganze Jahr über einseitig Maschinen entnommen, wobei in zahlreichen Fällen keine Rücksicht darauf genommen wurde, ob die Entnahmen aus Fabrikanlagen stammten, die für den Wiederaufbau unbedingt notwendig waren“,
Um den Abtransport lebenswichtiger Maschinen zu verhindern, regte Schmid im Mai 1946 die Erstellung eines Industrieplanes an, in dem die für die Maschinendemontage geeigneten Werke verzeichnet werden sollten”. Dieser Vorschlag entsprach Vereinbarungen, die die Alliierten im Frühjahr 1946 getroffen hatten, an die sich aber die Franzosen trotz harscher Kritik des amerikanischen Militärgouverneurs nicht hielten. Im Frühsommer 1946 verlor Württemberg-Hohenzollern etwa ein Viertel aller vorhandenen Maschinen, die nur zur Hälfte aus ehemaligen Rüstungsbetrieben stammten*®,
Zentrum der Rüstungsindustrie war das am Bodensee gelegene Friedrichshafen, wo sich die Zeppelin-Werke, Dornier und die Maybach-Motorenwerke angesiedelt hatten. Im Frühjahr 1946 sah die Zukunft dieser durch Luftangriffe stark zerstörten Zeppelin-Stadt sehr düster aus. Carlo Schmid mußte, vorerst noch völlig ratlos, gestehen, daß „sich in Friedrichshafen kein Rad mehr drehen“ werde, wenn die Militärregierung ihre Anordnungen durchsetzte”. Gar so schlimm kam es dann nicht. Die Maybach- Werke konnten durch eine deutsch-französische Wirtschaftskooperation, gerettet werden. Ein vergleichbares Kooperationsprojekt für die Zeppelin-Werke lehnte die Militärregierung ab. Kreisgouverneur Ulmer stellte Mitte August 1946 den Erhalt der Werke in Aussicht, falls der Betriebsrat sich bereitfände, das Werk zu übernehmen?°. Schmid, der die Zeppelin-Werke schon einige Male besucht hatte, war skeptisch – zu Recht. Die Arbeiter ergriffen keinerlei Initiative, den Betrieb zu übernehmen. Schmid plante die Umwandlung der Zeppelin-Werke in eine Stiftung. Die Rechtsform der Stiftung hielt er wie damals viele für eine zukunftsträchtige Alternative zur kapitalistischen Unternehmensform?‘. Seine Kollegen im Direktorium erklärten sich im August mit dieser Lösung einverstanden, nicht aber der 78jährige Luftfahrtpionier Hugo Eckener, der an der Spitze des Unternehmens bleiben wollte”. Da Eckener sich nicht überzeugen ließ, beschloß das Staatssekretariat auf Vorschlag Schmids, die Umwandlung der Zeppelin-Werke in eine Stiftung per Rechtsanordnung vorzunehmen’. Die französische Militärregierung verlangte die Überführung des Stiftungsvermögens an die Stadt Friedrichshafen, was Schmid für eine nicht besonders glückliche Lösung hielt. Er hatte Zweifel, ob der Gemeinderat seiner Aufgabe gewachsen sein würde3+. Immerhin konnte so die Totaldemontage des Werks verhindert werden. Am ı. März 1947 wurde aus den Zeppelin-Werken eine „mildtätigen Zwecken gewidmete fideiziarische Stiftung der Stadtgemeinde Friedrichshaten“ ®®.
Der Kampf gegen die Demontage in Württemberg-Hohenzollern war damit noch nicht beendet. Schmid focht diesen Kampf mit demselben Elan, wie er sich für den Ausbau Tübingens zum Kulturzentrum einsetzte. Freilich erkannte er schon recht bald, daß letztendlich nur die Amerikaner die Franzosen zu einer Änderung in der Demontagepolitik zwingen konnten. Da er sich fast jede Woche einmal in Stuttgart aufhielt und auch sonst viel unterwegs war, bekam er mit, wie die internationalen Kräfteverhältnisse aussahen. Der Musensohn, der erst seit kurzem die politische Bühne betreten hatte, hatte einen erstaunlich wachen Sinn für die Realitäten der Politik.
Nicht nur in der Demontagefrage, auch in der Frage der Parlamentarisierung und der Erweiterung der Kompetenzen der Landesverwaltung war die französische Militärregierung zu Zugeständnissen kaum bereit. Darüber kann auch die formale Erweiterung der Befugnisse der Landesverwaltung nicht hinwegtäuschen. Der 4. Dezember 1946 brachte keine Zäsur im Verhältnis der Tübinger Landesverwaltung zur französischen Militärregierung. An diesem Tag wurde aus dem Staatssekretariat eine provisorische Regierung, die das Recht erhielt, Bestimmungen mit Gesetzeskraft zu erlassen. Von diesem Recht hatte das Staatssekretariat die ganze Zeit schon Gebrauch gemacht, obwohl von der Besatzungsmacht keinerlei Ermächtigung dazu vorlag. In der Praxis änderte sich nichts, da alle Erlasse weiterhin der Genehmigung durch die Militärregierung bedurften’, Der Begriff provisorische Regierung täuschte eine Parlamentarisierung der politischen Ordnung vor, die es in Wirklichkeit nicht gab. Freilich, die Konstruktion der Abwesenheitspflegerschaft, die der Bezeichnung der Landesverwaltung als Staatssekretariat zugrunde lag, ließ sich nicht länger aufrechterhalten. Der Status des Tübinger Staatssekretariats entsprach dem der Regierung in Stuttgart. Carlo Schmid nannte sich zwar nicht Ministerpräsident wie Reinhold Maier, sondern Vorsitzender bzw. seit Frühjahr 1946 Präsident des Staatssekretariats, aber er übte seit dem 16. Oktober 1945 das Amt eines Regierungschefs aus. Dem Buchstaben nach hielt man auch nach dem 4. Dezember noch an dem Statut des Staatssekretariats fest, nach dem die Tübinger Behörde gegenüber der Stuttgarter einen untergeordneten Status hatte. Die Landesdirektoren nannten sich nicht Minister, sondern erhielten nunmehr den Titel „Staatssekretär“. Schmid blieb weiterhin der Verbindungsmann zwischen Tübingen und Stuttgart.
Der 4. Dezember 1946 bedeutete trotzdem einen Einschnitt für das politische Leben in Württemberg-Hohenzollern. „Die Regierung hat ihren Charakter geändert“, erläuterte Schmid drei Tage später den im Schloß Haigerloch versammelten Landräten: „Sie hat ihn nicht verändert, was ihre Struktur anbetrifft, also ihren Ort im administrativen und konstitutionellen Sinne des Landes, sie hat ihren Charakter insoweit geändert, als nunmehr die politischen Parteien als solche die Verantwortung für die Regierung tragen. Bisher war es ja so gewesen, daß die s Männer, dıe das Direktorium bildeten, quoad personam bestellt waren. Sie gehörten zwar, zum Teil wenigstens, bestimmten politischen Parteien an, sie waren aber nicht als Vertreter dieser Parteien im Direktorium, sie waren an Beschlüsse ihrer Parteiorgane nicht gebunden und hatten ihren Parteien gegenüber keinerlei Rechenschaftspflicht. Das ist nunmehr geändert worden.“?
Schmid beschrieb keinen verfassungsrechtlichen Zustand, sondern eine politische Entwicklung, die ihm gar nicht gefiel. Nach dem hohen Wahlsieg der CDU bei den Kreistagswahlen mußte Schmid wohl oder übel Gouverneur Widmer eine verstärkte Regierungsbeteiligung der CDU vorschlagen. Zunächst hatte er gehofft, die CDU mit der Einrichtung eines Landwirtschaftsministeriums zufriedenstellen zu können?®. Die CDU jedoch ließ sich mit dem undankbaren Landwirtschaftsressort nicht abspeisen und verlangte zusätzlich das Kultressort. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die bittre Pille zu schlucken und Albert Sauer das Kultressort zu überlassen. Glücklich war er über die verstärkte Einflußnahme der Parteien auf das politische Leben nicht – und das nicht nur, weil Württemberg- Hohenzollern eine Hochburg der CDU war.