1896-1979 eine Biographie : Noch einmal im Aufwind (1957-1961)
Endlich Parteireform!
Es gibt auch heilsame Niederlagen. Die SPD hatte ein Wahldebakel erlitten, während Schmid in der nordbadischen Industriemonopole Mannheim rund 6000 Stimmen mehr als die SPD erhalten hatte, die dort auf einen Zweitstimmenanteil von 41,7% gekommen war. Wer wollte ihm verargen, daß ihn der Wahlausgang mit Genugtuung erfüllte’. Immerhin war er in Baden-Württemberg der einzige Sozialdemokrat, der ein Direktmandat erobert hatte. Bundesweit hatte sich die SPD mit einem Stimmenanteil von 31,8% begnügen müssen. Die CDU/CSU hatte ein Traumergebnis erzielt: 50,2 % der Zweitstimmen, die absolute Stimmenmehrheit. In der SPD-Parteizentrale war wie immer die Neigung zur Selbstgefälligkeit groß. Der Presse gefiel es, Schmid gegen die SPD auszuspielen. Für die „Welt“ war Schmid ein „intellektueller und musischer Lockvogel einer antiintellektuellen und bis in die Knochen des Parteivorstandes amusischen Partei“. Journalisten aller politischer Couleur stilisierten ihn zum Hoffnungsträger der SPD. Zu seinen Lobrednern zählten Hans Zehrer ebenso wie Marion Gräfin Dönhoff und Rudolf Augstein’. Er war es, der die SPD aus dem Turm herausholen, sie für das Bürgertum wählbar machen sollte. Er stand für ein neues Bündnis zwischen Intelligenz und Arbeiterschaft. „Wir, die etwas heimatlosen intellektuellen Sozialisten, haben nun einmal auf Carlo Schmid gesetzt.“* Kay Lorentz, der sich so zu Schmid bekannte, sprach für viele. Kurt Hiller, in der Weimarer Republik Mitarbeiter der „Weltbühne“ und Mentor der Räte geistiger Arbeiter, attestierte Schmid, daß er mehr „Jugendfeuer“ habe als mancher, der in der Partei als links gelte, aber nur „ein ulkig unwirksamer Abbeter längst sauer gewordener Suren“ wars. Auch beim konservativen Bildungsbürgertum war er der ungekrönte Star. Friedrich Sieburg schmeichelte Schmid: „Das Leben wäre reicher für uns, wenn Sie gänzlich vorherrschend wären.“ ® | So viel Lob wirkte beflügelnd. Schmid war diesmal eisern entschlossen, Bewegung in die verkrustete Funktionärspartei hineinzubringen. Die Loyalitätsverpflichtung gegenüber der Partei freilich gebot, daß er sich in seinen öffentlichen Stellungnahmen mit Kritik zurückhielt. Er bemühte sich um eine sachliche Wahlanalyse, vermied einfache und einseitige
Schuldzuweisungen. Der Mißerfolg der SPD hatte viele Ursachen. Eine davon war der Vater-Komplex der Deutschen’. Adenauer spielte die Rolle des Patriarchen, der für Wohlstand und Sicherheit sorgte, ausgezeichnet. Seine Parole „weiter so …“ war angekommen. Die Bundesbürger wollten ihren relativen Wohlstand nicht aufs Spiel setzen?. Abermals bemühte Schmid sich, den Parteifreunden klarzumachen, daß die Wähler bei der Wahl keine sorgsam abgewogene Vernunftentscheidung treffen. Dann wiederholte er, was er auch schon hundertmal gesagt hatte: Die Partei müsse ihr Vokabular und ihre Propaganda ändern, zu einer Volkspartei werden, „die Anhänger in allen Schichten des Volkes findet“?. Nicht ein neues Programm brauche die Partei, sondern eine andere Spitze, ein Team „eigenwillige(r) Individualitäten“: „Programme interessieren die Menschen heute nicht mehr sonderlich. Die Menschen haben erfahren, wieviel stärker das Leben ist als die abstrakten Lehrsätze und Wunschträume, die so oft als politisches Programm ausgegeben werden. Was die Menschen interessiert und was sie zu bewegen vermag, sind Männer und Frauen, die in der Vielfalt ihrer Temperamente, ihres Wissens, ihrer Kräfte, die in der Mannigfaltigkeit der Hebelpunkte, von denen aus sie die Hindernisse auf dem Weg zum Notwendigen wegzustemmen sich bemühen, den Menschen unseres Volkes zeigen, welche Chancen für sie und für das ganze Volk im Wirken der Partei liegen können, die diese Frauen und Männer vergegenwärtigen.“ ‚° Sägte er am Stuhl Ollenhauers? Um solchen Schlußfolgerungen entgegenzutreten, erklärte er in einem RIAS-Interview mit Egon Bahr unmißverständlich: „Wer mich heute fragt, wer soll ı. Vorsitzender der SPD sein, dem sage ich: Erich Ollenhauer.“'“ Im Parteiausschuß wurde ihm vorgeworfen, daß er nicht unterstrichen hatte, daß Ollenhauer auch Aspirant für das Kanzleramt bleiben werde’*. Auf die Trennung von Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur kam es ihm aber gerade an. Als Parteivorsitzender war Erich Ollenhauer unentbehrlich, denn die alte Traditionspartei folgte nur ihm, dem geborenen Sozialdemokraten, auf neuen Wegen. Als Kanzlerkandidat jedoch war der als Biedermann apostrophierte Ollenhauer ohne jede Ausstrahlungskraft’3, während Schmid zum beliebtesten Politiker der Bundesrepublik avancierte. Ollenhauer reagierte gereizt auf die von allen Seiten geübte Kritik an seiner Person. „(E)r sei nicht dazu da, daß man sich an ihm die Stiefel abputze“, entgegnete er in ungewöhnlicher Schärfe in der ersten Parteivorstandssitzung nach der Wahl’+. Der von Schmid anvisierten Parteireform widersetzte er sich energisch: „(W)enn wir unsere Funktionäre selbst diskriminieren und mit dem Minderwertigkeitskomplex des: Parteiapparat- Menschen belasten, dann zerstören wir die stärkste Säule unserer Kraft.“’5 Eine SPD ohne Grundsatzprogramm konnte und wollte sich Erich Ollenhauer nicht vorstellen. Er hielt es für „falsch“, daß „prominente“ Genossen Öffentlich erklärten, die Zeit der Ideologien und Parteiprogramme sei vorbei. Die Partei brauche eine „theoretische Fundierung ihres sozialistischen Gehalts und ihrer Politik, wenn sie bestehen will.“ ‚6 Schmid stöhnte, daß die Parteireform eine Aufgabe sei, die selbst die Kräfte eines Herkules überfordere und fügte maliziös hinzu: „Leider wird es nicht nur den Stall des Augias auszuräumen gelten, sondern werden auch einige lernäische Hydren zu erlegen sein, und Sie wissen, wie schwer dies selbst jenem löwenfellbekleideten Heros gefallen ist, obwohl ihm eine Pallas Athene zur Seite stand, eine Göttin, die offensichtlich keine Versuche macht, sich zu uns zu verirren.“ ‚7 Im Parteivorstand war eine offene Aussprache kaum möglich, zumal Schmid sich durch Polemiken und Sticheleien mehr stören ließ als notwendig'“°. So erinnerte er sich nach den Wahlen wieder der alten Weisheit, daß man Politik am besten beim Frühstück macht. Aus den informellen Treffen zwischen Schmid, Wehner und Erler entwickelte sich ein „Frühstückskartell“‘ ®. Einmal in der Woche traf sich das Trio in Schmids Dienstzimmer zum gemeinsamen Frühstück, bei dem eine einheitliche Linie zur Parteireform ausgearbeitet wurde. Wehner hatte sich dem Kartell nur zögernd angeschlossen. Der geschickte Taktierer ließ sich nur ungern in die Fronde der Parteireformer einspannen, obwohl auch er mittlerweile einsah, daß die Partei nicht so bleiben konnte, wie sie war. Die Wahlniederlage der SPD hatte er ebenso wie sein Parteifreund Schmid vorausgesehen”°, der nun auf seine Mitarbeit drängte. Die Parteireform war nur mit, nicht gegen Wehner, der den Parteiapparat und die Parteitradionalisten auf seiner Seite wußte, zu erreichen. Außerdem beunruhigte Schmid das Gerede von einem Herbert-Wehner- und einem Carlo-Schmid-Flügel, dem er andauernd entgegentreten mußte?‘. Schmid plante als ersten Schritt eine Neubesetzung der Fraktionsspitze. Er, Wehner und Erler sollten in Zukunft Erich Ollenhauer als politische „Berater zur Seite stehen. Weil er fürchtete, daß das Team gesprengt werden könnte, wollte er die Wahl zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden nur annehmen, wenn auch Erler und Wehner gewählt würden. Wehner stimmte Schmids conditio sine qua non nur widerwillig zu?*. Bei einem solchen Teamwork konnte keiner an dem anderen vorbei. Wehner fürchtete, was Schmid beabsichtigte: eine Einschränkung seiner Handlungsfreiheit. Der Zuchtmeister ließ sich selbst nur ungern in die Zucht nehmen. Zunächst einmal mußte der Widerstand Ollenhauers gebrochen werden, der Mellies und Schoettle als stellvertretende Fraktionsvorsitzende halten wollte und deshalb vorschlug, die Zahl der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden auf fünf zu erhöhen”. Noch hatte die Troika ihren Anspruch auf den stellvertretenden Fraktionsvorsitz nicht offiziell angemeldet. Ollenhauer scheint aber von ihrem Vorhaben gewußt zu haben.
Sein Vorschlag wurde in der ersten Fraktionssitzung am 26. September von Hellmut Kalbitzer zurückgewiesen, der dafür plädierte, Schmid, Wehner und Erler als stellvertretende Fraktionsvorsitzende zu wählen. Kalbitzers Vorpreschen war kein abgekartetes Spiel. Der Hamburger Abgeordnete, der keinen engeren Kontakt zu den Reformern hatte, war sich nicht einmal ganz sicher gewesen, ob Schmid für den Fraktionsvorsitz kandidieren würde. Einige Tage nach der Fraktionssitzung schrieb er Schmid: „In der ersten Fraktionssitzung habe ich Dich als stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden mit vorgeschlagen, weil ich meine, daß dem Erich die stärksten Persönlichkeiten unserer Fraktion zur Seite gestellt werden sollten. Ich weiß, Du wirkst genau so viel mit und ohne dieses Amt (…).“ ** Kalbitzer unternahm einen ganz unnötigen Überredungsversuch. In der Fraktionsvorstandssitzung am 22. Oktober gab das Dreigestirn offiziell seine Kandidatur bekannt. Schoettle, der sich mit Ollenhauer nicht sonderlich gut verstand, verzichtete freiwillig auf den stellvertretenden Fraktionsvorsitz. Mellies’ Drohung, seine Parteiämter niederzulegen, wenn er nicht gewählt werde, zeigte keine Wirkung”. Am 30. Oktober entschied sich die Fraktion für das Trio der Parteireformer. Die Wahl war ein überzeugendes Vertrauensvotum für Schmid. Von 148 abgegebenen Stimmen erhielt er 131, für Wehner votierten ı10 Fraktionsmitglieder, für Erler ro1. Ollenhauers Versuch, Mellies den Fraktionsvorsitz zu retten, mißlang. Die Fraktion erteilte ihm mit nur 72 Stimmen eine deutliche Abfuhr”. Selbst in parteinahen Zeitungen wurde die Neuorganisation der Fraktionsspitze als Triumph der Reformer gefeiert. Ollenhauer war erbost und klagte über die geringe Loyalität gegenüber der Partei?”. Er fühlte sich durch die Abwahl Mellies’ persönlich getroffen. Vielleicht hatte der „Spiegel“ ja nicht Unrecht, als er den Wechsel an der Fraktionsspitze mit den Worten kommentierte: „Man schlug den Sack und meinte den Esel.“ ® Mellies machte Schmid bittere Vorwürfe: „Ihr habt Euch verabredet (um nicht zu sagen verschworen), mich auf alle Fälle als stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden zu beseitigen. Ihr habt das getan, ohne mich davon zu unterrichten und ohne den Versuch zu machen, eine Lösung zu finden, die eine unerträgliche politische Abwertung meiner Person in der Öffentlichkeit verhinderte. (…) Nach diesen Vorgängen wäre ich jedenfalls sehr dankbar, wenn nicht mehr schöne Formulierungen über engere menschliche Verbundenheit oder über ein enges Zusammenrücken gebraucht würden.“ * Insbesondere der letzte Satz sollte Schmid treffen, der immer wieder die fehlenden menschlichen Bindungen in der Partei beklagte. Es war schlimm, daß sich in der Politik nichts bewegen ließ, ohne daß man jemandem weh tat. Mellies tat allen leid: Carlo Schmid, Fritz Erler und ° Willy Brandt?°, der am 3. Oktober gegen den Widerstand der Parteitraditionalisten des Neumann-Flügels vom Berliner Abgeordnetenhaus zum Regierenden Bürgermeister gewählt worden war.
Bei der Diskussion um die Nachfolge des verstorbenen Bürgermeisters Otto Suhr war auch Schmids Name gefallen. Er hatte, ohne auch nur einen Moment zu überlegen, abgelehnt?‘. Die Berliner Lokalverhältnisse waren ihm nicht vertraut und außerdem wollte er wohl auch seine Bonner Stellung nicht räumen. Noch konnte er auf eine Karriere in Bonn hoffen. Von Anfang an hatte er auf Willy Brandt gesetzt, was ihn in Gegensatz zu seinem Freund Adolf Arndt brachte, der von Franz Neumann als Bürgermeisterkandidat vorgeschlagen worden war. Im Parteivorstand schob Schmid Arndts schlechte Gesundheit vor, um dessen Nominierung zum Berliner Bürgermeister zu verhindern??. Auch „Der Spiegel“ erfuhr von Schmids Stellungnahme, worüber Arndt verständlicherweise sehr verärgert war’. Auch hier ging es nicht ohne Verletzungen ab. Schmid zeigte sich im Herbst 1957 als cleverer harter politischer Taktiker. Leicht fiel ihm diese Rolle nicht. Überwältigte ihn doch das Mitleid meist sehr schnell. Er durfte nicht nachgeben. Die Parteireform fand entweder jetzt oder nie statt. Auch in Berlin ging es um eine politische Richtungsentscheidung. Arndt galt als der Vertraute Kurt Schumachers, als Exponent des Neumann- Flügels, Willy Brandt war der Mann Ernst Reuters, der schon früh für eine westlich orientierte Politik und eine Öffnung der Partei für breite Volksschichten votiert hatte. Schmid schätzte Brandt, weil er kein „bloßer Parteimann, kein Demagoge und kein simpler Verwalter“ war’*. Arndt zog seine in Aussicht gestellte Kandidatur zurück, nachdem die Mehrheit des Berliner SPD-Landesvorstandes sich hinter Brandt gestellt hatte. Und sie bewegt sich doch! Mit der innerparteilichen Entwicklung der letzten Monate war Schmid am Jahresende mehr als zufrieden. „Die Zusammenarbeit mit Erler und Wehner geht ausgezeichnet“, berichtete er Konrad Heiden. „Ich glaube, daß sie in mehr als nur technischer Hinsicht ausgezeichnet ist. Mir ist vor dem Parteitag nicht bange, wenngleich die Apparatschiki aus allen Ecken böllern und sich in der Kunst des Tief- “schlags angelegentlich versuchen.“ 3 Es kostete ihm Sympathie, daß er den Parteifunktionären seine Verachtung ganz offen zeigte. Die letzten Parteivorstandssitzungen waren turbulent verlaufen. Ollenhauer wehrte sich vehement gegen die Abschaffung des besoldeten Parteivorstandes und die Errichtung eines Parteipräsidiums, das die politische Führung über- . nehmen und den Parteivorsitzenden beraten sollte. Eine Siebener-Kommission war gebildet worden, die sich zusammen setzte, um gemeinsam Vorschläge für die Umgestaltung des bisherigen Parteivorstandes auszuarbeiten. Schmid war kampfentschlossen, als ob es um einen völligen politischen Neuanfang ginge. Einen „faulen Kompromiß“ wollte er diesmal nicht hinnehmen. Wenn die Siebener-Kommission zu keinem Ergebnis kam, mußte auf dem Parteitag eine Kampfabstimmung gewagt werden’®. Als der Parteitag am 18. Mai in Stuttgart begann, war Ollenhauer guter Zuversicht, daß er sich auch in Zukunft auf einen besoldeten Parteivorstand werde stützen können. Carlo Schmid hielt sich wie immer auf Parteitagen mit kritischen Äußerungen zurück. Nicht eine abfällige Bemerkung über das bornierte Funktionärstum kam über seine Lippen. In seinem kurzen Redebeitrag beschwor er unter Berufung auf Lassalle das Bündnis zwischen Intelligenz und Arbeiterschaft und verlangte ein neues Selbstverständnis der Partei: „(S)tellen wir unser Licht doch ruhig auf den Scheffel – nicht prahlerisch, aber mit Selbstgefühl! Wo Selbstgefühl gespürt wird, da fühlen sich die Menschen angezogen. Tun wir das Erforderliche! Öffnen wir Türen nach allen Seiten! Verlangen wir von niemandem, der zu uns will, ein Opfer seines Selbstgefühls oder die Unterwerfung unter das kaudinische Joch des Dogmas!“3 7 Die Stimmung auf dem Parteitag war gereizt. Die Gegner der Parteireform holten zum Gegenschlag aus. Olaf Radke, Mitglied des Bezirksvorstandes Hessen-Süd, erhielt lebhaften Beifall, als er Schmid attackierte: „Genossinnen und Genossen, Türen nach allen Seiten offen. Waren sie jemals geschlossen? Einmal weg von der Persönlichkeit des Genossen Carlo Schmid: Was soll dieses inhaltslose Bla-Bla, wenn die Geschichte der Partei bisher das Gegenteil beweist.“ 3° Vielleicht hatte Radke nicht ganz unrecht. Schmid hatte sich trotz seines vorher bekundeten Kampfeswillens so vorsichtig geäußert, daß seine Ausführungen wie ein Allgemeinplatz klangen. Nach solch heftigem Schlagabtausch fürchteten die journalistischen Beobachter des Parteitages schon, daß die Reformer überspielt würden??. Schmid, der sich auch hinter den Kulissen umhörte, war zuversichtlicher. Er hatte aus gutem Grund Polarisierungen vermieden. Die Starrheit des Parteiapparates mißfiel dem linken Flügel der Partei nicht weniger als dem rechten. Der „Naturschutzzaum“, der den besoldeten Parteivorstand umgab, fiel. Die von den Reformern vorgeschlagene Einrichtung eines Parteipräsidiums, auf das die Macht des alten Parteiapparates übergehen sollte, wurde von der Mehrheit der Delegierten unterstützt. Opfer der Parteireform wurden Fritz Heine und die Frauensekretärin beim Parteivorstand Herta Gotthelf, die nicht wieder in den Parteivorstand gewählt wurden. Herta Gotthelf befreite sich von ihrer Enttäuschung durch eine heftige Polemik gegen Schmid. In der „Gleichheit“ warf sie den „Tür-Auf-und-Zumachern“ und den „Vokabeln-über-Bord-Werfern“ vor, daß sie nicht begriffen, daß es für Sozialisten keine Ruhe geben könne, „solange es noch irgendwo auf der Welt Hunger, Not, Ausbeutung und Unterdrückung gibt“ #°, Der Zorn der Opfer lud sich auf Schmid ab. Jeder wußte, daß er die treibende Kraft bei der Parteireform gewesen war. Die Rückzugsgefechte der Parteifunktionäre ärgerten ihn®‘, beunruhigten ihn aber letztendlich nicht sonderlich. Unglücklich dagegen war er über die Wahl Herbert Wehners zum stellvertretenden Parteivorsitzenden, die er vergeblich zu verhindern suchte.
Nach dem im Frühjahr gefaßten Entschluß, Erich Ollenhauer künftig zwei Stellvertreter zur Seite zu stellen, begann die Kandidatensuche. Schmid selbst winkte sofort dankend ab. Er wollte weder Parteivorsitzender werden*?, noch sich auf ein Triumvirat Ollenhauer-Wehner-Schmid einlassen, in dem er sich nur mühsam oder gar nicht hätte durchsetzen können*. Außerdem wollte er mit der Parteiorganisation weiterhin nichts zu tun haben. Relativ schnell einigte man sich auf Waldemar von Knoeringen, dessen Kandidatur Schmid nachhaltig befürwortete. War doch Knoeringen außer ihm der einzige, der die Partei stetig mahnte, sich mit den Folgen der zweiten industriellen Revolution zu befassen. Als Wehners Name für den zweiten Stellvertreterposten genannt wurde, erhob Schmid sofort Einspruch. Wehners Funktion in der Fraktion sei so wichtig, daß er sein dortiges Stellvertreteramt nicht einfach aufgeben könne. Das eben erst geschaffene Fraktionsvorsitzendenteam dürfe nicht „ohne Not“ auseinandergerissen werden**. Was er befürchtete, konnte man nur zwischen den Zeilen entnehmen: eine Sprengung des Reformertrios, ein erneutes Auseinanderfallen der Partei in einen Wehner- und Schmid-Flügel, ein Abbrechen der Reformen und eine weitere Linksentwicklung der Partei. Wehner ließ durchblicken, daß er aus der Troika ganz gern wieder ausscheide*°. Schmid wurde nicht müde, zu betonen, daß Wehner zu seinen besten, zu seinen wirklichen Freunden zähle*°. Er sehnte sich vermutlich wirklich nach der Freundschaft dieses Mannes, der seine existentielle Verzweiflung wie kein anderer verstand. Gleichwohl bereiteten ihm die langanhaltenden Ovationen, die Wehner auf dem Parteitag erhielt, großes Unbehagen. Die Wahl Wehners zum Stellvertreter Ollenhauers wurde von den Parteitagsteilnehmern wie auch von journalistischen Beobachtern als politische Richtungsentscheidung interpretiert. Die Partei wollte Wehner, gegen den sich Knoeringen nicht werde durchsetzen können*’. Die Parteireform war beschlossene Sache. Ob die Partei auch den Weg der Reform ging, hing nicht zuletzt von Wehner ab. Schmid fürchtete, daß sein Parteifreund als „Bürgerschreck“ wirke, durch den die Tür nach rechts wieder zugeschlagem- wyrde#°. Als Wehner im Frühjahr 1959 den Deutschlandplan veröffentlichte, sah sich Schmid in seinen Befürchtungen bestätigt*. | Vorerst konnte er nur hoffen, daß das Parteipräsidium zu einer Bastion der Reformer wurde, gegen die auch Wehner nicht ankam. Das Parteipräsidium wurde im Juni vom Parteivorstand gewählt. Neben Schmid und den drei Parteivorsitzenden gehörten ihm Deist, Erler, Nau, Schoettle und Marta Schanzenbach an. Es nahm mehr Koordinierungs- als politische Führungsaufgaben wahr. Schmid war froh, daß es an der Parteispitze jetzt kollegialer zuging als zuvor°°, die politischen Erwartungen, die er mit der Errichtung des Parteipräsidiums verknüpft hatte, erfüllten sich nur zum Teil. So nahm er sich schon bald die Freiheit, gelegentlich dessen
Sitzungen zu schwänzen‘“. In der Öffentlichkeit zeigte die Errichtung des Parteipräsidiums große Wirkung. Die SPD konnte demonstrieren, daß sie über fachlich und politisch versierte Persönlichkeiten verfügte, die alles andere als doktrinäre Sozialisten waren. Der Apparat war entthront. Das war das bleibende Ergebnis des Stuttgarter Parteitages. Was Carlo Schmid begrüßte und für ein Gebot der Stunde hielt, machte der Journalist Fritz Ren& Allemann der SPD zum Vorwurf: „Viele Persönlichkeiten – wenig Programm.“ 5” Auf dem Stuttgarter Parteitag war das überständige Parteiprogramm erstmals in der Öffentlichkeit diskutiert worden. Schmid hatte sich an der Arbeit der Programmkommission nicht beteiligt, obwohl ihn Gerhard Weisser, der für den wirtschafts- und sozialpolitischen Teil des Programms zuständig war, inständig darum gebeten hatte’3. Daß Schmid mit den Ergebnissen der Programmkommission nicht einverstanden war, wußte Weisser. Er glaubte dennoch die unterschiedlichen Positionen vermitteln zu können, die er exakt wiedergab°*. Eichler und seine Mitstreiter wehrten sich heftig dagegen, daß Sozialdemokraten sich „einfach als sozial orientierte Humanisten“ verstanden. Ihr Grundsatz lautete: „Nicht die Partei, wohl aber die als solche nicht organisierte Bewegung hinter ihr, kann ‚geistige Heimat‘ sein. Für sie ist die Partei lediglich die wichtigste Kampftruppe.“ 5° An dem Sozialisierungsgedanken wollten die Mitglieder der Programmkommission im Gegensatz zu Schmid weiterhin festhalten. Schmid konnte dem nicht viel hinzufügen. Seit dem Hamburger Parteitag stritt man sich über diese Fragen, ohne sich auch nur einen Schritt näher gekommen zu sein. Es waren immer die gleichen Debatten mit: den gleichen Frontlinien. Schmids nimmermüde Aufrufe, aus der SPD müsse eine Volkspartei werden, provozierten regelmäßig die „linken Genossen“, die davor warnten, aus der SPD eine „Jedermanns-Partei“ zu machen’. Während Schmid den Appell an das „wahre Interesse“ der Arbeitnehmer für zu „simpel“ hielt, war der linke Flügel bestrebt, aus der SPD eine Partei mit einer „betont sozialistischen Zielsetzung“ zu machen’. Es war mehr als frustrierend, immer wieder von neuem erklären zu müssen, daß die SPD als sozialistische Klassenpartei weder für Angestellte und Beamte noch für Katholiken wählbar war. Solange in der SPD die Vorstellung vorherrschte, der Sozialismus sei eine Welt- oder zumindest Lebensanschauung?®, konnte das gegenseitige Mißtrauen zwischen SPD und katholischer Kirche nicht abgebaut werden. In der CDU erkannte man die Gefährlichkeit von Schmids Reformkurs. Wenn Schmid sich in der SPD durchsetzte, konnte die SPD nicht mehr als eine dem Materialismus huldigende marxistische Klassenpartei verteufelt werden° ®. Fast panikartig reagierte man im Bundesvorstand der CDU auf die Tagung „Christentum und demokratischer Sozialismus“, die am 10. Januar in der katholischen Akademie in München stattfand°®. Schmid, der einzige führende Sozialdemokrat, der der katholischen Kirche angehörte, hielt ein Grundsatzreferat über den ideologischen Standort des deutschen Sozialismus in der Gegenwart, in dem er noch einmal verdeutlichte, daß die SPD keine Weltanschauungspartei mehr war, ja, daß sie es von ihrem Urprung her niemals gewesen sei. Sie wurzele vielmehr in der „Empörung des deutschen Idealismus gegen eine materialistisch gewordene Welt“° ‚, Von hier aus konnte die Brücke zur Soziallehre der katholischen Kirche geschlagen werden. Mit einem Mann wie dem Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning wurde Schmid sich schnell einig. Beide waren sich in gegenseitiger Wertschätzung zugetan°”. Der päpstliche Berater Gustav Gundlach, der auf Wunsch Papst Pius XII. auf der Tagung die katholische Position formulierte, ließ dagegen durchblicken, daß er die neue ideologische Indifferenz der SPD verachtete“. Eine weltanschaulich nicht mehr gebundene SPD war für die katholische Kirche eine Herausforderung. Den ganz großen Durchbruch im Verhältnis zwischen SPD und katholischer Kirche, den sich Schmid von dem Gespräch mit den Katholiken erhofft hatte“, brachte die Tagung nicht. Sie war jedoch nicht umsonst gewesen: In der Presse fand das Treffen zwischen katholischer Kirche und Sozialdemokraten ein überaus positives Echo. Die Journalisten waren beeindruckt von den Reden Arndts und Schmids, so daß man in der CDU schon die eigene Klientel verloren gehen sah°®. Schmid handelte noch immer nach der Maxime, daß es besser sei, in der Wüste zu predigen als in der Kirche. Auf Tagungen der Angestelltenund Beamtenverbände warb er für die Volkspartei SPD. Auf Veranstaltungen der Sportverbände räsonierte er über die olympische Idee. Um die Kluft zwischen SPD und Unternehmern abzubauen, arrangierte er Treffen zwischen dem Kruppbevollmächtigten Bertold Beitz und führenden Sozialdemokraten“°. Er reiste quer durch die Bundesrepublik, knüpfte Kontakte und hörte sich um. Daß die meisten Sozialdemokraten die Meinun- ‘gen, die sie in den Ortsvereinen und auf Delegiertenversammlungen zu hören bekamen, mit der Meinung des Volkes verwechselten, hielt er für einen großen Irrtum, den zu bekämpfen, er sich zur Aufgabe machte”. „Dig Herstellung von Außenkontakten hielt er für weitaus wichtiger als ein Heues Grundsatzprogramm. Fürchtete er doch, daß vor „lauter Freude“ am „Programmfluß“ die Bewältigung der praktischen Tagesaufgaben vernachlässigt würde‘®. Brandt, Erler, auch Wehner dachten nicht viel anders. Während Wehner immerhin Anfang 1958 nach Rücksprache mit Schmid und Erler ein etwa dreiseitiges Expose zum außenpolitischen Teil des Programms beisteuerte”, gab Schmid auf dem Stuttgarter Parteitag durch die Blume zu verstehen, daß ihm die Arbeit der Programmkommission nicht einmal als Diskussionsgrundlage brauchbar erschien. Sein Vorredner hatte seinen Beitrag mit den Worten geschlossen: „Die Programmdiskussion hat erst begonnen.“ Schmid verbesserte ihn: „Der Beginn der
Diskussion hat erst begonnen. Denn ein Programm zu beschließen, das den Namen Grundsatzprogramm verdient, verlangt sehr viel Arbeit, sehr viel Bemühung, sehr viel Willen, in die Tiefe zu gehen, und den Mut, Dinge anzufassen, die oft stachelig sind. “”° Wenn man sich schon daran machte, ein Programm auszuarbeiten, dann mußte es ein Programm für die Zukunft sein. Das Thema hatte er selbst auf dem Münchener Parteitag 1956 formuliert. Jetzt erinnerte er wieder daran: „Wer außer uns Sozialdemokraten hat denn in Deutschland erkannt, daß wir schon mitten in einer zweiten industriellen Revolution leben, die uns Probleme stellt, ohne deren Lösung der Mensch vollends zum Roboter werden wird?“7 ! Sein Kulturpessimismus wurde nur von wenigen geteilt. Die meisten Sozialdemokraten sahen optimistisch in die Zukunft. Philosoph, der er war, knüpfte Schmid zudem zu hohe Erwartungen an ein Grundsatzprogramm, dessen Ausarbeitung für ihn gleichkam mit der Entwicklung einer neuen Sozialphilosophie. Er beteiligte sich nicht an der Überarbeitung des Programmentwurfs, der nach seiner Umformulierung von der Zielsetzung getragen war, einer schon seit längeren Zeit geübten politischen Praxis eine theoretische Grundlage zu geben. Zu dem Godesberger Programm, das im November 1959 verabschiedet wurde, hatte er nicht ein Komma beigesteuert. Später freilich stilisierte er sich gern zu einem Vater des Godesberger Programms. Und so ganz unrecht hatte er damit auch nicht. In das Godesberger Programm waren Vorstellungen und Gedanken eingegangen, die er über ein Jahrzehnt lang landauf, landab vorgetragen hatte, ohne sich damit gegen den zähen Widerstand der „Bleiträger“ alter Parteitraditionen durchsetzen zu können”?”. Das nunmehr verabschiedete Programm war im Grunde mehr eine Abrechnung mit der Vergangenheit als ein Wegweiser für die Zukunft. Schmid insistierte deshalb auch schon kurz nach dem Godesberger Parteitag auf die Ausformulierung eines Regierungsprogramms”’, Die Journalisten machten aus dem Godesberger Programm eine Sensation. „Sieg der Reformer in Bad Godesberg“, „Die Sozialdemokraten werfen ideologischen Ballast über Bord“, lauteten die Schlagzeilen in den führenden Tages- und Wochenzeitungen”*. Wer die Kommentare über das Godesberger Programm las, konnte meinen, die SPD habe sich über Nacht von einem Saulus in einen Paulus verwandelt. Schmid fragte in einem zwei Wochen nach der Verabschiedung des Programms in der „Zeit“ veröffentlichten Artikel: „Was ist neu am neuen SPD-Programm?“ Der kurze Untertitel lautete: „Von der Klasse zur Nation“75, Diese Losung hatte bereits der Hofgeismarer Kreis in der Weimarer Republik ausgegeben. Gar so neu war das Neue am neuen Programm gar nicht. Schmid machte den von ihm so hochgeschätzten Lassalle zum Ahnherr des neuen SPD-Programms: „Das alles hat schon Ferdinand Lassalle gelehrt“, resümierte er seine Darlegungen über den Staatsgedanken des Godesberger Programms. Er war sichtlich bemüht, die historischen Kontinuitätslinien aufzuzeigen. Die Überbewertung des neuen Programms mag ihn insgeheim geärgert haben. Sein zähes Bohren war dagegen vergleichsweise wenig gewürdigt worden. Zudem wollte er Interpretationen entgegentreten, die das Godesberger Programm als Dokument eines sozialdemokratischen Anpassungskurses verstanden. So wandte er sich auch gegen die Pragmatiker in den eigenen Reihen, wenn er versuchte, aus dem ganz der Praxis verbundenen Grundsatzprogramm einen utopischen Überschuß herauszulesen. Das Godesberger Programm, so beteuerte er, ziele auf die Überwindung menschlicher Selbstentfremdung’”®. Für Schmid war dieser humanistische Impuls untrennbar mit dem Sozialismus verbunden. Auf dem Parteitag in Bad Godesberg hatte er daran erinnert, daß die Arbeiterbewegung nicht als „Caritasbewegung“ entstanden sei, „sondern als eine politische Bewegung zur Veränderung der Welt“. Karl Marx habe gesagt, daß der Mensch sich nur im „freien Raum der Humanität“ verwirklichen könne’”’. Schmid, der Realpolitiker, war immer auch und noch ein Utopist. Er träumte den Traum eines Künstlers, der sich nach Selbstverwirklichung sehnte, aber nicht an die Verwirklichung des Sozialismus glaubte. Die Ablehnung des Godesberger Programms durch linke Intellektuelle wie Abendroth und Flechtheim stieß bei ihm auf Unverständnis. Er unterstützte ihren Ausschluß aus der Partei und befürwortete sogar ein Schreibverbot für Abendroth in der „Neuen Gesellschaft“ 7°. Sein gutes Verhältnis zu Alexander Mitscherlich trübte sich”?. Wehners Abgrenzungskurs gegen links fand seine volle Unterstützung, obwohl er noch kurze Zeit zuvor die Intellektuellen zu mehr Aufmüpfigkeit und politischem Engagement aufgefordert hatte. Carlo Schmid, der Intellektuelle und Poet, der in die Politik ging, hatte ein sehr widersprüchliches, ein sehr distanziertes Ver- ‚ hältnis zu Intellektuellen, die Politik machten.
Der Dichter und die Intellektuellen
Carlo Schmid konnte noch so im Streß sein, für das zwecklose Spiel der Kunst, selbst wenn es sich nur um artistische Blödeleien handelte, fand er immer Zeit. Ein Spaßvogel namens Heinz Gültig hatte ihn gebeten, Verse aus dem Ibolithischen zu übertragen:
Baeme süti falla kür mostin arasiban täegna kiu tende vossagür flagedärad ässa.
Schmid reimte spontan‘:
Steck den Kopf nicht in die Luft, Willst Du eine Blume pflücken. Wenn dort auch ein Vogel ruft: Lieber Freund, Du mußt Dich bücken!
Schmid sprach mit sich selbst und rief zugleich die Intellektuellen auf, aus dem Elfenbeinturm herauszukommen. „Wenn es nicht gelingt, die Intellektuellen an den Staat heranzuführen, werden wir im Obrigkeitsstaat versumpfen. “** Schmid versuchte aufzurütteln. Er stilisierte sich zum typisch unpolitischen deutschen Bildungsbürger, der für das Scheitern der Weimarer Republik mitverantwortlich war. Die Unpolitischen traf seine bissige Kritik. Die Bildungsschichten sprächen sich selbst ihr Urteil, wenn sie nicht bereit seien, „in den Staat hineinzugehen, bildend und mitgestaltend und nicht nur dem Staatsapparat dienend. Bleiben sie fern, so verhalten sie sich wie Philister oder Zyniker oder auch als impotente Mekkerer oder Lakaien der Macht, bestenfalls noch (…) als Parodien auf Hieronymus im Gehäuse.“3 Schmid sprach von Bildungsschichten, weil er nicht, wie in Deutschland üblich, unter Intellektuellen nur die Linksintellektuellen verstanden wissen wollte, die er sich gerade nicht in der Politik wünschte. In den Jahren 1957/58 startete er eine Großoffensive, um Intellektuelle und Künstler für die Partei zu gewinnen. Im „Vorwärts“ veröffentlichte er einen plakativen Artikel, der mit der Mahnung schloß: „Es ist wichtiger, daß die Parteien Niveau haben, als daß diese oder jene Partei die Mehrheit gewinnt.“ * In der CDU fürchtete man, daß die SPD mit Schmid an der Spitze die Führung im Geistesleben übernehmen könne. Gerstenmaier malte in schwarzen Farben aus, welche Zugkraft Schmids Parole „Geist vor Kotelett“ auf die akademische Jugend ausüben werde’. Liebling der Journalisten war dieser um ein Bonmot nie verlegene Sozialdemokrat schon lang. Schmid hätte sich gefreut, wenn die Prognosen der CDU richtig gewesen wären. Er kam sich vor wie Diogenes, der mit der Laterne nach Gleichgesinnten Ausschau hielt°. Die Partei benutzte ihn und Adolf Arndt als intellektuelle Aushängeschilder, tat aber nicht viel, um mit Intellektuellen und Künstlern ins Gespräch zu kommen. Als der Verleger Kurt Desch sich 1958 beklagte, daß die CDU die ihr nahestehenden Künstler und Intellektuellen weitaus mehr fördere als die SPD, konnte Schmid ihm nur recht geben: „Was Sie mir schreiben, ist mir leider Gottes nur zu sehr bekannt. Es gibt eine Reihe von Leuten, die sich bemühen, gegen diese Trägheit dem Geistigen gegenüber zu wirken, aber der Himmel ist hoch und der Zar ist weit …“7 Nicht weniger als über seine Partei war er über die Intellektuellen selbst enttäuscht. Schmid hätte nicht widersprochen, daß die kritischen Äußerungen der Intellektuellen über die Politik und Kultur der Ära Adenauer nicht mehr seien als ein „mißtönendes Möwenkrächzen“, das die „Fahrt eines großen Schiffes“ begleitete‘. Wiederholt hörte man ihn klagen, daß links zu einer bloßen „Anti-Haltung“ verkommen sei. Die Linke sei zahm geworden, verfüge nicht mehr über die großartigen Impulse der Weimarer Zeit. Die künstlerische Produktion auf den Gebieten des Films, der bildenden Kunst, der Literatur und der Musik fand er „nicht sehr erregend und auch nicht sonderlich interessant“. Die Literatur weiche den Fragen der Zeit aus, sei eine „Literatur der Innerlichkeit ohne Weltläufigkeit“?. Schmids Verdikt über die Literatur der Adenauer-Zeit war kein Plädoyer für eine gesellschaftskritische Literatur, zu der der Dichter in der Tradition Stefan Georges nie den richtigen Zugang fand. Den Linksintellektuellen begegnete Schmid mit Distanz. Kurze Zeit, nachdem er die Intellektuellen zu mehr politischem Engagement aufgefordert hatte, sagte er Erich Kuby ins Gesicht: „Leute wie Sie sind notwendig. Man darf sie nur nie regieren lassen.“ ‚° Es war nicht das erste und nicht das einzige Mal, daß er Intellektuelle mit solchen Äußerungen vor den Kopf stieß. Kurt Hiller war entsetzt. Der scharfzüngige Kritiker verwies darauf, daß? Nehru das beste Gegenbeispiel für Schmids Ansicht sei. Schmid ließ sich von Hiller nicht überzeugen: „Ich bin in der Tat der Meinung, daß der Nurintellektuelle, das heißt, der zum absoluten Ja oder Nein Verpflichtete für das Regieren nicht taugt, denn er müßte sonst das Absolute an den Kompromiß verraten — ist doch Regieren notwendig Kompromisse schließen und damit kompromittierend. Natürlich ist Nehru ein Intellektueller, aber als Regierungschef ist er Politiker und handelt wie ein solcher und nicht wie ein Intellektueller, wie ein schreibender Kurt Hiller oder ein schreibender Karl Kraus.“ “ Eben noch hatte er um die Intellektuellen geworben, jetzt warnte er mit beredten Worten davor, sie an die Schalthebel der politischen Macht zu lassen. Gern verwies er auf Julien Bendas großes Buch über den Verrat der Intellektuellen, der in eine Rechtfertigung des Bösen münde’*. War Schmid denn kein Intellektueller? Hatte er Verrat an seinen Idealen begangen, als er in die Politik ging? Waren Geist und Macht vielleicht doch Gegenpole? Wenn er Geist und Macht vereinigte, so als Präceptor Germaniae. Seine Utopie eines unentfremdeten selbstbestimmten Lebens fand er in der Dichtung und Literatur. Ihr fehlte trotz seines Bekenntnisses zu einer selbstbewußten Arbeiterschaft der gesellschaftliche Unterbau. Seine Ablehnung der bundesdeutschen Wirtschaftswunderlandschaft war emphatisch, aber er glaubte nicht an eine grundlegende Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Als Reformpolitiker mit Sinn für politische Macht sagte er den linken Gesellschaftskritikern, die die Notwendigkeit des Kompromisses verkannten, den Kampf an. In der Außenpolitik verfügte er über eine konkrete Vision und den Mut, Tabus zu brechen,
aber ansonsten blieb seine Utopie abstrakt, mehr Traum als Realität. Der Dichter, der ein Tabubrecher war, inspirierte den Politiker, aber beide fanden nur selten zusammen. Zurückblieb Melancholie. Der Biß der Realität tat weh. Wer in Emile Zola den Prototyp des Intellektuellen sieht, fällt es schwer, in Carlo Schmid einen zu sehen. Für Zola war die Literatur ein Mittel, um gegen die gesellschaftlichen Mißstände zu protestieren, für Schmid war sie Protest gegen die Verzweckung des Lebens, gegen die Reduzierung des Menschen „auf das bloße Objekt seelenloser Mechanismen“ ‚3. Schmid selbst nannte den im Stefan-George-Kreis verpönten Zola einen „hervorragenden Schriftsteller“, sprach ihm jedoch ab, ein Künstler zu sein’*. Freilich, das sind typisch deutsche Denkmuster, in denen die westlichen Zivilisationsliteraten den Dichtern und Künstlern, die Intellektuellen den Gebildeten gegenübergestellt wurden. Schmid selbst gefiel es, zwischen „belesenen“ und „gebildeten“ Menschen zu unterscheiden’. Die in der Adenauer-Ära übliche Literatur der Innerlichkeit war ihm zu banal, die litt£rature engagee gab keine Antwort auf die existentiellen Fragen. Schmid rechtfertigte eine „poesie pure“, eine Literatur der reinen Form. 1958 übertrug er Paul Valerys „Pieces sur l’art“ ins Deutsche. Die Essaysammlung enthielt ein Plädoyer für eine autonome Kunst. Schmid übersetzte: „In Sachen der Kunst ist Gelehrsamkeit fast etwas wie eine Niederlage.“ ‚7 Er wandte sich unter Berufung auf Valery gegen eine didaktische oder gesellschaftspolitische Instrumentalisierung der Kunst. Die autonome Kunst war ein Widerlager gegen die Politisierung aller Lebensbereiche. Valery, der Poet sinnlicher Intellektualität, hatte Schmids eigene Gedanken in Sprache gefaßt. Valerys reine Geistigkeit denunzierte das Banale in der Kunst. Der Dichter der reinen Form maß der Metrik für die Dichtung einen Rang zu wie der Statik für die Baukunst’®. Auch Schmid verlangte von der Dichtung eine strenge Beachtung der Formgesetze. Zu der modernen reimlosen, ametrischen Lyrik fand er nur schwer Zugang. Es hatte ihn viel Mühe gekostet, Valerys kristalline Sprache zu übersetzen. Manchmal war er an seiner Muttersprache irr geworden, zumal Peter Suhrkamp. nicht davor zurückschreckte, auch eine Autorität wie Carlo Schmid zu kritisieren‘?. Er unterzog sich dieser Mühe wohl nicht zuletzt deshalb, weil die Übertragung ein Akt der Selbstverständigung für ihn war. In einem der Essays Valerys fand sich der Satz: „Ein Werk, das die Menschen zu sich zurückholt, ist machtvoller als jenes andere, das sie nur herausgefordert hat.“?° Literatur als comedie humaine. So wollte Schmid sie verstanden wissen. Bereits 1957 hatte er Julien Greens Roman „Lautre somneil — Der andere Schlaf“ vom Französischen ins Deutsche übertragen. Er war „bewegt“ von diesem „erstaunlichen Buch“ ?‘, in dem Green von den Träumen und Ängsten, von der Verzweiflung und dem Leiden eines Heranwachsenden erzählt, die Schmid manchmal an seine eigene Kindheit erinnert haben mögen. Schmid und Green ließ ihre Kindheit nie los. Wie die meisten Romane Greens war auch dieser von einer finsteren Verzweiflung diktiert. Der jugendliche Held des Romans unternimmt eine „Entdeckungsreise“ zu sich selbst”. Er erkennt, wie in seinem Innern Leiden und Leidenschaft, Traum und Wirklichkeit miteinander verschränkt sind. Green stellte seinem Roman ein Wort Pascals voraus: „Wer weiß, ob diese andere Hälfte des Lebens, darin wir wach zu sein wähnen, nicht ein anderer, von jenem ersten um ein Geringes unterschiedener Schlaf ist, aus dem wir, wenn wir zu schlummern glauben, erwachen.“?3 Schmid, das Traumkind, hatte diese Frage zum Gegenstand seiner eigenen Dichtung gemacht. Auch er unternahm immer wieder eine Entdeckungsreise zu sich selbst. Deshalb brauchte er, was viele nicht verstanden, mehr Zeit für sich als andere Politiker. Green, so sagt man, sei in der Hölle zu Hause gewesen wie kein anderer Autor seit Dante. Sein Roman war eine Passionsgeschichte?*. Schmid folgte ihm in die Hölle wie er einst Dante in die Hölle gefolgt war. Ihn fesselte die Literatur einer hoffnungslosen Hoffnung. Obwohl ihm die moderne Lyrik fremd blieb, schätzte er die Dichtung Ingeborg Bachmanns und Hilde Domins. Ingeborg Bachmann übersandte ihm 1959 eine Sammlung ihrer Gedichte. Er schrieb zurück: „Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Gedichte, die einem das Herz aufschließen und das Auge in Tiefen führen, vor denen es zu oft halt gemacht hat.“ ”° Ingeborg Bachmann stand in der dichterischen Tradition Baudelaires. Ihr Lyrik wurzelte in einem Adel des Leidens, den sie mit Stolz ertrug, bis sie ihr Leben selbst zerstörte. Ingeborg Bachmann und Hilde Domin retteten sich in das Wort. Für sie war Dichtung Utopie und Erlösung. Und dieser Utopie sprachen sie gesellschaftsverändernde Kraft zu?®. Schmid teilte ihre Hoffnung trotz aller Erfahrungen, die ihr widersprachen. Anfang der öoer Jahre startete die Radio-Zeitung „HörZu“ eine Umfrage: Wen zählen Sie zu den so Großen unseres Jahrhunderts? Einige Schriftsteller wurden in der vorgegebenen Liste auch genannt. Schmid ließ Camus’ Name auf der Liste stehen. Dann ergänzte er die Liste: „Sartre, Jaspers, Heidegger, Brecht, Rilke, Stefan George, Karl May“ ?. Die Lektüre Karl Mays war früher im Hause Schmid verpönt gewesen. Jetzt kam es gelegentlich vor, daß er jungen Schülern Karl May zur Lektüre empfahl. Er selbst las noch immer gern in Coopers Lederstrumpf. Die anderen Namen verbanden sich für ihn mit der Überzeugung oder der Hoffnung, daß durch ihr Werk ein geändertes gesellschaftliches Bewußtsein geschaffen wurde oder geschaffen werden könnte. Albert Camus’ frühen Tod hatte er zutiefst bedauert. Er hatte gehofft, vielleicht sich auch nur der Illusion hingegeben, daß von dessen Literatur Impulse ausgehen könnten
wie einst von der Charles Peguys, der „einer ganzen Generation ein neues Bewußtsein von sich selbst geschenkt“ habe”. Camus hatte zur Revolte gegen das Absurde aufgerufen. Schmid stellte den „schwarzen Sonnen der Melancholie“ ein existentialistisches Dennoch entgegen. Nach 1945 trug die Literatur kaum mehr zur gesellschaftlichen Standortbestimmung bei. Carlo Schmid wußte es und wollte es dennoch nicht wahrhaben. Er verteidigte das Konzept einer ästhetischen Erziehung und das Theater als moralische Anstalt. Er, der noch immer ein fleißiger Thea- ° tergänger war, wehrte sich dagegen, aus dem Theater ein Freizeitvergnügen zu machen: „Richtig in Verfassung wird unsere Gesellschaft erst sein, wenn die Kultur schlechthin, und damit das Theater, ein Lebenselement derer werden kann, die durch die Atomisierung der Lebensverhältnisse der Industriegesellschaft der Gefahr der Selbstentfremdung ausgesetzt sind.“ 9 Das Theater sollte einen Schein der Hoffnung vermitteln. Es hatte nicht nur die „Absurdität des Daseins“ aufzudecken, „sondern auch hinter dieser und in aller Paradoxie einen Sinn, für den zu leben sich lohnt.“3° Das freilich verlange ein Publikum, das seine „Aufgabe begreiflt) >>. Man mag den Kopf schütteln über so viel elitäre Arroganz. Dahinter stand der Wunsch, daß das Theater die Massen ergreifen, ihr Bewußtsein verändern möge. So waren die vom DGB und der Stadt Recklinghausen veranstalteten Ruhrfestspiele für Schmid eines der „stärksten Zeugnisse des Willens der Deutschen ihre Selbstachtung anderswo zu finden als nur im Wirtschaftswunder“ 3?. Einen Vortrag, den er dort hielt, stellte er unter das Motto: „Die Ruhrfestspiele als moralische Anstalt. “33? Bald wurde dort Agitprop-Theater gespielt. Schmid mußte die Hoffnung begraben, daß das zwecklose ästhetische Spiel die Menschen zur Freiheit führt. Er lehnte das politische Theater nicht grundsätzlich ab. Brecht und Piscator, der Schmid seine Berufung zum Leiter der Freien Volksbühne in Berlin zu verdanken hatte’*, bedachte er mit lobenden Worten. Zu zeitgenössischen Bühnenautoren hatte er wenig Kontakt. Carl Zuckmayer kannte er vermutlich über Wolfgang Frommel, der ihn während seines Studiums in Heidelberg kennengelernt hatte. Man traf sich aber selten, zumeist nur zu Premieren. Grundsätzlich stimmte Schmid Adorno zu, daß das absurde Theater, der radikale Protest gegen die Verzweckung des Lebens, gegen die Degradierung des Menschen zum Objekt, provokativer war als die Gesellschaftskritik des politischen Theaters. Wenn er die Intellektuellen zum politischen Engagement aufrief, so meinte er Menschen, „die entschlossen sind, sich dagegen zu wehren, daß Menschen zu bloßen sinnlosen Mechanismen degradiert werden. Zu diesen Mechanismen gehören die Apparate, die Tabus und das Herkömmliche um jeden Preis.“ 35 Er zeichnete ein Bild seiner selbst. Sein Intellektueller war ein musischer Mensch, der sich nicht scheute, Tabus zu brechen,
der den Mut zu Visionen hatte, von der verwandelnden Kraft der Kunst träumte, aber eine radikale Gesellschaftsänderung für aussichtslos und gefährlich hielt. Einen Emile Zola oder Kurt Hiller wünschte er sich nicht als Abgeordnetenkollegen. Musensöhne aber treibt es nur selten in die Politik, denn sie werden dort zu einem Doppelleben gezwungen. So blieb er einsam und unverstanden. Bald schon wurde er als Kuriosum gehandelt. Seine politische Glaubwürdigkeit litt darunter. Er verbarg sein musisches Talent immer mehr. Als er 1957 gebeten wurde, in seinem Mannheimer Wahlkreis aus seinen Baudelaire-Übertragungen vorzutragen, zierte er sich: „Ich könnte damit zu sehr in den Ruf eines wenig seriösen Politikers geraten.“ 3° Der Politiker verleugnete den Poeten, der sich beharrlich weigerte, den Glauben an die Macht der Literatur und Dichtung aufzugeben. Schien ihm doch manchmal das Dichten „verlohnender als die ganze Politik“. Dem folgte die nüchterne Einsicht: „Aber irgend jemand muß diese doch machen.“ ?7
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