1896-1979 eine Biographie : Ein Aristokrat in der Proletarierpartei
Nicht weil er Hugos „Les Miserables“ gelesen und in der großen sozialrealistischen Literatur eines Balzac und Zola das elende Leben der Unterprivilegierten kennengelernt hatte, wurde Carlo Schmid Sozialdemokrat. Manchmal behauptete er das, wenn’ man ein soziales Bekenntnis von ihm abverlangte‘. Sein eigener Kommentar nach der Lektüre der „Miserables“ spricht dagegen. Zwei Jahre vor seinem Eintritt in die SPD bezeichnete er in einem Brief an seine Frau das Buch als „abgestanden“ und „falsch“. „Wie simpel ist das Problem des Elends geschen. Richtet Volksschulen und Volksküchen ein und es wird kein Verbrechen und kein Laster mehr geben.“? „Reichlich platt“ empfand er auch die Erinnerungen August Bebels, die ihm Fritz Erler zur Lektüre empfohlen hatte?. Seine eigenen existentiellen Probleme wurden in dieser sozialkritischen Literatur nicht angesprochen. Er stand zu sehr im Banne Stefan Georges, als daß ihn die Literatur eines Hugo oder Zola* intellektuell befriedigt oder emotional ergriffen hätte.
Nein, nicht weil links die Herzseite der Menschheit ist, entschied sich Schmid Sozialdemokrat zu werden, sondern weil er das Versagen der Parteien für das Scheitern der Weimarer Republik verantwortlich machte. Bereits am Ende der Weimarer Republik war er der Überzeugung gewesen, daß nur die Entwicklung zweier großer Volksparteien den Niedergang der Demokratie von Weimar werde aufhalten können. Mit Hermann Heller hatte er oft nächtelang darüber diskutiert, wie man die marxistische Klassenkampfpartei SPD in eine linke Volkspartei umwandeln könne, die breite Wählerschichten anspricht’. Mit Walter Kolb, der während der Weimarer Republik Vorsitzender des Deutschen Republikanischen Studentenbundes war und wie Heller dem Hofgeismarer Kreis nahestand, hatte er in den vierziger Jahren die Diskussion fortgesetzt°. Die theoretisch gewonnene Einsicht galt es nun in die Praxis umzusetzen.
Manche wunderten sich, daß der Geistesaristokrat, der sich so oft verächtlich über die Massendemokratie geäußert hatte, nicht zu den Gründungsmitgliedern einer konservativen Volkspartei gehörte. Er erklärte ihnen, daß eine zukünftige Demokratie nur Bestand habe, wenn man es schaffe, eine durch gewerkschaftliche Arbeit selbstbewußt gewordene Arbeiterschaft in den Staat zu integrieren’. Hier knüpfte er an Überlegungen des Kreisauer Kreises an. Wenn er nach 1945 das fehlende „soziologische Wissen“ des deutschen Bildungsbürgertums beklagte°, so räumte er auch eigene Fehler ein. Nach der Katastrophe des Nationalsozialismus schien nur eine linke Volkspartei die Mehrheit der Deutschen hinter sich vereinigen zu können. „Ernsthafte Bestrebungen zur Bildung politischer Gruppen“, gab es, wie Schmid im Juli 1945 feststellte, „nur auf der Linken“. In konservativ-katholischen Kreisen hätte er sich zudem mit seinen kulturpolitischen Vorstellungen, in liberal-konservativen Kreisen mit seiner antikapitalistischen Einstellung niemals durchsetzen können. $o blieb nur die SPD. Leicht fiel ihm der Eintritt in eine Partei nicht. Er werde sich wohl in die „Drecklinie der politischen Parteien begeben müssen“, vertraute er 1945 Hellmut Becker unter vier Augen anı°.
Nichtsdestotrotz wurde er zu einem Vorkämpfer für die baldige Gründung einer Labour-Party. Bereits am 3. Juli 1945 bat er die amerikanische Militärregierung, die Bestrebungen ehemaliger Sozialdemokraten und Gewerkschafter zu unterstützen, in Württemberg eine Labour-Party zu gründen, „die von den Kommunisten bis zu den Führern der Kirchen alle Menschen umfassen soll, die bereit sind, am Wiederaufbau Württembergs in sozialem und pazifistischem Geist mitzuarbeiten“ “, Bei den Gesprächen sei man übereingekommen, daß ein Zwei-Parteien-System angelsächsischer Prägung für den demokratische Neuaufbau Württembergs am ‚geeignetsten sei. Schmids Bemühungen um Gründung und Zulassung einer Labour-Party wurden insbesondere von dem ehemaligen Reichstagsabgeordneten Fritz Ulrich unterstützt’*. Schmid und Ulrich, die sich beide ausgezeichnet verstanden, wollten durch ihr Drängen bei der amerikanischen Besatzungsmacht nicht nur die Gründung einer sozialistischen Einheitspartei, über die man in einigen antifaschistischen Ausschüssen bereits diskutierte, sondern auch die Wiedergeburt der alten Traditionspartei SPD verhindern.
Die meisten der alten Genossen wollten an die Zeit vor 1933 anknüpfen und miftrauten allen Versuchen, die Partei auch für Nichtsozialisten zu öffnen. Zu sehr war man noch in einem Lagerdenken befangen, um den notwendigen Wandel der SPD zu einer linken Volkspartei einzusehen. Aus der von Schmid und Ulrich ins Auge gefaßten Gründung einer Labour- Party wurde nichts. Als am 30. September 1945 die SPD in Nordwürttemberg neu gegründet wurde, standen an ihrer Spitze die alten Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre, die sich als ein hartnäckiges Widerlager gegen einen programmatischen und organisatorischen Neubeginn erwiesen. Die „Graubärte“ gaben wieder den Ton an‘?”. Während die Amerikaner bereits am 6. August 1945 Parteien auf Kreisebene und am 23. November auf Landesebene lizensierten, ließ die französische Besatzungsmacht sich mit der Zulassung der Parteien Zeit. Als Schmid am 30. September Oberst de Mangoux darauf ansprach, bekam er die lapidare Antwort, daß die Zeit hierfür noch nicht reif sei’*. Im Januar 1946 wurde dann von der Militärregierung doch grünes Licht für die Bildung von Parteien gegeben, allerdings nur unter der Bedingung, daß die Parteien „vom Kopf aus organisiert“ würden’s. Die Anmeldung der politischen Parteien mußte über das Staatssekretariat laufen. Carlo Schmid war nicht unzufrieden mit’dieser Regelung. Teilte er doch die Ansicht der Franzosen, daß die Parteiendemokratie sich nur langsam unter Anleitung einiger politisch. Weitblickender entwickeln könne. Auf einer Landrätekonferenz Anfang Februar warnte er die Landräte, „allzu große Erwartungen“ in die sich bildenden Parteien zu setzen. Da die Parteien von Leuten repräsentiert würden, „die keinerlei politische Erfahrung haben“, sei es Aufgabe der Landräte, ihnen mit Rat und Tat beiseite zu stehen’“.Die Neugründung der SPD von oben wollte er selbst in die Hand nehmen. Es galt qualifizierte Leute an die Spitze der Partei zu stellen, um zu verhindern, daß die Parteiveteranen die Organisation an sich rissen. Gott sei Dank, gab es in Südwürttemberg keine berühmten, die man ausbooten mußte. In dem handwerklich-agrarisch strukturierten Ländchen hatte die SPD nur schwer Fuß fassen können. Die Partei verfügte über kein engmaschiges Organisationsnetz wie in industrialisierten Gegenden. Der Reutlinger Oberbürgermeister Oskar Kalbfell, der sich dort bereits in den Jahren 1922-1933 als SPD-Stadtrat Verdienste erworben hatte, war der einzige südwürttembergische Sozialdemokrat, der eine überlokale Popularität genoß’7. Er unterstützte Schmids Erneuerungsbestrebungen, so daß Schmid kein ernsthafter Konkurrent erwuchs, mit dem er um die Parteiführung hätte ringen müssen. Die „Carlisten“ halfen ihm bei der Aufbauarbeit. Renner, Rieth, Roser, Rupp und Zweigert erklärten sich bereit, der SPD beizutreten, weil Schmid ihnen versprochen hatte, aus der Partei, die den Klassenkampf auf ihre Fahnen geschrieben hatte, eine linke Volkspartei zu machen’°. So bekam die traditionelle Arbeiterpartei eine akademische Spitze. Fritz Erler, der 1933 von Ollenhauer aus der Partei ausgeschlossen worden war und sich der linkssozialistischen Gruppe Neu Beginnen angeschlossen hatte, stieß bald dazu. Noch saß er in einem Internierungslager in Balingen, wo ihn die französische Militärregierung in Haft hielt, weil er Deserteuren aus der Fremdenlegion zur Flucht in die amerikanische Zone verholfen hatte. Carlo Schmid erkannte sehr schnell die politische Begabung des 33 Jahre jungen Erler, der vor seiner Verhaftung als Landrat in Biberach Kärrnerarbeit geleistet hatte. Er verargte ihm auch nicht, daß er weitaus linkere Positionen vertrat als er selbst’”.
Bevor sich Carlo Schmid daran machen konnte, die Partei in der Manier eines absolutistischen Herrschers zu reformieren, mußte er ihr natürlich beitreten. Auf dem ı. Landesparteitag der SPD Württemberg-Badens, der im Januar 1946 in Stuttgart stattfand, überreichte ihm Fritz Ulrich das Parteibuch. Noch nach Jahren erinnerte sich Ulrich mit Stolz daran, daß er damals auf dem Parteitag verkünden konnte: „der soviel umworbene geistreiche und hoch begabte Carlo, Schmid ist einer der unsrigen, ist Mitstreiter für den demokratischen und humanitären Sozialismus geworden.
Der Gründungsparteitag der SPD Württemberg-Hohenzollerns wurde auf den 10. Februar 1946 nach Reutlingen einberufen. Carlo Schmid, der schon vor seiner Wahl als Landesvorsitzender fungierte, hielt das Hauptreferat. Er stolperte nicht über die Anrede „Genossinnen und Genossen“, wie Reinhold Maier bezeugt”‘. Ansonsten benutzte er nur selten das traditionelle Vokabular der Partei. Gewiß: ein Satz, wie „Unser Kampf gegen den ausbeuterischen Kapitalismus ist ein absoluter“ >, war eine Kontribution an seine Zuhörer, wenngleich Schmid wie alle Geistesaristokraten dem Kapitalismus höchst kritisch gegenüberstand. Er sprach aus Überzeugung, wenn er die Überwindung einer Gesellschaft, in der „nicht der Mensch, sondern das Kapital der Herr über das Leben ist“ zum Grundanliegen der neugegründeten Sozialdemokratie machte. Den historischen Materialismus lehnte er trotz aller Anerkennung, die er Marx zollte, ab: „Wir haben erfahren, daß reine Willenselemente, idealistische und andere Antriebe die Welt geschichtlich ganz anders zu gestalten vermochten, als es nach der Lehre des historischen Materialismus hätte sein müssen.“ ** Hatte nicht der Nationalsozialismus den historischen Materialismus widerlegt? Trug nicht der „ökonomische Fatalismus“, dem man sich in Weimar gläubig hingegeben hatte, zur Fehleinschätzung des Nationalsozialismus bei? Die SPD dürfe sich nicht länger als klassenkämpferische Partei verstehen. Die Geschichte zeige, daß der Rückzug auf eine klassenkämpferische Position der SPD nur geschadet habe: „Sind denn nicht die wichtigsten Fortschritte in der Verbesserung der Klassensituation der Arbeiterschaft erzielt worden im Zusammengehen mit Parteien, die, marxistisch gesprochen, eine bürgerliche Klasse vertraten?“ °° Zeugte nicht der Erfolg der britischen Labour-Party von der Überholtheit des Klassenkampfdogmas? Dort sei man an die Macht „gelangt, weil man die „Tore weit aufgemacht hat allen denen, die willens sind, im Kampfe um die Gestaltung der Welt nach dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit und im Zeichen des Fortschritts Hand in Hand mit der Arbeiterschaft zu gehen“ ”°. Er zog alle Register der Rhetorik, um seine Zuhörer von der Vorbildlichkeit der Labour-Party zu überzeugen.
Nicht nur mit dem Klassenkampfdogma brach er. Der Sozialismus sollte auch kein Religionsersatz mehr sein, was er damals für viele Sozialdemokraten noch war. „Politik ist keine Religion, und Parteien sind keine Kirchen, der Staat ist nichts Heiliges.“ ”” Ein Sozialist könne Christ sein und ein Christ Sozialist. Die SPD dürfe nicht länger in ihrer kirchen- und religionsfeindlichen Haltung verharren. Einige altgediente Genossen mag es geschmerzt haben, daß dieser akademische Newcomer mit ihren liebgewordenen Vorstellungen so rücksichtslos umging.
Ein konkretes Programm für den Neuaufbau Deutschlands entwickelte Schmid nicht. Dazu war es noch zu früh. So begnügte er sich mit einigen Allgemeinplätzen. Die „wirtschaftlichen Monopolstellungen“ sollten gebrochen werden?®, Diese Auffassung vertraten gleich nach 1945 sogar Konservative. Bei Aussagen über die zukünftige Reichseinheit mußte er vorsichtig sein. Die Franzosen, die einem radikalen Dezentralisierungskonzept anhingen, verbaten sich jede Diskussion über die Reichseinheit. So darf seine Ablehnung des „Berliner Zentralismus“ nicht überbewertet werden”?, zumal in Württemberg antiborussische Vorurteile Tradition hatten. Wie die meisten seiner Zeitgenossen trat auch er für einen föderalen Staatsaufbau ein. Doch was heißt schon Föderalismus? Schmid wußte sich einig. mit vielen Sozialdemokraten in Norddeutschland „und im Grundsatz auch mit dem bayerischen Ministerpräsidenten, dem Genossen Hoegner“3 °. Die Genossen in Norddeutschland waren für einen Bundesstaat, der Genosse Hoegner für einen Staatenbund. Schmid scheint eher der ersten Lösung zugeneigt zu haben, drückte sich aber aus gutem Grund ganz vage aus. Eindeutig war sein Bekenntnis zu einem vereinigten Europa. Drei Tage zuvor hatte er mit dem französischen Sozialistenführer Leon Blum ein längeres Gespräch geführt, bei dem man sich einig war, daß ein Zusammenschluß der europäischen Staaten eine politische Notwendigkeit war. Deutschland müsse auf dem Wege, der von jedem Opfer verlange, vorangehen?‘.
Am Schluß seiner Rede stimmte er „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ an. Die Arbeiter sollten, nachdem er so viele Tabus gebrochen hatte, das Gefühl bekommen, daß er in ihre Reihen getreten war. Die Rede fand viel Beifall. Wer wagte es schon, sich auf eine Diskussion mit dem geistvollen Professor einzulassen, bei der man nur den kürzeren ziehen konnte? Schmid übersandte Walter Kolb ein Exemplar seines Referates zur kritischen Stellungnahme. Der fand es „recht gut“, kritisierte aber Schmids Terminologie, die „noch nicht weit genug vom marxistischen Ursprung entfernt“ sei?”. Es gab Sozialdemokraten mit Stallgeruch, die noch radikaler mit den Parteitraditionen aufräumen wollten als der Neuling Schmid, der auch vorsichtiger sein mußte, weil er von allen Seiten beargwöhnt wurde.
In dem Programm der Sozialdemokratischen Partei Württembergs, das Schmid am 20. Februar der Militärregierung vorlegte, war nicht einmal mehr eine Spur marxistischen Gedankengutes zu finden. Der erste und wichtigste Programmpunkt lautete: „Gerechte Gesellschaftsordnung und schöpferische Freiheit des Einzelnen sind nur durch demokratischen Sozialismus möglich. Solcher Sozialismus verzichtet auf jede Diktatur, auch auf die Diktatur des Proletariats, auf den Totalitätsgedanken in jeder Form, und bringt das politische Gewicht der Arbeiterschaft der Hand und des Geistes auf demokratischem Wege zur Geltung. Er bekämpft jede Form arbeitslosen Einkommens und fordert offene Wege der Bildung für jeden Begabten und Leistungsfähigen ohne Rücksicht auf seine wirtschaftliche Lage.“?3 Völkerversöhnung, Föderalismus und Toleranz in Glaubensfragen waren die weiteren Programmpunkte. Schmid stand Proudhon, mit dem er sich Ende der dreißiger Jahre intensiv beschäftigt hatte, näher als Marx, mit dem er jedoch das Leiden an der Selbstentfremdung in der modernen kapitalistischen Gesellschaft teilte. Seinen französischen Gesprächspartnern gegenüber gab er auch offen zu, daß ihn Proudhon mehr beeinflußt hatte als Marx>#.
„SPD – Gerechtigkeit und Freiheit“ — lautete das Motto des 1. Landesparteitages in Reutlingen. Es hatte Schmid viel Überredungskunst gekostet, bei den Franzosen das „D“ im Parteinamen durchzusetzen, die es lieber gesehen hätten, wenn das Parteitagsmotto geheißen hätte: Sozialdemokratische Partei Württembergs – Gerechtigkeit und Freiheit. Die Bezeichnung Sozialdemokratische Partei Deutschlands hatte die Militärregierung, die nur Landesparteien zuließ, verboten. Den württembergischen Sozialdemokraten waren Verbindungen mit der Parteizentrale in Hannover untersagt. Als Schmid ihnen erläuterte, daß SPD auch „selbständiges Politisches Denken“ heiße, wurde die Abkürzung SPD geduldet, durfte aber nur stillschweigend als Abkürzung für Sozialdemokratische Partei Deutschlands verwendet werden?®.
Am 18. März erfolgte die Lizensierung der SPD durch die französische Militärregierung. Nun galt es die Parteireform und den Neuaufbau der Organisation zügig voranzutreiben. Trotz des tatkräftigen Einsatzes der „Carlisten“ blieb der SPD-Landesverband Württemberg-Hohenzollern organisatorisch schwach. Rheinhessen und Südwürttemberg waren Ende 1946 die mitgliederschwächsten Bezirke. Nur 4282 Einwohner Südwürttembergs hatten ein Parteibuch, das war nicht einmal ein halbes Prozent der Bevölkerung?°. Der Landesvorsitzende sorgte für eine starke Zentralisation der Parteiorganisation?”, in der er unangefochten die Nummer ı war, die der Partei den Weg wies. Da das Organisationsnetz der Partei unterentwickelt war, es einen Apparat nicht gab, hing das Image der Partei in erster Linie von einzelnen Persönlichkeiten ab. Schmid und seine Mitstreiter standen für eine andere SPD. Sie mußten überall präsent sein. So bat Schmid im Sommer 1946 darum, ihn bei den Kommunal- und Kreistagswahlkämpfen „stark einzusetzen“ 3°. Wer weiß, wie ungern Carlo Schmid Wahlreden hielt, erkennt das Engagement und den Elan, mit dem er den Neuaufbau der SPD betrieb. Den Wahlkampf wollte er „nicht gegen, sondern für etwas führen“
Die Anti-Haltung der Weimarer SPD mußte aufgegeben werden. Im Landesvorstand machte er noch einmal deutlich, was die Hauptaufgabe der SPD beim Wahlkampf sei: „Wir müssen in die Kreise einbrechen, die Keute noch bürgerlich wählen. Links können wir nichts gewinnen.“ #° Die SPD müsse sich in ihrer Selbstdarstellung nach den Einstellungen des Wählers richten, wie „ein Kaufmann vorgehen, der den Markt erobern will“ +!,-ohne freilich den Wählern nur nach dem Mund zu reden. Für Schmid war die Partei keine Solidar- und Lagergemeinschaft, sondern ein Mittel zur Eroberung politischer Macht. Auf die emotionalen Bedürfnisse der alten Genossen nahm er wenig Rücksicht. Die SPD hatte keine „Gefühlspolitik“ zu treiben*”. Auf dem 2. Landesparteitag der SPD im Februar 1947 in Reutlingen erklärte er provozierend: „Manche freuen sich des Parteilebens besonders, wenn sie feststellen können, daß ein Ortsvereinsabend ‚harmonisch‘ verlaufen ist, wenn ‚über allen Wipfeln Ruhe‘ war. Ich möchte sagen, über allen Wipfeln soll Unruhe sein!“ #
Die Wahlerfolge im Herbst 1946 waren bescheiden. Aber immerhin: einiges konnte man zulegen gegenüber den letzten Wahlen in der Weimarer Republik. Schmid war nicht unzufrieden, sogar ein wenig stolz**. Es war schwierig gewesen, zu werben, wo man nicht einmal über eine eigene Zeitung verfügte. Gedanken wie die zukünftige Parteizeitung aussehen sollte, hatte er sich schon gemacht. Sie sollte „kein sozialdemokratisches Kirchenblatt“ sein, sondern am Typus einer überparteilichen Informationszeitung orientiert sein*?. Der neue Vorsitzende verlangte eine Reform an Haupt und Gliedern.
Wie konnte man neue Parteimitglieder gewinnen in einem Bezirk, dessen Bevölkerung an politischen Fragen gänzlich desinteressiert war?*° Bestimmt nicht, indem man ihnen die Ochsentour durch die Partei zumutete. Schmid, der in die Partei nie eingetreten wäre, wenn er sich über den Ortsverein hätte hocharbeiten müssen, hatte vollstes Verständnis dafür, daß junge qualifizierte Akademiker vor einem Parteieintritt zurückschreckten. Den Parteifreunden im Landesvorstand hielt er vor Augen, daß ein „Mann, der etwas kann, eine Last auf sich nimmt“, wenn er sich zur SPD bekenne. In der CDU käme man viel leichter voran*’. Wenn man kompetente junge Leute für die Partei gewinnen wolle, dürften Posten und Stellen nicht danach vergeben werden, was einer „bereits für die Partei getan hat“, sondern danach, „was der Mann für die Partei tun kann“*°. Schmid fürchtete, daß die SPD wieder wie in Weimar nicht genügend „qualifizierte Akademiker“ – er sprach ganz bewußt nicht von Fachleuten — besäße, um die Regierungsstellen zu besetzen. Das Nachwuchsproblem war eine seiner größten Sorgen
kämpferischem Elan verordnete er der Partei eine Radikalkur, weil er nur so einen demokratischen Neubeginn für möglich hielt. Einigen Altsozialisten, deren Wortführer der Tuttlinger Gewerkschaftsführer Fritz Fleck war, ging die im par force Schritt betriebene Parteireform zu weit. Der Ortsverein Tuttlingen drohte 1947 mit einer Beitragssperre, wenn den Mitgliedern nicht mehr Einfluß auf die Parteientwicklung und -politik eingeräumt werde*. Die Gewerkschafter und alten Genossen plädierten für einen „mehr linksgerichteten Kurs“. Beklagt wurde die Akademikerlastigkeit der württembergischen SPD und die Verprellung alter Parteimitglieder. Offensichtlich erregte nicht nur Schmids autoritärer Führungsstil Anstoß, sondern auch sein großzügiger Lebensstil. Er wurde verdächtig an „Freß- und Saufgelagen“ teilzunehmen, während man in Württemberg hungerte. Er war ja auch unanständig dick in einer Zeit, als die meisten Menschen nur Haut und Knochen waren. Zudem scheute er selbst den Kontakt zu „Erzreaktionären“ nicht. War er doch einer der Gäste des Prinzen von Hohenzollern-Sigmaringen gewesen, die anläßlich des Geburtstages von dessen Frau Margarethe im Schloß Sigmaringen ein rauschendes Fest gefeiert hatten’. Dieser Schmid war zwar Landesvorsitzender der SPD, aber in den Augen von Leuten wie Fleck doch kein richtiger Sozialdemokrat. Fleck war kein Konkurrent für Schmid. Die wenigen Altsozialisten konnten keinen Kurswechsel erzwingen. Der Streit endete auch ganz versöhnlich. Der Landesvorsitzende war bereit, „sich ganz gern mal etwas von Fleck sagen zu lassen“ und Fleck wollte sich seinerseits den Lehren des „Herrn Staatsrates“ nicht verschließen5?. Schmid war kein Mann der Zuchtrute. Er vertraute auf die Kraft seiner Persönlichkeit und seiner Argumente, und die reichte zumeist auch aus. Die französische Militärregierung konnte befriedigt feststellen, daß dem Neuling, der als ein „socialiste assez rose“ gelte, großes Vertrauen entgegengebracht wurde° ®. Auch Schmid blickte mit viel Hoffnung auf seine württembergische SPD,
Einer Zerreißprobe war die württembergische SPD auch schon deshalb nicht ausgesetzt, weil man sich in einem Punkt völlig einig war: ein Zusammenschluß von SPD und KPD zu einer Einheitspartei kam nicht in Frage. Einige „linkere“ Mitglieder des Landesvorstandes erwogen, ob man eventuell bei konkreten Aufgaben mit der KPD zusammenarbeiten könne, stießen damit aber beim Landesvorsitzenden auf heftigsten Widerspruch, der seit seiner Studentenzeit ein entschiedener Antikommunist war. Er hatte es zu verhindern gewufst, daß im Gegensatz zu fast allen anderen Ländern in Südwürttemberg ein Kommunist mit auf der Regierungsbank saß. Auch eine partielle Zusammenarbeit konnte er nicht befürworten – aus zwei Gründen: „Die KPD erhebt einen totalitären Anspruch, d-i e KPD ist keine deutsche Partei, sie arbeitet nach russischen Anweisungen.“ 3 Es sei daher eine klare Abgrenzung gegenüber der KPD notwendig. Die Anweisung des Landesvorsitzenden wurde von fast allen Ortsvereinen befolgt.
Im ebenfalls französisch besetzten Südbaden war die Entwicklung ganz anders verlaufen. Dort wurde die SPD als sozialistische Partei Land Baden neugegründet. Der Parteiname hatte programmatischen Charakter. Die badischen Sozialdemokraten wollten die Tür nach links öffnen und die Kommunisten in die Partei integrieren. Die Kommunisten allerdings gründeten bereits im Februar 1946 eine eigene Partei. Eine Einheitspartei konnte- fetze nur noch durch eine Fusion geschaffen werden, für die es Befürworter in beiden Parteien gab. Einige badische Sozialdemokraten, die dem Einheitskurs ihres Landesvorstandes ablehnend gegenüberstanden, wandten sich im März 1946 hilfesuchend an Schmid, der kampfentschlossen, wie er damals noch war, ein radikales Vorgehen vorschlug: Die gemäßigten Sozialdemokraten sollten einen Landesparteitag einberufen und dort einen neuen Vorstand wählen”. Der Vorschlag wurde rund ein halbes Jahr später in die Tat umgesetzt, nachdem die Württemberger und die Parteizentrale in Hannover der innerparteilichen Fronde gegen den badischen Landesvorstand immer wieder den Rücken gestärkt hatten?“ Carlo Schmid hatte jede Kontaktaufnahme mit dem sozialistischen badischen Landesvorstand abgelehnt. Einladungen hatte er unbeantwortet gelassen: „Solange die badischen Sozialisten sich nicht so nennen, wie wir uns alle nennen, nämlich SPD, müssen wir sie als eine andere Partei betrachten.“°® Er warf den Badenern vor, daß sie die Entwicklung der SPD „sabotierten“ , Seit November, seit dem Sturz des alten Landesvorstandes, nannten sich auch die Badener Sozialdemokraten. Das „D“ durften sie nicht im Parteinamen führen.
Carlo Schmids Antikommunismus war nicht weniger radikal als der Kurt Schumachers. Befürwortern einer Einheitspartei hielt er entgegen: „Ein KZ bleibt eine Schande, einerlei ob seine Pfosten nun braun oder rot angestrichen sind.“°‘ Er rechnete es Schumacher als großes Verdienst an, daß er die Gründung einer sozialistischen Einheitspartei verhindert hatte. Schumacher seinerseits honorierte, daß Schmid im Gegensatz zu den Badenern eine strikte Abgrenzungspolitik gegenüber den Kommunisten betrieb. Er erhielt eine persönliche Einladung zu dem vom o9. bis rı. Mai 1946 in Hannover stattfindenden Neu- und Wiederbegründungsparteitag der SPD der Westzonen. Vom badischen Landesvorstand war niemand eingeladen worden. Die Franzosen verweigerten zunächst die Ausreise, gaben aber schließlich nach. So konnte Schmid zusammen mit Oskar Kalbfell die württembergische SPD auf dem ersten überzonalen SPD-Parteitag vertreten. Auf dem Parteitag ergriff er nicht das Wort. Auf den Landesparteitagen in Württemberg-Hohenzollern war er die unumstrittene Nummer ı, hier war er ein Unbekannter, der schüchtern darauf wartete, daß die alten Genossen auf ihn zukamen®, Gar so selbstbewußt, wie er sich zumeist gab, war er nämlich nicht. Er hätte es niemals gewagt, durch eine Aufsehen erregende Gegenrede dem Parteivorsitzenden zu widersprechen.
Im großen und ganzen war er mit dem Verlauf des Parteitages zufrieden“, wenn auch die von Kurt Schumacher formulierten Richtlinien sich nur zum Teil mit seinen eigenen programmatischen Vorstellungen deckten und der Dissens weit über die Europa- und Föderalismusfrage hinausging. Einig war man sich, daß ein Wiederanknüpfen an die Traditionen der Weimarer SPD nicht mehr möglich sei und daß die Parteiveteranen in der neugegründeten SPD nicht mehr den Ton angeben durften. Einig war man sich auch, daß die SPD sich gegenüber neuen Wählerschichten öffnen und versuchen müsse, „große Teile der geistigen Elite“ für die Sozialdemokratie zu gewinnen“. Schumacher jedoch sah in allen Plänen, aus der SPD eine Labour-Party zu machen, einen Verzicht auf den Klassenkampf, den er weiterhin propagierte. Nach dem Parteitag in Hannover kam auch Schmid auf sein Labour-Party-Konzept nur noch selten zurück. Vermutlich war ihm klar geworden, daß er sich damit nicht durchsetzen konnte. Kurt Schumacher beurteilte die ganze historische Entwicklung anders als er. Für den Parteivorsitzenden hatte die SPD in Weimar einen Sündenfall begangen, als sie sich an „unechte(n) und an untragbaren klassenpolitischen Widersprüchen kranke(n) Koalitionen“ beteiligte®s. Koalitionen sollte es in Zukunft nur noch unter Führung der SPD und unter grundsätzlicher Anerkennung des Klassenkampfgedankens geben‘. Schmid wollte von der marxistischen Dogmatik des Heidelberger Programms der SPD loskommen und sah in der reformistischen Tradition der Partei, mit der Kurt Schumacher brechen wollte, einen möglichen Anknüpfungspunkt. Für den SPD-Parteivorsitzenden war der Marxismus mehr als eine Methode. Er war der Auffassung, daß die „grundlegende Änderung der politischen Geisteshaltung“ sich nur „auf der Basis der Änderungen der wirtschaftlichen Machtverhältnisse“ vollziehen könne‘. Darunter verstand er eine planwirtschaftliche Lenkung der Wirtschaft und die Vergesellschaftung aller Produktionsmittel, die in der „Hand des Großbesitzes“ waren®%.
Carlo Schmid war kein grundsätzlicher Gegner der Sozialisierung und schon gar nicht ein „verirrter Liberaler“, wie man ihm manchmal unterstellte“ ®. Er arbeitete engagiert in dem von Hermann Veit ins Leben gerufenen Sozialisierungsausschuß der SPD Württemberg-Badens mit. Dort suchte man nach Sozialisierungsmodellen und setzte sich vor allem mit dem von Harald Koch entwickelten Sozialisierungskonzept auseinander. Der zum Sozialisierungsexperten der SPD avancierte Koch, der selbst an den Ausschußsitzungen teilnahm, schlug die Errichtung von Sozialgemeinschaften vor, die er als eine Alternative zur Verstaatlichung der Produktionsmittel verstand. Koch plädierte in seinem Konzept der Sozialgemeinschaften für die Anerkennung mehrerer unterschiedlicher Eigentumsträgertypen wie z.B. Sozialgesellschaften, Sozialgewerkschaften oder Sozialgenossenschaften, die nicht nach dem Prinzip der „Gewinnerzielung“, sondern dem der „Bedarfsdeckung des ganzen Volkes“ arbeiten sollten. Im Handwerk und Einzelhandel sollten privatwirtschaftliche Unternehmensformen gefördert werden. Ein ehrenamtlicher Verwaltungsrat fungierte als kontrollierendes Organ der Geschäftsleitung, die überregionale Koordination erfolgte durch eine Landesgemeinschaft der Sozialgemeinschaften”®.
In ‚einer für seine Diskussionsbeiträge typischen tour d’horizon setzte sich Schmid mit Kochs Entwurf auseinander. Für eine Sozialisierung gebe es drei Gründe und Ziele: „ı. die politische Zielsetzung der Enteignung bestimmter als gefährlich angesehener Personen, 2. die ökonomische Zielsetzung einer besseren Organisation der Wirtschaft, 3. die soziale Zielsetzung: Aufhebung der Entfremdung des Arbeiters.“7′ Die Sozialgemeinschaften könnten allenfalls eine „taugliche Figur der Sozialisierung“ sein, dürfen aber andere Formen der Sozialisierung nicht ausschließen. Er fürchtete, daß „Egoismus und Kleinbürgerei“ bei den Verwaltungsräten der Sozialgemeinschaften schlimmer vertreten seien als bei den „Kapitalisten“. Kochs Konzept der Sozialgemeinschaften stellte er das Modell einer sozialistischen Marktwirtschaft gegenüber, in der es lediglich eine Rahmenplanung geben sollte: „Die sozialisierten Betriebe müssen im Rahmen der freien Marktwirtschaft arbeiten. Das Konkursrecht muß auch hier ultima ratio bleiben.“”” In Württemberg-Hohenzollern hatte er die Gründung von Stiftungen und Produktionsgenossenschaften insbesondere auf dem Bausektor angeregt”’
Für Schmid, den Schüler Hugo Sinzheimers, hatte die Schaffung einer Sozial- und Wirtschaftsverfassung Vorrang vor der Sozialisierung. Die politische Demokratie mußte ergänzt werden durch eine Wirtschaftsdemokratie. Die Forderung nach paritätischer Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene findet man in den Jahren nach 1945 fast in jeder Grundsatzrede Schmids. Kaum einer hatte in Württemberg-Hohenzollern so energisch wie er die Gründung von Gewerkschaften vorangetrieben, denn nur sie konnten seines Erachtens die Arbeiter zu eigenverantwortlichem Denken und Handeln erziehen”%. Er wollte auch deshalb die SPD zu einer Art Labour-Party machen, weil dort die Gewerkschaften das Rückgrat der Partei waren. Der Geistesaristokrat Schmid verachtete die Massengesellschaft, wünschte sich aber eine selbstbewußte Arbeiterschaft, die sich nicht wieder manipulieren und mißbrauchen ließ. Schmids Wirtschafts- und Sozialkonzeption ließ sich kaum vereinbaren mit Grundsätzen einer sozialistischen Wirtschaftspolitik, wie sie der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD Victor Agartz auf dem Parteitag in Hannover vorgetragen hatte. Agartz hatte der Planwirtschaft eindeutig Vorrang gegenüber Mitbestimmungsforderungen eingeräumt’”°,
Carlo Schmid wäre es nie in den Sinn gekommen, Sozialismus mit sozialistischer Planwirtschaft gleichzusetzen. Er war „Sozialist (…) um des Menschen willen, nicht aber um irgend eines Wirtschaftssystems willen“”°. Er verband mit dem Sozialismus eher kulturrevolutionäre als wirtschaftspolitische Ziele. Deshalb war für ihn die geistige und organisatorische Erneuerung der SPD mindestens ebenso wichtig wie die Entwicklung ökonomischer Alternativkonzepte zur kapitalistischen Gesellschaft. Kurt Schumacher dagegen machte sich die Maxime zu eigen: „primun vivere deinde philosophari“ 77. Trotz der zum Teil recht gegensätzlichen Vorstellungen über Programm und Entwicklung der SPD scheint das Gespräch zwischen Schmid und Schumacher auf dem Hannoveraner Parteitag harmonisch verlaufen zu sein, vermutlich deshalb, weil der Landesvorsitzende der SPD Württemberg-Hohenzollerns seine eigene Meinung verschwieg. Es wäre auch unklug gewesen, Schumacher gleich bei der ersten Unterredung Lehren erteilen zu wollen.
Schumacher lud ihn ein, an den Sitzungen des Geschäftsführenden Parteivorstandes teilzunehmen. Die französische Besatzungsmacht drückte, soweit es sich nicht um Parteitage handelte, die im Rampenlicht der Öffentlichkeit standen, ein Auge zu und duldete die Parteireisen Schmids stillschweigend, obwohl offiziell eine Verbindung der württembergischen SPD mit der Parteizentrale in Hannover immer noch nicht gestattet war. Schmid beging manchmal sogar die Dreistigkeit, seine Parteireisen über den von den Franzosen kontrollierten Staatshaushalt abzurechnen. Erst der für seine Sparsamkeit bekannte Gebhard Müller unterband diese Verquickung von Partei- und Staatsinteressen”®. Carlo Schmid hatte sich zu solchen verwerflichen Machenschaften nur deshalb hinreißen lassen, weil die SPD ihm die Auslagen für diese Reisen nicht ersetzte. Zum Vergnügen war er ja schließlich nicht unterwegs.
Bereits während des ersten Jahres seiner Parteimitgliedschaft fand er auch in der Gesamtpartei Achtung und Anerkennung. Ende 1946 wurde er als Mitglied des Verfassungspolitischen Ausschusses vorgeschlagen, im Januar 1947 wurde er in den Außenpolitischen Ausschuß berufen, der im März seine Arbeit aufnahm. Im Außenpolitischen Ausschuß, in dem die renommiertesten Mitglieder der Partei vertreten waren, war er der einzige, der nicht schon vor 1933 in den Reihen der Partei gestanden hatte. In einer Phase, in der die verfassungs- und außenpolitischen Grundlagen des neuen deutschen Staates zur Disposition standen, konnte man auf einen Mann wie Carlo Schmid, der ein glänzender Frankreich-Kenner und ausgezeichneter Staats- und Völkerrechtler war, nicht verzichten. Schmid seinerseits drängte darauf, in der Gesamtpartei ein entscheidendes Wort mitreden zu können.
Die Entwicklung der Parteizentrale in Hannover und Schumachers autoritärer Führungsstil bereitete ihm zunehmend Unbehagen. Im Frühjahr 1947 berichtete er seinem ehemaligen Schüler Georg Schwarzenberger, daß er bei der Frörterung theoretischer Fragen mit dem Parteivorsitzenden oft übereinstimme, dieser aber „sein praktisches Verhalten nur gelegentlich nach seinen besseren Einsichten“ ausrichte. Es sei „sehr schade“, „daß Hannover mehr und mehr eine Art Lhasa zu werden beginnt und die Ihstitution der Thronassistenten scheint nicht auf den Vatikan beschränkt geblieben zu sein. Auch hier hoffe ich auf die Wirkung der Zeit, und vielleicht wird sich in den verschiedenen Ausschüssen der Partei ein Equipe, heranbilden, die es ermöglichen wird, eine echte Führung zu schaffen, die mehr von der Einsicht und dem Geiste bestimmt ist als vom tribunizischen Prestige.“ 7?
Zugegeben: Sein Führungsstil in Württemberg-Hohenzollern war auch nicht gerade sehr demokratisch gewesen. In Schumacher und Schmid stan- ‘den sich zwei Männer gegenüber, die beide das Geschick Deutschlands in die Hand nehmen wollten. Schmid jedoch war in der SPD ein Außenseiter, dem viele Hindernisse auf dem Weg an die Parteispitze entgegenstanden. Er wollte trotzdem alles daran setzen, um seine Vorstellungen durchzusetzen“°. Spätestens Ende 1946 war ihm klar geworden, daß die Parteien wahrscheinlich die entscheidenden politischen Machtträger in einem zukünftigen deutschen Staat sein werden. Seine politische Zukunft hing – er mochte das noch so bedauern – von seiner Anerkennung innerhalb der SPD und nicht zuletzt von seinem Verhältnis zu Kurt Schumacher ab. Nolens, volens mußste er sich zumindest vorerst mit ihm arrangieren.
Bausteine für eine deutsche Verfassung: Die Verfassungen Württemberg-Badens und Württemberg-Hobhenzollerns
Im Gegensatz zu den Franzosen drängten die Amerikaner in der von ihnen besetzten Zone auf eine rasche Herstellung demokratisch-rechtsstaatlicher Verhältnisse. Aus den organisierten Provisorien sollten möglichst bald rechtsstaatlich verfaßte Staaten werden. Am 11. Februar 1946 beauftragte die amerikanische Militärregierung Reinhold Maier mit der Einsetzung einer Kommission zur Ausarbeitung einer Verfassung für das Land Württemberg-Baden. Einen Monat später, am ı2. März, trat der Verfassungsausschuß der Vorläufigen Volksvertretung für Württemberg- Baden erstmals zusammen. Vorsitzender des Verfassungsausschusses war der über die Parteigrenzen hinweg geschätzte Nestor des württembergischen Parlamentarismus und der SPD Wilhelm Keil, der Carlo Schmid gebeten hatte, sich dem Ausschuß als Sachverständiger zur Verfügung zu stellen‘. Es gab damals nicht viele, die über fundierte Kenntnisse der Verfassungstheorie und -praxis sowohl im historischen wie im aktuellen internationalen Vergleich verfügten. Schmid kannte sich durch seine Tätigkeit im Kaiser-Wilhelm-Institut auf dem Gebiet des ausländischen öffentlichen Rechts ausgezeichnet aus. In Gesprächen mit Hermann Heller und Helmuth James von Moltke hatte er schon in früheren Jahren Pläne über eine Verfassungsreform und den Neuaufbau eines zukünftigen deutschen Staates entwickelt”.
In dem von Reinhold Maier eingesetzten Verfassungsausschuß wuchs ihm von Anfang an die Rolle des spiritus rector zu. Gleich in der ersten Sitzung wurde ihm das Grundsatzreferat über die Probleme einer zukünftigen deutschen Verfassung übertragen. Zögernd nahm er an, denn ihm war klar, daß er sich damit eine Menge Arbeit aufhalste3. Mit dem Grundsatzreferat würde es ja nicht getan sein. Ein Verfassungsentwurf mußte ausgearbeitet werden und vermutlich würde man ihm diese Arbeit anvertrauen. So kam es dann auch. Nachdem sein Referat am s. April den Beifall des Ausschusses gefunden hatte, wurde allgemein der Wunsch geäußert, daß er dem Ausschuß einen Verfassungsentwurf vorlegen möge. Dank der tätigen Mithilfe seines Schülers Gustav von Schmoller brauchte Schmid nicht einmal zwei Monate für diese Arbeit. Am 29. April fand der von ihm und Schmoller ausgearbeitete Entwurf im Ausschuß viel Lob und Anerkennung#.
Zunächst hatte er sich gefragt, ob es unter den Bedingungen einer Besatzungsherrschaft überhaupt sinnvoll sei, eine Vollverfassung auszuarbeiten. War es nicht besser, ein „Notdach“ für ein Provisorium zu konstruieren? Einige Mitglieder des Ausschusses waren auch dieser Meinung. Schmid erklärte ihnen, warum er sich trotz allem für die Ausarbeitung einer Vollverfassung entschieden hatte: „Ich glaube, es ist gut, daß wir jetzt schon unter der Fremdherrschaft unsere Staatsgesinnung schaffen, ihr Ausdruck verleihen, damit jetzt in dieser verhältnismäßigen Windstille etwas gedeihen könnte, das bei stürmischem Klima, wie es die reine Freiheit bringt, vielleicht in seinem Wachstum mehr gefährdet wäre als heute.“ Schmid fürchtete anscheinend, daß zu einem späteren Zeitpunkt die Verfassungsschöpfung in die parteipolitische Auseinandersetzung geraten würde. Jetzt hatte er die Chance, maßgebenden Einfluß auf die Verfassunggebung zu nehmen. Für ihn waren die Landesverfassungen eine Sammlung von „Bausteinen“ für eine „künftige Reichsverfassung“ °.
In der Verfassung selbst sah er ein Instrument der politischen Pädagogik. „Die Verfassung sollte so ausgestaltet werden, daß sie als Volkslese- ° buch zur Grundlage der staatsbürgerlichen Erziehung dienen könne. Es müsse in das Bewußtsein des Volkes dringen, daß eine Verfassung nicht ein beliebiges Organisationsstatut, sondern gewissermaßen etwas Sakrales ist.“” Schmid war ein Gegner des staatsrechtlichen Positivismus. In der Tradition Smends und Hellers begriff er die Verfassung als ein Wertesystem, als „Ausfluß einer gemeinsamen im Volk lebendigen Wertordnung“ ®. Weil die Mehrheit der Nordbadener und Nordwürttemberger keine Anhänger des Sozialismus waren, enthielt sein Verfassungsentwurf keine dezidiert sozialistischen Aussagen.
Sechs Grundprinzipien, von denen er glaubte, daß sie von jedermann anerkannt werden, wollte er in der Verfassung verankert sehen: ı. das Bekenntnis zur Würde des Menschen, 2. das Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit, worunter er die „Ablehnung des schrankenlosen wirtschaftlichen Liberalismus“ verstand; 3. das Bekenntnis zur Demokratie als Staatsform und Staatsinhalt; 4. das Bekenntnis zur Gewaltenteilung; s. das Bekenntnis zur Völkerrechtsordnung als eines integralen Bestandteils des eigenen Rechtssystems; 6. Verzicht auf den Krieg als ein Mittel der Politik ®.
Schmid plädierte dafür, die Grundrechte nicht mehr wie in der Weimarer Reichsverfassung an das Ende, sondern an den Anfang der Verfassung zu stellen. Die Grundrechte sollten „geltendes Recht“ sein und von jedermann eingeklagt werden können’°. Er machte sich Smends Grundsatz zu eigen, daß die Grundrechte eine Werteordnung aufrichteten“. In ihnen müsse zum Ausdruck kommen, daß der „Staat um des Menschen willen“ und nicht der „Mensch um des Staates willen“ da sei’*. Schon der Aufbau seines Verfassungsentwurfes ließ die sekundäre Bedeutung, die dem Staat zukam, sichtbar werden. Erst der zweite Hauptteil handelte vom Staat. Der erste Hauptteil war überschrieben „Vom Menschen und seinen Ordnungen“. Die Grundrechte sollten „das Leben des Staates regieren“ „. Nicht alle Mitglieder des Verfassungsausschusses waren mit der starken Betonung der Grundrechte einverstanden. Heuss wäre eine Präambel lieber gewesen. Seiner Ansicht nach lag in dem Grundrechtskatalog „zu viel Pathos“ ‚+, Die Mehrheit stellte sich hinter Schmid. Reinhold Maier gab offen zu: „(…) ich hatte etwas Bedenken vor der Formulierung dieser Grundrechte, aber ich glaube, daß es Herrn Staatsrat Dr. Schmid mit seinem Werk ausgezeichnet gelungen ist und daß insbesondere hier die Kürze die Würze ist.“ ‚3
Soweit es sich um liberale Freiheitsrechte handelte, war der Grundrechtskatalog unumstritten. Dissens entstand lediglich über die Frage, ob bei Enteignungen eine angemessene Entschädigung zu zahlen war. Schmid war dagegen, weil er fürchtete, daß dadurch wie in Weimar eine soziale Neuordnung verhindert werde. Man einigte sich schließlich auf eine Kompromißformel: Eigentum sollte „im Regelfall“ nur gegen „angemessene Entschädigung eingeschränkt oder entzogen“ werden’®. Das Recht zur Sozialisierung, das im späteren Art.28 der Verfassung Württemberg- Badens verankert wurde, hatte er sehr vorsichtig, im Vergleich zu anderen Verfassungen eher restriktiv formuliert: „Kann der Wirtschaftszweck besser ohne Eigentum des Unternehmers an Produktionsmitteln erreicht werden oder widerstreitet die Ausübung des Eigentumsrechtes dem Gemeinwohl, so können geeignete Unternehmungen und Wirtschaftszweige durch Gesetz in Gemeineigentum überführt werden.“ !7 Die Mehrheit des Verfassungsausschusses der Verfassunggebenden Landesversammlung, die im Juli 1946 den Entwurf beriet, war der Meinung, daß dem Sozialisierungsgebot mehr Nachdruck verliehen werden müsse. Aus der Kannwurde eine Sollvorschrift’°. Die Hessen, mit denen man sich zu gemeinsamer Verfassungsberatung traf, waren noch weitaus radikaler. Sie hatten die entschädigungslose Sofortsozialisierung der wichtigsten Grundstoffindustrien und der Energiewirtschafts- und Verkehrsbetriebe zu einem verfassungsrechtlichen Gebot gemacht‘?, Schmid war viel zu sehr auf Konsens bedacht, um in eine Verfassung einen ausdrücklichen Auftrag zur Sozialisierung hineinzuschreiben.
Daß eine Verfassung grundlegende Bestimmungen über die Wirtschaftsund Sozialordnung enthalten müsse, betonte auch er. So fügte er in seinen Verfassungsentwurf einen Abschnitt Wirtschafts- und Sozialordnung ein, in dem u.a das Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer, das Recht auf Arbeit, das Streik- und Koalitionsrecht der Gewerkschaften und die Gleichstellung von häuslicher Arbeit und Berufsarbeit festgeschrieben wurden. Dem Grundsatz, daß sich die Wirtschaft am „Bedarf der Bevölkerung“ zu orientieren habe, widersprach niemand. Im Frühjahr 1946 war man allgemein der Meinung, daß man sich in Deutschland noch lange mit der Verwaltung des Mangels werde begnügen müssen.
Ganz besonders am Herzen lag Schmid die Formulierung von Grundsätzen über Bildung, Erziehung und Unterricht. Waren doch Bildung und Demokratie für ihn Korrelate. Er begnügte sich nicht mit einer Wiederholung der Schulartikel der Weimarer Verfassung, sondern postulierte eine Pflicht zur Bildung: „Jeder junge Mensch hat seiner Begabung entsprechend das Recht auf Bildung und die Pflicht zur Bildung. Es ist die Aufgabe des Staates, die der Verwirklichung dieses Grundsatzes entgegenstehenden wirtschaftlichen Hemmungen zu beseitigen.“ Für keinen anderen Artikel seines Verfassungsentwurfs kämpfte er so engagiert wie für diesen. Die Pflicht zur Bildung verstand er als „Schutz des begabten Kindes gegen den Erziehungsberechtigten“. „Neben dem Menschenrecht des Vaters“ gebe es auch ein „Menschenrecht des Kindes gegenüber dem Vater“ *‘, Wenn es um Begabtenförderung ging, verkündete Schmid sogar anti-autoritäre Grundsätze. Der Verfassungsvater war auch Volkserzieher. Erstmals wurde in einer Verfassung nicht nur der gleiche Zugang zu den Gütern der Bildung, sondern auch die Pflicht zur Bildung gefordert.
Auf wenig Widerstand stieß in Württemberg-Baden die sonst so heftig umstrittene Einrichtung christlicher Gemeinschaftsschulen. Die Badener konnten darauf verweisen, daß sich bei ihnen die Gemeinschaftsschulen schon vor 1933 bewährt hatten. Die Verfechter der Konfessionsschulen befanden sich in einer hoffnungslosen Minderheitsposition. Sie mußten zähneknirschend hinnehmen, daß es Schmid gelang, sein schulpolitisches Programm in die Verfassung hineinzuschreiben: „Die öffentlichen Volksschulen sind christliche Gemeinschaftsschulen. In ihnen sollen in Erziehung und Unterricht auch die geistigen und sittlichen Werte der Humanität und des Sozialismus zur Geltung kommen.“ *
Weniger erfolgreich war er bei der Durchsetzung seiner Vorstellungen über den zukünftigen Staatsaufbau. Gegen das von ihm vehement verteidigte Zweikammersystem gab es innerhalb seiner eigenen Partei erhebliche Bedenken. Man sah in der Einrichtung eines Senats einen „Hemmschuh für fortschrittliche Entwicklungen“. Auf seiten der SPD unterstützte allein Parteiveteran Keil seinen Vorschlag, dem es aber auch nicht gelang, die sozialdemokratischen Mitglieder des Verfassungsausschusses umzustimmen, die sich durch die strikte Ablehnung des Zweikammersystems durch die hessischen Verfassungsschöpfer bestärkt fühlten. Nach einer gemeinsamen Beratung mit den Nordwürttembergern und Nordbadenern notierte Ludwig Bergsträßer, einer der Väter der hessischen Verfassung, in sein Tagebuch, daß Schmid einen „stark romantischen Einschlag“ habe”*. Gewiß, es gab auch den Romantiker Schmid. Doch sein Plädoyer für einen Senat entsprang nicht ständischem Romantizismus. Es war das Scheitern des Parlamentarismus in der Weimarer Republik, das Schmid dazu bewog, ein Zweikammersystem zu befürworten. Um das Weimarer Regierungssystem zu stabilisieren, hatte Hermann Heller bereits 1932 die Einrichtung einer zweiten Kammer empfohlen. Schmid war davon überzeugt, daß die „Radikaldemokratie“ überall gescheitert war, daß nur ein gemischtes Verfassungssystem instabile politische Verhältnisse wie in Weimar verhindern könne. Es sei „immer eine Elite, die das Volk repräsentiert, nicht das Volk bevormundet, nicht dem Volk ins Gesicht schlägt, sondern sich der Dinge bewußt ist, die im Volk vorhanden sind.“ In Abweichung von der Weimarer Reichsverfassung war im Schmidschen Verfassungsentwurf keine Gesetzesinitiative des Volkes vorgesehen. Dem „plebiszitären“ Landtag, der zu „emotionalen“ Entscheidungen neige, wollte er einen Senat als „retardierendes“ Organ zur Seite stellen. „Die Rolle des Senats“ sei die „Art und Weise wie ein Volk eine Nacht überschläft“ 2
Schmid verstand den Senat als ein Widerlager zur Parteiendemokratie, als eine Art Rat der Weisen, der durch Männer und Frauen, die sich um das öffentliche Wohl verdient gemacht hatten, repräsentiert werden sollte, Wer aber sollte diesen Rat der Weisen auswählen? Schmid erkannte sehr schnell, daß hier die Crux seines Vorschlags lag?”. Wenn die große Mehrheit der Mitglieder des Senats durch den Landtag gewählt würde, bestand dann nicht die Gefahr, daß der Senat nur ein verkleinerter Landtag war?”® In der Verfassunggebenden Landesversammlung fand das von Schmid vorgeschlagene Zweikammersystem keine Mehrheit.
Die Entscheidung für ein Einkammersystem war auch eine Entscheidung gegen den von Schmid vorgesehenen Staatspräsidenten, dem er die Rolle einer „pouvoir neutre“ zugedacht hatte. Angesichts der „inneren Zerrissenheit“ des Volkes wünschte er sich ein über den Parteien stehendes Staatsoberhaupt, das den „Einheitswillen des Volkes“ verkörperte. Der Staatspräsident sollte nicht wie der Reichspräsident in Weimar durch das Volk, sondern durch den Landtag und den Senat gewählt werden. Seine politischen Kompetenzen waren gering. Konnten sich Landtag und Senat über ein Gesetzesvorhaben nicht einigen, so hatte er die Möglichkeit, das Gesetz zu verkünden oder einen Volksentscheid darüber anzuordnen”. Darüber hinaus hatte der Staatspräsident den Staat nach außen — was zunächst nur heißen konnte gegenüber der Militärregierung – zu vertreten. Mit seinem Vorhaben, Widerlager gegen einen zukünftigen Parteienstaat zu errichten, scheiterte Schmid. Insbesondere seine sozialdemokratischen Parteifreunde sahen die Rolle der Parteien für die Entwicklung der Demokratie weitaus positiver als er, der die geistige Mittelmäßigkeit der Parteien stets beklagte.
Aufgegriffen wurde seine Anregung, ein konstruktives Mißtrauensvotum einzuführen. Die Erfahrung der Weimarer Republik hatte allgemein zu der Einsicht geführt, daß die Stabilität der Regierung gestärkt werden müsse. Schmid war nicht der Erfinder des konstruktiven Mißtrauensvotums. Ernst Fränkel bezichtigte ihn später sogar des Plagiats’°. Tatsächlich hatte Fränkel bereits am Ende der Weimarer Republik für die Einführung eines konstruktiven Mißtrauensvotums zur Bewältigung der permanenten Krise des Weimarer Parlamentarismus plädiert‘. Auch im Kreisauer Kreis hatte man über die Vor- und Nachteile eines konstruktiven Mißtrauensvotums diskutiert. Möglicherweise hatte Schmid den Vorschlag von Moltke übernommen??. Es ist im übrigen müßig, darüber zu streiten, wem das Erstgeburtsrecht gehört. In die Verfassung Württemberg-Badens wurde das konstruktive Mißtrauensvotum auf Schmids Anregung hin aufgenommen.
Von seinen Argumenten für das Kanzlerprinzip ließ sich der Verfassungsausschuß ebenfalls überzeugen: „Wir brauchen der Militärregierung gegenüber dieses Kanzlersystem. Der Ministerpräsident wird konfrontiert, dann muß er die Möglichkeit haben, auf die Minister einzuwirken.“3 3 Schmid erhob zum Verfassungsgrundsatz, was damals gängige Regierungspraxis war. Die Ministerpräsidenten waren primi supra pares, nicht primi inter pares.
Grundsätzliche Einwände gegen die von Schmid vorgeschlagene Anerkennung der Regeln des Völkerrechts als bindenden Bestandteil des Landesrechts gab es nicht. Die durch das Völkerrecht Ausländern verbrieften Rechte konnten so selbst dann geltend gemacht werden, wenn sie nicht durch ein Landesgesetz ausgesprochen waren*. Schmid knüpfte hier an sein bereits vor 1933 entwickeltes Verständnis des Völkerrechts als einem überpositiven Recht an. Sein Eintreten für eine Ächtung des Kriegs war Heuss, dem Schmid zu sehr Pathetiker war, zu idealistisch und pathetisch? ®. Schmid verwahrte sich gegen den Vorwurf des Idealismus. Er wollte durch diesen Verfassungsgrundsatz u.a. erreichen, daß die Schaffung einer schwarzen Reichswehr unter schwerste Strafe gestellt werden konnte3°, Weimar durfte sich nicht noch einmal wiederholen.
Da er die Verfassung als eine Werteordnung begriff, suchte er nach Wegen, eine Verfassungsdurchlöcherung wie in Weimar zu verhindern. Es herrschte Einverständnis darüber, alle Verfassungsänderungen zu verbietem, die dem „Geiste der Verfassung“ widersprechen. Nach der Ende November 1946 verabschiedeten Verfassung Württemberg-Badens hatte ein Staatsgerichtshof darüber zu befinden, ob ein Gesetz oder eine Verfassungsänderung verfassungswidrig war?’. Schmid hatte dem Senat die Aufgabe zugedacht, als Verfassungsgerichtshof zu fungieren. Frankreich diente ihm als Vorbild. Schmid, obwohl selbst Jurist, hatte nicht die beste Meinung von den Juristen. Er fürchtete, daß sie aufgrund ihrer „deformation professionnelle“ nicht dazu in der Lage seien, eine Entscheidung über wichtige politische Fragen zu treffen?®. Nachdem er sich mit seinem Senatsmodell nicht durchsetzen konnte, votierte auch er für einen Verfassungsgerichtshof.
Bestimmungen der Verfassung, die einer künftigen deutschen Verfassung widersprachen, sollten außer Kraft treten, sobald diese rechtswirksam wurde. Bezüglich der künftigen Reichsverfassung begnügte man sich mit der Feststellung, daß Württemberg-Baden „ein Glied der deutschen Republik ist“ 3%. Das war eine Absage an einen Staatenbund, ließ aber ansonsten alle Möglichkeiten offen. Schmid hatte gleich zu Beginn der Beratungen davor gewarnt, „Sätze in die Verfassung hineinzunehmen, die sich auf die Reichsverfassung beziehen“ *°. Er war nicht nur Verfassungsexperte, sondern auch ein kluger politischer Taktiker. Die Zeit arbeitete für die Deutschen. So war es am besten, wenn man politische Festlegungen einstweilen vermied.
Die Verfassung Württemberg-Badens vom 30. November 1946 trug die Handschrift Carlo Schmids. Daß er die Vaterschaft für die Verfassung beanspruchen konnte, wurde ihm über die Parteigrenzen hinweg bestätigt*‘. Er nahm sowohl an den vierzehn Sitzungen des Verfassungsausschusses der Vorläufigen Volksvertretung als auch an den. Beratungen des Verfassungsausschusses der Verfassunggebenden Landesversammlung teil, der Mitte September nach zweimonatiger harter Arbeit den Entwurf an das Plenum überwies. Da Keil sich überfordert fühlte, fungierte oft Schmid als Berichterstatter. Er verteidigte den Entwurf auch gegenüber der amerikanischen Besatzungsmacht, die vergeblich versuchte, Einfluß auf die Verfassungsberatungen in Württemberg-Baden zu nehmen. Die Amerikaner hätten Schmid, der ihnen äußerst couragiert gegenübertrat, am liebsten von den Verfassungsberatungen ausgeschlossen*?. Die Rolle des Nomotheten war dem Regierungschef Württemberg-Hohenzollerns, den die Aufgabe des staatlichen Neuaufbaus reizte, wie auf den Leib geschnitten. Er hatte sich nicht mit der Abhaltung staatswissenschaftlicher Kollegs begnügt, sondern engagiert um die Durchsetzung seiner Lösungsvorschläge gekämpft. Kritik an seiner starken Einflußnahme wurde nur einmal laut, als er sich dagegen wandte, daß Vertreter der CDU in Artikel ı der Verfassung die Berufung des Menschen zur Erfüllung: des „christlichen Sittengesetzes“ postulierten. Er wünschte eine Streichung des Adjektivs „christlich“, weil durch es alle Menschen, die sich zu einem anderen Glauben bekannten, ausgeschlossen würden*. Der Streit wurde schnell beigelegt. Die Mehrheit des Ausschusses wollte Schmids Rolle nicht auf die eines „sprechenden Rechtslexikons“ reduzieren**. Man einigte sich auf den Kompromißvorschlag „ewiges Sittengesetz“.
Im großen und ganzen war er äußerst zufrieden mit dem Ausgang der Verfassungsberatungen. Die Verfassung war so ausgefallen, daß sie als Vorbild für eine spätere Reichsverfassung dienen konnte. Das hatte er sich von Anfang an zum Ziel gesetzt#. Noch mehr als an ein zukünftiges „Reich“ hatte er freilich an Württemberg-Hohenzollern gedacht. Was konnte die Einheit Württembergs besser zum Ausdruck bringen als die Übernahme der Verfassung Nordwürttembergs durch Südwürttemberg?
Bereits Ende 1946 hatte Gouverneur Widmer ihn gebeten, ihm sobald als möglich den Stuttgarter Verfassungsentwurf zuzuleiten und ihm Vorschläge für dessen eventuelle Übernahme in Südwürttemberg zu machen*°. Die französische Militärregierung stand lange Zeit einer Staatsgründung und Verfassunggebung in Südwürttemberg und Hohenzollern sehr reserviert gegenüber. Noch immer hoffte man auf eine Neuabgrenzung der Besatzungszonen und versuchte deshalb die Verfassunggebung solange wie möglich hinauszuzögern. Die erste Verfassunsgsdebatte in der Beratenden Landesversammlung Württemberg-Hohenzollerns fand erst vier Tage nach Unterzeichnung der Verfassungsurkunde für Württemberg- Baden statt, am 2. Dezember 1946. Innerhalb der CDU war man allerdings schon vorher rührig geworden. Der Sozialdemokrat Schmid sollte sich mit seinem Verfassungsentwurf nicht auch in der südlichen Landeshälfte durchsetzen. Ende September 1946 mahnte der spätere Staatspräsident Württemberg-Hohenzollerns Lorenz Bock seinen Parteifreund Gebhard Müller: „Da in unserer Zone wohl in nächster Zeit Verfassungsfragen eine Rolle spielen werden, so möchte ich bei Dir anfragen, ob etwa ein derartiger Entwurf schon vorhanden ist, und wer ihn ausgearbeitet hat. Nachdem die CDU die absolute Mehrheit bekommen wird, sehe ich nicht ein, warum wir uns immer wieder von sozialdemokratischer Seite die Entwürfe vorlegen lassen sollen. Wir müssen gleich im Anfang Einfluß darauf gewinnen, daß der Entwurf ein christliches Gepräge bekommt.“ #7
Schmid blieb der Konfrontationskurs der CDU nicht verborgen. Um so mehr äußerte er den Wunsch, daß sich die Verfassungen Nord- und Südwürttembergs „wie ein Ei dem anderen“ gleichen mögen*°. Am 2. Dezember versuchte er in einem dreistündigen Kolleg vor der Beratenden Landesversammlung noch einmal seine Verfassungsgrundsätze deutlich zu machen. Er war sichtlich bemüht, die Verfassungsdiskussion aus dem Schußfeld der parteipolitischen Auseinandersetzung herauszubekommen. So’verbarg er seine eigene Option hinter der rhetorischen Frage: „Wollen wir ünter allen Umständen hier im südlichen Württemberg infolge der Ungebundenheit, in der wir leben, die Gelegenheit wahrnehmen und die beste Verfassung, die uns denkbar erscheint, einführen, ohne Rücksicht darauf, daß in Stuttgart schon eine Verfassung besteht?“ # Lorenz Bock, den Schmid nicht zu Unrecht ein Sprachrohr Rottenburgs nannte, wollte dies durchaus. Er war auch nach Schmids versöhnlich gestimmter Rede nicht zum Einlenken bereit. Als der Verfassungsausschuß der Beratenden Landesversammlung am ı2. Dezember 1946 erstmals zusammentrat, erklärte er, daß er eine Übernahme der Stuttgarter Verfassung als „entwürdigend“ empfinde. Höflichkeitshalber fügte er hinzu: „Die wertvolle Arbeit von Professor Schmid soll nicht unberücksichtigt bleiben.“ 5° Schmid war anwesend, schwieg aber während der ganzen Diskussion. Jedes Wort wäre in den Wind gesprochen gewesen.
Lorenz Bock wurde mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfes betraut, bei der ihn der ehemalige Mitarbeiter des Reichsgerichtes und damalige Präsident des Oberlandesgerichtes Tübingen Emil Niethammer unterstützte. Schmid fürchtete Schlimmes. Die Militärregierung war ungehalten darüber, daß den Verfassungsberatungen nicht die Stuttgarter Verfassung zugrunde gelegt wurde. Trotzdem mahnte Schmid im Landesvorstand der SPD am 8. März die sozialdemokratischen Mitglieder des Verfassunsgausschusses, die Verfassungsberatungen nicht unter Protest zu verlassen‘. Die Koalition war ansonsten in Gefahr. Zudem war ihm der Verfassungskonsens wichtiger als Parteiinteressen.
Der Entwurf, den Bock-Niethammer kurze Zeit später vorlegten, übertraf dann allerdings seine schlimmsten Befürchtungen. Daß der erste Hauptteil der Verfassung vom Staat handelte, entsprach dem Vorrang, den der Verfassungsentwurf dem Staat gegenüber den liberalen Freiheitsrechten einräumte. Wichtige Freiheitsrechte wie z.B. die Freiheit von Kunst und Wissenschaft waren in den Grundrechtskatalog erst gar nicht aufgenommen worden. Ein vom Volk gewählter Staatspräsident war weitgehend unabhängig vom Landtag. Er hatte das Recht, diesen aufzulösen und den Staatsnotstand zu erklären. Ihm zur Seite stand ein Senat, dessen Mitglieder er auf Lebenszeit ernannte. Als einzige Schulform war die Konfessionsschule vorgesehen”.
Mitte März kündigten die SPD-Mitglieder ihre Mitarbeit im Verfassungsausschuß auf, nachdem ihre Abänderungsanträge von seiten der CDU allesamt niedergestimmt worden waren. Der Dissens über den Eigentumsartikel, der nach Ansicht der Sozialdemokraten die Sozialisierung und Bodenreform verhinderte, löste das Zerwürfnis aus, obwohl hier die Divergenzen zwischen SPD und CDU gar nicht so groß waren. Der Eigentumsartikel im Bock-Niethammer-Entwurf unterschied sich nicht grundsätzlich von dem der Stuttgarter Verfassung°3. Schmid hatte an den Ausschußberatungen nicht teilgenommen. Er hatte seinen Adlatus Dieter Roser mit der Verhandlungsführung betraut, von dem er wußte, daß er in seinem Geist handelte. Die Delegierten der CDU waren nicht unglücklich über den Rückzug der Sozialdemokraten. Sie hofften, nun ihren Entwurf ohne jede Rücksichtnahme durchsetzen zu können. Die Rechnung ging nicht auf. Am 24. März lehnte die französische Militärregierung den Bock-Niethammer-Entwurf in toto ab, der ihnen zu konfessionell, autoritär und undemokratisch warS*. In dem Entwurf sei der Ausdruck des Volkswillens als grundlegendem Bestandteil einer Demokratie nicht gesichert. Die Intervention der Militärregierung, die sich zunächst um den Entwurf nicht gekümmert hatte5s, kam unerwartet. Carlo Schmid mag die Franzosen zu diesem Schritt gedrängt haben. Nachweisen läßt sich das nicht, aber es ist wahrscheinlich.
Vier Tage nach dem Veto der Franzosen schlug Schmid im Kabinett vor, die Stuttgarter Verfassung zur Volksabstimmung zu stellen, wobei über die Schulartikel gesondert abgestimmt werden sollte. Nur wenn man den Südwürttembergern in der Frage der Bekenntnisschule entgegenkam, konnte man mit ihrer Zustimmung rechnen. Schmid verstand seinen Vorschlag als Notlösung, falls sich ein Kompromiß zwischen den Parteien nicht herstellen ließ. Besser war es, die Scherben zu kitten. Nur dann war die bestehende Koalition noch zu retten7. Mitte April wurden die Beratungen im Verfassungsausschuß wieder aufgenommen. Gebhard Müller und Carlo Schmid setzten alles daran, um doch noch zu einem Kompromiß zu gelangen. Innerhalb von drei Tagen wurde eine Kompromißlösung ausgearbeitet.
Der umstrittene Eigentumsartikel, der als Auslöser für den Konflikt gedient hatte, wurde ohne größeren Widerstand seitens der CDU durch eine Fassung ersetzt, nach der sogar Enteignungen ohne Entschädigung möglich waren. Dafür zeigte sich die SPD in der Frage der Konfessionsschule konzessionsbereit. Die Bekenntnisschule wurde zwar nicht zur einzigen Schulform erklärt, aber das Elternrecht wurde garantiert5®. Nachdem Schmid, immer auf Konsens bedacht, betont hatte, daß auch er „tief davon durchdrungen“ sei, daß die „Unternehmerinitiative nicht entbehrt“ werden könne, sträubten sich auch die Vertreter der CDU nicht mehr, das Prinzip der wirtschaftlichen Bedarfsdeckung in die Verfassung aufzunehmen°?. Seine Bemühungen um eine verfassungsrechtliche Verankerung der paritätischen Mitbestimmung waren vergeblich. Ein durchschlagendes Argument fehlte ihm, da auch in der Stuttgarter Verfassung nur von einer Beteiligung der Arbeitnehmer an der Verwaltung und Gestaltung des Betriebes die Rede war.
Alle Register der Rhetorik waren nötig, um die Christdemokraten von ihrem Konzept der Präsidialverfassung abzubringen. Schmid zeigte viel Verständnis für ihre Argumente. Ihre Bedenken gegen einen „uferlosen Parlamentarismus“ teilte er. Er verstieg sich sogar zu der Behauptung, daß Hitler nicht an die Macht gekommen wäre, wenn es vor 1933 eine Regierung des aufgeklärten Absolutismus gegeben hätte. Die Zeit autoritärer Regierungsstile sei aber vorbei, deshalb käme nun alles darauf an, das Volk zu „aktivem demokratischen Verantwortungsbewußtsein“ zu erziehen“. Er konnte die Gegenseite davon überzeugen, daß durch die Einführung eines konstruktiven Mifsttrauensvotums permanente Regierungskrisen vermieden werden konnten. Daß Schmid sich plötzlich gegen die Richtlinienkompetenz des Regierungschefs aussprach, hatte handfeste politische Gründe. Er gab vor, daß ein Ministerpräsident sich nur dann dem – Druck der Militärregierung entziehen könne, wenn er auf den Widerstand seiner Kabinettskollegen verweisen konnte. Ein Jahr zuvor hatte er noch ganz anders argumentiert. In Wirklichkeit graute ihm wohl davor, sich einem christdemokratischen Regierungschef unterordnen zu müssen. Es war abzusehen, daß er nach den Wahlen nicht mehr an der Spitze der Regierung Württemberg-Hohenzollerns stehen würde. Natürlich wurde sein Vorschlag abgelehnt. Konnte man doch auf die Stuttgarter Verfassung verweisen, in der auf Schmids Anregung hin die Richtlinienkompetenz des Ministerpräsidenten fixiert worden war
Ein letzter großer Streitpunkt bildete die Präambel. Der klerikal-konservative Flügel innerhalb der CDU beharrte darauf, von dem „christlichen Volk“ Württemberg-Hohenzollerns zu sprechen. Schmids Geduld war nach dreitägiger ununterbrochener Beratung schon reichlich strapaziert worden, so daß er gereizt entgegnete: „Wir können doch nicht von uns selbst sagen, daß wir ein christliches Volk sind; das zu sagen, steht nur dem Einen, nämlich Gott, zu.“ ° Diese Einsicht setzte sich durch. Die endgültige Fassung der Präambel lautete: „Das Volk von Württemberg- Hohenzollern gibt sich im Gehorsam gegen Gott und im Vertrauen auf Gott, den allein gerechten Richter, folgende Verfassung.“ ° Dem christlichen Selbstverständnis war damit weitaus mehr als in der Verfassung Württemberg-Badens Rechnung getragen worden.
Der Kompromiß befriedigte niemanden und so wurde er von allen Seiten ein „fauler Kompromiß“ genannt. Bei der abschließenden Beratung des Verfassungsentwurfes in der Landesversammlung am 21. April, die morgens 10.37 Uhr begann und nachts um 3 Uhr endete, mußte Schmid weniger die Parteigegner als die Parteifreunde überzeugen. Er verwahrte sich gegen den Vorwurf, es sei ein „Kuhhandel“ getrieben worden und unterstrich, daß im Verfassungsausschuß alle Seiten „fair“ verhandelt hattens. Er war froh, daß man doch noch zu einem Konsens über die Verfassung gelangt war. Was hätte man mit einer dogmatischen Grundhaltung schon erreicht? Mit Engelszungen redete er auf die Parteifreunde ein: „Das hier geschaffene Werk erfüllt nicht alle unsere Wünsche. Wir glauben aber, daß das, was in Anbetracht der in unserem kleinen Lande herrschenden, besonderen soziologischen, weltanschaulichen und strukturellen Verhältnisse von Sozialdemokraten überhaupt erreicht werden kann, hier auch erreicht worden ist. Wir glaubten, daß es besser sei, dem Rahmen des hier und jetzt Möglichen Rechnung zu tragen, innerhalb dessen wir alle miteinander leben müssen, als auf Dinge zu bestehen, für die der Unterbau hier nicht vorhanden ist, und die darum, nach dem Wort Ferdinand Lassalles vor der Realität nicht mehr hätten bedeuten können, als Papier und Literatur.“° Das stenographische Protokoll verzeichnet Bravorufe und Händeklatschen.
Der Beifall kam nicht von der eigenen Fraktion. Selbst Erler und Kalbfell standen dem Verfassungskompromiß äußerst kritisch gegenüber, der Tuttlinger Gewerkschaftsführer Fleck lehnte ihn entschieden ab‘. Nur mit „Ach und Krach“ konnte die Verfassung „unter Dach gebracht“ werden‘®. Schmids Autorität war erstmals angeschlagen. Die Franzosen fürchteten gar, es könnte zur Parteispaltung kommen‘. So groß war der Arger über Schmids „Kuhhandel“ nun auch wieder nicht. Im Wahlkampf freilich mußte er mit Angriffen rechnen. Er bemühte sich, die aufgewühlten Gemüter zu beruhigen, indem er herausstrich, daß durch die Verfassung der rechtliche Rahmen für die Durchführung der Sozialisierung und der Bodenreform geschaffen worden war. Die Verfassung Südwürttembergs sei fortschrittlicher als die Nordwürttembergs, denn sie verlange bei Enteignungen keine angemessene Entschädigung”®. Mehr als sonst bediente er sich sozialistischer Parolen, um die Parteianhänger zu mobilisieren. In der Volksabstimmung am 18. Mai stimmten nicht alle Sozialdemokraten für die Verfassung. Mit 69,8% der Stimmen wurde sie von den Südwürttembergern gebilligt. Die am gleichen Tag stattfindenden Landtagswahlen brachten der SPD nicht den erhofften Erfolg. Kaum mehr als 20% der Wähler hatte man gewinnen können, während die CDU die absolute Mehrheit erreichte. Die Milieus waren noch zu festgefahren, um sie mit einer Volksparteistrategie überwinden zu können.
In der ersten Sitzung des SPD-Landesvorstandes und der Fraktion nach der Wahl wurde der Landesvorsitzende mit Vorwürfen überschüttet. Der Verfassungskompromiß und die Strategie der „offenen Tür für rechts“ habe sich als ein großer Fehler erwiesen. Schmid hielt entgegen, daß die Partei bei einer Ablehnung der Verfassung im Höchstfall 2% Stimmen mehr gewonnen hätte. „Eine Partei müsse auch Verantwortung tragen und nicht nur Gefühlspolitik treiben.“7′ Seine Kritiker konnte er damit nicht überzeugen. Sie meinten, die gouvernementale Ausrichtung der Partei habe sich nicht ausgezahlt. Fleck plädierte dafür, daß die SPD in die Opposition gehe. Erler verlangte die Einberufung eines Parteitages, der _ über den zukünftigen Kurs der Partei entscheiden sollte”?. Schmid widersprach. Er lasse sich keine „gebundene Marschroute“ vorschreiben. Für ihn kam nur eine große Koalition in Frage, die schließlich „keine Liebesehe“ sei, sondern „vernunftgemäßes Zusammenarbeiten, um bestimmte Aufgaben zu lösen“’3. Schmid wiegte sich in der Hoffnung, er könne, wenn die SPD sich in den Koalitionsverhandlungen geschlossen hinter ihn stellte, Regierungschef bleiben. Seinen Appell, um das Präsidentenamt zu kämpfen, unterstrich er mit der Feststellung: „Wir sollten die Führung durch den Staatspräsidenten nicht unterschätzen, da in den kommenden Monaten der Staatspräsident eine wichtige Aufgabe bei der Gestaltung Deutschlands haft).“”* Er war der einzige Politiker Württemberg-Hohenzollerns, der außerhalb der französischen Zone Ansehen genoß. Ihm war wohl auch klar: Wenn die SPD in die Opposition ging, war es für ihn fast unmöglich, auf überzonaler Ebene Einfluß zu gewinnen.
Die Franzosen hätten es begrüßt, wenn Schmid Regierungschef geblieben wäre”5, Sie vermieden aber jede Einmischung in die Koalitionsverhandlungen, obwohl Schmid ihnen wohl nicht ohne Absicht zu verstehen gab, daß die Oppositionsrolle für die SPD nur Vorteile brächte”°. Die Koalitionsverhandlungen führten Gebhard Müller und Victor Renner, der gleich zu Beginn erklärte, daß „für das Land kein besseres Staatsoberhaupt gefunden werden könne als Staatsrat Schmid“’’. Müller machte erst gar nicht den Versuch, zu widersprechen, sondern drückte sein Bedauern darüber aus, daß der Landesvorstand und die Fraktion der CDU aus „Prestigegründen“ Anspruch auf das Amt des Staatspräsidenten erhoben” ®. Das Bedauern mag nicht ganz aufrichtig gewesen sein, denn Müller machte sich zu diesem Zeitpunkt noch selbst Hoffnungen auf das Amt des Staatspräsidenten. Immerhin: er war zu Konzessionen bereit. Schmid sollte auch in Zukunft als eine Art Außenminister die zonalen und interzonalen Verhandlungen führen.
Ein Staatspräsident Schmid war nicht durchzusetzen. Wenn er den Nimbus eines Landesvaters gehabt hätte, wäre es vielleicht möglich gewesen, Druck auf die CDU auszuüben. Doch Schmids Mentalität unterschied sich zu sehr von der der Schwaben, als daß sie ihn als Landesvater verehrt hätten. Trotz dieses für ihn enttäuschenden Verhandlungsergebnisses beschwor Schmid die Genossen im Landesvorstand, die Bildung einer Großen Koalition zu unterstützen. Er gab zu bedenken: „Wie wollen wir eine scharfe Opposition durchführen angesichts der im Hintergrund stehenden Besatzung, die doch endgültig über alle Fragen entscheidet?“ Die Mehrheit folgte der Empfehlung ihres Landesvorsitzenden, obwohl sie gegen die von Kurt Schumacher ausgegebene Richtlinie verstieß, daß Koalitionen nur unter sozialdemokratischer Führung eingegangen werden sollten°°, und die CDU wider Erwarten nicht Gebhard Müller sondern Lorenz Bock als Staatspräsidenten nominierte. Das war nicht nur für Gebhard Müller ein Schock. Auch die sozialdemokratischen Landtagsmitglieder, einschließlich Carlo Schmid, kostete es viel Überwindung, am 8. Juli Bock ihre Stimme zu geben. Schmid stellte erbittert fest, daß Bock die „reaktionärsten Leute“ für die Regierungsstellen ausgesucht hatte®“. Er, als Stellvertreter Bocks und Justizminister, und sein Freund Victor Renner als Innenminister waren die einzigen Sozialdemokraten im Kabinett. Die Machtverteilung hatte sich ganz erheblich zugunsten der CDU verändert.
Trotzdem strahlte Carlo Schmid Optimismus aus: Auch als Vizepräsident werde er die Fäden der Regierungspolitik in der Hand behalten, erklärte er kurz nach der Wahl Bocks Saint-Hardouin®2. Es war Zweckoptimismus. Gar so überzeugt von seiner Durchsetzungsfähigkeit innerhalb der Regierung war er nämlich nicht. Seinem Freund Gustav Wichtermann schrieb er: „In der Regierung bin ich nun wieder drin. Ob es recht war, wird sich zeigen; ganz wohl ist es mir nicht.“ Im übrigen verlagere sich das Feld seiner Tätigkeit immer mehr auf die „Reichsaufgaben“ *3. Er hatte durchaus Ambitionen, sich auf „Reichsebene“ zu profilieren, wenn er auch im Frühjahr 1947, als der Verfassungsstreit an seinen Nerven zehrte, einmal kurze Zeit mit dem Gedanken geliebäugelt hatte, sich ganz aus der Politik zurückzuziehen. Ernst Jünger hatte er vertraulich mitgeteilt: „Die Merkur-Leute möchten mich zum Mitarbeiter haben und sie haben sogar vor, diese Zeitschrift zu meinem Sprachrohr zu machen. Mich lockt das Angebot, aber vorderhand ist nicht abzusehen, wann ich die Zeit finden könnte, die ich zum Schreiben brauche. Immerhin mag je nach dem Ergebnis der Wahlen der Sommer eine Wendung zum Privaten bringen und dann vogue la galere!“ ®+ Die Zeitschrift „Merkur“ war Anfang 1947 von dem Verleger Hans Paeschke gegründet worden, der aus ihr eine „Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“ machen wollte. Die Zeitschrift stand in der Tradition des in der Weimarer Republik erschienenen „Neuen Merkur“, der sich um eine Vermittlung von französischem und deutschem Geistesleben bemüht hatte. Als Mitarbeiter des „Merkur“ hätte Schmid seine künstlerischen Neigungen entfalten und obendrein politisch bildend wirken können. Doch die Politik reizte ihn trotz aller Widrigkeiten, die sie mit sich brachte, mehr. Noch hoffte er, der Bundespolitik ähnlich seinen Stempel aufdrücken zu können wie der württembergisch-badischen Verfassung. Es konnte sein, daß er scheiterte. Aber dann konnte er wenigstens mit dem Bewußtsein aus der Arena gehen, „sich nicht geschont“ zu haben°>.
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