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1896-1979 eine Biographie : Die zweite industrielle Revolution

Man solle nicht auf ein außenpolitisches Scheitern Adenauers warten, sondern sich verstärkt der Innenpolitik zuwenden. Schmid hatte der Partei wieder einmal Ratschläge erteilt, die sie diesmal auch zu beherzigen schien. 1956 war die SPD bestrebt, sich auf den Gebieten der Sozial-, Wirtschafts- und Kulturpolitik als versierte Regierungsalternative darzustellen. Die Kölner Tagung Anfang 1956, auf der Deist, Schellenberg und Arndt zu wirtschafts-, sozial- und kulturpolitischen Gegenwartsaufgaben sprachen, konnten die Sozialdemokraten als Erfolg verbuchen?. Schmid war befriedigt, daß sich endlich einiges in der Partei tat. Mit Genugtuung stellte er fest, daß Dinge, die man ihm vor einem Jahr „noch sehr übel genommen“ hätte, nun vom Parteivorsitzenden öffentlich erklärt wurden’. Freilich, im selben Atemzug beklagte er, daß er „im Wirbel der Geschäfte“ zu wenig Zeit finde, um einen „innerparteilichen Feldzug“ für seine Ideen zu führen*. Die SPD mußte aber nicht nur Ballast abwerfen, was sie allmählich auch tat, sie mußte sich auch den Zukunftsaufgaben stellen. Robert Jungks science fiction „Die Zukunft hat schon begonnen“ wurde in den soer Jahren zum Bestseller. Waldemar von Knoeringen hatte das Thema zweite industrielle Revolution in die innerparteiliche Diskussion gebracht. Auf Initiative des bayrischen SPD-Landesvorsitzenden befaßte sich die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Akademiker ı955s mit dem Thema „Weltmacht Atom“, das von der bayrischen SPD schon bald aufgegriffen wurde’. Schmid brachte das Thema von München nach Bonn. Er wollte dort dafür Sorge tragen, daß in der Geschäftigkeit der aktuellen Tagespolitik die einmal wahrgenommenen Zukunftsaufgaben nicht wieder aus dem Blick gerieten. Im Sommer 1955 hatte er sich erstmals in einem Vortrag vor der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Akademiker in München mit den Herausforderungen der Politik im Atomzeitalter auseinandergesetzt. Das Thema zweite industrielle Revolution streifte er nur am Rande. Im Zentrum seines Vortrags stand die internationale Politik im Zeitalter der Atomwaffen. Erst am Schluß seines Referats kam er noch auf die internationale Organisation und Kontrolle der Produktion der Atomenergie zu friedlichen Zwecken zu sprechen. Aus ökonomischen wie auch aus sicherheitspolitischen Gründen hielt er eine internationale Planung und Kontrolle der Energiepolitik für unbedingt notwendig. Wie aber sollte diese aussehen? Vielleicht eine „Art von riesiger Tennessee-Valley-Organisation“ ®. Sehr konkret war es nicht, was er dazu zu sagen hatte. Aber die kurz zuvor verabschiedete Messina-Resolution der sechs Montan-Union-Staaten war noch weitaus unverbindlicher. Dort’’hatte man sich lediglich darauf geeinigt, die Frage einer gemeinsamen Organisation zur friedlichen Entwicklung und Nutzung der Kernenergie zu untersuchen. Gegen die Einsetzung einer gemeinsamen zentralen Behörde waren starke Vorbehalte laut geworden’. Auch innerhalb der Bundesregierung war die Errichtung eines europäischen Atompools umstritten. Schmid fühlte sich daher bemüßigt, einige Wochen nach der Messina-Konferenz im Bundestag die Notwendigkeit einer europäischen Energiekooperation nachhaltig zu verteidigen. „Es ist kaum anzunehmen, daß einer der europäischen Staaten für sich allein in der Lage sein wird, so viel Atomenergie zu erzeugen, als

er braucht, um den Wettbewerb mit den besser situierten Staaten anderer Kontinente aufrechtzuerhalten.“® Allein schon aus wettbewerbspolitischen Gründen sei es deshalb unumgänglich, die Herstellung atomarer Energie für friedliche Zwecke zu internationalisieren. Auch die Gefahren, die von der Atomenergie ausgingen, ließen eine europäische Kooperation ratsam erscheinen. Schmid gehörte zu den wenigen, die schon Mitte der soer Jahre auf das Problem des Atommülls aufmerksam machten: „Nicht nur im Krieg kann die Bevölkerung von den radioaktiven Zerfallsprodukten atomarer Reaktionen heimgesucht werden; auch im Frieden können immer weitere Kreise durch Abfallstoffe bedroht werden, die das radioaktive Gift weitertragen.“? Die Warnungen erfolgten früh, wurden aber erst spät ernst genommen. Auch in der SPD überwog damals die Atomeuphorie. Die neue Energie versprach Wohlstand für alle. Die Ausnutzung der Atomenergie für kriegerische Zwecke galt es dagegen, darüber war man sich in der SPD einig, zumindest in den Ländern, die noch keine Atommächte waren, zu verhindern. Diesem Anliegen entsprach der Anfang 1956 von Jean Monnet entworfene Plan zur Errichtung einer europäischen Atomenergiekommission, die den friedlichen Charakter der Nutzung der Kernenergie überwachen sollte und darüber zu bestimmen hatte, wer über Kernbrennstoffe verfügen durfte. Die SPD begrüßte den Vorschlag Monnets und unterstützte damit erstmals aktiv die europäische Teilintegration. Während innerhalb der Bundesregierung die kritischen Stimmen gegen dieses Projekt immer lauter wurden, focht Schmid, der zu dieser europapolitischen Wende der SPD einiges beigetragen hatte, im Bundestag im Namen der SPD für die Verwirklichung von Euratom. Euratom war eine wichtige tagespolitische Aufgabe, aber eine Lösung der mit der zweiten industriellen Revolution aufgeworfenen Fragen bot diese Atomenergiekommission nicht. Atomkraft und Automation waren globale Herausforderungen, die auch eine Neudefinition des Sozialismus, der eine Antwort auf die erste industrielle Revolution war, verlangten. Carlo Schmid strebte nicht an, ein neuer Marx zu werden. Er wollte jedoch auf dem Münchener Parteitag, auf dem er das Referat über die Auswirkungen der zweiten industriellen Revolution zu halten hatte, dem „europäischen Sozialismus ein neues Leitbild“ geben“. Sein Vorredner war der Staatssekretär im Wirtschafts- und Verkehrsministerium in Nordrhein-Westfalen Leo Brandt, der u.a. Vorsitzender der Gesellschaft zur Förderung der kernphysikalischen Forschung und des Ausschusses für Fragen der Atomenergie beim Parteivorstand war. Die Parteitagsregisseure taten gut daran, Leo Brandt zuerst sprechen zu lassen. So folgte dem Fortschrittsoptimisten der Fortschrittsskeptiker, dem Naturwissenschaftler der Humanist. Brandt pries die friedliche Nutzung der Atomenergie als zweite „prometheische Tat“ und beklagte das Hinterherhinken der Bundesrepublik auf den Gebieten der Forschung, insbesondere der Atomforschung, und bei der Anwendung der Automation. Sein Referat schloß mit einem Appell an die Bundesregierung, in die Zukunft zu investieren‘?. Diesen Aufruf konnte Schmid nur unterschreiben. Ein neuer Maschinenstürmer war er trotz seiner kulturkritischen Betrachtung der Moderne nicht. Allein schon aus Konkurrenzgründen seien die Unternehmer gezwungen, ihre Betriebe so rasch wie möglich zu automatisieren’3, Aber es grauste ihm vor einer „erbarmungslosen Gewaltherrschaft der Technokraten“, wie sie George Orwell in „seinem schrecklichen Zukunftsroman 1984“ so „schauerlich gezeichnet“ hatte’*. Die Automation konnte Segen oder Fluch sein. Sie mußte zum Fluch werden, wenn man vor der technischen Entwicklung einfach kapitulierte. Ohne Zukunftsplanung mußten die destruktiven Folgen der technischen Entwicklung überwiegen. Die Menschen hätten dann unter der zweiten industriellen Revolution genauso zu leiden wie unter der ersten. Wieder einmal blickte Schmid weit voraus. Mitten im Aufschwung, als Vollbeschäftigung herrschte und die ersten Gastarbeiter ins Land kamen, beschrieb er eindringlich die Gefahren einer neuen Massenarbeitslosigkeit durch eine Automatisierung der Betriebe. Zugleich mahnte er, die Warnungen der Wissenschaftler vor den ökologischen Schäden, die durch die neuen Produktionsmethoden verursacht wurden, ernst zu nehmen’S. Er betrieb keine Panikmache und gab auch kein Plädoyer für eine planwirtschaftliche Kommandowirtschaft ab. Er konnte sich auf namhafte Wissenschaftler wie den mit ihm befreundeten Basler Nationalökonom Edgar Salin und seinen Frankfurter Kollegen Friedrich Pollock, der einst mit Horkheimer das Institut für Sozialforschung gegründet hatte, berufen, wenn er das Erfordernis verantwortungsbewußter Planung betonte’°. Pollock hatte sich in den fünfziger Jahren mit den Auswirkungen der Automation in den USA und den Plänen der dortigen Gewerkschaften zur Überwindung der drohenden Massenarbeitslosigkeit beschäftigt. Schmid stellte auf dem Parteitag Vorschläge Pollocks wie z.B. den garantierten Jahresarbeitslohn und die Viertagewoche zur Diskussion. Die rechtzeitige Planung öffentlicher Arbeiten sei ebenfalls eine unverzichtbare Maßnahme, um einer zukünftigen Massenarbeitslosigkeit entgegenzuwirken. Bereits heute müsse man sich Gedanken über eine gezielte Berufslenkung und die Erneuerung der Ausbildungssysteme und Lehrmethoden machen’”. Die sozialen Probleme der zweiten industriellen Revolution schienen Schmid, soweit sie rechtzeitig angepackt wurden, leichter lösbar als die politischen und mentalen. Er konstatierte eine „unbestreitbare Affinität zwischen dem Denken des Ingenieurs und dem Denken der totalitären Machthaber“ ‚°. Technokratisches Denken war für ihn das Beet, auf dem

der Totalitarismus emporkeimte. Er sah es als eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben an, „in den Menschen die geistigen Werte der Demokratie so lebendig zu machen, daß das Bewußtsein ihrer Unverzichtbarkeit die Menschen gegen die Versuchungen, die in der Perfektion der Technik liegen, immunisieren kann“ ‚9. Solche technik- und kulturkritischen Überlegungen fanden zwar lebhaften Beifall, aber in der praktischen Politik kaum Beachtung. Die Kulturkritik der Zeit vor 1933 hatte der Pragmatismus der Aufbaujahre zum Verstummen gebracht. Über die Dialektik der Aufklärung, die Horkheimer und Adorno so eindringlich beschrieben hatten, dachte während der Zeit des Wirtschaftswunders kaum einer nach. Schmid fürchtete wie seine Frankfurter Kollegen, deren Abneigung gegen die moderne Massenkultur er teilte, eine „geistige und seelische Verödung“ durch die moderne Freizeit- und Kulturindustrie”°. Die Verkürzung der Arbeitszeit machte die Freizeit zum Problem. Schmids Warnung vor dem „Fluch der Langeweile“ mag mancher Parteitagsteilnehmer als Provokation empfunden haben. Noch kämpften die Arbeiter um die 40- Stunden-Woche. Schmid übernahm die Rolle der Kassandra. Die Zukunft der Demokratie hing seiner Überzeugung nach ganz entscheidend davon ab, ob die Arbeiter die Freizeit als Chance zur Emanzipation nutzten oder sich durch die moderne Vergnügungsindustrie manipulieren ließen?‘. Er, der in den Augen der meisten Mitglieder der Partei ein konservativer Realpolitiker war, träumte noch immer von einer Gesellschaft, in der die Menschen nicht mehr fremd-, sondern selbstbestimmt handelten. Der sozialdemokratische Reformer war im Innern seines Herzens ein radikaler Utopist und ein Optimist in seinem Vertrauen auf die Macht der Bildung. Die Menschen sollten dazu erzogen werden, „die Freiheit als die oberste Lebensmacht“ zu schätzen”. f Der Beifall, der ihm gespendet wurde, war wie immer überwältigend, aber auf die programmatischen Perspektiven, die er gezeichnet hatte, ging kaum einer ein. Die waren dem Großteil der Teilnehmer des Parteitags offensichtlich zu visionär. Die nachfolgende Diskussion mündete in eine Bildungsdebatte. Fast alle, die sich zu Wort meldeten, verstanden unter Bildung Ausbildung oder politische Bildung. Ihnen ging es vor allem um mehr Chancengleichheit. Trotzdem war Schmid mit dem Verlauf des Parteitags überaus zufrieden. Es war allein schon von der Thematik her ein ungewöhnlicher sozialdemokratischer Parteitag gewesen, der in der Öffentlichkeit ein breites zustimmendes Echo gefunden hatte”. Schmid wußte sogar, die Kontinuitätslinien zu den Anfängen der Arbeiterbewegung zu ziehen: Dieser Parteitag sei der „Urtradition“ der deutschen Arbeiterbewegung treu geblieben, die, „wenn man auf den Kern ihrer Motive geht, aus dem Bedürfnis der Menschen nach mehr Bildung und damit nach mehr Menschlichkeit entstanden“ sei*#.

Nur wenn die Arbeiterbewegung sich als Bildungsbewegung begriff, konnte sie zum Wegbereiter eines neuen Humanismus werden. Schmid hatte immer gehofft, daß die Gewerkschaften es sich zur Aufgabe machten, aus Wirtschaftsuntertanen selbstverantwortlich handelnde Wirtschaftsbürger zu machen. Nur durch die „schöpferische Zusammenarbeit“ der Gewerkschaften mit den staatlichen Organen waren die Probleme der zweiten industriellen Revolution zu lösen?s. Schmid richtete entsprechende Mahnungen und Appelle an die Gewerkschaften, auf deren Tagungen er häufig sprach. Die Gewerkschaften hatten eine Erziehungsaufgabe. Seit Schmid in den USA die letzten Überreste des closed-shop- Systems kennengelernt hatte, scheute er sich nicht, in der Öffentlichkeit für eine negative Koalitionsfreiheit einzutreten. Warum sollte ein Nichtmitglied in den Genuß der sozialen Früchte kommen, die die Gewerkschaft erkämpft hatte? Wer in den amerikanischen Gewerkschaften seinen Solidaritätspflichten nicht nachkam, war „in seiner Branche künftig ein toter Mann“ ”°. Nur so konnte seiner Ansicht nach das „Schmarotzertum“ überwunden werden?”. Wenn es um Gewerkschaftspolitik ging, war Schmid alles andere als ein verirrter Liberaler. Die Sozialutopie, die Ernst Jünger in seinem Essay „Der Arbeiter“ entworfen hatte, der von Proudhon entwickelte Gedanke der Arbeiterselbstverwaltung standen ihm noch immer näher als die Forderung nach dem Ausbau des sozialen Wohlfahrtsstaates”°. Seine Klagen, daß die Gewerkschaften ihre vornehmliche Aufgabe im Lohnkampf sahen und das Mitbestimmungsrecht lediglich als ein sozialpolitisches Problem verstanden, sind Legion”. Seine Mahnungen, sich mit den Problemen der zweiten industriellen Revolution zu befassen, fanden bei den Gewerkschaften weit weniger Beachtung, als er sich das gewünscht hatte. Resigniert stellte er fest, daß man ihm auf Gewerkschaftstagungen zwar Beifall spende, wenn er auf die mentalen und geistigen Gefahren der Automation aufmerksam mache, ‚aber „von diesem Beifall bis zur Bereitschaft bestimmte Dinge zu unternehmen“, sei es jedoch „ein weiter Weg“?°,. Nicht einmal die sozialen Probleme der Automation nahmen sie in Angriff. Auch für die Gewerkschaften war er mehr ein Schönredner, mit dem man sich auf den Tagungen schmückte als ein Prophet. Gewiß, er war nicht schuldlos daran. Seine zum Teil überzogene elitäre Kulturkritik ließ sich mit den sozialen Grundsätzen der Gewerkschaften und der Mentalität ihrer Mitglieder nur schwer vereinbaren. Weitsichtige Prophetie und geistesaristokratische Kritik an der Massendemokratie waren bei ihm eng verbunden. Konnte man als Sozialdemokrat die Massenkultur rundweg ablehnen? Er fand keine schlüssige Antwort darauf. Er litt unter der Massenkultur und fand keinen Zugang zu dem modernen Kulturbetrieb. Noch dreißig Jahre später dachte er mit Schrecken daran, daß die Partei ihn genötigt hatte, im: Berliner Sportpalast eine Rede über Friedrich Schiller zu halten. Obwohl er wußte, daß er vor einem recht unbedarften Publikum sprechen mußte, arbeitete er einen Vortrag aus, der vermutlich sogar Studenten überfordert hätte. Seine Zuhörer zwangen ihn, den Vortrag abzubrechen, was ihn aufs höchste empörte3!. Schmid verstand es nicht, leichte Kost für die breiten Massen zu produzieren. Als neues sozialistisches Leitbild wollte man innerhalb der SPD Schmids Münchener Referat nicht verstanden wissen, wenngleich es als Broschüre gedruckt und verteilt wurde. In das auf dem Parteitag verabschiedete Sieben-Punkte-Programm flossen freilich auch Vorschläge von ihm ein. Für verstärkte Investitionen auf dem Gebiet der Bildung und Forschung, insbesondere für eine verbesserte Begabtenförderung hatte er schon lange plädiert. Schon ı951 hatte er den Bundesinnenminister gemahnt, trotz Kulturföderalismus auf dem Gebiet des Schul- und Hochschulwesens initiativ zu werden, da die Hochschulen „provinziell“ zu werden drohten??. Den im Grundgesetz verankerten Kulturföderalismus hielt er für einen entscheidenden Konstruktionsfehler der Verfassung der Bundesrepublik’. Besonders am Herzen lag ihm die Errichtung eines deutschen Forschungsrates, der ein „Areopag der Wissenschaften“ oder, wenn man es modern ausdrückt, ein hochrangiges Kuratorium zur Technologiefolgenabschätzung sein sollte’*. Schmid sprach von „einigen dreißig unabhängigen Frauen und Männern“, die niemand anderem als ihrem Gewissen verantwortlich waren. Ihnen sollte es obliegen, die Tragweite wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Art ihrer Auswirkungen auf den Menschen, auf die Gesellschaft und den Staat zu beurteilen – „sowohl auf dem Gebiet des Materiellen, als auch auf dem Gebiet des Moralischen, des Geistigen“ ?°. Die Mitglieder des Forschungsrates waren vom Bundespräsidenten aufgrund der Empfehlungen von Parteien, Verbänden und gesellschaftlichen Gruppen zu ernennen. Seine Überlegungen zum Problem der wissenschaftlichen und politischen Autorität dieses „Areopags“, dem eine große politische Verantwortlichkeit zugekommen wäre, waren noch etwas unausgegoren. Deutlich wurde sein Wunsch nach einer engeren Kooperation von Wissenschaft und Politik, die freilich nicht in blinde Wissenschaftsgläubigkeit münden durfte. Ein Vorstoß auf dem Gebiet der Wissenschaft und Bildung war nicht nur von der Sache her geboten. Zuweilen stellte sogar Schmid parteitaktische Überlegungen an. Den Parteifreunden versuchte er einsichtig zu machen, daß die SPD auf diesem Gebiet die Meinungsführerschaft erobern müsse, was ihr im Wahlkampf erhebliche Stimmengewinne bringen könne?°, Eine große Bundestagsdebatte über die in München verabschiedete Parteitagsresolution müsse erzwungen werden. Die SPD solle konkrete Anträge einbringen, die auch finanzielle Deckungsvorschläge enthalten müßten?”. Schmid packte das Thema mit einer Verve und Entschlußkraft an, als ob es um einen politischen Neuanfang ginge. Adenauer mit seinem ausgeprägten Machtinstinkt erkannte sofort, daß die SPD ein Zukunftsthema, mit dem man Wähler gewinnen konnte, aufgegriffen hatte. Mit Ingrimm las er in den Zeitungen, daß Schmids Vorträge über Atomkraft und Automation ein großes Echo fanden und er so der SPD ein Image der Wissenschaftlichkeit verschaffte. Sogleich suchte der CDUVorsitzende nach „wissenschaftlichen Größen“, die sich die CDU „ins Knopfloch“ stecken konnte. Schmids Rat, die Parteitagsresolution in konkrete Bundestagsanträge umzuformulieren, wurde im Dezember auf einem Kongreß in Düsseldorf, der unter dem Motto „Die Mobilisierung des Geistes“ stand, befolgt”. Er selbst lag, durch einen Schlaganfall halbseitig gelähmt, in der Bonner Universitätsklinik. Leo Brandt hielt das Referat über die Errichtung eines deutschen Forschungsrates, das er hatte halten wollen. Mit dem Ergebnis des Düsseldorfer Kongresses, an dessen Vorbereitung er noch beteiligt war, konnte er trotz allem zufrieden sein. Die Parteifreunde hatten in seinem Geist gehandelt und ihm sogar ein Grußtelegramm übersandt*°. Der in Düsseldorf ausformulierte Antrag zur Errichtung eines Forschungsrates wurde im Bundestag gestellt, kam aber nicht durch. Die Bundesregierung zog es vor, einen Wissenschaftsrat ins Leben zu rufen, dem die weniger anspruchsvolle Aufgabe zukam, die finanziellen Interessen zwischen Bund und Ländern zu koordinieren*‘. Die SPD begrub den Antrag sang- und klanglos. Als Schmid im Frühjahr 1957 wieder in die Politik zurückkehrte, war das Interesse des Parteivorstandes an dem Thema zweite industrielle Revolution schon völlig erlahmt*?. Es half auch nicht, daß er versuchte, das Thema in dutzenden von Vorträgen wieder in die Diskussion zu bringen. Sein Parteitagsreferat kam in die Aktenablage der Programmkommission. Die Ziehväter des Godesberger Pro- ‚ gramms hatten nicht die Zukunft im Visier, sondern die Gegenwart und manchmal vielleicht sogar etwas die Vergangenheit.

Begegnung mit der Dritten Welt

War die zweite industrielle Revolution auch der Auftakt zu einer Revolution der Weltordnung? In zahlreichen wissenschaftlichen Studien der soer Jahre wurde das rasche Aufholen der Entwicklungsländer gegenüber den Industriestaaten der westlichen Hemisphäre prognostiziert. Die Industrialisierung werde sich in den Ländern der Dritten Welt durch die Nutzbarmachung der Atomenergie und die Einführung automatisierter Produktionsprozesse weitaus schneller vollziehen als in Europa. Es zeigte sich schon bald, daß in all diesen Studien die Entwicklungsmöglichkeiten der Länder der Dritten Welt viel zu optimistisch beurteilt worden waren. Als Carlo Schmid im Herbst 1956 Pakistan und Indien mit eigenen Augen gesehen hatte, mochte er diesen Prognosen, von denen er im Sommer noch selbst ausgegangen war, keinen Glauben mehr schenken“. Seine Einsicht, daß Europa nicht mehr das Gravitationsfeld der politischen Entscheidungen war, daß ein neues polyzentristisches Staatensystem sich entwickelte, brauchte er nicht zurückzunehmen. Nicht ohne Wehmut stellte er, der von der Überlegenheit des europäischen Abendlandes zutiefst überzeugt war, fest, daß die europäischen Staaten „in der neu entstandenen politischen Welt, nicht mehr Geschichte machen können, sondern sich damit begnügen müssen, Geschichte zu erleiden“?. Doch er hatte auch den Mut, offen auszusprechen, was viele nicht wahrhaben wollten: Das Zeitalter des Kolonialismus war zu Ende?. Wenn die Europäer weiter als Kolonialherren auftraten, spielten sie der Sowjetunion in die Hände. Diese führe ihre „Weltoffensive“ nicht mehr durch „Flugzeuge und Panzerwagen“, sondern durch „Freiheitsparolen“ *. Die europäischen Staaten seien sowohl aus humanitären als auch aus politischen Gründen dazu verpflichtet, den Emanzipationsprozeß der ehemaligen Kolonialvölker zu unterstützen. Schmid richtete seine Mahnungen vor allem an die Adresse Frankreichs. Die konservativen Kräfte in Frankreich mochten nicht einsehen, daß der Algerienkonflikt mit militärischen Mitteln nicht zu lösen war. Wenn der Emanzipationsprozeß in Nordafrika ohne Blutvergießßen vonstattengehen sollte, mußten in dieses Gebiet große Beträge investiert werden. Weil Frankreich diese Beträge nicht allein aufbringen konnte, schlug Schmid einen europäischen Marshallplan zugunsten der unterentwickelten Länder vor. Schmid dachte wohl zunächst nur an einen Marshallplan für Nordafrika, erklärte jedoch schon bald, daß sich die Hilfe auf alle unterentwickelten Länder erstrecken müsse®. Dieser Hilfe dürfe nicht das „Stigma eines aggressiven Antibolschewismus“ anhaften’. Schmid hatte guten Grund, dies ausdrücklich zu betonen. War doch damals oft von der „Entscheidungsschlacht zwischen Ost und West in der Seele des schwarzen Mannes“ die Rede?. Obwohl auch Schmid den Einfluß der Sowjetunion in der Dritten Welt zurückdrängen wollte, war er dagegen, die Hilfeleistungen an politisches Wohlverhalten zu knüpfen. Aus nüchtern pragmatischen Überlegungen sprach er sich für die Einführung gemeinwirtschaftlicher Unternehmensformen in diesen weitgehend von der Agrarwirtschaft lebenden Ländern aus: „Kapitalistische Wirtschaftsformen würden in diesen Ländern nicht die Herrschaft eines freiheitsliebenden, aufgeklärten Bürgertums bringen, sondern das menschenverachtende Regime der Paschas.“? Weil Entwicklungshilfe unpopulär war, wies er in Reden und Vorträgen immer wieder auf die Mitverantwortung der europäischen Staaten für die Länder der Dritten Welt hin.

Entwicklungspolitik war bisher in der Bundesrepublik überhaupt kein Thema der Politik gewesen. Bei den Etatberatungen im Frühjahr 1956 hatte die SPD-Fraktion erstmals einen Antrag zur Förderung wirtschaftlich unterentwickelter Völker gestellt. Der Forderung, die für die Entwicklungshilfe vorgesehenen 3,5 auf so Millionen zu erhöhen, stimmten nach anfänglichem Zögern auch die Fraktionen der Regierungskoalition zu’°. Die Gelder wurden im Haushaltsplan bereitgestellt. Eine klare entwicklungspolitische Konzeption hatte niemand. Wieder einmal ergriff Schmid, getreu seiner Devise, daß Politik darin bestehe, das Notwendige möglich zu machen, die Initiative. Zusammen mit einigen Parteifreunden wollte er eine sozialdemokratische Konzeption für die Förderung der unterentwickelten Länder erarbeiten“. Zunächst blieb es allerdings beim Plan. Schmids Abwesenheit in Bonn und seine lange Krankheit war wahrscheinlich nicht der einzige Grund dafür. Für eine Oppositionspartei, die nicht über den Expertenstab einer Ministerialbürokratie verfügte, war es schwierig, eine tragfähige Konzeption, die eine genaue Projektanalyse erforderte, zu entwickeln. Schmid selbst hätte einer europäischen Initiative den Vorzug gegeben, die aber nicht in Gang zu bringen war. Wie notwendig ein europäisches Entwicklungsprogramm war, zeigte die Suezkrise, die die Welt an den Abgrund des Dritten Weltkrieges brachte. Schmid war empört und geradezu zornig. über das Verhalten der Briten und Franzosen in der Suez-Krise. Von Anfang an war ihm klar gewesen, daß die Amerikaner die Briten und Franzosen zum Zurückweichen zwingen würden, aber wie hatten sie durch ihr Eingreifen „dem weißen Manne das Gesicht genommen“‘?. Er bezweifelte, daß Nasser sich durch die Nationalisierung der Suez-Kanal-Gesellschaft ins Unrecht gesetzt hatte. Er sei zur Enteignung berechtigt gewesen, falls er der von ihm abgegebenen Erklärung, eine Entschädigung zu zahlen, ‚ nachkomme’3. Die Meinungen der Völkerrechtler gingen hier, je nach politischem Standpunkt, weit auseinander’*. Auch der amerikanischen Regierung gab er Schuld am Ausbruch der Suezkrise. Sie hätte ihre Kreditzusage für den Bau des Assuanstaudammes nicht zurückziehen dürfen’s. Auf der Tagung der Interparlamentarischen Union in Bangkok nahm Schmid kein Blatt vor den Mund: „Den Staudamm von Assuan zu bauen, der dem Volke Ägyptens – eines Landes, dessen Bevölkerung sich in den nächsten zwanzig Jahren verdoppelt haben wird – erlauben würde, zu überleben, scheint mir ein besseres Mittel zu sein, unsere Zukunft vor den apokalyptischen Reitern zu bewahren, als Truppenlandungen in Suez und Port Raid.“’° Einigen Mitgliedern der deutschen Delegation ging Schmids Kritik an den Westmächten, die einer leidenschaftlichen Parteinahme für die Länder der Dritten Welt entsprang, zu weit!”. Die SPD nahm in ihren öffentlichen Stellungnahmen Rücksicht

auf die französischen Sozialisten’®. Der Bundeskanzler, der noch immer dem Kolonialdenken früherer Zeiten verhaftet war, begrüßte die Suez- Intervention vorbehaltlos’”. Als der Suez-Konflikt ausbrach, befand sich Schmid auf dem indischen Subkontinent. Mitte Oktober war eine Bundestagsdelegation nach Pakistan und Indien aufgebrochen, um sich über die Probleme der Dritten Welt aus eigener Anschauung zu informieren. Von der SPD nahmen zahlreiche Abgeordnete der Führungsgarnitur an der Reise teil. Schmid befand sich in Gesellschaft von Ollenhauer, Erler, Menzel, Mommer und Heinz Kühn, als er Ende Oktober nach Karatschi, der ersten Station der Reise, abflog. Daß die Menschen der Dritten Welt in bitterer Armut lebten, war allgemein bekannt. Aber wie unvorstellbar groß das Elend in diesen Ländern war, hatte auch Schmid, der außer in der Türkei noch in keinem Land des asiatischen Kontinents gewesen war, sich nicht ausmalen können. Beim Anblick der Hüttenmassen der Heimatvertriebenen in Pakistan packte ihn „Grausen“ und „Scham“, daß die Europäer es ertragen konnten, daß ihresgleichen so leben mußten”. Wie konnte man, ohne abgestumpft zu sein, ein solches Elend hinnehmen? Nach der ersten Rundreise durch Pakistan berichtete er seiner Frau: „Diese Reise werde ich nicht vergessen. An Schönheit hat sie mir bisher außer dem Sonntag am Ozean gar nichts gebracht, im Gegenteil: nur Häßlichkeit. Aber sie hat mir gezeigt, in welch unvorstellbarer Armut ein Drittel oder noch mehr der Menschheit lebt. Wenn wir Europäer es ertragen, daß Menschen zu Geziefer degradiert werden, verdienen wir von ihm aufgefressen zu werden. Wir haben uns nicht nur Flüchtlingslager angesehen, Mist- und Müllhaufen, in denen Menschen herumkriechen, nein, ich habe Wert darauf gelegt, das Normaldorf zu sehen. Da sieht es nicht viel anders aus. Der Unterschied ist eigentlich nur, daß der Müll dort ein wenig lockerer liesth = Mufßte für diese Leute nicht „jedes bolschewistische System“ ein „Fortschritt“ sein??” Die Polizeistationen, in denen „wohlgenährte Sikhs“ Dienst taten”, waren nicht der einzige Grund, daß in einem Land wie Pakistan keine kommunistische Revolution ausbrach. Schmid, der immer nach den geistigen Wurzeln der Politik fragte, erkannte schnell, daß die Menschen in diesen Ländern in anderen Kategorien dachten als die Europäer. Die überragende Rolle, die die Religion in diesen Ländern spielte, wurde ihm sofort bewußt: „Man lasse sich nicht.durch die Umgangsformen in den Clubhäusern und in den Hotels täuschen! Die Religiosität der Moslems Pakistans sitzt sehr tief.“?* Er prophezeite den Ausbruch von Konflikten zwischen der westlich orientierten Oberschicht und den religiös- fundamentalistisch eingestellten Moslems. Es sei kaum damit zu rechnen, daß in einem Land wie Pakistan sich die westliche Kultur durchsetzen werde. Viel eher sei zu befürchten, daß es in diesen Ländern einmal

zu einem „schlimmen Sichauflehnen des religiösen Fanatismus“ kommen werde*°. Er sollte recht behalten. Noch mehr als in Pakistan war in Indien das Leben der Menschen von Religion durchtränkt. Der Obmann der Kastenlosen in Neu Dehli erklärte den Indienbesuchern: Sie „sollten doch um Gottes willen sie (die Kastenlosen) nicht in Versuchung bringen, ihre Kastenlosigkeit zu überspringen und damit ihr Dharma zu verändern. Wenn sie das täten, dann würden sie (die Kastenlosen) sicher unter dem Rang des Menschen wieder verkörpert werden.“ ?% Der Hinduismus verhinderte gesellschaftliche Veränderungen und erschwerte selbst die Durchführung ganz bescheidener Reformmaßnahmen. Sarkastisch konstatierte Schmid: „Mit solchen Religionen kann man vortrefflich über Millionen Armer herrschen – hat sich doch jeder seinen ‚Stand‘ im letzten Leben durch sein Tun ‚verdient‘. #7 Neu Dehli, Agra, Japur, das Radschputenland, Benares und Kalkutta waren die Hauptstationen der Reise durch Indien. Fürchterlich war das Elend in Städten wie Benares und Kalkutta. Carlo Schmid war zutiefst erschüttert, daß Menschen unter solch unmenschlichen Lebensbedingungen hausen mußten. Konnte „ein weiches Herz“ ein solches Elend ertragen, „ohne abgestumpft zu werden“ ?”® Schmid richtete die Frage an sich selbst. Schon während der Reise hatte er sich Gedanken gemacht, auf welche Weise diese Not gemildert werden könne. Nach der Reise faßte er seine Überlegungen in drei Artikeln, die in der „Zeit“ abgedruckt wurden, zusammen. Als wichtigsten Grundsatz hielt er fest, daß bei allen Hilfsmaßnahmen auf die mentale Struktur der Bevölkerung Rücksicht genommen werden müsse: „Wir würden etwas Schlimmes anstellen, wenn wir die Technisierung der Länder so durchführten, daß dabei die religiösen Werte, der religiöse Glaube, dem die Menschen dort anhängen, verlo- ‚ renginge.“ ”” Jede Hilfeleistung erfordere die vorherige Herstellung der notwendigen Infrastruktur. Dies hatte die Bundesregierung bei ihren ersten Entwicklungshilfeprojekten übersehen. Sie machte den Fehler, moderne Großtechnik in die Entwicklungsländer zu exportieren. Schmid schier die Einführung des eisernen Pfluges anstatt des bisher üblichen Holzpfluges wichtiger als der Bau von Stahlwerken?°. Die Bundesregierung täte besser daran, in Indien Maschinenbauschulen zu errichten als den Bau von technischen Hochschulen zu fördern. Die Einrichtung von Lehrwerkstätten und landwirtschaftlichen Genossenschaften sei vorrangig zu unterstützen?‘. Er machte darauf aufmerksam, wie wichtig für ein Land wie Indien, in dem die Bodendüngung noch so gut wie unbekannt war, Düngemittelhilfen waren. In Pakistan wie in Indien sei ihm von maßgebenden Leuten gesagt worden, daß man es ablehnen werde, die „politische Fremdherrschaft“ durch eine „ökonomisch-kapitalistische Fremd herrschaft von morgen“ zu vertauschen??. Schmid entwarf ein alternatives Entwicklungskonzept, das an den Bedürfnissen des jeweiligen Landes ausgerichtet war. Ihm war klar geworden, daß sich in einem Land wie Indien eine moderne Staatsräson nicht ausbilden werde, solange dort der Hinduismus das Leben der Menschen beherrschte??. So gehörte er zu den ersten Befürwortern einer autozentrierten Entwicklung der Länder der Dritten Welt. Selbst Adenauer war beeindruckt von Schmids Überlegungen’*. Es sollte aber noch einige Zeit dauern, bis sie Eingang in die offizielle Entwicklungspolitik fanden. Von Schmids Hoffnung, daß die Entwicklungsländer den industriellen Rückstand schnell aufholen könnten, war nichts mehr zu spüren. Verzweiflung kam durch bei allem, was er über Pakistan und Indien schrieb: „In Indien können die Dinge nur dann besser werden, wenn es gelingen wird, eines Tages die Reisschüssel der Bauern und die des Arbeiters zwei Finger breit höher mit Reis zu füllen.“3® Würde Europa dieser Aufgabe gewachsen sein? Wenn nicht, würden sich die Folgen der Not auch über Europa ausbreiten. Manchmal kam bei Schmid eine Furcht vor dem Untergang des Abendlandes hoch. Die Reise war anstrengend und mit bitteren Einsichten und Erkenntnissen verbunden. Knapp eine Woche Pakistan, zwei Wochen Indien. Oft war man auch bei Nacht mit der Bahn oder dem Wagen unterwegs. Nur ein Tag am Meer diente der Erholung. Schmid streifte an den Ufern Sindbads, des Seefahrers, entlang, während die anderen Skat spielten. Er sah es mit Kopfschütteln37. Über die Schönheit der Moscheen, Pavillons, Tempel und Paläste hat er in seinen Erinnerungen viel geschrieben?®. Fasziniert und überwältigt war er vom Flug über den Nanga-Parbat, das Industal, Tibet und den Pandschab: „Es war herrlich -— aber das Entsetzen vor der Ur-Welt, aus der ich kam, wollte nicht weichen! Ich habe die Pilger gut verstanden, die, unter uns sitzend, keinen Blick aus den Fenstern hinaus getan hatten und immer nur ihre Zaubersprüche gegen die Welt der Dämonen murmelten …“39 Traum- und Urwelten fesselten auch den fast schon 6ojährigen noch. . Von Rawalpindi aus war man losgeflogen in einem Flugzeug ohne Überdruckkabine. Nach dem Flug klagten einige Delegationsmitglieder über Kreislaufbeschwerden, auch Schmid, der von einer Thrombose noch nicht ganz genesen war. Gewohnt, mit seiner Gesundheit Raubbau zu treiben, fuhr er trotzdem mit den anderen noch eine Woche kreuz und quer durch Indien. Am 15. November flog man ab nach Bangkok, um an der Tagung der Interparlamentarischen Union teilzunehmen. Einen Tag später rief er die dort Versammelten dazu auf, vor dem Elend in der Dritten Welt nicht die Augen zu verschließen. Er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß die Industriestaaten sich doch noch zu einem Marshallplan für die Länder der Dritten Welt bereit finden könnten‘°. Drei

Tage später fiel ihm morgens beim Rasieren der Rasierpinsel aus der Hand. Beim Frühstück konnte er nicht mehr nach dem Messer greifen. Man brachte ihn ins Krankenhaus®‘. Die Ärzte stellten fest, daß er einen Schlaganfall erlitten hatte.

Persönliche Schicksalsschläge und Entscheidungen

Im Krankenhaus verschlimmerte sich der Zustand Schmids, der völlig niedergeschlagen und deprimiert war. Zunächst war nur der rechte Arm gelähmt, einige Tage später kamen Lähmungserscheinungen im rechten Bein und eine Behinderung des Sprechvermögens hinzu‘. Der Flug in einer Maschine ohne Überdruckkabine war nur der Auslöser für den Schlaganfall gewesen. Schmid war schon seit längerer Zeit gesundheitlich angeschlagen, litt wiederholt unter „ziemlich bösen Herzgeschichten“?, Im Frühjahr 1956 befiel ihn auch noch eine Thrombose. Die Parteifreunde mahnten ihn, sich zu schonen, und monierten im gleichen Atemzug, daß er zuwenig Zeit für die Partei und den Wahlkreis investiere?. Die Ärzte überhäuften ihn mit guten Ratschlägen. Resigniert antwortete er, den einzig wirklich guten, den sie ihm geben könnten, „nämlich aus der Galeere Politik herauszugehen“, den könne er nicht annehmen“. Die Politik allein war es nicht, die ihn zermürbte. Familiäre Spannungen und Konflikte kamen hinzu. Die Trennung von seiner Frau war überfällig. Im Juni 1956 ging es ihm gesundheitlich so schlecht, daß er den stellvertretenden Vorsitz im Auswärtigen Ausschuß an Wehner übergeben mußte. Im gleichen Monat verfaßte er sein Testament und setzte Willi Klinkert, einen Bekannten aus Liller Zeit, zum Testamentsvollstrecker ein. Er beauftragte Klinkert, nach seinem Tod den „Kindern das zuzuteilen, das sie brauchen, um jedem nach seiner spezifischen Eigenart die ihm gemäße Ausbildung zukommen zu lassen“. Vier Wochen, nachdem er Klinkert seinen Letzten Willen mitgeteilt hatte, beging sein Sohn Raimund im Alter von 21 Jahren Selbstmord. Der Junge hatte in Bonn Jura studiert und beabsichtigte, nach Ablauf des Semesters nach Hamburg überzuwechseln. Am 17. Juli 1956 war er zu einem Beratungsgespräch nach Hamburg eingeladen. Weil er das Fahrgeld, das ihm sein Vater gegeben hatte, sparen wollte, versuchte er zu trampen. Die Polizei beobachtete ihn und verlangte seine Ausweispapiere. Als sie näher kam, stürzte sich Raimund Schmid in ein Messer und verblutete®. Eine spontane Panikreaktion? Nicht nur. Raimund Schmid trug sich schon seit längerer Zeit mit Selbstmordgedanken. Sein Vater hatte sich deshalb bereits 1954 darum bemüht, ihm einen Studienaufenthalt in den USA zu ermöglichen. Er hoffte, daß ein radikaler Wechsel der Umgebung ihn von seinen Selbstmordgedanken abbringen könnte’. Die Angst um

seinen Sohn lastete schwer auf Carlo Schmid. Er wußte manchmal nicht, wie er damit fertig werden sollte”. Raimund ‚Schmid war immer ein schwieriger Junge gewesen. Sein Vater hatte sich deshalb für eine Internatserziehung im Birklehof im Schwarzwald entschieden. Selbst hatte er ja nicht genügend Zeit, um sich ausreichend um seine Kinder kümmern zu können. Raimund Schmid scheint der Sohn seines Vaters gewesen zu sein. Ein Junge, der die moderne Massen- und Konsumgesellschaft ablehnte, der nach dem Sinn des Daseins suchte, ihn aber nicht fand. Als er seinem Leben ein Ende setzte, trug er Hölderlins Hyperion bei sich, den er auch sonst auf Gängen und Fahrten immer mit sich nahm?. Carlo Schmid war verzweifelt. Zwei Tage nach dem Tod Raimunds verfaßte er einen Abschiedsbrief an seine Frau, den seine Sekretärin ihr übergeben sollte, wenn er nach Ansicht der Ärzte vor dem Tod stand oder „plötzlich sterben“ sollte „wie Raimund“ ‚°. Dachte er an Selbstmord? Er wurde von Schuldgefühlen geplagt, die ihm das Weiterleben schwer machten. Heuss schrieb er, daß er sehr „unglücklich und ratlos“ sei. In ihm bohrten „böse Fragen“: „Wo und wann habe ich ein Glied in die Kette der Ursachenreihen eingefügt, die dann an jenem 17. Juli an der Spitze dieses Messers in den Kammern seines Herzens ausliefen?“'“ Wehner bat ihn, nicht zu verzweifeln. Es waren die einzigen Worte, die ihn damals erreichten‘?. Auch die Danksagung an Wehner zeugt von den Schuldgefühlen, die ihn quälten und nicht mehr loslassen sollten: „Ach, die Kinder der Galeerensklaven müssen wie Verbannte leben! Warum habe ich ihn nicht so ans Leben zu binden vermocht, daß es den Gegenmächten die Waage halten konnte? Die Antwort wird nur er mir geben können, aber ich werde sie erst hören können, wenn ich bei ihm bin.“ „3 Er versuchte weiterzuleben. Zunächst begab er sich in das Hessen-Sanatorium nach Bad-Nauheim, um dort Ruhe und Erholung zu finden. Die menschliche Fürsorge, die ihm dort immer zuteil wurde, brauchte er jetzt dringend. Bald stürzte er sich wieder in die politische Arbeit. Das war das beste Mittel, um die furchtbaren Schuldgefühle verdrängen zu können. Jetzt, da er in Bangkok in der Klinik lag, dachte er wieder an Raimund’*. Seiner Frau hatte er zunächst verheimlicht, daß er einen Schlaganfall erlitten hatte’‘. Drei Tage nach dem Schlaganfall schrieb er ihr dann doch die Wahrheit: „Die Prognose der Ärzte ist günstig, aber ich werde kaum vor 10 Tagen zurückfliegen können. Ich habe wohl einen kleinen Bluterguß ins Gehirn bekommen und er hat den rechten Arm gelähmt.“ ‚° Am 26. November konnte er schon wieder „einige Schritte gehen, freilich recht vorsichtig“ ‚7. Seine gesundheitlichen Fortschritte verdankte er seiner chinesischen Krankenschwester Susanna Lee, die sich unermüdlich um ihn kümmerte, ihn massierte und ihn obendrein in die chinesische Philosophie einführte’®. Die Tage flossen trotzdem zäh dahin. Gedanken an den eigenen Tod drängten sich auf. Vor allem machte er sich Sorgen

Schmid erläutert das im Rheinischen Landesmuseum ausgestellte Bild ö seines Sohnes Martin „Paar. 1968“
um die Kinder, denen er zunächst nichts von seinem Schlaganfall geschrieben hatte, um sie nicht zu erschrecken‘?. Schließlich bat er seine Frau, die Kinder herzlich zu grüßen. Sie sollten „sich keine Sorgen um ihre Zukunft machen“, Er hatte genug zurückgelegt, daß sie ihr Studium und ihre ‚ Berufsausbildung ohne finanzielle Sorgen beenden konnten. Hans, der Älteste, der Mediziner, weilte gerade zur Weiterbildung in den USA. Von Martin, dem Maler, sprach er oft mit Stolz, wenn er auch manchmal ungehalten darüber war, daß dieser sich, wie er meinte, zu wenig-Mühe gab, um seine Werke auch zu vermarkten‘. Beate hatte ein Jurastudium begonnen. Sie sattelte später um auf Heilgymnastik. Auch wenn er kaum Zeit für seine Kinder hatte, wollte er ihnen doch ein „guter Vater“ sein?” Wenn er sie dann sah, erdrückte er sie gelegentlich mit seiner „Obsorglichkeit“. Er wußte, daß er nicht immer die „richtige Sprache“ und die „richtige Gebärde“ fand, aber er hatte Angst um die Kinder”, sorgte sich, daß sie ohne ihn das Leben nicht meistern würden. Er machte sich wohl auch Vorwürfe, weil er ihnen kein intaktes Familienleben hatte bieten können, worunter insbesondere die beiden jüngsten Raimund und Beate gelitten hatten. Nicht zuletzt ihretwegen hatte er die Trennung von seiner Frau so lange hinausgeschoben?’. Schuldgefühle gegenüber seiner Frau, die oft krank war und mit dem Leben nur schwer zurecht kam, kamen hinzu. In dem bereits erwähnten Abschiedsbrief, den er kurz nach Raimunds Tod schrieb, ersuchte er sie um Vergebung. Sie sollte ihn trotzdem „Lieb-behalten“, das sei „manchmal das einzige, das einem bleibt“. Auch bat er sie, nicht schlecht zu sprechen über Hanne Goebel. Hanne Goebel kannte er schon mehrere Jahre. Sie war Sekretärin bei Gerd Bucerius, der in den soer Jahren für die CDU im Bundestag saß. Bereits 1946 hatte Bucerius die damals 25 jährige Hanne Goebel eingestellt. „Eine seltene Mischung von hoher Intelligenz und Einfühlungsvermögen machten die schnauzbärtigsten Engländer zu ihren Füßen liegen“, lobte er sie später in einem Dienstzeugnis”’. Schmid war bereits 1954 und 1955 mit Hanne Goebel im Urlaub gewesen, an deren Seite er sich glücklich fühlte. An ein Zusammenleben in Bonn war vorerst nicht zu denken. „Hanne sehe ich verhältnismäßig selten, das liegt so an den Bonner Umständen“, berichtete er 1955 gemeinsamen finnischen Bekannten”®. Die notwendigen Entscheidungen wurden aufgeschoben, worunter alle Beteiligten litten. Am 3. Dezember, seinem 60. Geburtstäg, war Schmid wieder in der Heimat. Allein schon wegen des größeren und breiteren Bettes war er froh, wieder in Deutschland zu sein. Er lag in der Bonner Universitätsklinik, fürsorglich betreut von Professor Martini, dem sich auch Heuss und Adenauer anvertrauten. Einen „Arzt im Sinne des Hippokrates“ nannte ihn Schmid später in seinen Erinnerungen”. Martini hatte großen Anteil daran, daß Schmid den notwendigen Schritt vollzog und sich von seiner Frau trennte. Nach Aussprachen und Auseinandersetzungen mit ihr war es zu dramatischen Verschlechterungen des Gesundheitszustandes des Patienten gekommen. Einige Tage lang erwarteten die Ärzte stündlich den Tod Schmids. Das Urteil des erfahrenen Arztes war eindeutig: Der Patient wird nicht gesund, solange er unter den seelischen Erschütterungen seiner zerrütteten Ehe leidet?°. Professor Martini verhinderte weitere Krankenbesuche Lydia Schmids. Die Trennung fiel schwer, weil Lydia Schmid sich nicht damit abfinden wollte und auf weitere Aussprachen drängte?‘. Bei Carlo Schmid blieb das Gefühl zurück, in seinem Privatleben gescheitert zu sein. Immer wenn es Weihnachten zuging, verfiel er in eine depressive Stimmung. Die Weihnachtsfeiertage ohne Familie waren eine schlimme Zeit für ihn??, Mit Hanne Goebel zog er erst 1963 zusammen, nachdem er sich in Ägidienberg-Orscheid bei Bad Honnef ein Haus gebaut hatte. Der Rekonvaleszenzprozeß machte nur langsame Fortschritte. Mit einem dicken Zimmermannsbleistift übte er das Schreiben. Ende Januar konnte er einen Geburtstagsbrief an Heuss eigenhändig unterschreiben3. Heuss war der erste gewesen, der ihn am Krankenbett besucht hatte.

Einige Tage später kam auch Adenauer, der ihm schon einen auffallend herzlichen Geburtstagsbrief übersandt hatte: „Ich denke und hoffe, daß Sie in der Luft der Heimat sehr bald wieder völlig hergestellt sind. Sie wissen ja, wie schwer entbehrlich Sie sind.“ 3* Das war mehr als eine bloße Höflichkeitsfloskel. Seit Schmid krank darniederlag, fehlte dem Kanzler ein sozialdemokratischer Ansprechpartner. Mit Ollenhauer hatte er seit 1955 keine längere Unterredung mehr gehabt und um Wehner machte er einen großen Bogen. So war es durchaus aufrichtig gemeint, als er Ende April Schmid schrieb: „Es drängt mich, Ihnen zu sagen, wie sehr ich mich über Ihre Gesundung freue.“ 35 Auch die Parteifreunde scheuten nicht den Weg auf den Bonner Venusberg. Ollenhauer, Erler und Wehner umringten das Krankenbett Schmids. Wehner, der wie kein anderer das Leiden seines Parteifreundes nachvollziehen konnte, bot ihm seelischen Beistand an: „Über das, was nur mit Hilfe der Ärzte gelingen kann, hinaus, will ich alles Erdenkliche tun, Dir Beistand zu leisten. Die Hauptsache ist, daß Du nicht an der Welt und Dir selbst verzweifelst. Das aber mußt Du nicht, denn es gibt Menschen, die mit und bei Dir sind.“ 3° Als Wehner zweieinhalb Monate später wieder einmal wegen seiner kommunistischen Vergangenheit angegriffen wurde, gehörte Schmid zu den ersten, die sich hinter ihn stellten. Obwohl sein Arm noch lahm war, und er kaum Worte und Sätze zu Papier bringen konnte, schrieb er ihm aus Meran, wo er zur Kur weilte, einen handschriftlichen Brief: „(…) bis hierher dringen die Wellen der Hetzkampagne gegen Dich. Der Zustand meiner Hand erlaubt keine langen Briefe, aber er reicht immerhin aus, Dich gerade jetzt meiner Freundschaft und Treue zu versichern. Nun ist es an mir, Dir zuzurufen, was Du mir zuriefst, als ich, ein halber Krüppel, um dessen ‚Ort‘ schon die Beutegeier kreisten: ‚Versuche nicht zu verzweifeln‘.“3 7 Die Bekundungen von Freundschaft gaben Schmid den Mut und die ‚ Energie, die er brauchte, um zu genesen. Zu seinem 60. Geburtstag hatte er eine Unmenge von Glückwunschbriefen und -telegrammen erhalten. In allen führenden Tageszeitungen waren Würdigungen erschienen, in denen er zumeist mit fast panegyrischen Worten gelobt wurde. Einen Platz im „goldenen Buche des deutschen Parlamentarismus“ räumte man ihm ein3®. Der Leitartikler der „Süddeutschen Zeitung“ fand einen nüchterneren Ton. Was er prophezeite, wurde für Schmid zur bitteren Wahrheit: „Daß die SPD auf Carlo Schmid zurückgreifen müßte, wenn sie in die Lage käme, Regierungsverantwortung auch im Bund zu übernehmen, war seit vielen Jahren klar. Es war nur immer eine Frage, ob sich die Partei nicht zu lange selber im Wege steht, daß ihre Stunde zu spät schlägt für Männer der ersten Garnitur, die sich in der Opposition verbrauchen.“: ? An ein Aussteigen aus der Politik dachte er auch in den schweren Tagen seiner Krankheit nie. Mittlerweile brauchte er die vita activa, weil die vita

contemplativa zu viele Selbstzweifel in ihm wachrief. Er lag noch gelähmt darnieder, als er Mannheims Bürgermeister Trumpfheller schon voller Zuversicht seine Rückkehr in die Politik ankündigte: „Ich bin kein toter Mann, nur hart angeschlagen, aber die Ärzte meinen, daß ich in absehbarer Zeit wieder voll leistungsfähig sein werde. Falls die Mannheimer es mit mir noch versuchen sollten, werden sie es merken.“ #° Er verfolgte auch im Krankenbett das politische Geschehen. Da er nicht schreiben konnte, vertraute er seine Gedanken dem Diktaphon an. Er tat mehr, als es für einen Schlaganfallpatienten gut ist. Aber das Nichtstun war schrecklich für ihn. So hatten die Ärzte nichts dagegen, daß Heuss ihn ermunterte, einen Aufsatz über die Gesellschaftslehre Lorenz von Steins zu schreiben. Der Vorschlag wirkte, wie Heuss mit leichter Ironie feststellte, „wie Arznei“* ‚, Schmid ließ seine Assistenten in Frankfurt Material sammeln und erste Entwürfe ausarbeiten, die er dann in die Kur nach Meran mitnahm, um sie dort durchzuarbeiten. Die Ablenkung tat gut, denn er fühlte sich einsam in Meran*”. Bei seinen ersten Spaziergängen in der Kurpromenade mußte er sich noch von Baum zu Baum schleppen. Ende April ging es besser. Manche Tage ging er schon sechs bis sieben Stunden zu Fuß*. Thomas Dehler, der oft an seinem Krankenbett gesessen hatte, erhielt eine eigenhändig geschriebene Grußkarte: „Die Hand ist noch recht lahm, aber das Herz füllt die Brust wieder aus.“ + Viel zu früh ging er wieder ins Geschirr. Am 3. Mai wurde er im Bundestag mit anhaltendem Beifall begrüßt*S. Sein Prestige war gewachsen. So hatte die Krankheit auch etwas gutes gehabt, wenn man es sarkastisch besieht. Eine Woche später duellierte er sich in der „parlamentarischen Atomschlacht“ mit dem damaligen Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß. Es war eine leidenschaftliche Debatte, die aber nie in böswillige Polemik ausartete. Strauß hatte zwei Tage vor der Debatte seinem Kontrahenten einen überaus liebenswürdigen Brief geschrieben: „Nur die Scheu, Sie während Ihrer Erkrankung durch meine Aufwartung zu behelligen, hat mich von einem Besuch an Ihrem Krankenbett abgehalten. Sollten Sie Neigung und Zeit für eine Unterredung haben, so würde ich mich sehr darüber freuen.“ 49 Schmid, der selbst immer das Gespräch über die Parteigrenzen hinweg suchte, sah keinen Grund, dieses Gesprächsangebot auszuschlagen. Einige Tage nach der Debatte antwortete er: „Auch ich würde mich freuen, wenn wir uns einmal unterhalten könnten. Daß man verschiedener politischer Auffassung ist, sollte nicht als Hinderungsgrund, sondern eher als ein Anreiz für ein solches Beginnen betrachtet werden.“ 47 Auslöser für die sogenannte „Atomschlacht“ war die Ankündigung des Nato-Oberbefehlshabers für Europa Norstad, daß die Bundeswehr alsbald mit atomaren Trägerwaffen ausgerüstet werde. Der Kanzler wie auch sein Verteidigungsminister begrüßten die neue Nuklearstrategie der USA,

die eine Abkehr vom Prinzip der massiven Vergeltung zu einer Strategie der abgestuften Abschreckung einleitete. In einer Pressekonferenz am 5. April verstieg sich Adenauer sogar zu der Behauptung, daß die taktischen Atomwaffen nichts weiter als eine Weiterentwicklung der Artillerie seien. Die Bundesrepublik könne selbstverständlich nicht darauf verzichten, diese neue Entwicklung mitzumachen*‘,. Drei Tage vorher hatte die SPD-Fraktion die Bundesregierung in einer Großen Anfrage aufgefordert, Auskunft darüber zu geben, was sie unternehme, um der Einbeziehung Deutschlands in einen Atomkrieg entgegenzuwirken und dem Atomwettrüsten ein Ende zu setzen. Darüber hinaus wollten die Sozialdemokraten wissen, ob die Bundesregierung der Ausrüstung der Bundeswehr mit atomaren Trägerwaffen bereits zugestimmt habe und, wenn nicht, ob sie bereit sei, ihre Zustimmung zur Stationierung von Atomwaffenverbänden auf dem Gebiet der Bundesrepublik zu verweigern®. Die Sozialdemokraten waren nicht die einzigen, die den atomaren Holocaust befürchteten. Am ı2. April richteten 18 Atomwissenschaftler an die Bundesregierung und die deutsche Öffentlichkeit einen Appell, „freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art (zu) verzichte(n)“ 5°. Die Unterzeichner des Göttinger Appells, zu denen namhafte Wissenschaftler wie Max Born, Otto Hahn, Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker zählten, warnten vor einer Verharmlosung taktischer Atombomben und -granaten, deren Wirkung zu vergleichen sei mit der Atombombe,- die Hiroshima zerstört hatte. Auf die Dauer seien die Atomwaffen kein zuverlässiger Garant, um Frieden und Freiheit zu sichern. Schon vor der am 10. Mai stattfindenden Bundestagsdebatte hatte Carlo Schmid Partei für die ı8 Professoren ergriffen, die Adenauer des politischen Dilletantismus bezichtigt hatte: „Wir sind diesen Männern zu Dank verpflichtet, denn sie haben dem Moralischen wieder einen Raum im Bereich jener totalen Politisierung erkämpft, in der unser ganzes Leben zu versteinern droht.“S‘ Seine Bundestagsrede am 10. Mai begann er mit einer Darlegung über den Unterschied zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Ihm lag daran, sowohl sich als auch die 18 Atomwissenschaftler von dem Vorwurf des Gesinnungspazifismus und der Moralromantik, der im Bundesverteidigungsministerium laut geworden war”, freizusprechen. Moralische Kräfte seien notwendig, „wenn nicht alles in purer Mechanik, d.h. in Barbarei untergehen soll.“5? Schmid fürchtete einen Rüstungsautomatismus, der die Spielräume politischen Handelns immer mehr einengen mußte. Strauß wollte plötzlich von seiner schroffen Ablehnung des Göttinger Appells nichts mehr wissen. Er attestierte Schmid, „hochmoralische, beachtliche Gesichtspunkte“ in die Debatte gebracht zu haben.5* Die neue Nato-Strategie verteidigte der Bundesverteidigungsminister weiterhin vorbehaltlos. Das Prinzip der massiven Vergeltung sei gefährlich, weil dadurch, die „Konkurrenz des Schreckens bis

zur letzten apokalyptischen Konsequenz“ gesteigert werde°°. Die taktischen Atomwaffen sollten es ermöglichen, auf Aggressionen flexibel zu reagieren. Im Klartext hieß dies: die Atomwaffen waren nicht nur Abschreckungsmittel, sondern sollten als ultima ratio auch im Verteidigungsfall eingesetzt werden‘“. Schmid hielt Strauß entgegen: „Auch ein taktischer Atomkrieg, ein Krieg, bei dem man nicht auf die strategischen Atomwaffen zurückgreift, würde Deutschland auf jeden Fall zerstören!“5” Wolle man aber vom Einsatz der Atomwaffen keinen Gebrauch machen, seien sie „als Drohmittel ein Messer ohne Heft und Klinge“ 5°. Auf Schmids Frage, wer über den Einsatz der Atomwaffen entscheide, blieb der Verteidigungsminister die Antwort schuldig’. Schmid gab weiter zu bedenken, daß eine atomare Ausrüstung der Bundeswehr die in London geführten Abrüstungsgespräche gefährden mußte‘. Kurz vor der Bundestagswahl übte Strauß Zurückhaltung. Eine Ausrüstung der Bundeswehr mit atomaren Trägersystemen sei nicht aktuell. Es sei der „ausgesprochene Wunsch“ der Bundesregierung, „daß durch den Abschluß eines Abrüstungsabkommens sich dieses Problem von selbst erledigt“°“ . Schmid glaubte nicht, daß man in den Londoner Abrüstungsgesprächen zu einer schnellen Einigung kommen werde. Aber ohne Abrüstung und die Errichtung eines Systems kollektiver Sicherheit zementierte man den Status quo der deutschen Teilung‘. Dem stimmten auch Abgeordnete auf der rechten Seite des Hauses zu, die über die Nuklearpolitik des Bundeskanzlers und seines Verteidigungsministers nur unzureichend informiert waren. In der Bundestagsdebatte am ı0. Mai wurden die aufen- und verteidigungspolitischen Frontlinien für die 3. Legislaturperiode abgesteckt. Schmid und Erler, der in der Debatte vor allem auf die militärstrategischen Gesichtspunkte des neuen Nato-Konzepts eingegangen war, hatten die sozialdemokratische Position formuliert, die auf eine enge Verknüpfung von militärischem Disengagement und deutscher Wiedervereinigung hinauslief. Schmid hatte sich in dem Duell mit Strauß physisch völlig verausgabt. Nach seiner Rede erlitt er einen kleinen Ohnmachtsanfall°*, was ihn aber nicht davon abhielt, nachmittags wieder im Bundestag zu erscheinen und sich durch Zwischenrufe an der Debatte zu beteiligen. Seine Gesundheit war noch labil. Er hätte sich besser noch geschont. Aber er hielt sich für unentbehrlich und war es oft auch. Zum Beispiel bei der Entscheidung der SPD über die Haltung zu den Römischen Verträgen. Ohne Schmids engagiertes Votum für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hätte sich wahrscheinlich Wehner durchgesetzt, der der SPD zur Stimmenthaltung bei der Verabschiedung der Verträge riet, weil er Bedenken gegen die Einbeziehung der Kolonialgebiete in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Erklärung der Zonengrenze zur Zollgrenze hatteS5. Schmid konnte Dauer Einwände in der Fraktionsvorstandssitzung am 24. Juni ausräumen“®. Die Fraktion stimmte fast geschlossen für die Römischen Verträge an tat damit einen mächtigen Schritt, um aus der europapolitischen Isolierung herauszukommen. Abgesehen von den Differenzen über den EWG-Vertrag, war die Beziehung zwischen Wehner und Carlo Schmid in jenen Monaten so gut wie nie zuvor und nie danach. Im Sommer 1957 herrschte zwischen beiden ein enges menschliches Vertrauensverhältnis, ohne das es wohl kaum zur Bildung der Troika Schmid-Wehner-Erler gekommen wäre, zu jenem gegenseitigen Einverständnis, die lang verschleppte Parteireform endlich voranzutreiben. Zunächst konzentrierte sich freilich alles auf den Wahlkampf, vor dem Schmid wie immer grauste. Gerstenmaier hatte im Frühjahr vorgeschlagen, erst im August mit dem Wahlkampf zu beginnen. Schmid, der noch in Meran weilte, hatte sofort zurückgeschrieben und Gerstenmaier seine Unterstützung für diesen Vorschlag versichert: „Was hat es denn für einen Sinn, mehr als sechs Wochen lang auf dem Volk herumzutrampeln und dabei noch eine Reihe von Abgeordneten umzubringen?“ °” Manchmal kamen ihm Zweifel, ob man überhaupt noch von freien Wahlen sprechen könne in einer Zeit, in der der Wahlkampf einem Werbefeldzug großer Firmen für einen Markenartikel gleicht°®. Solche kulturkritischen Überlegungen stießen freilich bei den Wahlkampfstrategen aller großen Parteien auf taube Ohren. Die SPD begann am ı6. Juni den Wahlkampf. Die Außen- und Verteidigungspolitik stand im Vordergrund ihrer Wahlpropaganda. Die Wiedervereinigung Deutschlands war oberstes Ziel. Gefordert wurde u.a. eine international kontrollierte Abrüstung, die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Europa und die Errichtung eines kollektiven Sicherheitssystems. Im Vorfeld des Wahlkampfes gab es Überlegungen, eine Anti- Atombewegung ins Leben zu rufen, an deren Spitze man gern Carlo – Schmid gestellt hätte®®. Schmid konnte sich für diese Idee anscheinend _ nicht begeistern. Das hätte auch verlangt, daß er seine generellen Vorbehalte. gegen außerparlamentarische Bewegungen überwunden hätte. Obwohl es nicht populär war, erklärte auch Schmid die Wiedervereinigung zum Kernpunkt sozialdemokratischer Außenpolitik. Daß die deutsche Einheit eine Vereinbarung über den politischen und militärischen Status eines wiedervereinigten Deutschland voraussetzte, wurde mittlerweile sogar schon von manchem Konservativen zugegeben”°. Schmid hatte selbst lange mit sich ringen müssen, um seine Bedenken gegen diesen von seinen Parteifreunden schon seit längerer Zeit vertretenen Standpunkt zurückzustellen. Juristisch gesehen war eine Statusfestlegung eine „Anomalie“, aber leider richte sich „der Gang der Geschichte nur selten nach der Logik der Jurisprudenz“”‘. Problematischer war das Thema innerdeutsche Gespräche. Schmid wiederholte seine bereits früher geäußerte

Auffassung, daß man sich auf Gespräche mit „Pankow“ nur dann einlassen könne, wenn „die zur Schaffung von Voraussetzungen für die Wiedervereinigung verpflichteten vier Mächte deutsche Stellen beauftragen, in ihrem Namen, gewissermaßen als ‚Erfüllungsgehilfen‘ tätig zu werden“”?. Nur so konnte man eine Anerkennung der DDR vermeiden. Das war alles schrecklich kompliziert und für Otto-Normal-Verbraucher kaum verständlich. Schmid entfloh dem Wahlkampf erst einmal. Er hatte dringend Ferien nötig und entschwand auf die Insel Fünen, ohne eine Adresse zu hinterlassen. In einem Brief an Ollenhauer schwärmte er von dieser Insel bukolischer Seligkeit: „(N)un sitze ich schon seit zwei Wochen auf der Insel Fünen, in einem winzigen Gasthaus, dessen einziger Gast ich gerade bin, inmitten eines Buchenwäldchens, zwanzig Schritte vom Strand der Ostsee und erhole mich mit zureichendem Erfolge. Kein Wort Politik dringt an mein Ohr (außer den Nachrichten des NWDR), mit den Einheimischen kann ich mich nur über das Gewöhnlichste unterhalten. Zeitungen gibt es nicht in diesem gesegneten Inselreiche. (…) Jeden Tag gehe ich meine fünf Stunden durch die Felder, streichle Kälbchen und Fohlen, köpfe Disteln mit selbstgeschnitztem Stock und quäle mich damit ab, eine zureichende Antwort auf die Frage zu finden, warum ich denn nicht auch so lebe wie diese Leute in diesen strohgedeckten Höfen.“ 73 Am gleichen Tag wie Ollenhauer bekam auch Wehner einen Brief, in dem er lesen konnte, daß sein Parteifreund braun geworden war „wie ein Waldläufer aus der Mohikanerzeit“, sich prächtig erholte und die Kraftreserven für den kommenden Wahlkampf schon fast beeinander hatte. Dem folgte eine eher resignative Feststellung: „und wir sollten dabei wenigstens in Ehren abschneiden, was vielleicht wichtiger sein könnte als das arithmetische Ergebnis.“ 7* Nein, Hoffnung auf einen Wahlerfolg der SPD hatte er nicht. Trotzdem wollte er im Wahlkampf eine „scharfe Klinge“ führen, dabei aber alles Persönliche aus dem Spiel lassen”. Er hatte vor, seine Wahlreise am 13. August zu starten und dann Tag für Tag Wahlreden zu halten. Weniger vor dem Gegner graute ihm als vor den „wackeren Biedermännern aus den eigenen Reihen“, die seine Versammlungen eröffnen und schließen würden”.