1896-1979 eine Biographie: Im Dauerzwist mit der Partei (1953-1957)
Der „Ballastabwerfer“
Spätabends am 6. September konnte Carlo Schmid aufhören, zu bangen. Er gehörte auch dem zweiten Deutschen Bundestag an. Mit einem Vorsprung von 4387 Stimmen hatte er das Direktmandat in Mannheim erobert‘. Berauschend war das Ergebnis nicht. Sein Stimmenanteil lag nur um 0,1% höher als der Zweitstimmenanteil der SPD, die in Mannheim 38,1% der Wähler hinter sich scharen konnte. In der nordbadischen Industriestadt bestimmte immer noch Erwerbsstruktur und soziale Schichtung das Wahlverhalten?. Das alte Lagerdenken hatte hier überlebt. Die KPD konnte noch 7,8% der Wählerstimmen gewinnen. Trotzdem: verglichen mit dem bundesweiten Stimmenanteil der SPD war das Mannheimer Wahlergebnis schon fast ein Erfolg.
In der Bonner Baracke herrschte am Abend des 6. September Panikstimmung. Der prozentuale Stimmenanteil der SPD war von 29,2% auf 28,8 % gesunken. Die CDU/CSU triumphierte. Sie hatte Erdrutschwahlen gewonnen. Ihr Stimmenanteil hatte sich um über 14% erhöht. Das genügte für die absolute Mehrheit der Bundestagssitze. Ollenhauer spielte den schlechten Verlierer. Am Tag nach der Wahl beschwor er die Gefahr einer neuen Harzburger Front’. Als sich zwei Tage später der Parteivorstand versammelte, wiederholte der SPD-Parteivorsitzende seine übertriebenen Befürchtungen. Pressechef Fritz Heine sekundierte ihm: „Er habe Zweifel, daß wir in vier Jahren noch eine freie Wahl haben werden, er glaube, daß der 6. September der Anfang vom Ende einer Demokratie sei.“ * Schmid mahnte zu mehr Selbstkritik und richtete den Blick auf die Zukunft: „Die Partei kann die‘ Wahrheit ertragen, (…) wir brauchen keine Auslegungskünste zu verwenden. (…) Im Parlament haben wir jetzt das Wächteramt für die demokratischen Rechte wahrzunehmen. Wir sollten uns im Parlament künftig nicht mit kleinen Abänderungsanträgen aufreiben, sondern in bedeutenden Fragen von der Sache her mit aller Kraft auftreten.“ 5 Die Reformer saßen in der Fraktion. Ihr Einfluß mußte gegenüber dem Parteiapparat gestärkt werden. Laut sagte er das freilich nicht. Er wollte sich ja nicht schon wieder den Zorn seiner Parteifreunde zuziehen.
Irrationale Ängste zu schüren, wie Ollenhauer und Heine dies taten, hielt er nicht für den richtigen Weg, um aus dem Wahldesaster herauszukommen. Er wollte eine rationale Analyse des Wahlergebnisses vornehmen. Warum hatten sich die Wähler für Adenauer entschieden? Drei Gründe glaubte er, ausmachen zu können: das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung, das Obrigkeitsdenken der Deutschen und die Allianz des Bundeskanzlers mit den Amerikanern. Wenn die SPD die nächten Wahlen gewinnen wolle, müsse sie noch „einigen Ballast“ über Bord werfen®. Mit dieser Auffassung stand Schmid in der Parteivorstandssitzung am 16. September und auf der tags darauf tagenden Konferenz der Führungsgremien der Partei nicht allein. Die Wahlkampfführung der SPD wurde einer scharfen Kritik unterzogen. Ernst Reuter plädierte für eine Änderung der Sprache, Methode und Propaganda. Die SPD müsse loskommen von ihrem „alten Denken im Negativen“. Ihr habe die „geistige Fähigkeit gefehlt, zu erklären“, was sie will”. Der Leiter des Kieler Weltwirtschaftsinstitutes Fritz Baade verwies in Anspielung auf Gregor Straßers Wort von der „antikapitalistischen Sehnsucht der Massen“ auf die „antisozialistische Sehnsucht der Massen“. Die SPD müsse scharf gegen das „Märchen“ angehen, daß sie gegen das Eigentum sei. Er riet den Parteifreunden, dem Beispiel der sozialistischen Parteien in Europa zu folgen und sich von der marxistischen Phraseologie zu trennen°. Wilhelm Kaisen empfahl in einem Brief an Ollenhauer „weniger Kassandrarufe“ und „mehr Verteidigung des Erfolgs sozialdemokratischer Arbeit“. Die Sozialisierungsparole schrecke die Bürger ab. Es schmerze ihn, daß die Partei, der er seit über so Jahren angehöre, „immer noch in Irrtümern beharrt, die von der Geschichte längst korrigiert“ sind?.
Der sonst so gelassene Ollenhauer reagierte überaus verschnupft auf die Kritik: „Er sei für fairen Wahlkampf und stolz darauf, ihn so geführt zu haben.“ Bisher sei er der Meinung gewesen, daß die Stellungnahme der SPD zur Wirtschaftspolitik einer „wissenschaftlichen Erkenntnis“ entspringe. Die Ausführungen Baades aber müßten unter die Überschrift gebracht werden: „Die SPD ist keine sozialistische Partei.“ Baades Vergleiche mit anderen europäischen Ländern seien absolut falsch’°. Ollenhauer sah in der Kritik einen Angriff auf die Partei, deren lebendige Verkörperung er war. Schmid war froh, daß endlich eine Diskussion über die Parteireform in Gang kam. Bissig stellte er fest, daß die Niederlage auch „ein Gutes“ gehabt habe, nämlich, „daß sich die potenten Kräfte in der Partei auf das Notwendige besonnen haben und entschlossen sind, das Erforderliche zu tun.“ ‚“ Aufbruchstimmung trotz Niederlage. Auch Ollenhauer konnte sich der Kritik nicht ganz verschließen. In der Aussprache über die Regierungserklärung Adenauers am 28. Oktober unterstrich er ausdrücklich, daß die SPD nicht Gegner des freien Wettbewerbs sei’. Am Abend des gleichen Tages stellte Schmid im Bayerischen Rundfunk Überlegungen zur Parteireform an. Im Grunde sagte und predigte er nur, was er seit 1945 immer gesagt und gepredigt hatte. Die SPD müsse zu einer Volkspartei werden, die die Interessen der Arbeiter, Angestellten, Bauern, Mittelständler und Beamten vertritt. Deutlicher als bisher strich er heraus, daß die SPD „keine Weltanschauungspartei“ mehr sei, sondern eine „soziale Reformpartei“: „Zu ihr kann, aus welchem weltanschaulichem Lager auch immer, jeder stoßen, der der Meinung ist, daß alles getan werden müsse, um den materiellen, moralischen und geistigen Lebensstand des Volkes zu heben (…).“’3 Schmid sprach zwar von Sozialismus, aber er meinte soziale Demokratie. Daß die SPD positiv zum öffentlichen Auftrag der Kirchen stehe, die Religion für sie mehr als bloße Privatsache sei, hatte er schon dutzendmal gesagt’*. Nicht weniger oft hatte er erklärt, daß die SPD nicht eigentumsfeindlich sei. Diesmal formulierte er es noch prononcierter als sonst: Die SPD „möchte Gesetze schaffen können, die jedem eine echte Chance geben, Privateigentum zu erwerben, denn wir Sozialdemokraten sind der Überzeugung, daß der Mensch volle sittliche Verantwortung für das Ganze seiner Existenz auf die Dauer und im allgemeinen nur tragen kann, wenn er über soviel Privateigentum verfügt, daf% er imstande ist, auch jemanden gegenüber ‚Nein‘ zu sagen, von dem er wirtschaftlich abhängig sein mag.“’5 Das war recht utopisch, entsprach aber Schmids unbedingtem Freiheitswillen, der in seiner Gegnerschaft zur Massendemokratie wurzelte. Er bekundete die Überzeugung, daß die SPD „stark genug“ sei, „um ohne Schaden für das unvergängliche Gut der Arbeiterbewegung abwerfen zu können, was im Laufe der Zeit zu totem Ballast geworden sein mag.“ ‚®
Mit ähnlichen Worten hatte er den Genossen schon des öfteren ins Ge- _ wissen geredet. Doch jetzt brauste plötzlich ein innerparteilicher Proteststurm gegen ihn los. Schoettle gehörte zu den ersten, die Stellung gegen ihn bezogen. Am 6. November versandte er ein Rundschreiben an die Funktionäre des Bezirks Südwest, in dem er monierte, daß Schmid die Rede zu einem Zeitpunkt gehalten habe, wo sie die „dringend notwendige politische Diskussion“ belasten mußte’7. Warum eigentlich? Andere hatten doch auch in aller Öffentlichkeit die Trennung von liebgewordenen, aber überholten Traditionen verlangt“. Schoettlenahm Anstoß an Schmids Ausführungen über die Rolle des Privateigentums und der Religion und wollte sich nicht damit abfinden, daß die SPD keine Weltanschauungspartei mehr sei. Wieder einmal wurde Schmid zum Vorwurf gemacht, daß für ihn die SPD eine Partei war wie jede andere auch. Schoettle vertrat dagegen die Auffassung, „daß die Sozialdemokratische Partei für den größten Teil ihrer Anhänger mehr ist als nur ein Verein, daß sie für viele von ihnen die Stätte ist, an der sie entscheidende Erlebnisse gehabt haben und mit der sie der beste Teil ihres Lebens verbindet, das macht gerade den Unterschied zwischen uns und anderen Parteien aus.“ ‚?
Gewiß, die SPD war eine umfassende Kultur- und Lebensgemeinschaft gewesen und war es zum Teil noch. Aber konnte sie es bleiben, wenn sie an die Macht wollte? Schmid meinte nein. Die Partei mußte-sich seines Erachtens an den Wählern und nicht an den Parteimitgliedern ausrichten. Wer in der Arbeiterbewegung groß geworden war, den schreckte der Gedanke, daß die SPD zu einer „Allerweltspartei“ verkommen könne. Selbst ‘einem entschiedenen Verfechter der Parteireform wie Fritz Erler ging Schmids Kritik an der Parteitradition zu weit. Bei allem „Abwurf von Ballast“ könne man „schließlich nicht sich selber über Bord werfen“, bekam Schmid von seinem einstigen „Zögling“ zu hören”. In der Linkspresse argwöhnte man, Schmid wolle zu einem „neuen Bernstein“ werden“. Er selbst klagte, daß viele Leute „sich schrecklich viel Mühe gaben, ihn mißzuverstehen“ ??. Seine vielgeschmähte Ballast-Rede sei nichts weiter als ein Bemühen gewesen, „eine breite Öffentlichkeit in und außerhalb der Partei darauf aufmerksam zu machen, daß die SPD nicht der Popanz ist, als den man sie vielerorts noch zu sehen beliebt“ ?3,
Für die anderen hatte er den Sozialismus über Bord geworfen. Und was noch schlimmer war: Er war an die Öffentlichkeit gegangen und glänzte bei der innerparteilichen Diskussion über die Parteireform durch Abwesenheit. Erler hatte schon befürchtet, daß sein Freund fehlen werde, wenn es innerhalb der Partei zum Schwören komme“. Er sollte mit seiner Befürchtung recht behalten. Als sich die vom Parteivorstand gebildete Kommission zur Diskussion der Parteireform am 9. Januar 1954 traf, mußte sie ohne den entschiedensten Verfechter der Parteierneuerung debattieren. Über Abwesende läßt sich leicht schelten. So verwandte man den größten Teil der Sitzung darauf, ein Scherbengericht über Schmid zu fällen. Schoettle beschuldigte ihn, „trade-unionistisch“ zu denken. Eichler wollte den Symbolen und Worten lieber wieder ihren ursprünglichen Sinn geben, als sie über Bord zu werfen”. Er verargte Schmid, daß er die von ihm geleitete Kommission mißachtete, und erklärte deshalb schroff: „Die Gemütlichkeit hört dann auf, wenn diese Diskussion außerhalb der Partei geführt wird.“?7” Wehner wetterte, daß Schmid keine Ahnung von dem Verhältnis der SPD zur Religion habe?*. Man drosch so auf ihn ein, daß Fritz Heine, der zu den Traditionalisten zählte, Partei für ihn ergriff. Schuld an der ganzen Diskussion habe schließlich nicht allein Carlo”. Karl Schiller, Parteineuling wie Schmid, war der einzige, der sich mit Schmids Reformkurs voll und ganz einverstanden erklären konnte. Der „linke Flügel“ hatte die Partei wieder fest im Griff. Schmid schaltete sich selbst aus der innerparteilichen Diskussion aus. Er fehlte mal entschuldigt, mal unentschuldigt, so auch in der Parteiausschußsitzung am 20. Februar, in der Wehner einen Generalangriff gegen ihn startete. Heinrich Albertz, der die SPD auch schon des öfteren aufgefordert hatte, die „Eierschalen des 19. Jahrhunderts“ abzustreifen3°, unterrichtete Schmid von der Sitzung: „Es ist am Sonnabend im Parteiausschuß bei der Besprechung der Reformvorschläge nach sehr leidenschaftlichen Ausführungen von Herbert Wehner zu schweren Vorwürfen gegen Dich gekommen. Praktisch ging es wieder um den einen, nun schon fast zum Komplex gewordenen Vorgang, daß Du einer von denen seist, die draußen große Reden hielten, die dann aber, wenn es zum Schwur in den legitimen Organen der Partei kommt, nicht anwesend seien. Aber ich möchte trotzdem noch einmal — weil wir Dich brauchen und weil an Männern wie Dir das Schicksal dieser seltsamen Partei hängt – dringend darum bitten, daß Du aus diesem Zwielicht des außerhalb und neben der Partei Agierenden herauskommst.“3′ Irgendwie stand er immer im Verdacht, ein potentieller Überläufer zu sein, zumal die Abgeordneten der Regierungskoalition keine Gelegenheit ausließen, um ihn und die Partei auseinanderzudividieren. Er ärgerte sich jedesmal maßlos darüber3?. Ihm war an der Rolle des Außenseiters nichts gelegen, aber niemand nahm ihm ab, ein überzeugter Sozialdemokrat zu sein. Nach seiner Rückkehr aus den USA Ende April antwortete er Heinrich Albertz: „Ich glaube, daß ich künftig wieder voller in das Geschehen der Partei eingreifen werde, denn es geht mir in vieler Hinsicht besser als im letzten Jahr. Du wirst freilich verstehen, daß es einem manchmal sehr bitter wird, sich mit Argumenten auseinandersetzen zu müssen, die zum größten Teil Antworten auf Scheinprobleme und Scheinantworten auf wirkliche Probleme sind — wenn sie nicht ausschließlich ad hominem gemeint sind. Es ist leider Gottes in letzter Zeit manches recht Unlautere bei uns lebendig geworden und ich kann nun mal in einer solchen Atmosphäre nicht leben. Ich habe darum sehr ernsthaft in Erwägung gezogen, mich überhaupt aus dem Parteibetrieb zurückzuziehen und mich auf eine Tätigkeit mehr am Rande zu beschränken, wie das sich für einen Professor auch am besten schickt. Aber ich bin davon abgekommen und will den Entschluß, den ich vor nunmehr neun Jahren gefaßt habe, voll austragem:# 33
Brandt und Erler, mit denen er sechs Wochen durch die USA gereist war, mögen einiges dazu beigetragen haben, daß er in der Parteigaleere wieder an vorderster Stelle mitrudern wollte. Zu Beginn der zweiten Legislaturperiode hatte er auf eine Wiederwahl in den Fraktionsvorsitz verzichtet, um sich mehr seiner Frankfurter Professur widmen zu können3*. Er hatte wohl tatsächlich erwogen, seine politische Karriere der wissenschaftlichen hintanzustellen. Seine Mitarbeit in Gremien der Partei und in der Fraktion ließ auch weiterhin zu wünschen übrig??. Er schwänzte, weil er die Geduld mit den Genossen verloren hatte und sensibel, wie er war, die Kabalen, deren bevorzugter Gegenstand er war, nicht aushalten konnte. Er konnte nur agieren in einer Umgebung, in der er Anerkennung fand. Wenn sich einige Gleichgesinnte nach den Fraktionssitzungen im Schaumburger Hof zum zwanglosen politischen Gespräch trafen, war er zumeist dabei?°. In der Fraktion genoß er mehr Autorität, als er selbst glaubte3’. Bei der Fraktionsvorstandswahl hatte er ein erstklassiges Ergebnis erzielt®. Aber anscheinend brachte er nicht die Geduld auf, seinen Standpunkt überzeugend und einsichtig für jedermann darzulegen.
Sein Verhältnis zur Partei blieb so schlecht, wie es nur sein konnte??. Freilich, manchmal war seine Frustration schon zu verstehen. Seit nunmehr neun Jahren predigte er der Partei, daß sie sich zur Volkspartei wandeln müsse. Und was stand in den 1954 vom Parteivorstand verabschiedeten Empfehlungen zur Parteireform? „Die Arbeiterschaft bildet den Kern der Mitglieder und Wähler der Sozialdemokratie.“ #° Die rote Fahne wurde zum „Wahrzeichen der Glaubenskräfte des freiheitlichen demokratischen Sozialismus“ erklärt. Der Ballastabwerfer wurde belehrt: „Immer jedoch muß deutlich bleiben, daß eine neue Gesellschaft das Ziel der Sozialdemokratie ist; in dieser Gesellschaft soll es keine Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen und durch Machtgebilde geben.“ *‘ Außerdem sollte er sich merken, daß die Grundlage für politische und öffentliche Wirksamkeit die Partei ist. Eine linke Tageszeitung wurde abgelehnt, weil sie zur Konkurrenz für die parteieigene Presse werden mußte.
Schmid hatte monatelang den Parteivorstand davon zu überzeugen versucht, daß eine „allgemeine linke Zeitung von Niveau“ für die SPD wichtiger sei „als ein Dutzend kleiner Zeitungen mit gebundener Marschroute“#*. Darüber hinaus regte er die Herstellung einer politisch-satirischen Wochenzeitschrift an*?. Die unzureichende Öffentlichkeitsarbeit der SPD wurde von seiten der Presse immer wieder beklagt und gerügt. Schmid konnte die Kritik nur unterstreichen. Immer wenn ihn die Bitte um Zusendung von Parteimaterial erreichte, fügte er erläuternd hinzu, daß die SPD besser sei als das Material*. Er scheint sich wegen des Materials richtiggehend geschämt zu haben. Er machte den „alten Aberglauben“, „das Volk sei aufgeklärt und wisse im Grunde alles aus sich heraus“, für das mangelnde Bemühen der SPD um’ eine bessere Selbstdarstellung verantwortlich ®S. In der Parteizentrale wollte man allenfalls eine Neugestaltung des „Neuen Vorwärts“ ins Auge fassen. Heine bat um Stellungnahmen zur Umgestaltung des „Neuen Vorwärts“. Schmid schlug vor, das Parteiblatt für den „politisch interessierten Gebildeten“ attraktiv zu machen, indem man dort auch andere Themen aufgreife als den sozialdemokratischen Standpunkt zu ganz konkreten politischen Problemen. Vor allem aber hielt er einen Wechsel in der Redaktion für dringend notwendig: „Ich habe nicht den Eindruck, daß die bisher tätigen Genossen, so treu und gewissenhaft sie ihres Amtes auch gewaltet haben mögen, der neugestellten Aufgabe voll gewachsen sein könnten. Wir müßten uns schon nach jemandem umsehen, der wirklich ersten Ranges ist, und ich glaube, daß man so jemand auch finden könnte.“ 4
Man schlägt den Sack und meint den Esel. Heine sei ein „miserabler Propagandachef“, teilte Schmid ganz im Vertrauen Konrad Heiden mit. Der vielgeschmähte Pressechef der SPD sei jedoch ein „anständiger Mann und guter Kamerad“. So käme er immer wieder in die „seltsame Lage“, Heine, der ein „absoluter Gegenpol“ zu ihm sei, verteidigen zu müssen‘. Mit Konrad Heiden führte Schmid einen regen Briefwechsel*. Er hoffte den einstigen Journalisten der „Vossischen Zeitung“ und frühen Warner vor dem Nationalsozialismus zur Rückkehr nach Deutschland bewegen zu können, damit die öde Presselandschaft der frühen Bundesrepublik wieder etwas farbiger werde. Heiden konnte sich zu einer Rückkehr aus den USA nicht aufraffen, obwohl Schmid sich bei renommierten Tageszeitungen nach Anstellungen für ihn umgesehen hatte. Der „Vorwärts“ bekam 1955 ein neues Gesicht. Chefredakteur wurde der ehemalige Reichstagsabgeordnete Josef Felder. Der bisherige Chefredakteur Gerhard Gleissberg schied aus und gründete die „Andere Zeitung“, in der er des öfteren Schmid angriff*%. Im August 1954 erschien die erste Nummer der „Neuen Gesellschaft“, deren Redaktionsbeirat Schmid angehörte. Sie war als theoretisches Organ dem linken Spektrum zugehöriger Intellektueller und Forum zur Diskussion über die Parteireform gedacht. Der junge Abgeordnete Kahn-Ackermann, einer der Schützlinge Schmids, hatte zusammen mit dem Münchener Publizisten Gerhard Szcesny bereits Anfang 1954 eine Zeitschrift zur Diskussion über die Zukunft des demokratischen Sozialismus zu gründen versucht. Der Parteivorstand hatte die Finanzierung der „Linken“ – so hieß die Zeitschrift -— verweigert’°. So erschien nur ein Exemplar, in dem Beiträge Reuters, Erlers, Eichlers und Schmids zur Parteireform abgedruckt worden waren. Auch ein Thesenpapier einer Gruppe Berliner SPD- und SDS- Mitglieder zur Erneuerung der SPD, in dem Schmid als Fraktionsvorsitzender vorgeschlagen worden war, war dort wiederzufinden‘‘. Ernst nahm diesen Vorschlag anscheinend nur der Französische Hochkommissar Frangois-Poncet, bei dem wieder einmal die leise Hoffnung aufkam, Schmid könne sich in der SPD vielleicht doch durchsetzen°?. Die Wirklichkeit sah anders aus. Auf dem Berliner Parteitag im Juli 1954 erhielt Schmid eine Abfuhr. Er müßte’sich bei der Vorstandswahl mit 250 Stimmen begnügen, während für den Berliner Parteifunktionär und einstigen Schumacher-Getreuen Franz Neumann 270 Delegierte stimmten und Herbert Wehner, damals dem linken Rand der SPD zugehörig, mit 302 Stimmen ein erstklassiges Ergebnis erzielte.
An der auf dem Parteitag geführten Diskussion über die Erneuerung des Dortmunder Aktionsprogramms beteiligte er sich nicht. Das Aktionsprogramm war ihm zu heterogeunnd zu wenig durchdacht. Außerdem wuchs seine Skepsis gegenüber der Ausarbeitung eines Grundsatzprogramms immer mehr. In einem kurz vor dem Parteitag vom Südwestfunk veranstalteten Rundfunkgespräch über die Parteireform, das er zusammen mit Brandt, Erler, Eichler und Schoettle bestritt, hatte er einer Wahlplattform eindeutig Vorrang vor der Ausarbeitung eines Grundsatzprogramms gegeben*. Eichler widersprach. Er plädierte für eine programmatische Fixierung der „geistigen Grundlagen“, aus denen heraus der Sozialismus seine Position bezieht. Schmids Ausführungen, daß nur eine schmale Schicht von Intellektuellen in der SPD über den Marxismus diskutiert habe, der für die meisten Parteimitglieder eine Art „Ersatzreligion“ gewesen sei, während in der Praxis die Partei von Anfang an eine reformistische Politik verfolgt habe, stieß bei Erler und Schoettle auf Protest°?. Sie erinnerten sich, welche Waffe die Marxsche Theorie für die sozialistische Jugendbewegung, in der sie aktiv waren, im Kampf für eine neue Gesellschaftsordnung war‘. Für Schmid, der aus einer ganz anderen Tradition kam, war Marx ein bedeutender Philosoph und Ökonom des 19. Jahrhunderts, dem er aber kein entscheidendes Gewicht für den Emanzipationskampf der Arbeiter zumaß.
Wenn sich Schmid überhaupt mit einem Ahnherr der Arbeiterbewegung identifizieren konnte, so war es Ferdinand Lassalle”, der die Arbeiterschaft davon überzeugt hatte, „daß ihr Kampf um Verbesserung ihrer Lebensbedingungen nicht allein auf dem Boden der Gesellschaft und der Wirtschaft ausgetragen werden könne, sondern daß er mit Mitteln innerhalb des Staates und auf den Staat hin zu führen sei“®. Lassalle, der Arbeiterführer, der den Geruch der Arbeiter abscheulich fand, der ein Leben führte, das jeden Arbeiter empören mußte, faszinierte Schmid noch mehr als Mann, mit dem er vieles gemein hatte, denn als Politiker. „Reizvoll wäre es“, so schrieb er in einem Lassalle-Aufsatz, „am Beispiel Ferdinand Lassalles zu zeigen, daß der Politiker von Geblüt, der Mann, der im rationalen Umgang mit der Macht Wesensbejahung finden will, immer auch ein starkes, akzentuiertes ‚persönliches‘ Leben haben wird. Die Politik wird immer nur eine seiner Leidenschaften sein.“ 5° Schmid war noch immer ein Meister der Camouflage. Was er nicht offen sagen durfte, ohne Skandal zu erregen, sagte er den Parteifreunden durch die Blume. Als er 1956 einen Aufsatz zum 100. Todestag Heinrich Heines schrieb, ging es ihm nicht nur um das Andenken des vielgeschmähten Toten, den er so gerne las, er dachte auch an sich und seine Kritiker in der Partei. Das Porträt, das er von Heine zeichnete, war ein Porträt seiner selbst. Der Poet, durch dessen Herzen der „große Weltriß“ ging, war Carlo Schmid, der in Heines Zerrissenheit seine eigene wiedererkannte und rechtfertigte: „Aber hat Heine selbst nicht den Kritikern seines Charakters die Antwort erteilt? Hat er nicht selber klarer als irgendeiner zum Ausdruck gebracht, daß er notwendig der Mensch im Zwiespalt sein mußte, der Mensch im Konflikt? Kommt nicht in jedem seiner Sätze zum Vorschein, wie sehr er darunter gelitten hat, daß er ein Freier war und doch ein Gebundener? Daß er ein Weltbürger war und doch ein Patriot? (a) Daß er die Gleichheit all dessen, was Menschenantlitz trägt, aus tiefstem Herzen predigen mußte und doch über den Schatten seines Wissens nicht springen konnte, daß alles Schöne, aller Fortschritt auf der Welt nicht das Werk der vielen, sondern nur das seltene Werk einer Elite Weniger sein könne? Mußte es ihn nicht umtreiben, daß er Bildung für das höchste Gut halten mußte und sich doch nicht eine Welt ohne die Größe der Tatmenschen denken konnte? (…) Daß die Sprache ihm zugleich als strenge Priesterin der Wahrheit und des Herzens und als lustbringende Geliebte und Gespielin entgegentrat?“® Ein gelungeres Kurzporträt Schmids gibt es wohl kaum.
Heines Verhältnis zur Arbeiterbewegung glich in mancherlei Hinsicht dem Schmids. Wenn er Mitte der soer Jahre eine Denkschrift über die SPD verfaßt hätte, wäre sie vermutlich nicht viel anders ausgefallen als die Denkschrift, die Heine, der Saint-Simonist und aristokratisch eingestellte Libertin, vor über hundert Jahren über den tugendhaften Jakobiner Ludwig Börne verfaßt hatte°‘. Heine und Börne, Schmid und die Sozialdemokratie, die Konfliktlagen und -gegenstände waren ähnlich. Schmid zitierte in seinem Aufsatz oft aus Heines Denkschrift über Börne, ohne sie explizit zu erwähnen: „Es ist immer ein Zeichen von Borniertheit, wenn man von der bornierten Menge leicht begriffen und ausdrücklich als Charakter gefeiert wird.“ Diejenigen, die auf den Libertin Steine warfen, saßen für Schmid im „Glashaus der Tugend aus Dürftigkeit“ %. War das bittre Wort Heines nicht auch für Schmid zur Wahrheit geworden: „Das Volk steinigt gerne seine Propheten, um ihre Reliquien desto inbrünstiger zu verehren“°#? Als Prophet und Tabubrecher beargwöhnte man Schmid, als Schönredner, mit dem man sich schmücken konnte, verehrte man ihn. Er spielte die Rolle der sozialdemokratischen Diva nicht so gern, wie die meisten ihm nachsagten, die sich über seine Vorliebe ‚ für das Repräsentative erhaben dünkten. Eine andere Figur, der er seine Worte in den Mund legte, war Carl Schurz, über den er 1956 ein Hörspiel verfaßte. Die Wandlung eines Mannes wollte er aufzeigen, „der aufhört die Demokratie vom Ideal her erzwingen zu wollen und dazu übergeht, sie aus den Realitäten, die er antrifft, aufzubauen und sich so schrittweise dem Ideal nähert“5 . Er hatte ein Lehrstück verfaßt, das in erster Linie an die Adresse seiner eigenen Partei gerichtet war. „Wir haben eine Möglichkeit verspielt, weil wir das Haupt zu hoch in den Wolken trugen und uns nicht tief genug zur Erde bückten“, ließ er Carl Schurz sagen und unterschob damit dem Vormärzdemokraten einen oft von ihm wiederholten Satz‘. Schmid, der Intellektuelle, klagte oft über die Theorie- und Programmlastigkeit der SPD. Sein alter ego Schurz erteilte der Partei strenge Rügen: „Wir müssen das Niveau unserer politischen Sitten heben. Das setzt voraus, daß wir öffentliches Vertrauen nur in die Hände der Vertrauenswürdigen legen. Dieses aber setzt voraus, daß wir an unsere eigenen Parteifreunde genau so strenge Maßstäbe anlegen wie an unsere Gegner!“ °7 Was konnte man als Hörspielautor nicht alles sagen. Getarnt als Carl Schurz, konnte man Ohrfeigen austeilen, die ohne Tarnung böse Folgen gehabt hätten. Schurz durfte leidenschaftlich betroffen ausrufen: „Wenn die Intelligenz und Sauberkeit in einer Partei unterdrückt und zum Werkzeug korrupter Interessen gemacht werden, dann wird dem Volk auf die Dauer besser gedient, wenn diese Partei im Fegefeuer einer Niederlage von ihren schlechten Elementen gereinigt wird.“°® Im Parteiapparat gab es einige, die am liebsten alle Akademiker aus der Partei geworfen hätten. Hans Manthey sah in Ollenhauer einen Gefangenen professoraler Kräfte, denen dieser nicht gewachsen sei‘. Gemeint war natürlich in erster Linie Schmid, dessen Empörung über die Unterdrückung der Intelligenz in der Partei mehr war als böswillige Polemik oder bloßes Selbstmitleid. Nach Schumachers Tod wurden die Intellektuellen in der Partei tatsächlich an den Rand gedrückt.
Wegen des Hörspiels bekam Schmid Krach mit der Partei, wobei man sich offensichtlich aber weniger über den Inhalt des Stücks entrüstete, als darüber, daß Schmid statt Akten zu studieren, Hörspiele erfand”°. Insbesondere Wehner hatte überhaupt kein Verständnis dafür, daß Schmid lieber dichtete, als seine politischen Pflichten erfüllte”!. Er wollte Schmid die Askese auferlegen, die er sich selbst auferlegte. Das Verhältnis zwischen Herbert Wehner und Carlo Schmid war immer gespannt, ein unentwirrbares Geflecht von Freundschaft und Mißtrauen, von politischen Differenzen, Rivalität und enger Zusammenarbeit. In den Jahren 1953-1955 war es so schlecht, daß Schmid am liebsten jeden Kontakt mit Wehner vermieden hätte”. Für die Schwierigkeiten im Umgang miteinander waren persönliche und politische Gründe gleichermaßen ausschlaggebend. Außer den ganz unterschiedlichen Narben, die das Leben beiden geschlagen hatte, der inneren Zerrissenheit und Empfindsamkeit, verband beide nicht viel. Herbert Wehner, zehn Jahre jünger als Schmid, war in Sachsen als Sohn eines Schuhmachers unter ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Früh verschrieb er sich dem Mythos der Revolution, erst als Anarchist, als Sekretär des Literaten und Revoluzzers Erich Mühsam, dann als Kommunist. 1930 wurde er als Kandidat der KPD in den sächsischen Landtag gewählt, 1935 rückte er in das ısköpfige Zentralkomitee der Partei auf. Er unterwarf sich der Parteilinie und formulierte sie zugleich richtungsweisend mit. Seit er Mitte der 30er Jahre im Hotel Lux an der Gorkistraße Quartier bezogen hatte, wurde er zum Täter und Opfer stalinistischer Bespitzelungen, Konspirationen und Säuberungen. 1941 reiste er im Auftrag der Moskauer KP-Führung nach Schweden, wo er 1942 verhaftet wurde. Als angeblicher Verräter wurde er im selben Jahr aus der KPD ausgeschlossen”, Wehner war ein „ Gebrannter“, der dem Kommunismus ein für allemal abgeschworen hatte, aber am Sozialismus festhielt. Mit der gleichen eisernen Disziplin und opferbereiten Hingabe, mit der er einst für den Kommunismus gefochten hatte, kämpfte er jetzt für ein wiedervereinigtes sozialistisches Deutschland. Wehners Angriffe auf den „Ballastabwerfer“ waren ein Stück Machtkampf. In dem von Schmid in Gang gesetzten Wandel der SPD zur Volkspartei mußte Wehner eine Gefährdung seiner Vision eines sozialistischen Deutschland sehen. Schmid vermochte den Optimismus Wehners hinsichtlich der Wiedervereinigung als Nahziel nicht zu teilen?*, weswegen er für Wehner, der sich dem Erbe Kurt Schumachers verpflichtet fühlte, wohl immer im Verdacht stand, auf die außenpolitische Linie der Bundesregierung einzuschwenken. Der in der Kaderpolitik geübte Ex-Kommunist war im Umgang mit dem Apparat der SPD weitaus geschickter als Schmid. Als vermeintlicher Kenner der Politik der KPdSU konnte sich der kommunistische Renegat in Partei und Fraktion Autorität und Wortführerschaft in der Außenpolitik verschaffen. Er fand auch das Ohr Erich Ollenhauers. „Wie einst Kurt Schumacher, so gehandelt werden mußte, die Richtung wies, so hielt in den Jahren nach dessen Tode Herbert Wehner der Partei den Kompaß vor Augen, nach dem jener das Schiff gesteuert hatte“, schrieb Schmid in einer Laudatio auf seinen Parteifreund”°. Nur selten konnte sich Schmid mit seinem aufßen- und deutschlandpolitischen Konzept gegenüber Wehner durchsetzen, der, aus welchen Gründen auch immer, einen kaum zu erschütternden Respekt innerhalb der Partei genoß.
Wehner suchte im Interesse der Partei, die in Flügel aufgespalten zu werden drohte, den Kontakt zu Schmid, der zu Silvester 1954 einen einfühlsam klingenden Brief seines sonst zumeist recht rauhbeinigen Partei- ‚ freundes bekam: „Ich hab’ an Dich noch eine besondere Bitte, Carlo: Wenn Dir die Partei manchmal zu eng wird, so versuche zu denken, daß andere in Wirklichkeit unerträglich sind, und ohne Partei in Wirklichkeit gar nicht zu leben ist — so weit es sich beim Leben doch auch um den Ver$uch handelt, das Allgemeine mit ordnen zu wollen.“7° So konnte Wehner denken, der in der Partei eine neue Identität fand, aber doch nicht. Schmid, für den die Mitarbeit in einer Partei ein ständiges Leiden war’”. Immer wieder kam es zu Zusammenstößen, weil Wehner, wie Schmid es vorsichtig und diplomatisch formulierte, von ihm wie auch von den anderen seiner Parteifreunde, „Beweise ihrer Bereitschaft zur Selbstdisziplin bei der Erfüllung ihrer Bürgerpflicht“ forderte”®. Trotzdem: man mußte sich zusammenraufen. Wehner übermittelte Schmid Geburtstagsgrüße und ein kleines Präsent. Schmid bedankte sich: „Wir wollen weiter zusammenhalten, denn wir haben einander nötig und die Partei hat es nötig.“ ”° Freundschaft als Muß. Wehner buhlte fast um die Freundschaft Schmids. Dem Geburtstagsgruß folgten gute Wünsche für das Jahr 1956: „Ich bin traurig darüber, daß wir nur selten zusammenhängend miteinander sprechen. Aber ich möchte, daß Du keinen Zweifel daran hast, wie sehr mir daran liegt, den inneren Kontakt zu erhalten.“ ®° Wehner war für Schmid ein Rätsel. An einem Tag begegnete er ihm zärtlich einfühlsam, am anderen schroff ablehnend. Schmid konstatierte, daß dieser Mann „sein Wesen keusch unter einer Schale zu verbergen liebt, durch die auch der Blick des Freundes nur bis zu dem Rande dessen zu dringen vermag, was er zu verbergen sucht, weil das Persönlichste nur den angehe, der sich damit an das Leben zu wagen hat, und damit sei er doch immer allein mit sich selbst.“®‘ Wehner hätte das gleiche über Schmid schreiben können. Beide umgaben sich mit einem Panzer, der verbergen sollte, wie verletzlich und verwundbar sie waren. Niemand war einfühlsamer als Wehner, wenn Schmid persönliches Unglück traf. Umgekehrt gehörte Schmid zu den ersten, die sich hinter Wehner stellten, wenn dieser wegen seiner kommunistischen Vergangenheit angegriffen wurde®*. Verzweifle nicht! Auch Wehner las Kierkegaard®3. Doch die Briefe, die sich wie ein Zeugnis inniger Freundschaft lesen, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß hinter den Kulissen Konflikte und Rivalitäten ausgetragen wurden. Schmid war frustriert, daß sich gegen Wehner in der Partei nichts erreichen ließ. Er fürchtete, liebte und haßte Wehner®*, wie er einst Schumacher gefürchtet, geliebt und gehaßt hatte. Ob er mehr unter Wehner oder der geistigen Enge der Partei litt, ist schwer zu sagen. Beides bedingte sich zum Teil auch, weil Wehner lange Zeit die SPD als sozialistische Partei erhalten wollte. Schmids Bemühen, die SPD aus der Isolierung herauszuführen, Kontakte zu wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Gruppen herzustellen, wurde begrüßt und zugleich beargwöhnt. Als er im Herbst 1055 einer Einladung des Verbandes der Markenartikler zu einem Vortrag folgte, wurde dies mit einigem Mißtrauen registriert. Kontakte zum Klassenfeind galten bei einigen Genossen noch immer als verpönt. Er klagte: „Es gibt so wenig Leute, die begreifen, daß es besser ist, in der Wüste zu predigen als in der Kirche.“ °5 Nicht alle verstanden, daß auch eine sozialdemokratische Partei das Einvernehmen mit der Wirtschaft suchen mußte. Er blieb im Gespräch mit Otto A. Friedrich, der sich seinerseits wünschte, daß sich das von Schmid verfochtene Volksparteikonzept in der SPD rasch durchsetzen möge®®.
Führende Industrielle traf Schmid auch auf der Bilderbergkonferenz, an deren Tagungen er von Anfang an aktiv teilnahm. Die Konferenz war 1954 von Prinz Bernhard der Niederlande ins Leben gerufen worden, der auch die Schirmherrschaft übernahm. Auf ihr versammelten sich zumeist zweimal jährlich unter Ausschluß der Öffentlichkeit Politiker, Wissenschaftler, Unternehmer und Gewerkschafter aus Westeuropa und den USA zum Meinungsaustausch über brennende nationale und internationale Probleme. Für Politiker, die der Opposition angehörten, war dies eine erstklassige Möglichkeit, Insiderinformationen über die internationale Entwicklung zu erhalten und Kontakte zum politischen und gesellschaftlichen „Establishment“ der westlichen Staaten zu knüpfen. Für die SPD nahmen zunächst nur Max Brauer und Carlo Schmid an den Konferenzen teil?7. Erler stieß ein Jahr später hinzu, nachdem Schmid ihn dazu eingeladen hatte”®. Beide waren über die offene und vertrauensvolle Atmosphäre, die auf den Tagungen herrschte, beeindruckt. So tat Schmid, der wegen seines geringen innerparteilichen Engagements gescholten wurde, einiges, um die SPD aus ihrem selbstgewählten Schneckenhaus herauszubringen. Irgendwann mußten auch die Genossen einsehen, daß die Begegnung mit den „Anderen“ wichtiger war als das Abhalten von Parteiversammlungen°®. Freilich bis dahin bedurfte es noch großer Geduld und eines dicken Felles, das Schmid nicht hatte. So haderte er mit der Partei bis an die Grenze der Ungerechtigkeit. Als Adolf Arndt auf einem Kongreß der SPD in Köln Anfang 1956 den „Konformismus“ und „Byzantinismus“ der Adenauer-Ära beklagte, und vor einer „freiwilligen Selbstgleichschaltung des Geistes“ warnte‘, erhielt er einen Tag später einen handgeschriebenen Brief seines Parteifreundes Schmid: „Ich habe das Bedürfnis, Dir für Dein Referat von gestern zu danken. Wenn nur die Partei es richtig.gehört hätte.“°‘ Arndt hatte in seinem Referat kein Wort über die SPD verloren, sondern nur die geistige Stickluft der soer Jahre kritisiert, wobei er sich zu der Formulierung hatte hinreißen lassen: „Die Dummheit hat mehr Menschen umgebracht als jede Art von Verbrechen insgesamt.“?” Es mag natürlich sein, daß Arndt auch die Stickluft in der SPD hatte treffen wollen. Auch Arndts Stellung innerhalb der SPD war nach 1953 schwächer geworden. Mit Schmid einte ihn der Kampf gegen die Enge des Tabus”.
Schmid war Politiker aus Leidenschaft, aber kein Parteipolitiker. Er _ träumte von einem Regiment der Freunde, wie er es 1945 in Tübingen errichtet hatte. „Wie gut, daß es in der Republik der Freundschaft keine Grenzen’ und Parteien gibt“, schrieb er 1957 Thomas Debhler, der zu seinen engsten politischen Freunden zählte?*. Mit dem streitbaren Franken Dehler war Schmid schon zur Zeit des Parlamentarischen Rates gut ausgekommen. In den soer Jahren entwickelte sich daraus Freundschaft, ohne daß von irgendeiner Seite damit politische Hinterabsichten verbunden gewesen wären. Eine Verschwörung in Richtung Kleine Koalition war zu keiner Zeit in Gange. Politisch war man oft recht unterschiedlicher Meinung, mit Ausnahme der Außenpolitik, insbesondere der Ostpolitik, wo es große Übereinstimmung gab.
Was verband die beiden Männer, die selten einer im gleichen Atemzug nannte? Galt doch der eine als ein leidenschaftlicher, gelegentlich recht unbeherrschter Vollblutpolitiker, der andere als ein über die Zwistigkeiten der Zeit erhabener homme de lettres. Beide hatten mehr gemein, als der außenstehende politische Beobachter glaubt. Sie waren beide intelligent und eigenwillig, lagen oft im Widerstreit zur offiziellen Parteilinie und hatten den Mut zu einem unpopulären Wort. Noch mehr als Dehlers „Mut vor Königsthronen“ schätzte Schmid dessen „Mut vor dem vielköpfigen Souverän“, Ihn freute, daß dieser unbequeme Liberale nicht davor zurückschreckte, Tabus zu brechen. 1953 ermunterte er ihn: „Bleiben Sie weiter so frisch und kämpferisch und bleiben Sie weiter der Schwarze Ritter, der auf seinem Feldzuge gegen die offenen und heimlichen Feinde der Freiheit sich nicht scheut, gelegentlich auch gegen Windmühlen anzurennen. Wer garantiert uns denn, daß die Windmühlen tatsächlich nur Windmühlen und keine Riesen sind?“9” Schmid wollte in seinem Freund einen Don Quichotte sehen, stilisierte er sich doch selbst gerne zu einem Abkömmling des Ritters von der traurigen Gestalt. Er war Dehler dankbar dafür, daß er auf ihn zugekommen war: „Es gibt in diesem Hause wenig Menschen. Sie gehören zu dieser kleinen Schar und ich bin glücklich, daß sie mich erkannten.“ ® Ein anderer aus der kleinen Schar derer, die in Bonn Mensch geblieben waren, war Eugen Gerstenmaier. Mit dem schwäbischen Oberkonsistorialrat, der sich während des NS-Regimes dem Kreisauer-Kreis angeschlossen hatte, diskutierte Schmid gern und oft sowohl über philosophische, theologische als auch politische Probleme®, Im Präsidium, im Ältestenrat, eine Zeitlang auch im Auswärtigen Ausschuß saß man zusammen und bemühte sich trotz parteipolitischer Gegensätze um eine enge politische Zusammenarbeit. In der Außen- und Deutschlandpolitik suchten ab Mitte der soer Jahre beide nach Alternativen zur Politik Adenauers. Man hätte zusammenfinden können und unterhielt sich wohl auch oft über Chancen und Möglichkeiten einer Großen Koalition. Es gelang aber nicht, gegen die Widersacher in der jeweils eigenen Partei die dazu notwendigen Fäden zu knüpfen.
Schmid hätte es nicht wagen können, die Partei vor vollendete Tatsachen zu stellen. Sie wäre ihm nicht gefolgt. Sein Dialog mit dem Parteigegner wurde ihm von den meisten Sozialdemokraten verargt. Der alte Paul Löbe gehörte zu den wenigen, die ihn verstanden und ihm gelegentlich den Rücken stärkten. Als Carlo Schmid im Herbst 1954 eine sehr bewegende Trauerrede auf den verstorbenen Bundestagspräsidenten Hermann Ehlers hielt’®, bekam er von Löbe einen Dankesbrief: „Ihr Nachruf war ein hervorragender Erfolg für uns alle (…). Lassen Sie sich also durch gelegentliche Kritikaster nicht beirren, bewahren Sie auch sonst Ihre Linie — die Partei hat Sie sehr nötig.“’°“ Auch Parteiveteran Friedrich Stampfer klopfte Schmid ab und zu auf die Schulter, um die Selbstzweifel des Parteineulings zu zerstreuen!”. Für die beiden Altsozialdemokraten hegte Schmid große Verehrung. Löbes Menschlichkeit ‚pries er immer mit ergreifenden Worten!®, Der frühere Reichstagspräsident gehörte zu denen, die bereits in der Weimarer Republik einen Volksparteikurs angesteuert hatten. Nach 1945 war es trotz Schumachers Plädoyer für eine Parteiöffnung zu einer Linksentwicklung in der SPD gekommen, die in den soer Jahren von der Parteimehrheit zäh verteidigt wurde. Einflußreiche Landesfürsten wie Brauer, Kaisen und Zinn hatten freilich den „Ballast“ schon längst abgeworfen und betrieben in ihren Städten und Ländern sehr erfolgreich eine soziale Reformpolitik. Schmid beglückwünschte sie’°* und vermutlich beneidete er sie auch. Er saß in Bonn, mußte sich mit Wehner und dem Parteiapparat arrangieren, wenn er von ihm nicht noch mehr sabotiert werden wollte. Trotzdem nahm er sich vor, in Bonn und „außerhalb dieser schrecklichen Stadt“ seine „Pflicht“ zu tun!°S, und nur am Wochende seinem geliebten Beruf als akademischer Lehrer nachzugehen.
Politik und Politikwissenschaft: Der Frankfurter Universitätsprofessor
Wenn die Rede auf Tübingen kam, wurde Carlo Schmid zumeist recht sentimental, und mitunter zeigte er sich auch ein wenig stolz. Immerhin war er es gewesen, der 1945 aus der Tübinger Universität eine der besten deutschen Universitäten gemacht hatte. Gewiß, Tübingen war im Grunde noch immer eine Provinzstadt. Aber das geistige Leben pulsierte dort doch ganz anders als im Bonner Bundesdorf. Trotzdem entschied er sich Anfang 1953, einen Lehrstuhl in Frankfurt anzunehmen. Bereits im Frühjahr 1952 hatte Frankfurts Oberbürgermeister Walter Kolb dem ehemaligen Mitkämpfer gegen die Barbarei des _ NS-Regimes eine Berufung nach Frankfurt in Aussicht gestellt. Mit dem hessischen Kultusminister Ludwig Metzger und dem Rektor der Universität Max Horkheimer hatte er bereits gesprochen. Beide waren mit einer Berufung Schmids einverstanden‘. Schmid zögerte noch. „Alles, was Herz und Seele anlangt“, hielt ihn in Tübingen fest”. Im September teilte er dem Rektor der Tübinger Universität mit, daß er einen Ruf an die Johann- Wolfgang-Goethe-Universität erhalten habe?. Tübingens Rektor Erwin Bünning wollte keine Mühe scheuen, um den prominenten Politiker und Wissenschaftler in Tübingen zu halten*. Dagegen unternahm Stuttgarts Kultusminister Schenkel, den Schmid kurze Zeit später aus anderem – Grund zu Recht des Banausentums bezichtigte’, nichts, um seinen Parteifreund von dem gefaßten Entschluß, Tübingen den Rücken zu kehren, wieder abzubringen. Dabei hatte Schmid gar keine überzogenen Forderungen gestellt. Eine eigene Sekretärin und einen eigenen Assistenten hatte er verlangt‘. Ein Wunsch, der heute geradezu bescheiden klingt. In Frankfurt wurden ihm weit bessere Arbeitsmöglichkeiten als in Tübingen geboten. Außerdem lag Frankfurt zentral, während Tübingen eine halbe Tagesreise von Bonn entfernt war. Anfang Februar nahm er den Ruf nach Frankfurt an. Resignation und Hoffnung begleitete den Ortswechsel. Nach der fürchterlichen Stuttgarter-Affäre verband sich der Wechsel nach Frankfurt mit dem Wunsch nach einem Neubeginn. Er wollte sich für eine Weile „aus der Politik zurückziehen, anständige Bücher schreiben und Studenten erziehen“”. Die Politik ließ ihn allerdings dann doch nicht los, so daß sein Vorsatz nicht mehr als ein frommer Wunsch war. Heimisch fühlte er sich in Frankfurt nicht — weder in der Stadt noch an der Universität. Unerfreulich waren schon die Auseinandersetzungen um seine Berufung gewesen. Er mußte mit Widerständen rechnen. Die Rechtswissenschaftliche Fakultät hatte im Juli 1952 Widerspruch gegen seine Berufung eingelegt. Auch in der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät wurden Bedenken laut, ob Schmid trotz seiner politischen Beanspruchung die mit dem Lehrstuhl verbundenen Aufgaben erfüllen könne?. Die Presse wurde gegen Schmids Berufung mobilisiert. In der „Frankfurter Neuen Presse“ las man, daß es nicht ratsam sei, „die Lehrstühle der politischen Wissenschaften gerade mit parteipolitisch besonders hervorragenden Persönlichkeiten zu besetzen.“? Die Angriffe richteten sich nicht in erster Linie gegen die Person Schmids. Es ging vielmehr um einen Machtkampf zwischen der Universität und dem Kultusministerium. Bereits in den Jahren 1947/48 war es zu einem Aufstand der Universität gegen das hessische Kultusministerium gekommen, das Hermann Louis Brill zum Honorarprofessor für Staatsrecht ernannt hatte. Das Ministerium hatte sich durchsetzen können’®, Dagegen mußten Zinn und sein damaliger Kultusminister Stein bei der von ihnen beabsichtigten Dekretierung der Politischen Wissenschaften zum Pflichtfach zurückstecken. Ja, selbst die Errichtung eines Lehrstuhls für Politische Wissenschaften war umstritten gewesen, zumal die Fakultäten sich nicht einigen konnten, in welcher Fakultät der Lehrstuhl angesiedelt werden sollte. Beim Streit der Fakultäten obsiegte die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche. Im April 1950 war Ernst Wilhelm Meyer nach ebenfalls heftigen Auseinandersetzungen zum Ordinarius für Politische Wissenschaften ernannt worden“. Zwei Jahre nach der Eröffnung des Instituts im Kettenhofweg 135 trat Meyer in den Dienst des Auswärtigen Amtes, das ihn gedrängt hatte, den Posten eines Missionschefs in Indien anzunehmen. Als Schmid im Frühjahr 1953 nach Frankfurt kam, fand er ein gut eingerichtetes Institut für Politische Wissenschaften vor. Umstritten war dagegen noch immer die Frage nach dem Gegenstand und dem Inhalt
einer Wissenschaft von der Politik. Bei den Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern fühlte sich Schmid überhaupt nicht heimisch. Finanzwissenschaftler, Betriebswirte und Statistiker waren, selbst wenn sie Fritz Neumark und Heinz Sauermann hießen, nicht die von ihm bevorzugten Dialogpartner. Bei den Berufungsverhandlungen hatte er Wert darauf gelegt, auch Lehrveranstaltungen zum Völkerrecht anbieten zu dürfen“. Schließlich war er von Hause aus Völkerrechtler und hatte die Außenpolitik und das Völkerrecht immer in einem engen Zusammenhang gesehen. Lieber noch als bei den Juristen hätte er die Politikwissenschaft bei den Philosophen verortet. Er hoffte, daß Max Horkheimer die geeigneten Schritte unternehme, um Politologen und Philosophen zu vereinen’3. Da Horkheimer mehr in den USA als in Frankfurt war, und Schmid selbst keinerlei Initiative ergriff, blieb alles beim alten. Auch Carlo Schmid fiel es schwer, das Fach Politikwissenschaft zu umreißen, obwohl er bereits in seinen Lehrveranstaltungen in den dreißiger Jahren versucht hatte, politische Bildung zu vermitteln. Er bat den Rektor, die Vorlesungen aller Fakultäten, die für die politische Bildung interessant waren, im Vorlesungsverzeichnis gesondert aufzuführen. Das würde den Studenten die Orientierung erleichtern und obendrein könne sich aus einer solchen Zusammenfassung allmählich ein eigenes Studium der Politischen Wissenschaften entwickeln’*. Die Politikwissenschaft war nach dem Krieg als Demokratiewissenschaft mit einer stark politisch-didaktischen Zielsetzung etabliert worden. Die jugendlichen Hörer sollten gegen Totalitarismen aller Art gefeit werden. Gewiß, eine wichtige Aufgabe. Aber Schmid wollte die Aufgabe der Politikwissenschaft nicht darauf reduzieren. Ein guter Politikwissenschaftler durfte seines Erachtens weder „Schulmeisterei“ betreiben noch die politischen Machtträger mit Herrschaftswissen versorgen’’. Damit wollte er nicht einer vermeintlichen Objektivität und Neutralität der Wissenschaft das Wort reden. Für Schmid war die Vorstellung, daß es eine vordussetzungslose Wissenschaft gebe, ein „Wahn“. Max Weber und Hermann Heller waren die Autoritäten, die er zitierte, wenn er zu umreißen versuchte, was Politikwissenschaft ist und was sie zu leisten habe’’. Max Weber, mit dessen Werk er sich schon in der Zwischenkriegszeit intensiv beschäftigt hatte, verehrte er geradezu als eine Art Lichtgestalt: „Max Weber, der große Max Weber, auf den wir fast immer rekurrieren müssen, wenn wir wissen wollen, wie die Dinge denn eigentlich sind oder eigentlich waren.“ ‚®
Er definierte Politikwissenschaft als Kultur- und Wirklichkeitswissenschaft, deren Aufgabe es sei, zu verstehen und zu beschreiben: „Beschreiben aber schließt nicht Sinndeutung unter dem Gesichtspunkt des jeweiligen Hier und Jetzt aus. Wir können und wir müssen, wenn wir politische Wissenschaft treiben, die Tatbestände des Politischen auf einen Sinn hinzu deuten versuchen, indem wir von einem bestimmten Menschenbild ausgehen, für das wir uns entschieden haben.“ ‚? Das Politische geschähe immer aus der Totalität aller Bezogenheiten und wirke auf die Totalität aller Bezogenheiten”®, Er gab zu bedenken, ob es nicht besser gewesen wäre, anstatt eines Lehrstuhls für Politische Wissenschaften eine Ecole des sciences politiques et morales zu errichten?‘. Hier sprach der Gelehrte, der gern wie Odysseus zu den Säulen des Herkules vorgedrungen wäre, der Vorbehalte hatte gegen das moderne Spezialistentum und eine Verschulung des Universitätsbetriebs. Er selbst freilich kam überhaupt nicht zum Forschen. Ihm blieb nur der Essay, um das Selbstverständlich-Gewordene immer wieder in Frage zu stellen. Carlo Schmid war als Professor vornehmlich Lehrer und Erzieher. Er griff auf die Vorlesungsmanuskripte der dreißiger Jahre zurück. Wann hätte er auch Zeit finden sollen, völlig neue Vorlesungsmanuskripte auszuarbeiten? Und schließlich brauchte er auch nicht zu leugnen, was er in den dreißiger Jahren gesagt hatte. Seine Machiavelli-Vorlesung wollte keiner, der in Frankfurt studierte, versäumen. Zahlreiche Hörer zog auch seine Vorlesung zur politischen Ideengeschichte an. Sie basierte auf seiner früheren Vorlesung über die Reichsidee, die er nun ausbaute zu einer umfassenden Darstellung der großen Staatsdenker und -lenker von Platon bis Bismarck. Nicht mehr die Reichsidee – er sprach nun von „Reichsmetaphysik“ —, sondern der Prozeß der Säkularisation stand im Zentrum der Vorlesung. Die großen Linien der Ideen- und Politikgeschichte und ihre wechselseitige Verschränkung wurden aufgezeigt. Manche Thesen waren gewagt. Aber lag nicht in solchen geistigen Wagnissen auch die Möglichkeit, Neues zu erkennen und zu erforschen? Die Studenten erfuhren etwas über die unterschiedliche Ausrichtung des Humanismus bei Montaigne und Petrarca, bei Erasmus und Machiavelli, bei Cervantes und Shakespeare. Sie lernten die Theorien des aufgeklärten Absolutismus und dessen Staatspraxis bei Richelieu und Friedrich dem Großen kennen. Ihnen wurde erläutert, warum der Verfasser des „Leviathan“ Thomas Hobbes zum Vorläufer des Liberalismus wurde. Sie sahen, welch mächtigen Einfluß Rousseau auf die Französische Revolution und die Vertreter der Räteideen ausübte, und welche Bedeutung Rousseau für die Dichtung Hölderlins und Jean Pauls hatte. Rousseau und Voltaire wurden ihnen als Antipoden vorgestellt. Wäre ohne Voltaire die deutsche Klassik möglich gewesen? Trug Hegel Verantwortung für die Ausbildung des deutschen Machtstaates??? Wer in Schmids Vorlesungen saß, spürte noch einen Hauch von der Idee der universitas litterarum. Gewiß, man kann ihm vorwerfen, daß er die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen völlig ausblendete. Die Französische Revolution wurde in seiner Vorlesung zur Randerscheinung. Er stellte die großen Lichtgestalten der Geschichte vor. Große Männer machen Geschichte. Dieses Diktum hatte für den einst in der Tradition Georges Stehenden weiterhin Gültigkeit. Die Vorlesung war gut besucht. 700-800 Hörer saßen zumeist vor ihm, so daß er manchmal klagte, er spreche gegen eine schwarze Wand. Die meisten seiner Zuhörer waren offensichtlich beeindruckt von dem Kolleg. Als Schmid 1960 im typisch schlappsigen Jargon des „Spiegel“ „schöngeistig angehaucht“ genannt wurde”, schrieb einer seiner Hörer im Namen vieler Kommilitonen Augstein einen entrüsteten Leserbrief: „Die über 700 Studenten der Universität Frankfurt a. M., die samstags die Vorlesungen Herrn Professor Schmids über „Tragende Ideen der Politik“ hören, sind immer wieder Zeugen der überragenden Persönlichkeit dieses allgemein hochgeschätzten und beliebten Professors. Mit einer souveränen Beherrschung des Stoffs übersetzt Herr Professor Schmid aus dem griechischen, lateinischen, französischen, italienischen und englischen Urtext – vollkommen frei – die für den jeweiligen Lehrstoff in Betracht kommenden Stellen. Dazu kommen Zitate aus der Literatur vieler Schriftsteller und Dichter des In- und Auslandes. Er ist also nicht nur ‚schöngeistig angehaucht‘, sondern Meister seines Fachs.“** Auch Heuss’ Nichte Ulla Galm war nach einem Vorlesungsbesuch bei Schmid fasziniert von dessen „brillanten Vortrag ohne jede Fffekthascherei“*. Seine Zweifel, ob alle seine Hörer über das geistige Rüstzeug verfügten, um seine Vorlesungen in ihrer ganzen Tragweite zu verstehen”, waren vermutlich nicht unbegründet. Trotzdem hoffte er, daß der Appell gegen den Zynismus der Nachkriegsgesellschaft, den er mit seiner Vorlesung zur Ideengeschichte verband, nicht ungehört bleiben würde””.
Seine Vorlesungen über den Deutschen Staat der Gegenwart und über die Politische Partei entsprachen eher der landläufigen Vorstellung von Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft. Es waren Überblicksvorlesungen, die der politischen Allgemeinbildung dienten. Sein Kolleg über die Politische Partei war eine umfassende Darstellung der historischen Entstehungsbedingungen und der Rolle der Parteien in der Verfassungswirklichkeit der einzelnen Staaten, die ergänzt wurde durch Betrachtungen über die soziologischen, programmatischen und organisatorischen Strukturen der Parteien”®. Seinem zu Beginn der Vorlesung aufgestellten Postulat, eine wertfreie Betrachtung der Theorie und Praxis der Parteien vorzunehmen, kam er voll und ganz nach. Daß Schmid Sozialdemokrat war, konnte man dem Inhalt der Vorlesung nicht entnehmen. In früheren Jahren hatte er des öfteren auf dem Katheder politisiert. Jetzt folgte er streng der von Max Weber postulierten Trennung von Wissenschaft und Politik. Den deutschen Staat der Gegenwart hatte er als einer der Verfassungsväter selbst mitgeformt. Hier brauchte er sich nicht in Literatur zu vertiefen. Seine Assistenten mußten ihm zwar die zeitgenössische Literatur exzerpieren”®, er las die Exzerpte auch durch und unterstrich, was ihm wichtig erschien, und versah einiges mit dicken Fragezeichen, aber im Grunde waren diese Exzerpte für ihn nur eine Art Stichwortverzeichnis. Den Schwerpunkt der Vorlesung legte er auf die verfassungsrechtlichen Grundlagen des politischen Systems der Bundesrepublik. Mit Kritik an deren politischer Entwicklung scheint er sich sehr zurückgehalten zu haben. Dem Vorlesungsplan zufolge ging er nur mit der Bürokratie und den Interessenverbänden hart ins Gericht’. Für den „totalitären Staat in der sowjetischen Besatzungszone“ blieben nur die beiden letzten Vorlesungswochen. Auch das Gebiet der Außenpolitik und der internationalen Beziehungen wurden von ihm abgedeckt. Er sprach über das Recht als Mittel der Ordnung internationaler Beziehungen und über Theorie und Praxis der Außenpolitik in vergleichender und historischer Perspektive, wobei er die aktuelle Außenpolitik nur am Rande streifte. Die vorgestellten fünf Kollegs gehörten zu seinem Standardrepertoire. Bei all diesen Kollegs schöpfte er aus einem immensen Vorrat von Wissen und Erfahrung. Er selbst war bekümmert, daß zu diesem Wissen kaum mehr etwas hinzukam. Auf dem neuesten Forschungsstand war er nicht immer, aber dadurch unterlag er auch weniger Moden und Eitelkeiten. Als er Mitte der soer Jahre mit Erschrecken feststellte, daß die Frankfurter Studenten kaum Kenntnisse über die nationalsozialistische Vergangenheit hatten?‘, bot er eine Vorlesung über Diktatur und Demokratie EN die durch ein Proseminar vertieft werden sollte. Im Anschluß daran las er über das „politische System der sowjetisch besetzten Zone“. In diesen Vorlesungen betrieb er politische Bildung im engeren Sinne des Wortes. Sie war nötig, weil noch nicht bei allen Frankfurter Studenten sich ein demokratisches Bewußtsein entwickelt hatte32, Der Vorwurf, Schmid habe eine historisch-ästhetische, aber keine praxisnahe Vorstellung von Politikwissenschaft gehabt33, ist überzogen und einseitig. Freilich, bei all seinen Vorlesungen versuchte er, die aktuelle Problematik des Vorlesungsstoffes anhand der historischen Entwicklung aufzuzeigen, und manchmal hielt er sich in der Tat etwas zu lang bei der Historie auf. Es war auch schwierig für einen Politiker, bei brandaktuellen Themen nicht Partei zu ergreifen. Wenn er nicht politisieren wollte, mußte er in die Geschichte fliehen. In seinen Seminaren behandelte er im übrigen des öfteren ganz praxisnahe Gegenstände, bei denen er aus der Schule plaudern konnte: „Wie entsteht ein Bundesgesetz“, „Die Geschäftsordnungen des Bundestages und des englischen Unterhauses“ oder „Die Deutschlandpolitik seit Jalta“ 3*. Manchmal faßte er sogar heiße Eisen an. Im Wintersemester 1966/67 bot er ein Seminar zur Notstandsgesetzgebung an. Im September 1955 hielt er in der Aula der Universität einen Vortrag über die gemeinsame Reise mit Adenauer nach Moskau und entwickelte im Anschluß an seinen Bericht auch außenpolitische Zukunftsperspektiven’. Bei seinem Vortrag erntete er übrigens Pfiffe von den zuhörenden Studenten, die ihm nicht glauben wollten, daß die Moskauer Studenten wohnungsmäßig besser untergebracht seien als die Frankfurter‘. Die Frankfurter Universität war damals alles andere als eine linke Hochburg. Schmid war es auch zu verdanken, daß renommierte Wissenschaftler und Kenner der internationalen Politik wie Hans Morgenthau, George F. Kennan und Richard Löwenthal an der Frankfurter Alma Mater Gastvorlesungen hielten. Die ehemalige KPD-Abgeordnete Ruth Fischer, die im Zuge der stalinistischen Säuberungen dem Kommunismus wider Willen abtrünnig geworden war, führte in die Geschichte des russischen Kommunismus ein?7. Schmid trug einiges dazu bei, um die Studenten aus dem Elfenbeinturm der abstrakten Wissenschaft herauszuholen. Die Politische Wissenschaft entwickelte sich nicht so, wie er sich das erhofft hatte. Mit der angelsächsischen political science, die in der Bundesrepublik sehr stark rezipiert wurde, konnte er nicht viel anfangen und nahm sie vermutlich auch nur sehr fragmentarisch zur Kenntnis. Dem Tübinger Verlagsbuchhändler Herbert Holtzhauer riet er 1957 ab, den Verlagshandel auf politische Literatur zu konzentrieren. Mit der Politischen Wissenschaft in Deutschland sei es „ein Kreuz“. Es gebe nicht „sehr viel ernstzunehmende Dinge“ auf diesem Feld?®. Es gab kaum einen Politikwissenschaftler, den er sich als Kollegen wünschte. Als Anfang 1960 die Einrichtung eines zweiten Lehrstuhls für Politikwissenschaft an der Frankfurter Universität beschlossen wurde, schaltete er sich in die Berufungsverhandlungen ein. Er wollte Otto Kirchheimer zum Kollegen gewinnen. Der renommierte Jurist und Verfassungstheoretiker, der zur Zeit der Weimarer Republik dem linken Flügel der SPD angehört hatte, war nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten aus Deutschland in die USA emigriert. Nach dem Krieg blieb er in den USA, wo er 1955 eine Professur für Politische Wissenschaft an der New School of Social Research in New York bekam?. Schmid hatte sich schon in den fünfziger Jahren für eine Berufung Kirchheimers an die Universität zu Köln und Bonn eingesetzt, was aber am Widerstand der dortigen Fakultäten gescheitert war*°. In Frankfurt gelang es ihm, Kirch- – heimer auf Platz ı der Berufungsliste zu setzen. Aus privaten und gesund-, heitlichen Gründen lehnte Kirchheimer jedoch 1962 die bereits vorbereitete Übernahme des Lehrstuhls ab*‘. Schmid war enttäuscht. Er hatte sich auf Kirchheimer gefreut*. Gab es jemand, der ebenso brillant wie Kirchheimer das schwierige Fach Politische Wissenschaft in Forschung und Lehre vertreten konnte? Schmid fiel nur ein Historiker, aber kein Politikwissenschaftler ein: Golo Mann sollte den historisch ungebildeten Frankfurter Studenten Einsichten in die historischen und politischen Entwicklungen der Neuzeit vermitteln#3. Der Sohn des berühmten Nobelpreisträgers, der Klio als Muse der Kunst verstand, war ein Außenseiter des Wissenschaftsbetriebs. Gerade deshalb schätzte ihn Schmid. Bei Mann wurde Geschichte zur Literatur. Der hessische Kultusminister Ernst Schütte stellte sich einer Berufung Manns entgegen. Mann sei ein Historiker, ihm fehle das „Sensorium für die Sozialwissenschaften“, das ein Politikwissenschaftler benötige**. Schmid versuchte Schüttes Bedenken zu zerstreuen. Doch Golo Mann fühlte sich mehr als Schriftsteller denn als Professor und erwog, seine Lehrtätigkeit wieder aufzugeben*°. Ihm war Schmids Leistungskraft eines der „sieben Welträtsel“*. Auf Drängen Schüttes wurde Iring Fetscher berufen, der wie Schmid am liebsten über politische Ideengeschichte las und sich später darüber beklagte, daß sein Kollege Schmid keine große Erleichterung bei der Ausbildung der Studenten gewesen sei*’. Nun, das konnte man auch umgekehrt sehen. Schmids Skepsis gegenüber dem Fach, das er unterrichtete, wuchs mehr und mehr. Noch immer hatte dieser Studiengang etwas Improvisiertes an sich. Er riet Studenten, die Politikwissenschaft studieren wollten, eher ab als zu#°. Die Mehrzahl der Frankfurter Studenten, die sich für das Fach Politikwissenschaft eingeschrieben hatten, waren Lehramtskandidaten, die das Fach zumeist nur im Nebenfach studierten. Schmid vermißte bei ihnen einen wissenschaftlichen Eros*”. Manchmal hörte man ihn über den Konformismus der nachwachsenden Generation, die das Studium nur noch als Berufsausbildung auffaßte, klagen“. Als sich Mitte der 6oer Jahre die Studentenschaft radikalisierte, war er dann aber sehr erschrocken. Trotz der Frustration über die Politikwissenschaft lehrte er das Fach mit Leidenschaft. Die Befürchtung einiger Kollegen, daß Schmid seine akademischen Lehrverpflichtungen nicht erfüllen könnte, war unbegründet. Mindestens drei Lehrveranstaltungen bot er jedes Semester an. Er legte sie um das Wochenende herum. Das Seminar fand fast immer freitags von 20-22 Uhr statt. Trotz der späten Abendstunde kamen in der Regel 30-35 Teilnehmer zusammen, die den prominenten Professor mal ganz aus der Nähe erleben wollten’. Samstagvormittags hielt er dann in einem überfüllten Hörsaal seine große dreistündige Vorlesung. Die kleine Vorlesung legte er entweder auf den Freitagnachmittag oder Montagvormittag. Nur einmal, als er von Lore Lorentz zu einer Premiere im Düsseldorfer Kom(m)ödchen eingeladen war, ließ er eine Vorlesung ausfallen’, Selbst nach seinem schweren Schlaganfall im Dezember 1956 wollte er im Sommersemester 1957 schon wieder auf das Katheder steigen. Erst nach energischem Einspruch der behandelnden Ärzte ließ er seine bereits angekündigten Lehrveranstaltungen wieder absagen. Er murrte, daß ein starker Wunsch, der in ihm lebendig war, zerstört worden seiS3. Dabei konnte er sich noch kaum auf den Beinen halten. Arnold Bergstraesser ließ sich dazu überreden, die Lehrstuhlvertretung zu übernehmen.
Organisatorische und verwaltungstechnische Fragen hatten die Assistenten zu erledigen. Er kam nur zu den Lehrveranstaltungen nach Frankfurt. Auch die Vorbereitung der Seminare war Sache der Assistenten. Sie hatten Seminarpläne zu entwerfen und Referate zu verteilen. Obwohl er in der Regel keine Zeit hatte, sich auf die Seminare vorzubereiten, leitete er sie souverän. Da er zu den altmodischen Dozenten gehörte, denen mehr an Belehrung als an wissenschaftlicher Diskussion mit den Studenten lag, hob er, sobald der Referent geendet hatte, zum Korreferat an. Diese Korreferate sollen manches „Aha-Erlebnis“ bei den studentischen Zuhörern ausgelöst haben’*. Selbst wenn er dozierte, tat er es nicht in der Art eines Schulmeisters. Schulebildend wirkte er auch in Frankfurt nicht. Zum einen hatte er wenig Zeit, sich um seine Studenten und Assistenten zu kümmern, zum anderen fand die Nachkriegsgeneration nur schwer Zugang zu den geistigen Traditionen der Zwischenkriegszeit, denen er verbunden blieb. Sein erster Assistent war Wilhelm Hennis, Smend-Schüler, zuvor Assistent bei Adolf Arndt. Hennis’ Versuch einer Rekonstruktion der Politischen Wissenschaft durch die Rückbesinnung auf ihre aristotelischen Grundlagen’ wurde von Schmid akzeptiert und verteidigt, obwohl er selbst der philosophischen Tradition Platons verpflichtet war, deren Weiterleben in der Moderne er in seiner eigenen Vorlesung aufzeigte. Justus Fürstenau, der bald als zweiter Assistent eingestellt werden konnte, legte eine Pionierstudie über die Entnazifizierung in den drei westlichen Besatzungszonen vor°. Nachfolgerin Fürstenaus wurde 1956 Eleonore Sterling, die vor allem über den Ursprung des Antisemitismus forschte. Sie war selbst Jüdin und hatte nur mit viel Glück das Internierungslager in Gurs überlebt. Schmid hatte ihr zu helfen versucht und auch ein Vorwort zu ihrer Dissertation „Er ist wie Du. Aus der Frühgeschichte des Antisemitismus in Deutschland“ verfaßt’. Hennis’ Stelle übernahm 1960 Manfred Friedrich, ‘der nach der Flucht aus der DDR ein Studium in Frankfurt aufgenommen hatte und 1958 mit einer Arbeit über die Philosophie und Ökonomie beim jungen Marx von Carlo Schmid promoviert worden war”. Otwin Massing, «der 1962 eine Assistentenstelle am Institut für Politikwissenschaft antrat, war durch die Schule Adornos gegangen. Seine Dissertation hatte die Gesellschaftslehre des Positivisten und Gründervaters der modernen Soziologie Auguste Comte zum Thema°®. Werner Soergel, der dritte Mann im nunmehrigen Assistententrio des Lehrstuhls, verfaßte eine grundlegende Studie zum Grundgesetz“. Insiderinformationen scheint er allerdings von Carlo Schmid nicht erhalten zu haben. Wolfgang Rudzio, der eine Zeitlang ebenfalls dem Assistententeam Schmids angehörte, schrieb seine Dissertation über die Neuordnung des Kommunalwesens in der Britischen Zone im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte‘‘. Als die APO-Zeit heranrückte, wurde Ingeborg Mauss Schmids Assistentin. Er nahm weder Anstoß an ihren linken Aktivitäten, noch verargte er ihr, daß sie sich bei ihrer Dissertation über Carl Schmitt auf linke Faschismustheorien stützte ®2, Er war bereit, auch Arbeiten, bei denen er nicht alle Schlußfolgerungen zu teilen vermochte, zu akzeptieren. Nach ihrer politischen Einstellung beurteilte er seine Schüler ohnehin nichts. Der Frankfurter Ordinarius gab selten Themen für Dissertationen vor. Er war der Auffassung, daß jemand, der eine Dissertation verfassen wollte, selbst ein Forschungsproblem finden müsse, das ihm behandelnswert erscheint‘*. Die Zeit, um seinen Doktoranden bei ihren Arbeiten die Hand zu führen, hatte er nicht. So war die Schar seiner Promovenden nicht sehr zahlreich. Kaum mehr als zehn. Neben den schon Genannten sollen hier noch erwähnt werden: Fritz Bleienstein, der eine Arbeit über Johannes Quidort von Paris verfaßte°. Er war im Grunde der einzige, dessen Dissertationsthema durch Schmids große Vorlesung über die politische Ideengeschichte angeregt worden war. Vier Jahre Haft in Zuchthäusern der DDR hatte der Ernst-Bloch-Schüler Günter Albrecht Zehm hinter sich, als er sein Studium in Frankfurt bei Adorno und Schmid fortsetzte. Seine Arbeit über Jean-Paul Sartre war eine kritische Auseinandersetzung mit dem politischen Engagement linker Intellektueller°. Helga Haftendorn befaßte sich mit dem Thema Parlamentsberichterstattung”, Joachim Hirsch mit den öffentlichen Funktionen der Gewerkschaften‘®. Es war eine kleine bunte Schülerschar. Fast jeder hatte sich sein eigenes Thema gesucht. Manchmal half der Professor mit Rat und konstruktiver Kritik weiter, aber ein enges Lehrer-Schüler-Verhältnis wie in den Tübinger Jahren entstand nicht mehr. Niemand litt mehr darunter als Carlo Schmid. Der Frankfurter Ordinarius, der in der Öffentlichkeit für eine rigorose Begabtenauslese und strenge Lernzucht eintrat, war gutmütig und nachsichtig, gelegentlich fast altväterlich besorgt. In seinen Vorlesungen mag er die Studenten geistig überfordert haben, von seinen Doktoranden und Assistenten verlangte er nichts Übermenschliches. Ab und zu appellierte er an ihren Mut zur Politik. Es kam aber auch vor, daß er davor warnte, seinem Vorbild zu folgen. 1956 schrieb er seinem Assistenten Wilhelm Hennis: „Lassen Sie es sich gut gehen, genießen Sie die Ferien und richten Sie ihr Leben anders ein als ich.“ Seine privaten Ratschläge unterschieden sich oft diametral von seinen öffentlichen Appellen. Geradezu genial war er, wenn es darum ging, bei Industriellen und Verbandsmanagern Spenden für das Institut locker zu machen. Es kamen für die damalige Zeit ganz erkleckliche Summen zusammen, die laut Bittschreiben für Forschungsprojekte verwandt werden sollten”, Tatsächlich hatte Schmid zwei Forschungsvorhaben angeregt: zum einen eine Untersuchung über die Bedeutung der Denazifizierung für das politische Leben in der Bundesrepublik. Innerhalb dieses Forschungsprojekts entstand die oben erwähnte Arbeit Justus Fürstenaus. Die Entpolitisierung des gesellschaftlichen Lebens in der Bundesrepublik war das andere Thema, dem nachgegangen werden sollte?‘. Peter von Oertzen hatte versprochen, sich mit der „Entparteipolitisierung“ der Gewerkschaften zu beschäftigen”?. Er formulierte das Thema aber schon bald um und schrieb eine Arbeit über die Betriebsräte in der Novemberrevolution”3. Carlo Schmid konnte das nur noch kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen. Die meisten Spenden wurden für Stipendien, für Gratifikationen an die Mitarbeiter, für die Anstellung von Hilfskräften und die bessere Ausstattung der Bibliothek verwandt. Auch das Semesterfest wurde davon bezahlt”+. Schmid war froh, daß er durch die Spenden einigen seiner Schüler und Assistenten etwas unter die Arme greifen konnte. Im Grunde war er ein Ordinarius alten Schlags, der sich für seine Schüler und Mitarbeiter verantwortlich fühlte. Ein typischer Ordinarius der soer Jahre war er trotzdem nicht. Er selbst verstand sich als Außenseiter des Wissenschaftsbetriebs, der zur wissenschaftlichen Zunft Distanz wahrte. Vielleicht trug er auch deshalb nie Talar. An Fakultätssitzungen nahm er nur teil, wenn es im Interesse des Instituts unbedingt notwendig war oder er einen Schüler, in welcher Angelegenheit auch immer, zu verteidigen hatte’. Für sein Fernbleiben war nicht allein Zeitmangel verantwortlich, sondern auch seine abgrundtiefe Verachtung des Zunftwesens der Fakultäten und Senate”°. Gegenüber universitären Traditionen konnte er recht schnoddrig sein. 1955 hatte er noch immer keine Antrittsvorlesung gehalten. Da er an sich selbst hohe Anforderungen stellte und niemals mit einem mittelmäßigen Vortrag vor seine Kollegen getreten wäre, brauchte er Mufße und Ruhe, um ein Vortragsmanuskript auszuarbeiten. Nach mehreren Mahnungen glänzte er schließlich mit einem Vortrag über den „Defensor Pacis“ des Marsilius von Padua’”. Kontakte zu Kollegen hatte er kaum. Adorno bemühte sich sehr darum, mit Schmid ins Gespräch zu kommen. Er hätte gern gemeinsame Vortragsreihen und Seminare des Instituts für Politikwissenschaft und des Instituts für Sozialforschung veranstaltet. In der Zeit des Kalten Krieges war es für Adorno nicht leicht, sich selbst und seinem Institut wissenschaftliche Anerkennung zu verschaffen. Für ihn wäre es wichtig gewesen, die wissenschaftliche und politische Nähe der beiden Institute öffentlich herauszustellen”®. Schmid sagte ab: „Seien Sie mir bitte nicht böse.“ ”? Zeitmangel gab er als Grund an. Auch die Furcht auf dem Gebiet der Soziologie mit Adorno nicht immer mithalten zu können, mag bei seinem abschlägigen Bescheid eine Rolle gespielt haben. Wissenslücken gab Schmid nur ungern zu. Die weit verbreiteten Ressentiments gegen Adorno teilte er nicht. Der spätere Dissens über die Notstandsgesetzgebung und die Außerparlamentarische Opposition darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die beiden unkonventionellen Frankfurter Professoren trotz
ihres unterschiedlichen politischen Lebenswegs vieles verband: ein kulturelles Elitedenken, das Leiden an der Dialektik der Aufklärung, die Klage über die Sozialisierung der „Halbbildung“, die Vorstellung, daß die Kunst das letzte Refugium unentfremdeten Lebens sei, und nicht zuletzt die gemeinsame Liebe zur Dichtung Baudelaires, Georges und Paul Valerys. Adorno schätzte Schmids Übertragung der „Pieces sur l’art“ Valerys und lobte dessen Leistung in einem Aufsatz über den französischen Dichter und Ästhetiker ausdrücklich: Schmid sei vermutlich „der erste und einzige Politiker von den front benches, der Valerys Rang und Namen kennt und heroisch die Zeit für derlei schwierige und anspruchsvolle Texte sich abringt“°°. Adornos Vermutung dürfte zutreffend sein. Schmid scheute sich seinerseits nicht, in öffentlichen Vorträgen, Adornos ästhetische Theorie zu würdigen’. Adorno war gerührt, als Schmid ihm zum 60. Geburtstag nicht nur herzliche Glückwünsche übersandte, sondern ihm auch dankte für das, was er durch ihn gelernt hatte®?. Erst Mitte der 60er Jahre mit dem Aufkommen der Studentenbewegung trübte sich das Verhältnis der beiden. Um so enger wurde in jenen unruhigen Jahren der Kontakt zu Walter Ruegg, der der Studentenbewegung ebenso kritisch gegenüberstand wie Schmid. Bereits zu Beginn der 60er Jahre war man sich näher gekommen. Der Humanist und Soziologe Ruegg, der noch ganz dem Ideal der Humboldtschen Universität verpflichtet war, schrieb seinem humanistisch gebildeten Kollegen Gedichte in Latein: „Laus, honor, gratia“ – „Carolus alter es tu, non bella gereus inimicis, dona ingenii sunt arma et tela tibi (…)“®. Ansonsten beschränkte sich Schmids Kontakt zu den Kollegen auf das notwendige Muß. Seine Kritik an den überkommenen Universitätsstrukturen minderte nicht seine Leidenschaft, zu lehren. Im Wintersemester 1966/67, kurz nach seinem 70. Geburtstag wurde er emeritiert. Aber er wollte weiter lehren, solange man ihn nicht am Betreten des Katheders hinderte®#. Ein Jahr später wurde Frankfurt zu einer Hochburg der Studentenrevolte. Schmid zog sich zurück. Davon wird in anderem Zusammenhang noch ausführlich die Rede sein.
Westpolitik: USA-Reise und Pariser Verträge
Auch zu Beginn der 2. Legislaturperiode war die EVG noch Thema Nr. ı der außenpolitischen Kontroverse. Ob sie kurz vor ihrer Geburt stand oder bereits in der Agonie lag, war umstritten. Alles hing davon ab, wie die französische Nationalversammlung sich entschied. Wenn die Franzosen den EVG-Vertrag ratifizierten, was würde die SPD dann tun? Als ein Reporter der Stimme Amerikas Schmid während eines Kurzaufenthaltes in Washington Mitte Oktober 1953 diese Frage stellte, antwortete er, ohne zu zögern: Die SPD werde den Vertrag anerkennen und versuchen, „daraus das Beste zu machen“ ‚. Vordringlich sei eine Stärkung der parlamentarischen Kontrollrechte. Er jedenfalls sei der Meinung, daß die EVG, wenn sie verwirklicht werde, so wirksam wie möglich ausgestaltet werden müsse. Den meisten Sozialdemokraten fiel es nicht leicht, sich mit der Realität EVG abzufinden. Wehner wollte, wenn überhaupt, die EVG nur dann akzeptieren, wenn sie zu einer europäischen Koalitionsarmee unter Einschluß Großbritanniens und Skandinaviens umgewandelt werde?. Ollenhauers öffentliche Statements zur EVG waren widersprüchlich. Mal bekämpfte er die EVG als ein „Sicherheitsinstrument gegen Deutschland“, dann wieder betonte er, daß auch nach Inkrafttreten der EVG die Bemühungen um die Wiedervereinigung weitergeführt werden müßten3. Wiedervereinigung und EVG schlossen sich demnach nicht aus. Die Hoffnung der Sozialdemokraten richtete sich auf die Viermächtekonferenz in Berlin, die von den drei Westalliierten im Dezember 1953 auf den Bermudas vorbereitet wurde. Schmid, ohnehin immer dem Pessimismus zuneigend, war skeptisch. Er befürchtete, daß die Westmächte ebenso wie die Bundesregierung den Status quo zu zementieren versuchten*. Über Adenauers Initiativlosigkeit in der Wiedervereinigungsfrage war er ebenso betroffen wie über die träge und egoistische Haltung der Westdeutschen. Mitte Februar, als sich das Scheitern der Berliner Konferenz abzeichnete, schrieb er einem in Chile lebenden Bekannten: „In Deutschland werden die Dinge immer konfuser. Es wird mir nach und nach klar, daß der einzige Gott, zu dem dieses Volk zu beten bereit ist, der Gott des materiellen Wohlbehagens ist. Die Dinge in Berlin gehen offensichtlich schlecht, nicht zumindest deswegen, weil von seiten der Bundesregierung gar nichts getan wird, um die Voraussetzungen dafür, daß sie weniger schlecht gehen könnten, zu schaffen. Man hält es hier “offensichtlich für ganz besonders politisch, am Scheitern der Konferenz dem deutschen Volk und der Welt zeigen zu können, daß man mit den Russen nun einmal nicht verhandeln kann. Es ist ja auch bequemer, sich vorzustellen, daß man sich in dem westdeutschen Wohlstand weiter wird entfalten können, als sich Gedanken darüber zu machen, wie man im Falle der Wiedervereinigung Deutschlands die Not des Ostens auch mit auf unsere Schultern nehmen könnte.“ Die Verbitterung über die Bundesregierung und die eigenen Mitbürger ließ Schmid nicht blind werden für die Verantwortung der Sowjetunion am Scheitern der Konferenz, die die sozialdemokratischen Konferenzbeobachter Ollenhauer und Wehner nicht zugeben wollten. Ollenhauer hatte in einer Stellungnahme zur Rede des sowjetischen Außenministers Molotow erklärt, daß ihm klar geworden sei, „daß eine Politik der Westintegration der Bundesrepublik die Wiedervereinigung außerordentlich erschweren, wenn nicht unmöglich machen müsse“°. Wehner sprach von „Berührungspunkten“ zwischen den Westmächten und der Sowjetunion, die als Ansatz für Erfolg versprechende Diskussionen genommen werden müßten’. Tatsächlich war der Dissens weitaus größer als die Berührungspunkte. Für die Westmächte konnte der Wiedervereinigungsprozeß nur mit freien Wahlen beginnen. Molotow dagegen forderte die Bildung einer paritätisch zusammengesetzten gesamtdeutschen Regierung. Dem sowjetischen Außenminister genügte nicht, daß die Westmächte einer gesamtdeutschen Regierung Handlungsfreiheit zusicherten. Mußte er doch damit rechnen, daß eine gesamtdeutsche Regierung den Westintegrationskurs : der Bundesregierung fortsetzen werde. Im SPD-Parteivorstand, der sich sofort nach Beendigung der Konferenz in Bonn traf, stießen die Kommentare Ollenhauers und Wehners auf Kritik. Auch Schmid hielt diesmal mit seiner Meinung nicht hinterm Berg. Er verlangte, daß ungeachtet der schlechten Verhandlungstechnik des Westens, über die auch er empört war, klar und deutlich ausgesprochen werde, daß die Forderungen der Westmächte sich mit den eigenen Forderungen deckten, während die Forderungen Molotows grundsätzlich davon abwichen. Wenn man das nicht klarstelle, bestünde die Gefahr, daß die Sozialdemokraten als „halbe Molotowianer“ denunziert würden. Die SPD müsse Konsequenzen aus dem Scheitern ziehen, ohne deshalb gleich auf die „Adenauer-Linie“ einzuschwenken?. Heine, Schoettle und Wenzel Jaksch, der Wehners „unduldsames Niederschlagen von Gegenäußerungen“ nicht mehr länger hinnehmen wollte, pflichteten ihm bei. Schmid unterstützte seinerseits Heine, der wünschte, daß die SPD ihre Verbundenheit mit den Westmächten betonte und gegen eine Neutralisierung Deutschlands eindeutig Stellung bezog’°. Heine hatte recht. Die SPD mußte endlich daran gehen, ihre Bedingungen für die Teilnahme an der gemeinsamen Verteidigung des Westens zu formulieren“, Ollenhauer kramte in der Mottenkiste sozialdemokratischer Vorschläge. Er mochte sich einen deutschen Verteidigungsbeitrag nur im Rahmen der UNO vorstellen, was aber Schmid für wenig realistisch hielt. Bei der Gründung der UNO sei man wie schon beim Genfer Völkerbund von der Errichtung regionaler Sicherheitspakte ausgegangen. Er wiederholte, was er schon des öfteren gesagt hatte, daß allein auf der Grundlage der Vereinten Nationen der Weltfrieden nicht garantiert werden könne‘?. Ollenhauer habe kein „rechtes Verhältnis zu militärischen Problemen“ gehabt, stellte er noch dreißig Jahre später in seinen Erinnerungen fest’3. In der Parteivorstandssitzung warnte Schmid wieder einmal vor einem blinden Gesinnungspazifismus: „Die Angst vor den Generälen“ dürfe für die Entscheidung der SPD „nicht maßgebend“ sein’4. Diesmal hatte er seine Auffassung wortreich verteidigt und sich bemüht, seine Gründe plausibel zu machen. Durchsetzen konnte er sich nicht. In dem zwei Tage später vom Parteivorstand und Parteiausschuß verabschiedeten Kommuniqu& wurde die Berliner Konferenz als „Anfang der Überwindung der Spaltung Deutschlands“ gewertet‘. Am gleichen Tag teilte Ollenhauer Adenauer, der ihn zu einer gemeinsamen Aufßenpolitik aufgefordert hatte, mit, daß der Ausgang der Berliner Konferenz für ihn kein Anlaß zur Überprüfung der außenpolitischen Grundhaltung der SPD sei’°. Eine Woche später unterstrich der SPD-Parteivorsitzende im Bundestag, daß die SPD in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der EVG durch den Verlauf der Berliner Viermächtekonferenz bestärkt worden sei’7”. Wehner als zweiter Hauptredner der SPD plädierte für innerdeutsche Erleichterungen und die Intensivierung technischer Kontakte“®. Wehners Forderung nach innerdeutschen Erleichterungen wurde von Schmid unterstützt. Er und Erler ergriffen einen Tag später in der Debatte um die Ergänzung des Grundgesetzes durch eine Wehrverfassung das Wort. Beide übten heftige Kritik, daß die Bundesregierung die EVG zu einem Bestandteil des Grundgesetzes machen wollte. Schmid warnte davor, durch einen „Normenpluralismus“ die Substanz der Verfassung auszuhöhlen. Wenn die Bundesregierung dem Parlament das Recht zugestehe, im Wege authentischer Interpretation die Übereinstimmung des EVG-Vertrags mit dem Grundgesetz zu bestimmen, rede sie einer „Parlamentsjustiz“ das Wort‘?. Der Kritik folgte ein eindeutiges Bekenntnis zur Landesverteidigung. Die SPD sei bereit, „das zur Verteidigung Nötige im Rahmen jeder Möglichkeit zu tun, die erstens echte Sicherheitschancen bietet, zweitens die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands nicht gefährdet und schließlich uns die echte Gleichberechtigung gibt.“” Das war eine etwas vage Formulierung, durch die der Dissens zur offiziellen Parteimeinung überbrückt werden sollte. Ebenso wie Erler hatte auch Schmid keinen Zweifel daran gelassen, daß die SPD die Mitarbeit an einer demokratischen Wehrverfassung nicht verweigern werde”‘. Ob diese Auffas- $ung innerhalb der SPD mehrheitsfähig war, mußte der Parteitag in Berlin im Juli zeigen.
Zunächst einmal entwich Schmid allem Streit und Parteihader. Zusammen mit Fritz Erler, Willy Brandt und Günter Klein trat er Anfang März eine sechswöchige Reise in die USA an?”. Das State Department finanzierte den deutschen Parlamentariern eine großzügige Informationsreise, die sie von Washington nach New Orleans, von dort nach San Francisco und San Antonio führte. Nach der Reise in den Süden flog man in den Norden, um die großen Industriestädte Chicago und Detroit zu besichtigen. New York war Endstation der Reise. Zum zweiten Mal in seinem Leben setzte Schmid am 2. März 1954 den Fuß auf amerikanischen Boden, auf dem er für längere Zeit kaum hätte leben können. Während Brandt begeistert von der Grenzenlosigkeit des amerikanischen Landes und von dem dortigen Wohlstand war”, blickte Schmid mit den Augen des europäischen Bildungsbürgers auf die Amerikaner. Dem american way of life vermochte der Kritiker der Massengesellschaft nichts abzugewinnen. Für ihn war es ein Stück Kulturverfall, daß in den amerikanischen Großstädten die Frauen der High society „ihre Nerze und Brillanten wie Frauen anderswo Kaninchenfelle und .Rheinkiesel trugen“ +. Das Bild, das sich Schmid von Chicago, vielleicht der amerikanischsten aller amerikanischen Großstädte machte, war voller Vorurteile: „Diese Stadt ist eine Plebejerstadt, die sich als solche will.“?5 Chicago war auch in den soer Jahren schon eine der architektonisch interessantesten Städte der USA. Die legendäre Chicagoer Schule und Mies van der Rohe, der in den 30er Jahren nach Chicago kam, hatten diese Stadt zu einem Zentrum moderner Architektur gemacht. Man hatte sich zum Ziel gesetzt, Paris im Mittleren Westen noch einmal zu errichten. Daß in Chicago kein Bauwerk älter als 75 Jahre war, lag nicht, wie Schmid behauptete, daran, daß es ein ehemaliges Fischerdorf war, sondern daran, daß 1871 ein Großbrand fast die ganze Innenstadt zerstörte. Schmid, der Brechtliebhaber, vermochte nur die Schlachthöfe Chicagos zu sehen. Das europäische Abendland war und blieb der Fixpunkt seines Denkens. Am liebsten unterhielt er sich in den USA mit jüdischen Emigranten und versuchte sie zur Rückkehr nach Deutschland zu bewegen”°. Es widerstrebte ihm, sich Europa als Teil der amerikanischen Hemisphäre vorzustellen. Die Unkenntnis der Amerikaner über die politischen Zustände in Europa und Deutschland kommentierte er mit Sarkasmus. Am 9. März berichtete er Ollenhauer über eine Aussprache mit Mitgliedern des Auswärtigen Ausschusses des Senats: „Die Zwiesprache war sehr freundlich, wenn sich auch zeigte, wie sterbenswenig diese Leute von Deutschland wissen. Einer der Senatoren dankte uns dafür, daß wir Adenauer so energisch unterstützten. Nicht jedes Lob ist verdient.“?7 Einen Monat später formulierte er seine Eindrücke mit noch bissigerer Ironie: „Man ist hier natürlich überall auf die Politik der Verträge eingestellt ganz naiv, als seien sie die einzige Möglichkeit, in Europa Ordnung zu schaffen und die Deutschen mit den Franzosen zu versöhnen.“ In der Presse werde Adenauer als eine Art „europäischer Dulles und damit als der Weltbismarck Nr. 2“ gefeiert. Den meisten Amerikanern sei der Unterschied zwischen Christ- und Sozialdemokraten überhaupt nicht bewußt. „Wie oft haben Politiker uns gefragt, wie es unserem Parteiführer A. gehe… Und als wir dankend abwinkten, schien man zu bedauern, daß so nice fellows wie wir nicht zu diesem guten Manne gehörten – ja man schien gar nicht verstehen zu können, daß es nicht so ist. Denn wenn A. das gute Prinzip in der deutschen Politik verkörpert – dann müsen ja jene, die ihn bekämpfen, die Champions des Bösen sein.“ Schmid übertrieb etwas. In der Deutschlandabteilung des State Department traf er durchaus auf sachkundige Gesprächspartner. Der dortige
Westpolitik: USA-Reise und Pariser Verträge Konsultationen mit den Amerikanern. März 1954
Leiter teilte seine Furcht vor einem neuen 17. Juni, der wahrscheinlich blutig niedergeschlagen würde. Aber was könne man dagegen unternehmen? Schmid schlug den Ausbau technischer Kontakte zwischen Ost- und Westdeutschland vor. Die amerikanischen Gesprächspartner wollten sich mit dem Vorschlag befassen”®. Zumindest sagten sie das. Die ganze Unterhaltung war nicht mehr als ein höfliches Informationsgespräch. Politik konnten die vier Sozialdemokraten in den USA nicht machen. Das war auch nicht vorgesehen gewesen. Trotzdem war die Reise lehrreich gewesen. Schmid war bewußt geworden, daß es viele „Amerikas“ gab, daß die außenpolitische Linie davon abhing, wer in Washington an der Macht saß, und daß bei einem Großsteil der Bevölkerung das Interesse am europäischen Kontinent nicht allzu groß war. Gar so sicher wie früher scheint er nicht mehr gewesen zu sein, daß die USA sich nicht eines Tages vom Kontinent zurückziehen könnten°”. Vom Niveau der politischen Auseinandersetzung war er enttäuscht. Er trauerte – das war typisch für ihn – der „Professoren-Republik“ der Ära Roosevelt nach und suchte nach Spuren für deren Wiederaufleben?‘. Fasziniert hatten ihn allein das closed-shop-System der amerikanischen Gewerkschaften3? und der wissenschaftliche Dienst des Kongresses: „ein solcher Dienst gibt einem Parlament Selbstgefühl und macht es von selbst zu einem wirksamen Gegenspieler der Regierung.“ ?? Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages steckte in jenen Jahren noch in den Kinderschuhen. Am Schluß der Reise überfiel ihn Heimweh. Er fühlte sich auf dem amerikanischen Kontinent so unwohl, daß er sich auf das „Heimkommen zu den Freunden, zur Partei“ und „sogar auf den Wahlkampf in den Ländern“ freute°*. Zu Hause stand nicht nur der Wahlkampf, sondern auch der Parteitag in Berlin an. Es war nicht leicht, die Parteibasis davon zu überzeugen, daß die SPD nicht grundsätzlich jede Form der Wiederbewaffnung ablehnen konnte. Schmid war nicht als Hauptredner vorgesehen. Er griff lediglich durch einen Diskussionsbeitrag in die Debatte ein, in dem er nicht verschwieg, daß er keine Hoffnung mehr hatte, daß sich die Weltmächte in absehbarer Zeit über die Einheit Deutschlands einigen werden: „Es wird noch lange dauern, und wir werden noch sehr viel Geduld haben müssen.“3 5 Unter allen Umständen müsse eine deutsche Regierung die Verhandlungen mit dem Willen führen, „die größtmögliche Entscheidungsfreiheit für eine gesamtdeutsche Regierung zu erhalten“3° . Äußerst skeptisch beurteilte er alle Pläne einer Neutralisierung Deutschlands, durch die das Kontrollratssystem wieder aufleben müsse. Ollenhauer und Erler hatten die Losung ausgegeben, daß ein wiedervereinigtes Deutschland weder einem westlichen noch einem östlichen Militärbündnis angehören dürfe. Schmid formulierte es vorsichtiger. Wenn sich die Bundesregierung bis zur Einigung über die deutsche Einheit einem Militärbündnis anschließe, so müsse das in einer Weise geschehen, „daß alles offen bleibt, was den Status eines künftigen Gesamtdeutschlands anbelangt.“ 37 Da man sich auf dem Parteitag nicht einig wurde, wurde die Entscheidung vertagt. Ein außerordentlicher Parteitag sollte darüber bestimmen, ob trotz aller Wiedervereinigungsbemühungen die deutsche Einheit in nächster Zukunft nicht zu erreichen war. In diesem Falle war man bereit, der Beteiligung der Bundesrepublik an einem westlichen Verteidigungsbündnis zuzustimmen. Die verabschiedete Resolution wurde als Erfolg für den realpolitisch ausgerichteten Flügel der SPD gewertet. Schmid selbst hatte kaum mehr Hoffnung, die Wiedervereinigung noch zu erleben3®. Trotzdem mahnte er die Westmächte, zu verhandeln, „um die Sowjetunion zu einer klaren Stellungnahme in der deutschen Frage zu veranlassen“ 32:
Im August war abzusehen, daß der EVG-Vertrag in der französischen Nationalversammlung scheitern werde. Als Schmid den Bundeskanzler im Auswärtigen Ausschuß darauf ansprach, gab dieser sich wundergläubig. Frankreich werde den Vertrag annehmen. Adenauer dachte gar nicht daran, mit den oppositionellen Sozialdemokraten über Alternativen zur EVG-Lösung zu diskutieren*°. Ihm lag nichts an einer gemeinsamen Außenpolitik, die Schmid aller negativen Erfahrungen zum Trotz immer wieder in Gang zu bringen versuchte. Am 30. August lehnte die französische Nationalversammlung den EVG-Vertrag ab. Schmid erreichte die Nachricht auf einer Heurigenparty in Grinzing, auf der sich die Teilnehmer der in Wien tagenden Interparlamentarischen Union von den Strapazen langer Debattenreden erholten*‘. Die Nachricht überraschte ihn nicht. So war er auch um eine Stellungnahme nicht verlegen. Zunächst einmal gelte es, „ernsthafte Versuche“ zu unternehmen, um mit der Sowjetunion zu einer Verständigung zu kommen. Da diese wohl kaum von heute auf morgen zu erreichen sei, komme die Bundesrepublik vermutlich nicht darum herum, sich an den militärischen Verteidigungsleistungen des Westens zu beteiligen. Schmid plädierte für die gleichberechtigte Einbeziehung der Bundesrepublik in die Nato, wobei auf jede Form einer Bindungsklausel für das wiedervereinigte Deutschland verzichtet werden müsse*. In Bonn hatte Erich Ollenhauer die Fraktion zu einer Sondersitzung einberufen. Seine Vorschläge lauteten: „Die Bundesrepublik müsse eine aktive Politik in Richtung auf ein möglich baldiges Zustandekommen einer neuen Viermächtekonferenz betreiben.“ Sie müsse eine „Kurzschlußpolitik“ vermeiden, „die über Nacht irgendeine Alternativlösung für die EVG finden möchte, weil es die außenpolitischen Gefahren erfordern“ #. Eine Viermächtekonferenz war wieder einmal der Hoffnungsanker, an den sich die SPD klammerte. i Carlo Schmid ließ diesmal auch im Urlaub die Politik nicht los. Er saß in Schweden, informierte sich über die Außenpolitik des Landes und dachte über einen möglichen militärischen Status für ein wiedervereinigtes Deutschland nach. In einem dpa-Interview am 12. September sprach er sich für einen Status der Bündnislosigkeit nach schwedischem Vorbild aus**. Focht nun auch Schmid für eine militärische Neutralisierung Gesamtdeutschlands? Hatte er seine Meinung innerhalb von zwei Monaten total geändert? Es handelte sich nicht um eine urplötzliche Abkehr von seiner, bisher vertretenen Linie. Schmid hatte schon im Frühsommer in langen und zahlreichen Gesprächen mit George F. Kennan, der für ihn der „schöpferischste Geist“ der amerikanischen Außenpolitik war*, nach sicherheitspolitischen Alternativkonzepten gesucht‘. Nach dem Scheitern der EVG hatte Kennan in einem Artikel des „New York Times Magazine“ statt einer Einbindung der Bundesrepublik in die Nato eine militärische Sicherheitsgarantie der USA für Westdeutschland, einschließlich Berlin, vorgeschlagen. Die Sowjetunion werde kaum einer Wiedervereinigung zustimmen, wenn Ostdeutschland der Nato zugeschlagen werde, in der sie ein ihr feindliches Militärbündnis sehe*”. Schmid glaubte nicht, daß der Vorschlag so zu verwirklichen sei. Aber immerhin biete er doch für ein wiedervereinigtes Deutschland eine Perspektive**. Er wollte so wenig wie Adenauer Deutschland dem „sowjetischen Koloß“ überlassen, wenn ihm der Kanzler dies auch zu unterstellen versuchte*?. Er hatte mit Bedacht Schweden als Vorbild gewählt. Es galt als ausgemacht, daß Schweden im Konfliktfall mit der Nato zusammenarbeiten würde. Freilich, ob eine solche Lösung praktikabel und für die beiden Großmächte akzeptabel war, das mußten die Verhandlungen erst noch erweisen. Das hatte er aber auch ausdrücklich betont. Inzwischen hatte die Londoner Neunmächtekonferenz getagt, wo eine Mitgliedschaft der Bundesrepublik im Brüsseler Pakt, der zur Westeuropäischen Union erweitert werden sollte, beschlossen worden war. Die Einbindung der Bundesrepublik in den Brüsseler Pakt war der Preis für die Zustimmung der Franzosen zu einem deutschen Nato-Beitritt. Die Bundestagsdebatte über die Londoner Neunmächtekonferenz am 7. Oktober hätte für die SPD fast in einer Katastrophe geendet. Ollenhauer wurde von Gerstenmaier in die Zange genommen, der von dem SPD-Parteivorsitzenden den Unterschied zwischen Bündnislosigkeit und Neutralisierung erklärt bekommen wollte. Ollenhauer war dem Rededuell nicht gewachsen und mußte von Erler und Schmid aus der überaus peinlichen Situation herausgepaukt werden’. Schmid bestritt, daß Schweden ein neutralisiertes Land sei. Neutralisiert sei ein Land dann, wenn die Neutralität entweder wie in der Schweiz durch eine eigene Waffenmacht oder durch Dritte garantiert werde. Beide Lösungen seien für Deutschland kein akzeptables Modell. Er stellte ein drittes Modell zur Diskussion: Das „wiedervereinigte Deutschland tritt keinem der bestehenden Bündnisblöcke bei, ist stark genug, um nicht einem Nachbarn den Anreiz zur Aggression zu geben, aber nicht so stark, daß wenn dieses Deutschland auf diese oder jene Seite treten sollte, diese Seite damit ein erdrückendes Übergewicht über die andere bekäme.“ 5′ Im Klartext hieß dies: Kooperation mit der Nato, aber keine Mitgliedschaft in der Nato, denn ein Zusammengehen mit der Sowjetunion konnte überhaupt nicht in Frage kommen. Das war ein abstraktes Denkmodell, mehr nicht. Er gab auch jetzt wieder ganz offen zu, daß er nicht wisse, ob bei Verhandlungen ein solches Ergebnis erzielt werden könne. In seinen Ausführungen tauchte noch eine andere Krux auf. Er glaubte, daß nur eine gesamtdeutsche Regierung zusammen mit den vier Besatzungsmächten eine Vereinbarung über den militärischen Status Gesamtdeutschlands treffen könne”. Die Sowjetunion aber wollte den Status Deutschlands noch vor der Abhaltung freier Wahlen zu einer gesamtdeutschen Nationalversammlung festlegen. Schmid selbst ging auf das Problem nicht ein und die Gegenseite griff es nicht auf. Die Bündnislosigkeit Gesamtdeutschlands konnte seines Erachtens nicht mehr als eine Interimslösung sein. Auf längere Zeit könne man sich nicht auf das Funktionieren einer „Balanciermechanik“ zwischen den Blöcken verlassen‘. Sein Vorschlag entsprang dem Mut der Verzweiflung. Er glaubte selbst nur halbherzig an dessen Realisierbarkeit. Eine endgültige Lösung des Sicherheitsproblems bot seines Erachtens nur ein System kollektiver Sicherheit. Noch einmal verwies er auf die Locarnoverträge als Ansatzpunkt, um das Blocksystem aufzulösen’+, Mit allzu großem Optimismus blickte auch er den geforderten Verhandlungen mit der Sowjetunion nicht entgegen. Falls sie zu keinem Erfolg führen sollten, sei die SPD bereit, die Nato-Lösung als „provisorische Notlösung“ zu akzeptieren° ®. Hier wiederholte er nur, was er bereits kurz nach dem Scheitern der EVG gesagt hatte.
Gleich zweimal war er in der Debatte aufs Rednerpult gestiegen, um der Behauptung entgegenzutreten, die SPD wolle Deutschland an die Sowjetunion verkaufen. Er muß überzeugend und eindringlich gesprochen haben, denn Adenauer beauftragte Erich Kaufmann mit einer Expertise über das sozialdemokratische Alternativkonzept. Offensichtlich wollte der Kanzler nicht als Spalter der Nation in die Geschichte eingehen. Kaufmann vermochte Schmids Argumentation nicht zu unterstützen. Er kam zu dem Ergebnis, daß bei der gegenwärtigen militärischen und wirtschaftlichen Lage „eine bewaffnete Verteidigung gegen eine bestimmte Großmacht einer von langer Hand vorbereiteten Zusammenarbeit der anderen Macht bedarf“, wie sie nur durch den Apparat der Nato oder des Brüsseler Paktes gewährleistet werden könne°. Gewiß, vom militärischen Standpunkt aus gesehen, war die Nato-Lösung die bessere. Aber diese Sicherheit wurde durch die einstweilige Hinnahme der deutschen Spaltung erkauft. Schmid konnte nur Möglichkeiten und Alternativen aufzeigen, die nicht mehr als ein Ansatzpunkt für Verhandlungen gewesen wären. Das Gesetz des Handelns hatte Adenauer in der Hand, der alles daran setzte, die Bundesrepublik so schnell wie möglich in das westliche Verteidigungsbündnis zu integrieren. Kaum drei Wochen nach der Londoner Neun-Mächte-Konferenz sollte in Paris der Beitritt der Bundesrepublik zur NATO und WEU vertraglich besiegelt werden. Gleichzeitig sollten in zweiseitigen deutsch-französischen“ Verhandlungen Vereinbarungen über den zukünftigen Status der Saar getroffen werden. Zunächst hatte der Bundeskanzler gar nicht daran gedacht, die Quertreiber von der Opposition mit nach Paris zu nehmen. Zwei Tage nach der Konferenz erhielt dann überraschend der Saarexperte der SPD Mommer eine Einladung des Kanzlers, nach Paris zu kommen. Mommer wollte auf keinen Fall allein reisen. Skepsis war angebracht. Schmid sprach sich gegen eine Beteiligung an den Pariser Beratungen aus. Der Fraktionsvorstand entschied sich für die Teilnahme, um nachher nicht der Verantwortungslosigkeit geziehen zu werden’. Noch am gleichen Tag flog Mommer, begleitet von Ollenhauer, Wehner und Schmid,
mit der erst besten Maschine nach Paris. Dort herrschte Krisenstimmung, was Schmid geahnt haben mag. Die Vertreter der Koalitionsparteien hatten darauf gepocht, die Opposition zu den Beratungen hinzuzuziehen. Bereits am ersten Verhandlungstag hatte der Bundeskanzler grundsätzlich der Abtrennung des Saargebietes von Deutschland bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrags zugestimmt. Er war damit weiter gegangen, als es den Vertretern der Koalitionsparteien lieb war°”. Den Franzosen genügte das Zugeständnis des Bundeskanzlers nicht. Sie waren bestrebt, dem provisorischen Saarstatut einen definitiven Charakter zu geben. Außerdem war ihnen daran gelegen, die wirtschaftliche Union zwischen Frankreich und dem Saargebiet aufrechtzuerhalten. Quer durch die Parteien war man sich einig, daß dies völlig inakzeptabel sei. Die sieben Punkte, die Adenauer am Morgen des 22. Oktober den Sozialdemokraten als Verhandlungsgrundlage für eine Saarvereinbarung nannte, hielt Schmid, der sich mit seinen drei Parteifreunden einig wußte, für ein faires Verhandlungsangebot. Die Punkte deckten sich teilweise mit dem sogenannten Mommer-Plan zur Saarfrage, der in Wirklichkeit ein Mommer-Schmid-Plan war, denn Mommer stützte sich auf eine Ausarbeitung Schmids’?. Nach Adenauers sieben Punkten sollte bis zur endgültigen Regelung im Friedensvertrag ein autonomes Saarstatut, über dessen Einhaltung eine deutsch-französische Kontrollkommission zu wachen hatte, errichtet werden. Ein Jahr nach Herstellung der politischen Freiheiten an der Saar hatte ein frei. gewählter Landtag über das Saarstatut abzustimmen“, Wenn die sieben Punkte nicht nur auf dem Papier gestanden hätten, wäre es erstmals seit langer Zeit wieder zu einer gemeinsamen Außenpolitik zwischen Regierung und Opposition gekommen. Zum Erstaunen der Presse lud der Bundeskanzler die vier Sozialdemokraten sogar zu einem gemeinsamen Mittagessen ins Restaurant Lasserre ein. Wollte er ihre Zustimmung zu einem fait accompli erheischen? Nicht nur Schmid und seine Begleiter, auch der stellvertretende französische Hochkommissar Berard schöpfte einen solchen Verdacht. Noch vor Abschluß der Verhandlungen zwischen Adenauer und Mend£s-France prophezeite Berard in einem Schreiben an den französischen Ministerpräsidenten, daß der Graben zwischen der SPD und dem Kanzler nach Abschluß der Saarverhandlungen noch größer sein würde, als er eh schon war°‘. Berard mag hier auch Befürchtungen Schmids wiedergegeben haben. Jedenfalls sollte er mit seinen dunklen Prophezeiungen recht behalten. Zur gleichen Zeit, als Adenauer um das Einverständnis der Opposition buhlte, hatte Mend£s-France am Quai d’Orsay seinen Ministerrat zusammengerufen, um sich von der französischen Regierung ermächtigen zu lassen, die Unterzeichnung aller Abkommen zu verweigern, wenn es zu keiner befriedigenden Saarregelung komme. Ein Pokerspiel, das Mendes France gewann, weil Adenauer sich erpressen ließ. Bei den abschließenden Verhandlungen mit dem französischen Ministerpräsidenten willigte Adenauer in eine Volksabstimmung über das Saarstatut drei Monate nach Wiederherstellung freiheitlicher Verhältnisse an der Saar ein. Nicht mehr eine deutsch-französische Kontrollkommission, sondern ein europäischer Kommissar, der vom Ministerrat der WEU zu ernennen war, sollte die Beachtung des Saarstatuts überwachen. Am nächsten Morgen wurden die Bundestagsabgeordneten aller Parteien vor vollendete Tatsachen gestellt. Das Nein der vier Sozialdemokraten war einmütig. Auch die Vertreter der Koalitionsparteien waren, wie Blankenhorn in seinem Tagebuch festhielt, „eher kritisch eingestellt“ %., Adenauer pries den Saarvertrag als Dokument deutsch-französischer Aussöhnung. Eine solche Geschichtsklitterung wollte Schmid nicht unwidersprochen stehen lassen. Mit Erschrecken sahen die Abgeordneten des Regierungslagers, wie Carlo Schmid in der Bundestagssitzung am ı6. Dezember 1954 ihren Chef durch gezielte Zwischenfragen völlig in die Enge trieb. Der Bundeskanzler versuchte schlichtweg abzuleugnen, daß die Saarvereinbarung unter dem Druck des Beschlusses des französischen Ministerrates zustande gekommen war. Schmids Fragen waren so messerscharf, daß Adenauer seine üblichen Abweichmanöver mißlangen und er, völlig aus dem Konzept gebracht, mit stockender Stimme Schmid anfuhr: „Ja, ich verstehe immer noch nicht, was Sie eigentlich damit beabsichtigen.“ Schmid stand noch immer am Saalmikrophon und entgegnete lakonisch: „Ich beabsichtige nichts als – verzeihen Sie, daß ich wieder von der Wahrheit spreche – die Wahrheit festzustellen.“ Adenauer wich ihr aus. Schwer angeschlagen verließ er das Rednerpult. So war Adenauer in einem Rededuell noch nie an die Wand gedrückt worden. Dabei hatte Schmid seine letzte Frage angesichts des Zustandes, in dem sich Adenauer befand, gar nicht mehr gestellt. Als Schmid ihm dies einige Wochen später erzählte, antwortete ihm Schmids Erinnerungen zufolge der Kanzler: „er habe mir ja schon immer gesagt, daß ich kein Politiker sei. Wäre er an meiner Stelle gewesen, er hätte seine Frage gestellt und mich damit vollends umgeworfen …“° Auch wenn es eine Anekdote ist, enthält sie ein Gran Wahrheit. Schmid ging es mehr um die Sache als darum, den Gegner zu erledigen. Schon tags zuvor war Adenauer in Bedrängnis geraten, als Schmid ihn um eine Stellungnahme zu den unterschiedlichen Interpretationen des Saarvertrags durch deutsche und französische Stellen bat‘. Der Text des Saarvertrags sei „so allgemein und zwielichtig“, daß die Vertragspartner ihn nach Belieben auslegen könnten. Schmid vermutete nicht zu Unrecht, daß man sich über „Formulierungen geeinigt“ habe, sich aber über „ein und dieselbe Sachlösung“ nicht hatte einigen können“. Hatte sich Adenauer auch hier erpressen lassen oder war er übertöpelt worden? Der Kanzler konnte nicht leugnen, daß es bei der Auslegung des Saarvertrags Meinungsverschiedenheiten gab”. Für die Deutschen war das Saarstatut eine provisorische Regelung, für die Franzosen eine endgültige. Sıe vertraten die Auffassung, daß mit der Volksabstimmung über das Saarstatut das Saargebiet „nicht mehr de jure deutsch, sondern europäisch“ sei‘, Das Recht der Saarländer, in einem Friedensvertrag über den rechtlichen und nationalen Status des Saargebietes zu bestimmen, wurde von ihnen in Abrede gestellt. Darüber hinaus gab es auch hinsichtlich der Garantie der politischen Freiheiten erhebliche Differenzen. Adenauers Beteuerungen, daß darüber verhandelt werde, befriedigten Schmid nicht: „Klarstellungen veranlaßt man doch vor Tisch. Nach Tisch liest sich’s anders.“ 9 Die Saarfrage brachte den Kanzler an den Rand einer Regierungskrise. Immer wieder suchte er nach Ausflüchten und verdrehte, wenn er aller Argumente beraubt war, den wahren Sachverhalt. So behauptete er in der abschließenden Lesung des Saarvertrags plötzlich, daß mit dem Inkrafttreten des Saarstatuts die in den Jahren 1947-1950 gegebenen Zusagen Großbritanniens und der USA, die Forderungen Frankreichs bezüglich der Saar bei Friedensvertragsverhandlungen zu unterstützen, hinfällig geworden seien?°. Schmid hörte auf und begab sich zum Saalmikrophon: „Darf ich fragen: gibt es hierüber eine Urkunde?“ Adenauer wehrte ab. Die Zusage habe er von den „zuständigen Stellen“. Er habe keinen Grund gesehen, sich das schriftlich besiegeln zu lassen’‘. In Wirklichkeit hatten die Angelsachsen nur vage Andeutungen hierzu gemacht’?. In Paris war man aufgebracht über Adenauers Antwort. Frangois-Poncet berichtete noch am gleichen Tag nach Paris, daß Adenauer zu dieser Antwort durch Schmid, diesen „Spezialisten für hinterlistige Fragen“ provoziert worden sei”. Schmid hatte die wunden Punkte erkannt und legte seinen Finger darauf. Der französische Hochkommissar sah mit wachsender Sorge, daß der von ihm so hochgeschätzte Sozialdemokrat keine Gelegenheit ausließ, um die unterschiedlichen Interpretationen des Saarvertrags zur Sprache zu bringen?*. Auf der Tribüne des Europarates bat Schmid um eine Aussetzung des Europaratsvotums über das Saarstatut bis zur Beilegung der Meinungsverschiedenheiten”°, ohne sich allerdings damit durchsetzen zu können. Frangois-Poncet war trotzdem beunruhigt. An den französischen Außenminister Edgar Faure schickte er Auszüge aus Reden Schmids. Besorgte Kommentare lagen bei. Schmid bringe den Kanzler in große Schwierigkeiten”®. Offensichtlich fürchteten die Franzosen, daß der Saarvertrag im Bundestag scheitern und Adenauer möglicherweise sogar über den Saarvertrag stolpern könne. Es war ja nicht nur Schmid, der dem Kanzler aus begründeter Sorge um die Zukunft des Saargebietes zusetzte, sondern auch der Koalitionspartner FDP. Adenauer überstand auch diese Krise. Zu einer „Bombe mit Zeitzünder“, wie Schmid prophezeite, wurde das Saarstatut nicht”. Fortuna, die Schmid zumeist im Stich ließ, war
Adenauer hold. Im Herbst 1955 lehnten die Saarländer das Statut ab. Das Saargebiet wurde Teil der Bundesrepublik. Die hitzige Debatte um das Saarstatut überlagerte und verdeckte zeitweilig die Auseinandersetzung um die in Paris abgeschlossenen Militärverträge und den Deutschlandvertrag. Ollenhauers Nein war eindeutig. Am 1. November ließ er Partei- und Fraktionsvorstand zusammenrufen, um dieses Nein zur offiziellen Parteimeinung zu deklarieren. Gegenstimmen wurden laut, mit denen er nicht gerechnet zu haben scheint. Arndt, Mommer und Jaksch plädierten dafür, die Verträge nicht von vornherein abzulehnen, sondern zunächst einmal zu versuchen, Änderungsanträge durchzusetzen”®. Schmid hielt sich in der Sitzung zurück, ließ aber durchblicken, daß er mit den drei Opponenten weitgehend übereinstimmte. Er pflichtete Arndt bei, daß die in den Verträgen vorgesehene Regelung des Notstandsrechts diskutabel und kein Grund für die Ablehnung der Verträge sei’. In einer offiziellen Stellungnahme kurz nach der Pariser Konferenz hatte er die Einfügung einer Kündigungsklausel in die Verträge gefordert. Da die Bundesrepublik nur provisorischen Charakter habe, könne sie auch nur Verträge provisorischen Charakters abschließen°°. Die Revisionsklausel des Deutschlandvertrags, nach der im Falle einer deutschen Wiedervereinigung die Unterzeichnerstaaten die Bestimmungen des Vertrags zu überprüfen hatten, hielt er wie auch einige Abgeordnete der Regierungskoalition nicht für ausreichend. Ollenhauer, Wehner und Erler setzten auf Viermächteverhandlungen. Das war auch die offizielle Losung der Partei. Erler und Wehner versuchten, Abgeordnete der Regierungskoalition für eine Aussetzung der Ratifikation der Verträge bis zur Abhaltung von Viermächteverhandlungen zu gewinnen®‘. Schmid gab wiederholt auch Lippenbekenntnisse zu Viermächteverhandlungen ab, aber sein Vertrauen in die Gipfeldiplomatie war gering. Er glaubte, daß die deutsche Einheit erst in einem langen, zähen diplomatischen Prozeß zustande kommen werde, der allerdings schleunigst in Gang gebracht werden mußte. Für die Trägheit der Westmächte und der Bundesregierung hatte er kein Verständnis®. Gerade weil er,nicht mit einem plötzlichen Durchbruch bei zukünftigen Wiedervereinigungsverhandlungen rechnete, pochte er so hartnäckig auf die Einfügung einer Kündigungs- oder Kassationsklausel in den Vertragstext. Francois- Poncet versuchte er kurz vor der Ratifikationsdebatte davon zu überzeugen, daß die SPD weit weniger heftig gegen die Verträge kämpfen . werde, wenn in sie eine Klausel aufgenommen werde, daß die von der Bundesregierung übernommenen Verpflichtungen nicht automatisch auf das wiedervereinigte Deutschland übergehen. Die SPD könne es nicht hinnehmen, die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang einfach abzuschreiben. Francois-Poncet unterrichtete sofort den französischen Außenminister davon®?.
Wenn man auf diesen Punkt insistiert hätte, wäre vermutlich eine entsprechende Änderung des Vertrags zu erreichen gewesen, zumal einige Abgeordnete der Regierungskoalition ähnliche Überlegungen angestellt hatten. Schmid kämpfte bis zuletzt für seine Forderung. In der 2. Lesung der Verträge appellierte er nochmals an die Regierung: „Schreiben Sie in diese Verträge eine entsprechende Kassationsklausel und die politische Bedeutung, der politische Gehalt dieser Verträge wird wesentlich verändert sein!“ ®* Freilich, ohne die Zustimmung der Westmächte war die deutsche Wiedervereinigung mit und ohne Kassationsklausel nicht zu erreichen. Da hatte Franz-Josef Strauß schon recht”. Aber immerhin schloß eine solche Kassationsklausel die Blockierung des deutschen Wiedervereinigungsprozesses durch einen der Vertragspartner aus. Schmid sprach bei der abschließenden Lesung der Verträge als Staatsrechtler. Daß Adenauer mit der Behauptung hausieren ging, daß die Bundesrepublik durch den Abschluß der Verträge souverän werde, wollte er als Jurist nicht unwidersprochen lassen. Solange die alliierten Vorbehaltsrechte weiter galten, war die Bundesrepublik nicht souverän und auch nicht gleichberechtigt. „Politik fängt damit an, daß man die Dinge bei ihrem Namen nennt“, belehrte er den Kanzler®®. Manche mögen seine Ausführungen für staatsrechtliche Rabulistik gehalten haben. Aber wie konnte man von der Souveränität der Bundesrepublik sprechen, solange sogar das Notstandsrecht der Alliierten weiterbestand? Mußte man nicht fürchten, daß die Besatzungsmächte über die Hintertür des Notstandsrechtes das Besatzungsrecht wieder aufleben ließen? Das alliierte Notstandsrecht sollte fallen, sobald der Bundestag ein wirksames Notstandsrecht verabschiedete. Schmid begrüßte diese Regelung nicht nur als Fortschritt”, er gehörte auch zu den ersten, die sich Gedanken darüber machten, wie ein fortschrittliches Notstandsrecht, das die Sicherung der freiheitlichen Demokratie zum Ziel hatte, aussehen müsse. Sieben Punkte listete er auf, durch die bei der Verhängung des Notstands die Verantwortung des Parlaments und der Vorrang der Zivil- vor der Militärgewalt gesichert und ein Mißbrauch des Notstandsrechts zur Unterdrückung von Streiks verhindert werden sollte. Er schloß seine Überlegungen mit dem flammenden Appell: „Vergessen wir nicht die Weisheit der angelsächsischen Völker: Wenn der Regierung die Anwendung von Macht zu leicht gemacht wird, bezahlt immer der Bürger die Zeche mit seiner Freiheit.“ ®° Seine Forderungen wurden später von der SPD aufgegriffen, die meisten gingen in das dreizehn Jahre später verabschiedete Notstandsgesetz ein®®. 1955 scheute sich die Mehrheit der SPD noch, sich mit dem heiklen Thema Notstandsrecht zu befassen. Schmid war wieder einmal seiner Zeit und der Partei weit vorausgeeilt. Am 27. Februar wurden die Pariser Verträge im Bundestag verabschiedet. Schmid wurde das Gefühl nicht los, daß man möglicherweise für das Linsengericht Einbindung in die Nato die deutsche Einheit geopfert hatte”, Trotzdem betonte er in der Öffentlichkeit und auch gegenüber ausländischen Gesprächspartnern, daß für die SPD die Verträge politisch verbindlich seien?‘. Das war seine Meinung, mit der er sich aber in der SPD erst noch durchsetzen mußte. Seit Ende 1954 hatte innerhalb der SPD die Zahl derer, die außerparlamentarische Aktionen gegen die Verträge befürworteten, ständig zugenommen. Kundgebungswellen und Befragungsaktionen wurden gestartet. Im Januar hatten die Führungsgremien der SPD über eine Grundgesetzänderung zur Durchführung eines Volksentscheides über die Verträge beratschlagt. Wehners und Erlers Votum für einen Volksentscheid fand große Unterstützung?”. Wehner hatte lange gehofft, daß die Verträge in der Pariser Nationalversammlung scheitern würden. Als seine Hoffnung zerfiel, schrieb er Schmid einen völlig verzweifelten Brief: „Ich wurde bis zuletzt in Spannung gehalten, ob nicht doch noch in Paris — allen Berechnungen zum Trotz — eine Entscheidung fallen würde, die uns ersparen würde, mit der schrecklichen Last allein fertig zu werden. Es ist nun so gekommen, wie es voraus zu berechnen war. Wir stehen vor unsagbaren schweren Aufgaben. Wir dürfen nicht versagen oder verzweifeln.“ Für Wehner nahm der Kampf gegen die Verträge existentielle Züge an. Schmid dachte in erster Linie an die zukünftige Außen- und Deutschlandpolitik, für die man Verbündete im In- und Ausland brauchte. Die Franzosen hatten überhaupt kein Verständnis für die Protestaktionen gegen die Verträge, und Schmid tat sich schwer, sie ihnen zu erklären. Weil er sie selbst nicht befürwortete, sprach er von einer Kanalisierung des außerparlamentarischen Protestes durch die SPD°*. Er fürchtete den Irrationalismus der Straße. Entscheidungen außerhalb des Parlaments lehnte er allein schon aus rechtsstaatlichen Erwägungen grundsätzlich ab?°. Der Protestkundgebung in der Frankfurter Paulskirche Ende Januar 1955 hatte er mit sehr gemischten Gefühlen entgegengesehen. Die Gefahr war groß, daß die Gesinnungspazifisten die Bewegung an sich rissen. Er beschwor die Parteifreunde geradezu: Auf jeden Fall müsse die Parole „Nie wieder Soldat“ vermieden werden?. Die Entscheidung gegen einen Volksentscheid über die Pariser Verträge fiel nur mit Zwei-Stimmen-Mehrheit. Nach der Ratifizierung glätteten sich allmählich die emotionalen Wogen. Die sehr heterogen zusammengesetzte Paulskirchenbewegung zerfiel. In der Parteivorstandssitzung Anfang März rief Schmid die Parteifreunde dazu auf, eine rationale außenpolitische Zukunftsperspektive zu entwerfen: „Wir müssen uns jetzt deutlich erklären: Die Forderung nach der Wiedervereinigung allein genügt nicht. Was tun wir in der Zeit bis zum Abschluß des Ratifizierungsverfahrens? Was tun wir danach? Was tun wir bei einem negativen Ergebnis einer 4–Mächtekonferenz? Mit welchen Mitteln wollen wir den Kampf führen? Die demagogische Argumentation
sollten wir über Bord werfen. Wir sollten die Antworten auseinanderhalten, wenn man von der Bundesrepublik und vom wiedervereinigten Deutschland spricht.“?” Wie oft war von Sozialdemokraten nicht nur die Nato-Mitgliedschaft eines wiedervereinigten Deutschland, sondern auch der Bundesrepublik grundsätzlich abgelehnt worden. Schmid forderte eine nüchterne Lagebeurteilung, die Parteispitze jedoch verstand diese Mahnung als unbequeme Herausforderung, der sie auszuweichen gedachte. Ollenhauer wollte keine Debatte über die zukünftigen Schritte in der Sicherheits- und Wiedervereinigungsfrage eingehen. Der Kampf um die Ratifizierung der Verträge sei noch nicht abgeschlossen?®. Der Parteivorsitzende mag auf ein Veto des Bundesrates spekuliert haben, was Schmids Ansicht nach völlig illusionär war. Immer wieder mußte Schmid zähe Widerstände überwinden, wenn er konzeptionelle Neuansätze anzuregen versuchte. Es war keine leichte Aufgabe, die SPD von ihrer Neinsagerposition abzubringen. Immerhin: Ende April verabschiedete der Parteivorstand Programmvorschläge für Viermächteverhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung””. Sie waren ein Gemeinschaftswerk Wehners, Erlers und Schmids, bei dem Wehner offensichtlich die Federführung übernommen hatte. Erwogen wurde u.a. der Ausbau der WEU zu einem allen europäischen Staaten offenstehenden Sicherheitspakt. Damit wurde ein Grundgedanke von Schmids Locarno-Modell aufgegriffen. Die Sicherheit eines wiedervereinigten bündnislosen Deutschland sollte bis zur Herstellung eines kollektiven Sicherheitssystems durch Garantievereinbarungen der Vier Mächte mit Gesamtdeutschland über die territoriale Unverletzbarkeit und die Anerkennung der Streitschlichtungsmechanismen der UNO gewährleistet werden. Schmid dachte weniger an Garantievereinbarungen mit den großen Vier – das roch ihm zu sehr nach Kontrollratssystem – als an eine lose Zusammenarbeit mit der Nato oder der Westeuropäischen Union. In einer Bundestagsdebatte im Juni sprach er ähnlich wie schon neun Monate zuvor, von einem „Deutschland, das in die Sicherheitsplanung so eingebaut wird, daß sich niemand bedroht fühlen kann, und das in der Lage ist, jedem, der Hilfe brauchen sollte, im Rahmen seiner Möglichkeit zu helfen, wie die anderen Partner bereit sein sollten, gegebenenfalls ihm zu helfen.“!” Eine Neutralisierung Deutschlands nach dem Österreich-Modell, das nach Abschluß des Österreich-Vertrags im Mai 1955 in SPD-Kreisen diskutiert wurde, lehnte er ab’, Außenpolitische Alternativen zu formulieren, war für eine Oppositionspartei, der kaum außenpolitische Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung standen, schwierig. Schmid hatte die Genossen nicht zuletzt deshalb zu einer rationalen Lagebeurteilung aufgefordert, weil er eine gemeinsame Außenpolitik in die Wege zu leiten versuchte. Die Koalitionskrise im Frühjahr 1955 weckte bei ihm wieder einmal die Hoffnung auf eine Große Koalition. In einem Vier-Augen-Gespräch erfuhr Frangois-Poncet, daß die SPD zu einem Bündnis mit den Christdemokraten bereit sei, allerdings nur, wenn Adenauer den Kanzlerstuhl räumte. Als mögliche Kanzleranwärter nannte Schmid Arnold, Erhard und Schäffer. Brentano käme nicht in Frage. Er sei eine „Null“ ‚%, Schmids Neigung zur Medisance brach wieder einmal durch. Wie so viele scheint auch er der Meinung gewesen zu sein: „Wenn Adenauer niest, putzt sich Brentano die Nase.“ !% Schmids Traum von einer Großen Koalition war bald ausgeträumt. Adenauer gelang es rasch, den Koalitionsfrieden wieder zu kitten. Ein Einschwenken auf die Linie Adenauers aus koalitionspolitischen Erwägungen kam für Schmid nicht in Betracht. Trotz seiner wiederholten Klage, daß den Parteifreunden der Sinn für die Macht fehle, war er kein Taktiker, der aus Machtkalkül seine Grundsätze über Bord warf. Adenauers einseitige Ausrichtung nach Westen hielt er für eine Einbahnstraße. Im Frühsommer forderte er den Bundeskanzler im Bundestag auf: „Sie sollten sehr bald nach Moskau fahren; denn wahrscheinlich führt die Route Bonn-Moskau-Genf schneller nach Deutschland als die Route Bonn-Genf-Moskau.“ ‚% Adenauer fuhr bald, und Schmid hatte die Gelegenheit, ihn zu begleiten.
Ostpolitik: Moskaureise und Normalisierung des Verhältnisses zu Osteuropa
Am 7. Juni hatte die Sowjetregierung den Bundeskanzler eingeladen, zu Gesprächen über die Herstellung diplomatischer, kommerzieller und kultureller Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik nach Moskau zu kommen. Die SPD-Fraktion befaßte sich bereits einen Tag später mit dem sowjetischen Vorschlag. Sie forderte die Bundesregiefung auf, „positiv“ zu reagieren. „Es gäbe keinen Grund, sich diesen Gesprächen zu verweigern.“ Die SPD habe schon immer darauf gedrängt, „mit allen Ländern, auch denen des Ostens normale, diplomatische Beziehungen aufzunehmen“ ‚. Der eindringliche Appell verdeckte, daß es auch zahlreiche skeptische Stimmen gab. Erler fürchtete, daß die Westmächte nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion sich nicht mehr für die Wiederherstellung der deutschen Einheit verantwortlich fühlen könnten. Außerdem bestand die Gefahr, daß der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik ins Wanken geriet”. Die Vorbehalte wuchsen. Bald schon hieß es, daß eine Normalisierung der Beziehungen zur Sowjetunion nur dann zu rechtfertigen sei, wenn sie für eine Politik der Wiedervereinigung genutzt werde. Daß man vermutlich über Moskau schneller als über Genf zur Wiedervereinigung komme, war keineswegs einhellige Parteimeinung. Im Partei vorstand wurden zwar die Erfolgsaussichten der Genfer Konferenz nicht allzu rosig gesehen, aber die harte Realität nahm man nur ungern zur Kenntnis. Wehner wetterte im Juli heftig über Adenauers Erklärung, daß die Wiedervereinigung nur in einem langen Prozeß zu erreichen sei3. Genau dieser Auffassung war aber auch Carlo Schmid. Im Gegensatz zu seinen Parteifreunden machte er sich keine Illusionen. Den großen Vier, so führte er im Parteivorstand aus, läge nichts daran, die deutsche Einheit zum Thema Nr. ı der Gipfelkonferenz in Genf zu machen. Man müsse damit rechnen, daß zunächst über ein Sicherheits- und Entspannungskonzept auf der Grundlage des Status quo verhandelt werde. „Das wäre die Phasentheorie, an deren Ende allerdings stehen könne, daß die Wiedervereinigung nicht kommt.“ * Nein, Schmid mochte sich nichts vormachen. In absehbarer Zeit war mit einer deutschen Wiedervereinigung nicht zu rechnen. Eine bittere Einsicht für einen Patrioten wie Schmid, der dennoch nicht resignieren wollte. Der Übergang des Westens von einer Politik des Kalten Krieges zu einer Politik der Entspannung war zu begrüßen. Er durfte aber nicht zu einem Einfrieren des Status quo und zu einer Aufweichung des Antikommunismus führen. Schmid war besorgt, daß dies die Folge der Entspannungspolitik sein könne, und er sah sich im August auf der Konferenz der Interparlamentarischen Union in Helsinki in seiner Sorge bestätigt. „Auf dem Kongreß der Interparlamentarischen Union geht es merkwürdig zu“, berichtete er Nicolas Nabokov, mit dem er auf dem Kongreß für kulturelle Freiheit Freundschaft geknüpft hatte. „(D)ie Aufweichung der Gemüter und Gehirne in Richtung ‚Die Sowjets sind doch gar nicht so übel‘ machen abnorme Fortschritte. Es hat allerlei Mühe gekostet, um einige Sowjetvorstöße abzufangen und es ist noch längst nicht aller Tage Abend.“ Die Sowjetunion wurde in Helsinki in die Interparlamentarische Union aufgenommen. Ein Aufnahmeantrag der DDR wurde aufgrund des Protestes der bundesdeutschen Konferenzteilnehmer abgelehnt‘. Schmid gewann den Eindruck, daß sich der Westen mit der Zweiteilung Deutschlands schon fast abgefunden habe. Der Bundeskanzler hatte Ende Juni den Entschluß gefaßt, nach Moskau zu reisen. Zwei Wochen später bat er den stellvertretenden Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, als Mitglied der Moskau-Delegation an der Reise teilzunehmen”. Schmid zögerte keine Minute. Postwendend, ohne vorher Rücksprache mit der Parteiführung zu nehmen, schrieb er noch am selben Tag zurück, daß er die Einladung annehme®. Wenn Adenauer die Opposition entdeckte, stand dahinter immer Machtkalkül. Für den Kanzler war die Moskau-Reise ein Wagnis, bei dem er die Verantwortung nicht allein tragen wollte. Auch Schmid hatte die Einladung nicht nur aus Neugierde auf die Kreml-Herren angenommen. Die Außenpolitik der SPD war in eine Sackgasse geraten, wenn das die Genossen auch nicht wahrhaben wollten. Falls die gemeinsame Moskau-Reise ein Erfolg würde, dann konnte die SPD nicht umhin, ihre Außenpolitik zu revidieren?. Man würde dann vielleicht doch noch zu einer gemeinsamen Außenpolitik kommen. Er stand nicht allein mit seiner Hoffnung, daß die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Moskau zu einem Markstein auf dem Wege zur deutschen Einheit werden könne. Auch Adenauer knüpfte an die Moskau-Reise große Erwartungen. In der SPD löste Schmids spontane Zusage heftige Diskussionen aus. Wollte Adenauer die SPD für seine Politik einspannen? Die Parteiführung stand einer Teilnahme Schmids an der Moskau-Reise skeptisch bis ablehnend gegenüber. Am ı1. August stand im „Sozialdemokratischen Pressedienst“ unter der Überschrift „Weichenstellung ohne Opposition“ zu lesen: „Der Kanzler legt Wert darauf, in Moskau ausschließlich seine Politik der Pariser Verträge und der westlich deutschen Aufrüstung zu vertreten. Unter diesen Umständen wäre eine Beteiligung der SPD an der Reise nach Moskau zwecklos und politisch unlogisch.“ Peter Raunau, der Chefredakteur des Pressedienstes, übernahm die Verantwortung für den Artikel, der aber nicht das Machwerk eines eigenmächtig handelnden Redakteurs war. Auch im Parteivorstand, der sich in den ersten Septembertagen in Bonn versammelte, wurden starke Bedenken gegen Schmids Teilnahme an der Moskau-Delegation laut. Arndt und Blachstein waren ganz entschieden dagegen. Nur Brandt bedauerte, daß die SPD nicht eine stärkere Beteiligung des Außenpolitischen Ausschusses gefordert hatte’°. Schmid gab unmißverständlich zu verstehen, daß er sich diesmal der Parteidisziplin nicht beugen werde. Es sei nicht Sache einer Partei, „die Ausübung einer Ausschußfunktion zu billigen“. Einwände, die gegen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion geltend gemacht wurden, versuchte er mit dem Argument zu zerstreuen, daß man dort zunächst nur eine Handelsmission errichten könne“. Vermutlich sagte er das nur, um die Genossen zu beruhigen. Wirklich geglaubt hat er an diese Möglichkeit wohl nicht. Die Partei distanzierte sich von dem ganzen Unternehmen. In der verabschiedeten Parteivorstandsresolution wurde ausdrücklich betont, daß Schmid lediglich in seiner Funktion als stellvertretender Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses mit nach Moskau fahre‘?. An den von Außenminister Brentano geleiteten Vorgesprächen über die Moskauer Verhandlungen konnte sich Schmid nicht beteiligen, da er zur selben Zeit auf der Tagung der Interparlamentarischen Union in Helsinki die Haltung der Bundesrepublik in der Frage der deutschen Einheit verteidigte. Ollenhauer und Wehner hatten daran teilgenommen, ohne Konkretes dabei zu erfahren. Brentano hütete sich, Geheimnisse auszuplaudern. Sein Chef war ohnehin aufgebracht, daß Wehner an den Gesprächen teilgenommen hatte’3. Im stillen mag Adenauer gehofft haben,
Schmid gegen Wehner, dessen wachsenden Einfluß in der SPD er mißtrauisch beargwöhnte, ausspielen zu können. Vielleicht war auch das ein Grund, warum er Schmid nach Moskau mitnahm. Ein klares Verhandlungskonzept besaß der Kanzler nicht. Im Auswärtigen Amt schreckte man vor einer direkten Aufnahme diplomatischer Beziehungen zurück. Zunächst einmal wollte man nur Expertenkommissionen zur Klärung der umstrittenen Fragen einsetzen’*. Daß die Sowjetregierung sich darauf nicht einlassen würde, mußte eigentlich klar sein. Schmid nahm an einer Reise ins Ungewisse teil. Am Donnerstag, den 8. September 9. 45 Uhr startete die Superconstellation der Lufthansa mit Adenauer, Schmid, dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses Kiesinger, dem Bundesratsvorsitzenden Karl Arnold und einigen weiteren Mitgliedern der Riesendelegation in Richtung Moskau. Der Troß des Auswärtigen Amtes war schon eine Viertelstunde vorher nach Moskau abgeflogen. Auf dem Moskauer Flughafen Wnukowo fand ein „großer Bahnhof“ statt. Ministerpräsident Bulganin und Außenminister Molotow standen zur Begrüßung bereit. Eine Ehrenkompanie defilierte im Paradeschritt. Die Sowjetregierung wollte den Besuch der deutschen Delegation als Staatsbesuch verstanden wissen. Schmid war auf den Empfang vorbereitet. Mit schwarzem Homburg und weißem Schal strahlte er wie immer Würde aus. Untergebracht wurde die Delegation im Hotel „Sowjetskaija“, einem Moskauer Spitzenklassenhotel. „Mir war“, erzählte Schmid nach der Reise, „als wäre ich durch eine böse Fee in die Villa verbannt worden, die sich ein neugebackener Kommerzienrat bei uns nach der dritten Million im Jahre 1905 in einer kleinen Industriestadt hatte bauen lassen.“ ‚5 Kitsch der Gartenlaube inmitten des sozialistischen Realismus. In den nächsten zwei Verhandlungstagen wurden von Adenauer, Bulganin und Chruschtschow die jeweiligen Verhandlungspositionen abgesteckt. Die sowjetische Seite verlangte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen ohne jede Vorbedingung. Adenauer wollte darauf nur eingehen, wenn die Sowjetregierung sich bereit erklärte, die 9626 zurückgehaltenen Kriegsgefangenen freizulassen. Die deutsche Frage war kein Verhandlungsgegenstand, weil die Sowjetregierung sich nach der Unterzeichnung der Pariser Verträge weigerte, darüber zu diskutieren. Auch Verhandlungen über die Freilassung der Kriegsgefangenen versuchte sie mit der Behauptung, bei den Kriegsgefangenen handle es sich um Kriegsverbrecher, zu umgehen. Der Streit spitzte sich zu, als Adenauer den Sowjets die Greueltaten beim Einmarsch sowjetischer Truppen in Deutschland vorwarf, worauf Chruschtschow mit Entrüstung reagierte’®. Abends im Bolschoi-Theater wurde Versöhnung gespielt – nicht nur auf der Bühne, wo Sergej Prokofjews Ballettaufführung Romeo und Julia zu sehen war -, sondern auch in den Pausen bei den Trinksprüchen in
Moskaureise und Normalisierung des Verhältnisses zu Osteuropa Moskau 1955. V.l.n.r.: Kurt Georg Kiesinger, Schmid, Nikita Chruschtschow, Micha Perwuchin, Nikolaj Bulganin, Konrad Adenauer, Heinrich von Brentano, Wiatscheslaw Molotow, Karl Arnold
den Logen. Hier trat erstmals Carlo Schmid auf den Plan, der bei den bisherigen Verhandlungen zum Zuhören verurteilt war. Trinkfest wie er war — auch ohne Globkes berühmten Löffel Olivenöl – forderte er die Kreml-Herren zu einem Trinkduell auf. Wodka im Wasserglas. Adenauer, der in Moskau auch schon etliche Trinksprüche gewechselt hatte, scheint Schlimmes befürchtet zu haben. Schmid trank trotz der Ermahnungen des Kanzlers das Glas in einem Zug aus und imponierte damit, wie beabsichtigt, den Sowjetoberen mächtig. Bei Chruschtschow hatte er ab sofort, auch wegen seines Leibesumfanges, den Spitznamen „Gospodin Welikaja Germanija – Herr Großdeutschland“ weg’’. Die Stimmung war gut. Der Botschafteraustausch schien schon fast perfekt zu sein. Chruschtschow wünschte sich Carlo Schmid als zukünftigen Botschafter’°. Er war ganz offensichtlich überaus beeindruckt von diesem „teutonischen Arbeiterführer“. Schmid mochte gehofft haben, den persönlichen Kredit, den er bei Chruschtschow genoß, in den Verhandlungen politisch ausnützen zu können. Er vertraute auch in der Politik auf die Macht seiner imposanten Persönlichkeit. Politik am weißen Tisch ließ sich jedoch mit den Kreml- Oberen nicht machen. Sie waren weitaus dogmatischer, als Schmid es gedacht hatte‘?. Die joviale Stimmung des Wochenendes wich am Montag erneut schroffer Auseinandersetzung. Während Carlo Schmid zusammen mit anderen Delegationsteilnehmern am Montag morgen den Kreml und die Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz besichtigte, endete eine Besprechung der beiden Außenminister Brentano und Molotow in völligem Dissens. Erneute Krisensitzung, nachdem man schon Sonntag abends ziemlich ratlos zusammengesessen hatte. Sollte man die Verhandlungen abbrechen? Brentano und Hallstein plädierten für Abreise. Sie waren ohnehin gegen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Moskau. Schmid dagegen hoffte, daß man mit den Sowjets zu einem do ut des kommen könne”. Ihm lag die Freilassung der Kriegsgefangenen nicht weniger am Herzen als Adenauer. Als Präsidiumsmitglied des Roten Kreuzes wußte er, wie lange sich das Rote Kreuz schon um eine Rückführung der Kriegsgefangenen bemühte”‘. Wenn es in den soer Jahren jemals eine gemeinsame Außenpolitik von Regierung und Opposition gab, so war es in Moskau. An den Krisensitzungen im abhörsicheren Waggon des Bundesbahnsonderzuges, der der deutschen Delegation als Verhandlungszimmer diente, nahmen auch die beiden Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses Kiesinger und Schmid teil und griffen entscheidend in die Diskussion ein?”. Die Zusammenarbeit zwischen Adenauer und Schmid scheint eng gewesen zu sein, vielleicht enger, als die beiden nachher zugaben. Einige Delegationsteilnehmer erinnern sich an manches tete ä tete der beiden beim Frühstück und auf der Gartenbank”. Da der Troß des Auswärtigen Amtes ihm nicht folgen wollte, war Adenauer auf Schmids Rat angewiesen. Beide waren sich im Grunde einig, daß man an einer Aufnahme diplomatischer Beziehungen nicht vorbeikomme, daß aber Vorbehalte gemacht werden mußten hinsichtlich der Anerkennung des derzeitigen territorialen Besitzstandes und der DDR als zweitem deutschen Staat. Schmid schlug vor, in den Text der Vereinbarungen einen Ratifizierungsvorbehalt aufzunehmen”*. Das Abkommen über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen sollte erst nach Zustimmung des Bundestages in Kraft treten. So konnte man die Annahme der einseitigen völkerrechtlichen Vorbehaltserklärungen hinsichtlich der Anerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Linie durch die Sowjetunion sicher stellen. Adenauer war damit einverstanden. In der Vorbereitungsphawsaer:en im Auswärtigen Amt bereits ähnliche Überlegungen angestellt worden*°.
Zunächst einmal mußte man die Freilassung der Kriegsgefangenen erreichen. Schmid wollte, falls die Nachmittagsgespräche wieder in einen unversöhnlichen Meinungsstreit ausarten sollten, das Wort ergreifen. Das Gesprächsklima am Nachmittag war nicht weniger rauh als bei den vorangegangenen Verhandlungen. Bulganin beharrte darauf, daß das Problem der in der Sowjetunion zurückgehaltenen Deutschen eine innere Angelegenheit der UdSSR sei. Allenfalls nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen könne man über eine Rückführung der Kriegsgefangenen verhandeln. Adenauer erteilte Schmid das Wort, der am Beginn seiner Ausführungen darauf hinwies, daß er als Mitglied der Opposition, als Mitglied einer Arbeiterpartei spreche. Die moralische Haftung der Deutschen für die Verbrechen des NS-Regimes gab er unumwunden zu. Dem Eingeständnis der deutschen Schuld folgte ein eindringlicher Appell an die „Großherzigkeit des russischen Volkes“: „Lassen Sie Gnade walten, und lassen Sie diese Menschen zurückkehren zu denen, die auf sie warten, die seit mehr als ı0 Jahren auf sie warten. Hinter dieser Bitte steht das ganze deutsche Volk ohne Unterschied der Parteien und ohne Unterschied des persönlichen Schicksals, das der einzelne Deutsche in der schrecklichen Zeit des Naziregimes erlitten hat. Ich bitte, mir zu glauben, daß diese Frage die Gemüter der Menschen bei uns ohne Unterschied mehr erregt als das, was man gemeinhin Politik nennt. Ich möchte Sie bitten, doch wenigstens eine Erklärung abzugeben, die einigen hunderttausend Menschen wieder Hoffnung geben kann.“ *° Schmids Rede allein brach das Eis nicht, aber sie brachte es zum Schmelzen. Chruschtschow war: bereit, weiterzuverhandeln, wenngleich er sich noch einmal zu einem Zornesausbruch hinreißen ließ, so daß Bulganin die Sitzung vertagte. Adenauer folgte einem Vorschlag Brentanos und gab die Order, die Lufthansa-Maschinen einen Tag früher als geplant zum Heimflug zu bestellen?”. Felix von Eckardt, der als Bundespressechef an der Reise teilnahm, urteilte später, daß das Spiel mit verteilten Rollen, bei dem „dem Kanzler die Rolle unbeugsamer Festigkeit und Carlo Schmid die Rolle des geistvoll und versöhnlich Sprechenden zufiel, in dieser Phase die Konferenz rettete“** . Adenauer hätte Schmids Rede auch nicht im Wortlaut in seine „Erinnerungen“ aufgenommen, wenn sie so bedeutungslos gewesen wäre, wie innerhalb der CDU bald behauptet wurde”. Schmid hatte das richtige Wort gefunden, weil er als Kenner der russischen Literatur sich in die Psyche seiner Verhandlungspartner reinversetzen konnte. Außerdem waren bereits vom Roten Kreuz Gutachten ausgearbeitet worden, in denen darauf verwiesen wurde, daß die Sowjetunion gegenüber einem „Appell an ihre Großmut“ schon aus Prestigegründen stets hellhörig sei?°. Schmid mag diese Gutachten gekannt haben.
Beim abendlichen Staatsempfang im riesigen Sankt-Georgs-Saal des Kreml-Schlosses erhielt Adenauer das berühmte Ehrenwort Bulganins, daß acht Tage nach der Vereinbarung über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen die Kriegsgefangenen heimkehren konnten. Brentano, Hallstein, zunächst auch Blankenhorn wollten dem Ehrenwort des russischen Ministerpräsidenten nicht allzu viel Glauben schenken. Schmid plädierte vorsichtig für die Annahme des Ehrenwortes. Gewiß, man mußte damit rechnen, daß vor der Genfer Konferenz der deutsch-sowjetische Handel die Wirkung eines „Kanonenschusses“ hatte. Die Westmächte konnten die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zum Vorwand nehmen, um sich ihrer Verpflichtung für die deutsche Einheit’zu entledigen. Aber angesichts des Schicksals Tausender Kriegsgefangener konnte man einen Abbruch der Verhandlungen kaum verantworten?‘. Schmid hätte sich wahrscheinlich weitaus entschiedener für die Annahme des Ehrenwortes ausgesprochen, wenn er die Kritik der Parteifreunde in Bonn nicht gefürchtet hätte. Der von Schmid vorgeschlagene Ratifizierungsvorbehalt wurde tags darauf in die Vereinbarungserklärungen aufgenommen. Hallstein und Grewe formulierten die völkerrechtlichen Vorbehaltserklärungen und handelten den endgültigen Text mit Molotow aus. Am 14. September empfing am Köln-Bonner Flughafen ein jubelndes und gerührtes Publikum die Moskaureisenden. Adenauer wußte, was er Schmid, dessen politisches Talent in Krisensituationen immer erst richtig zur Entfaltung kam, zu verdanken hatte. Er lud ihn zu der für 15. September anberaumten Sondersitzung des Kabinetts ein, wo er ihm dankte und ihm bestätigte, daß er „der deutschen Sache sehr gedient“ habe?*. Am gleichen Tag berichtete Schmid auch der SPD-Fraktion über seine Moskauer Eindrücke und über die Schlußfolgerungen, die er für eine künftige Außenpolitik daraus zog. Noch bevor er auf die große Politik einging, schilderte er, wie deprimierend das Alltagsleben in Moskau auf ihn gewirkt hatte. „Die Frauen sahen schrecklich verarbeitet aus, bejammernswürdig.“ „Man hat den Eindruck, als ob diese Frauen resigniert hätten, als ob sie sich eben als Arbeiter, Arbeitswesen, möchte ich sagen, betrachteten und sonst weiter nichts. Das waren die stärksten, und auch am stärksten bedrückenden Eindrücke, die ich in Moskau hatte: die Frauen.“ 3 ? Manch einer der Hinterbänkler mag heimlich gelächelt haben, als Schmid sehr emphatisch betonte, daß er in Moskau nicht eine „hübsche Frau“ gesehen habe. Beeindruckt war er von den Kindergärten und den Hochschulen. Das Bildungswesen der Sowjetunion konnte seines Erachtens in mancherlei Hinsicht von der Bundesrepublik zum Vorbild genommen werden. Ansonsten aber malte er ein düsteres Bild von den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen in der Sowjetunion. Die Konsumgüterindustrie sei stark unterentwickelt. Die Sowjetunion habe deshalb ein großes Interesse an Handelsbeziehungen mit der Bundesrepublik3#, Überrascht war er, daß die Sowjetführer auch in praktischen politischen Fragen völlig unter dem Einfluß der marxistischen Doktrin standen. Daß die Leute Ideologen sind, hatte er gewußt, daß sie es in solchem Maße sind, hatte er nicht geahntS. Die Parteifreunde wollten vor allem wissen, welche Ergebnisse hinsichtlich der Deutschlandfrage in Moskau erzielt wurden. Im Grunde genommen keine. Schmid mußte den Wiedervereinigungsoptimismus der Fraktionskollegen enttäuschen. Für die Kreml Herren war die Wiedervereinigung kein „aktuelles“ Thema mehr. Sie hatten sich geweigert, einen Passus in den Text der Vereinbarungen aufzunehmen, daß die „alsbaldige Wiederherstellung der Einheit Deutschlands“ durch beide Regierungen zu fördern sei. Molotow habe geantwortet, daß man die Völker belügen würde, wenn man nach Abschluß der Pariser Verträge einen solchen Satz in den Vertragstext aufnehme°®. Schmid hatte den Eindruck gewonnen, daß die Sowjets die Wiedervereinigung als eine innerdeutsche Angelegenheit betrachteten. Er verhehlte nicht, daß die Sowjetoberen allein schon wegen der Rückwirkungen auf die osteuropäischen Satellitenstaaten an einer Wiedervereinigung nicht sehr interessiert sein könnten und gestand offen ein, daß das „Tabu der Reinhaltung“ der Partei von Kontakten mit der SED wahrscheinlich gebrochen werden müsse”. Einige Mitglieder im Parteivorstand plädierten deshalb dafür, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion abzulehnen. Auch Ollenhauer war skeptisch, votierte dann aber doch für ein Ja, weil sich die SPD sonst isolieren würde, in der Welt dastünde als eine „Art McCarthy-Gruppe“®. Wehner war der einzige, der an der Wiedervereinigung als einem Nahziel festhalten wollte. Er sah in deutsch-deutschen Kontakten einen Hebel, um die Wiedervereinigung in Gang zu bringen: „Unser Verhalten gegenüber der SED und Pankow kann die Bundesrepublik in den Augen der Russen interessant machen, d.h. wenn wir redeten, als säßen wir mit ihnen schon in einem Parlament.“ ? Das ging Schmid zu weit. In der Durchlöcherung des Eisernen Vorhangs sah auch er ein wichtiges Ziel einer zukünftigen Deutschlandpolitik, aber er distanzierte sich von Wehner, indem er unterstrich, daß bei der Herstellung innerdeutscher Kontakte kein Zweifel an der Haltung gegenüber dem Sowjetregime aufkommen dürfe*°. Schmid beurteilte die internationalen Konstellationen anders als Weh- “ ner. Er kam zu einer ganz anderen Einschätzung der vom 27. Oktober bis 16. November 1955 in Genf tagenden Außenministerkonferenz als sein Fraktionskollege, den die SPD als Konferenzbeobachter in die Schweizer Stadt am Lac L&man entsandt hatte. Wieder einmal schob Wehner dem Westen und der Bundesregierung die Hauptschuld am Scheitern der Konferenz zu. Die Gretchenfrage nach dem militärischen Status einer gesamtdeutschen Regierung sei vom Westen nicht gestellt worden. Wehner wollte auch diesmal nicht von einem Scheitern der Konferenz sprechen. Er glaubte sogar an die Einberufung einer Folgekonferenz*“. Auch Schmid meinte, daß es der Westen versäumt habe, die Gretchenfrage an die Sowjets zu stellen, die aber bei ihm lautete: „Wie wollt Ihr es mit freien Wahlen halten, wenn der Westen bereit sein sollte, die Pariser Verträge mit Euch zur Diskussion zu stellen?“* Für ihn trug eindeutig die Sowjetunion die Verantwortung für den Mißerfolg der Konferenz“.
Molotow hatte auf der Konferenz den altbekannten Vorschlag, einen gesamtdeutschen Rat zu bilden, wieder aus der Mottenkiste hervorgeholt. Die sofortige Abhaltung freier gesamtdeutscher Wahlen war von ihm als „mechanische Verschmelzung“ zweier „in sozialer Hinsicht unterschiedlicher Staaten“ abgelehnt worden. Außerdem hatte er keinen Zweifel daran gelassen, daß die Wiederherstellung der deutschen Einheit „nicht auf Kosten der politischen und sozialökonomischen Errungenschaften der Werktätigen der DDR erfolgen“ dürfe**. Der Ausgang der Genfer Konferenz, der ihn nicht sonderlich überrascht hatte, bestärkte Schmid in seiner Auffassung, daß allenfalls über ein „general settlement“ der Weltmächte die deutsche Einheit zu erreichen war. Er beurteilte die Chancen für eine deutsche Wiedervereinigung überaus pessimistisch. Dem ehemaligen Mitarbeiter der amerikanischen Militärregierung in Deutschland Kenneth Dayton schrieb er: „Ich selber bin davon überzeugt, daß die Sowjetregierung sicher ihren Satelliten in Pankow nicht preisgeben wird, schon um der Rückwirkungen in Prag, Warschau, Sofia, Budapest und Bukarest wegen (…). Sie wissen, daß die Sowjetregierung erklärt hat, daß die sogenannten Errungenschaften der DDR nicht preisgegeben werden dürften. Was sie darunter versteht, ob die Volkspolizei, die Konzentrationslager, Frau Hilde Benjamin oder nur die Zerteilung des Großgrundbesitzes und die Verstaatlichungen der großen Unternehmungen ist unbekannt. Auch ich bin der Meinung, daß eine Neutralitätserklärung Deutschlands zwischen den beiden Blöcken die Russen wird nicht dazu bewegen können, ihre bisherige Haltung aufzugeben. Ich glaube, daß die einzige Möglichkeit, zur Wiedervereinigung zu kommen, die ist, daß sich die Großmächte, d.h. die USA, die Sowjetunion und das britische Commonwealth zu einigen versuchen, über eine Feststellung der Machtverschiebungen, die der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg mit sich gebracht haben. Sollte dies gelingen, dann könnten sie sich vielleicht über gewisse Einfluß-Sphären einigen und diese Einigung durch einen Weltsicherheitsvertrag garantieren, der seinerseits ohne eine massive Abrüstung sicher nicht wird funktionieren können. (…) Ich weiß, daß dies alles reichlich utopisch klingt, aber wenn man nicht auf eine ähnliche Formel kommt, dann sehe ich keine Aussicht auf eine Wiedervereinigung.“ # Den Genossen im Partei- und Fraktionsvorstand redete er Ende November mit ähnlichen Worten ins Gewissen, in der Hoffnung, sie zu einer Revision des bisherigen außenpolitischen Kurses bewegen zu können“. Hauptadressat seiner kritischen Bedenken war Wehner, der in einem umfassenden Memorandum zur Welt- und Deutschlandpolitik innerdeutsche Verhandlungen als Ausweg aus der deutschlandpolitischen Sackgasse beschwor’”. Soweit Wehner davon sprach, daß Pankow nicht einfach ignoriert werden könne, konnte Schmid ihm folgen. Wenn man, wie Schmid vorschlug, von der Konstruktion ausging, daß die innerdeutschen Verhandlungen im Auftrag der Besatzungsmächte geführt wurden, bestand auch nicht die Gefahr, daß der innerdeutsche Dialog als Anerkennung der DDR mißverstanden wurde*“. Immerhin war es möglich, durch solche innerdeutschen Kontakte das Los der ostdeutschen Bevölkerung etwas zu erleichtern. Aber im Hinblick auf die deutsche Wiedervereinigung schien Schmid trotz aller Beteuerungen der Sowjets, daß die deutsche Einheit Sache der Deutschen sei, der Draht nach Moskau wichtiger als der nach Ost-Berlin. Er votierte für einen intensiven diplomatischen Meinungsaustausch mit dem Westen und dem Osten, wobei er ausdrücklich hinzufügte, daß die Verhandlungen mit Moskau nicht hinter dem Rücken des Westens geführt werden durften*?. Aufgabe eines deutschen Botschafters in Moskau sei es zu „erspüren“, ob Moskau vielleicht doch bereit sei, Pankow „Ratschläge zu erteilen“ 5°, Chruschtschow hatte sich Carlo Schmid als Botschafter gewünscht, und Adenauer war, wie man überall munkelte, offensichtlich nicht abgeneigt, Chruschtschows Wunsch Rechnung zu tragen°‘. Seit der gemeinsamen Moskau-Reise war Adenauers Respekt vor Schmid weiter gewachsen. Dessen Entsendung nach Moskau wäre obendrein ein kluger politischer Schachzug gewesen. Die SPD wäre eines ihrer besten Pferde im Stall beraubt worden und hätte ihre Agitation gegen den außenpolitischen Kurs der Regierung mäßigen müssen. Schmid dürfte das Angebot, wenn es je konkret wurde, nicht in Gewissenskonflikte gestürzt haben. Ihm konnte nicht daran gelegen sein, den Briefträger Adenauers zu spielen. Der Kanzler hintertrieb weiterhin alle Bestrebungen einer gemeinsamen Außenpolitik, die Schmid angesichts der gescheiterten Genfer Konferenz für dringend geboten hielt. Kiesinger wußte sich mit Schmid einig. Der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses und sein Stellvertreter bemühten sich, eine gemeinsame außenpolitische Linie zu finden. Schmid ‚ erklärte öffentlich, daß die SPD zum Dialog mit der Bundesregierung bereit sei. Es dürfe allerdings bei diesen Gesprächen keine Tabus geben°?. Adenauer pfiff seinen eigenmächtig voranschreitenden Mitstreiter Kiesinger, zurück. Die Richtlinien der Politik bestimme immer noch er°’. Schmids Anläufe zu einer gemeinsamen Außenpolitik wurden jedesmal gestoppt, noch ehe sie richtig in Gang kamen. In der SPD konnte Wehner nicht an einer gemeinsamen Außenpolitik interessiert sein, da selbst der verständigungsbereite Kiesinger vor dem „gefährliche(n) Abenteuer gesamtdeutscher institutioneller Kontakte“ warnte°*. Schmid ließ sich noch nicht entmutigen. Er setzte durch, daß die SPD- – Fraktion in der Bundestagsdebatte über die Genfer Konferenz eine von ihm sehr moderat formulierte Resolution zur Abstimmung stellte. In ihr ging Schmid und mit ihm die SPD-Fraktion deutlich auf Distanz zum SED-Regime: „Das Regime, das die Machthaber der sowjetisch besetzten Zone dem wiedervereinigten Deutschland aufzuzwingen versuchen, verleugnet die elementarsten demokratischen Freiheitsrechte eines Volkes. Es wird nie die Zustimmung des deutschen Volkes finden.“ Die Burdesregierung wurde aufgefordert, alles zu tun, „was zur Erleichterung der psychologischen und materiellen Lage der Deutschen in der sowjetisch besetzten Zone beitragen kann“. Darüber hinaus wurden von ihr neue Anstrengungen verlangt, um „die vier Mächte zur Lösung der untrennbar miteinander verbundenen Probleme der europäischen Sicherheit und der Wiedervereinigung Deutschlands zu bewegen“°‘. Es stand eigentlich nichts in der Resolution, was die Fraktionen der Regierungskoalition nicht hätten unterschreiben können. Trotzdem wurde sie abgelehnt. Ernst Friedländer schrieb nach der Debatte bissig, daß man sich einzig in der „gemeinsamen Ratlosigkeit“ nähergekommen sei?“. Ratlos war im Grunde auch Schmid. Seine Reden und Artikel waren Appelle gegen einen deutschlandpolitischen Defaitismus. Obwohl er kaum mehr an eine baldige Wiedervereinigung glaubte, wollte er die deutsche Teilung nicht hinnehmen. Ein konkretes deutschlandpolitisches Konzept hatte aber auch er noch nicht entwickelt. Neue Hoffnung schöpfte er erst, als sich im Frühjahr 1956 im Zuge des XX. Parteitages der KPdSU in Osteuropa erste reformkommunistische Bestrebungen bemerkbar machten. Der Westen durfte die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, die freiheitliche Entwicklung in Osteuropa zu fördern. Sobald sich neue Handlungsmöglichkeiten auftaten, entwickelte Schmid neue Konzepte und neue Ideen. Im Frühjahr 1956 regte er einen „innereuropäischen Marshallplan“ an. Die Bundesrepublik müsse die Initiative ergreifen, denn sie habe eine besondere Verpflichtung, weil im deutschen Namen sehr viel „Böses“ in Europa getan worden sei’. Schmid kam zurück auf sein Konzept Europas als dritter Kraft. Er forderte die westeuropäischen Staaten auf, Verhandlungen mit den Staaten jenseits des Eisernen Vorhangs aufzunehmen, bei denen auch gegenstandslos gewordene Tabus zur Sprache gebracht werden müßtenS®. Die deutsche und europäische Teilung mußte gleichzeitig überwunden werden. Auf einer SPD-Versammlung im Mai sprach er sich erstmals öffentlich für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten aus’®. Wieder einmal war er gezwungen, die undankbare Rolle des Vorkämpfers zu spielen. In der SPD war Osteuropapolitik bisher kein Thema gewesen, und sie wollte es auch nur ungern zu einem machen. Auf dem Münchener Parteitag im Juli 1956 vermied man es tunlichst, eine eindeutige Stellungnahme zur Osteuropapolitik abzugeben. Man beließ es bei der vagen Formulierung, daß die „Normalisierung“ der Beziehungen zum Ostblock „als ein Beitrag zur Politik der Entspannung angestrebt“ werden sollte°. Osteuropapolitik wurde zum Anhängsel der Entspannungspolitik deklariert.
Die Scheu vor einer aktiven Östeuropapolitik hatte mehrere Gründe: Zum einen focht Herbert Wehner weiterhin vehement für sein Konzept innerdeutscher Kontakte. Die Entstalinisierung in der Sowjetunion ließ ihn auf eine Sozialdemokratisierung der DDR hoffen‘, Die Mehrheit der SPD scheint seiner Analyse gefolgt zu sein. Zum anderen warf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit den osteuropäischen Staaten das Problem einer Anerkennung der DDR auf. Und schließlich – und das war vermutlich der gewichtigste Grund – wollte man auf keinen Fall die Wählerstimmen der Vertriebenen verlieren. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Polen, um die es Schmid vorrangig ging, konnte man nur fordern, wenn man bereit war, die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Preis dafür zu zahlen. Ein böses Tabu. Schmid brach es in einer beherzten Rede, die er Anfang Oktober auf der deutsch-französischen Konferenz in Bad Neuenahr hielt. Es war kein Zufall, daß er ausgerechnet vor diesem Forum das brisante Thema anpackte. Die Aussöhnung mit Polen hatte für ihn, der aus den Fehlern der Weimarer Republik gelernt hatte, denselben Stellenwert wie die Aussöhnung mit Frankreich, das seinerseits auf eine Aussöhnung der Bundesrepublik mit Polen drängte. Im übrigen hatten auch schon die Kreisauer die Verständigung mit Polen zum Programm erhoben. Er wußte, daß er für seine Rede gezaust werden würde und baute deshalb schon vor: „Ich will (…) hier völlig offen reden und meine Gedanken sagen, die niemanden verpflichten — nicht meine Partei und nicht den Deutschen Bundestag, sondern nur mich persönlich.“ % Bereits im Sommer 1955 hatte er sich für ein Abkommen über einen Gewaltverzicht an der Oder-Neiße-Linie ausgesprochen, allerdings unter ausdrücklicher Betonung, daß dies keine endgültige Anerkennung der Grenze bedeute. Jetzt versuchte er die Einsicht dafür zu wecken, daß bei allem Unrecht, das den Heimatvertriebenen geschehen war, eine Lösung des Oder-Neiße-Konflikts nur auf dem Weg von Verhandlungen möglich war, wobei eine Einigung nur dann erzielt werden könne, wenn auf beiden Seiten die Bereitschaft zum Verzicht bestünde. Zu einer Einigung aber müsse man kommen und zwar bald, denn es sei ein Irrtum, zu glauben, daß es eine deutsche Wiedervereinigung geben könne, „ohne daß vorher über das Schicksal der Gebiete östlich der Oder und Neiße Einverständnis erzielt wird.“ ° Er hatte gesagt, was fast alle politisch Verantwortlichen dachten, aber keiner auszusprechen wagte. Zwei Tage später ging er nochmals in die Offensive. In einem Interview für die tschechoslowakische Nachrichtenagentur CTK plädierte er für eine Normalisierung der politischen und diplomatischen Beziehungen zur CSSR und zu den übrigen osteuropäischen Staaten®. Das Interview wurde von den Parteifreunden gebilligt, wenn auch nicht gerade begrüßt”. Wegen der Rede in Bad Neuenahr mußte er eine Strafpredigt über sich ergehen lassen. In der nächsten Fraktionssitzung wurde ihm vorgeworfen, daß er die Erklärung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und es obendrein unterlassen hatte, „sich mit Mitgliedern des Partei- und Fraktionsvorstandes vorher in Verbindung zu setzen und mit ihnen diese Frage kurz zu besprechen und daß er nicht einmal mit den auf der Tagung anwesenden Genossen Kontakt aufgenommen“ hatte”. Das hatte er aus gutem Grund nicht getan. Dann hätte man ihn nämlich davon abgehalten, diese Rede, die eine heftige Diskussion entfachen mußte, zu halten. Ollenhauer distanzierte sich öffentlich von der Erklärung seines eigenwilligen Parteifreundes. Unter Berufung auf seine Ausführungen auf dem Münchener Parteitag unterstrich der SPD-Parteivorsitzende nochmals, daß die SPD die Oder-Neifße-Grenze nicht als endgültige Ostgrenze anerkenne. Ihr Ziel sei die Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937°°. Adenauer, der um eine Stellungnahme gebeten wurde, wies das Thema weit von sich. Über das Problem der Oder-Neiße- Grenze könne sich nur ein wiedervereinigtes Deutschland und ein freies Polen verständigen. Wieder einmal war es der alte Friedrich Stampfer, der Carlo Schmid die Stange hielt. Im Stampfer-Dienst dankte er Carlo, dem „Ketzer“, für die „große Portion Zivilcourage“, die er aufgebracht hatte”°. Auch in der „Welt“ war ein zustimmender Kommentar zu lesen’‘. Schmid ließ sich durch die Schelte der Parteifreunde nicht beirren. „Ich bin froh, die Initiative ergriffen zu haben, denn ich bin nach wie vor der Meinung, daß es die Aufgabe eines politischen Menschen ist, zu sagen, was ist“, schrieb er Stampfer in einem Dankesbrief’”. Hatte nicht die Auseinandersetzung mit Polen in den zwanziger Jahren gezeigt, daß man manchmal aus moralischen und politischen Erwägungen auf Rechtsstandpunkte verzichten mußte? Schmid, dem die eigenen Fehler eine Lehre waren, hatte den Mut unpopulär zu sein, ohne den seines Erachtens Politik steril werden mußte. Er gab sich Mühe, die Parteifreunde davon zu überzeugen, daß es die politische Ratio gelegentlich verlange, wichtige Wählergruppen vor den Kopf zu stoßen. Waldemar von Knoeringen, der wegen der Neuenahrer- Rede um den Bestand der Koalitionsregierung in Bayern fürchtete, erklärte er: „Daß die Flüchtlingsverbände protestiert haben, versteht sich von selbst, aber sie werden noch öfter gegen Dinge protestieren, die wir werden tun müssen. Manche meinen, auch wenn man recht habe, brauche man nicht unbedingt zu sagen, was man denke. Ich bin anderer Meinung. Ich glaube, wir müssen gerade über diese Dinge sprechen, denn wenn wir in einem Jahr an die Regierung kommen sollten, werden wir diese Dinge ja tun müssen und dann könnte man uns entgegenhalten, daß wir es an der nötigen Aufklärung der öffentlichen Meinung haben fehlen lassen. Dazu kommt, daß wir auch einiges beitragen können und sollten, das Gefühl der Satellitenvölker ausschließlich auf die Sowjetunion angewiesen zu sein, gegenstandslos zu machen.“ 73
Schmid wollte das europäische Haus nicht ohne Osteuropa bauen. Der Aufstand in Posen, die Rehabilitierung des von Stalin verfolgten Wladislaw Gomulka, der Sturz der Stalinisten Ernö Gerö und Matyas Rakosi in Ungarn ließen auch ihn entgegen all seiner früheren Einschätzungen hoffen, daß eine Liberalisierung im sowjetischen Herrschaftsbereich doch möglich sei. Die Staaten des Ostblocks strebten nach nationaler Unabhängigkeit, nach Lösung von dem sowjetischen Zangengriff. Schmid wünschte, daß der Westen sie dabei unterstützte. Vielleicht war Europa als dritte Kraft doch mehr als ein Blütentraum. Wie groß seine Hoffnung war, läßt seine Empörung über die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes erkennen. Er klagte nicht nur die Sowjetunion an, sondern auch die Westmächte, die durch ihr Eingreifen in den Suezkonflikt „den tapferen Ungarn den Dolch in den Rücken gestoßen“ hatten. Er war der festen Überzeugung, daß die Sowjetunion den Einmarsch in Ungarn nicht gewagt hätte, „wenn nicht die Angst, in Ägypten könnte der Dritte Weltkrieg ausbrechen, die Völker so feige gemacht hätte, daß sie die Augen vor dem verschlossen, was man einem Volk antat, das bereit gewesen war, den Kreuzzug der Freiheit anzutreten. Das ist ein Verbrechen und eine Schande, und dieses Verbrechen wird Folgen haben, die heute noch nicht abzusehen sind.“7* Warf Schmid dem Westen vor, nicht in Ungarn eingegriffen zu haben? Er mußte sich darüber im klaren sein, daß dies möglicherweise den Dritten Weltkrieg heraufbeschworen hätte. Seine leidenschaftliche Anklage gegen die Westmächte entsprang weniger einer rationalen politischen Analyse als dem emphatischem Mitleiden mit einem unterdrückten Volk. Er befand sich auf einer Ostasienreise, als der Ungarn-Aufstand niederkartätscht wurde. Erst auf der Tagung der Interparlamentarischen Union in Bangkok konnte er öffentlich gegen die sowjetische Intervention protestieren: „Die Sowjetunion hat alles getan, um zu erreichen, daß die ‚ Franzosen, die Briten und die Israeli in Ägypten Streitkräften der UNO weichen. Die Logik verlangt, daß sie auch in Ungarn den Grundsätzen folgt, die sie in Ägypten angewandt wissen will.“ Schmid war um eine Hoffnung ärmer. Dennoch rief er weiterhin zu einer aktiven Ostpolitik auf. Gerstenmaier hatte ihn eingeladen, auf der Rückreise von Bangkok über Washington zu fliegen, um dort mit dem amerikanischen Präsidenten ein Gespräch zu führen. Der eigenwillige Bundestagspräsident, der wie Schmid die fehlende Bereitschaft zu einem engagierten Ost-West-Dialog beklagte, hatte die Absicht, dort einen ostpolitischen Vorstoß zu unternehmen. Schmid war der geeignete Mann, ihn bei seinem Vorhaben zu unterstützen. Im SPDParteivorstand wurden dagegen sofort Bedenken laut. Man kritisierte die um sich greifende „ungesunde Parlamentsdiplomatie“’°. Aber das war wohl nur ein vorgeschobener Grund, hinter dem sich die Furcht verbarg,
Schmid könne zusammen mit Gerstenmaier Politik auf eigene Faust betreiben. Man legte ihm nahe, die Einladung auszuschlagen. Da er auf der Reise einen Schlaganfall erlitt, blieb ihm der Streit mit der Partei erspart. Auch während seiner schweren Krankheit focht er mit unverminderter Energie um die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten, vor allem zu Polen, das Interesse an Beziehungen zur Bundesrepublik gezeigt hatte, ohne die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie zur Vorbedingung von Gesprächen zu machen. Immer wieder versuchte er, den politisch Verantwortlichen einzuhämmern, daß ohne eine Aussöhnung mit Polen es keine deutsche Wiedervereinigung geben werde. Die juristischen Vorbehalte gegen eine Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten dürften nicht überbewertet werden: „Man sollte sich nicht so sehr vor dem Argument fürchten (…), daß man mit Staaten, die die DDR anerkannt haben, keine Beziehungen aufnehmen sollte. Die juristischen Folgen, die man daran zu knüpfen pflegt, sind recht häufig Fiktionen.“7’ Die Hallstein-Doktrin war eben erst geboren, da erkannte Schmid schon, daß sie zu einer Fessel für die deutsche Außenpolitik werden mußte. Die Bundesregierung hielt an ihr fest und handhabte sie starr. Adenauer ignorierte die osteuropäischen Staaten, weil er der Auffassung war, daß der Schlüssel zur deutschen Wiedervereinigung in Moskau liege”*. Der Draht nach Moskau wurde aber kaum genutzt. Diplomatische Beziehungen sind dazu da, daß man miteinander spricht, mahnte Schmid die Bundesregierung mit dem ihm eigenen bissigen Sarkasmus”., Auch die SPD war nicht leicht von der Notwendigkeit einer aktiven Ostpolitik zu überzeugen. Militärstrategische Entspannung und innerdeutsche Kontakte standen bei ihr auf der Prioritätenliste ganz obenan. Als die Ostpolitik zum zentralen Thema der SPD wurde, erinnerte sich kaum mehr jemand daran, daß Carlo Schmid ihr geistiger Vater war. Er war es mittlerweile gewohnt, daß Politik das Bohren harter, dicker Bretter war. Neue Themen ließen sich nicht von heute auf morgen durchsetzen. Das galt für die Außenpolitik ebenso wie für die Innenpolitik.
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