Staatsgewalt: in den Infrastrukturen
Ist aber die Konzentration auf Verhaltensweisen und Formen der (Inter-)Aktion angemessen? Erweisen sich nicht Infrastrukturen als wesentlicher, womöglich vorrangiger Beleg für einen starken, jedenfalls für einen funktionsfähigen Staat? Hier geht es um jene staatlichen, aber auch kommunalen öffentlichen Vorkehrungen und Leistungen, die die alltäglichen Wahrnehmungs- und Handlungsräume der Vielen regulieren - und damit ihre Entscheidungen durch funktionalen Nutzen, wenn nicht Reiz der Bequemlichkeit formen, womöglich einschränken.1 Das reicht von der Kanalisation und Müllentsorgung über Post, Kommunikationsnetze und Verkehrssysteme bis zu Bildungs- und medizinischen Einrichtungen.
Die langfristige Bedeutung der Prägekraft von Infrastrukturen für die Alltagspraktiken aller, die legal wie illegal in einem Staat leben, hat für die USA kürzlich William Novak betont. Er tritt dafür ein, die Durchsetzungsgewalt dieser „infrastructural power“ einzubeziehen. Sie zeige sich in der Machtverteilung in Kommunen und Einzelstaaten, in der Ausprägung des „rule of law“ bzw. des Rechts- und Gerichtssystems ebenso wie in der einflussreichen Rolle von Bürgervereinigungen und individueller Akteure im Gesundheitssektor, im Bildungswesen oder in der öffentlichen Sicherheit (hier nicht nur in Form der National Rifle Association).2
Freilich übergeht dieses Argument eine entscheidende Gleichzeitigkeit: die der infrastrukturellen Gewalt mit physischer Gewaltsamkeit. Gehören nicht regelmäßige Gewaltdrohung, wenn nicht (wiederholter) Gewalteinsatz zu den Praktiken, mit denen Stauseen, Kraftwerke oder Überlandleitungen, Gefängnisse oder Kindergärten gebaut, errichtet und geschützt - aber auch verhindert werden? Von gerichtlichen Sanktionen bis zu Polizeiaktionen (oder auch Militäreinsatz) wirken die direkten mit den ,sanften‘ Gewalten in stetem und unmittelbarem Verbund. Mehr noch: sie verweisen nicht nur aufeinander; sie machen ihre Verknüpfung immer wieder schmerzhaft fühlbar.
Gouvernementalite
Michel Foucault hat in den späten 1970er Jahren „gouvernementalite“ als zentrales Kennzeichen einer seit dem späten 18. Jahrhundert neu justierten staatlichen Herrschaftspraxis betont.1 Der Akzent liege seither auf den Formen und Praktiken - den „Taktiken“ des Regierens. Für Foucault zeigt sich hier eine erste Ausprägung jener Macht, die nicht zentral oder „souverän“ verwaltet werde, die vielmehr immer und überall präsent sei.
Gouvernementalität steht für ein Ensemble herrschaftlicher Praktiken, die - nach Foucault - auf den „Stachel der Repression“ verzichten. Vielmehr mache Obrigkeit konkrete Angebote für das individuelle Wohlergehen, für die Vermehrung der Familie - zugleich zur Pflege und Entwicklung der „Bevölkerung“ (die zeitgenössischen Stichwörter waren zunächst Merkantilismus und Peuplierungs- politik). Es gehe dabei immer auch um die Interessen derer, die bei Max Weber die „Beherrschten“ heißen.2
Das „Führen der Bevölkerung“, mit ihrer Achtsamkeit für Familien- und Lebenszyklen, hätten den einzelnen erstmals Möglichkeiten zu eigener Disposition und „Selbstaffirmation“ eröffnet. Diese „Regierungskunst“ sei zu unterscheiden vom Agieren der souveränen Macht, mit ihrer Gewalt „über Leben und Tod“. Freilich - der Autor relativiert diese zunächst schroffe Entgegensetzung noch im selben (Vorlesungs-)Text. Denn Regierungskunst als Ermöglichen der Verfügung über Dinge (und Dritte) operierte im institutionellen Rahmen der älteren, auf sofortige Aktion gerichteten souveränen Macht. Und Foucault unterstreicht, wie sehr auch gouvernementalite auf jene rigorose Körper-Disziplin angewiesen war, in welche die Untertanen eingefügt wurden, in die sie sich aber auch selbst einfügten.3
Die Betonung obrigkeitlicher „Verfügung“ über Dinge und Menschen, zumal der Lizenz für andere, ihrerseits disponieren zu können, hat dennoch eine Pointe: Sie öffnet den Blick auf eine veränderte Präsenz obrigkeitlicher Macht. Gerade ihre bürokratische Entfaltung bedeutete auch ein Angebot an die Erwartungen (und Sorgen) der Vielen - ein Aspekt, für den kanonische Staatsanalysen üblicherweise allein auf die demokratische Verfasstheit und deren Verfahren ver- weisen. Demgegenüber zeigt sich hier das Produktive eines Blicks, der Machtprozesse als mehrschichtig auffasst.4
Die Liebe zum Staat
Analysen von Staat und Staatlichkeit konzentrieren sich auf deren „Logik“. Wo aber bleiben dabei Eigen-Logik und Eigen-Dynamik des Emotionalen? Sie finden sich überall. Ein Feld wäre die Kontrolle dessen, was etwa als „öffentlicher Alkoholkonsum“ zunehmend (oder erneut) von lokalen Autoritäten als „Ordnungswidrigkeit“ eingestuft und exemplarisch mit starker Polizei-Präsenz und auch physischer Härte verfolgt wird.1 Aus (vor- oder halb-)konstitutionellen Kontexten sind die Gummiparagraphen der „Aufruhr“-Bestimmungen und ihrer massiven Gewaltdrohung zu nennen. Denn hier wie dort ging es um diszipliniert- ,vernünftigen‘ Umgang mit scheinbar ungezügeltem oder wildem Verhalten - mit angeblich ausschließlich emotionalen Ausbrüchen. Dementsprechend galten die Akteure als Unmündige, vergleichbar Kindern oder Frauen, denen man ,Vernunft‘ beibringen müsse, sehr wohl auch durch Schläge, Einsperrung oder andere körperliche Pein.
Offen bleiben hier die Gefühle derer, die als „Beherrschte“ galten oder doch behandelt wurden. Angetippt ist diese Frage, in dem was Michel Foucault mit dem Hinweis aufgenommen hat, es gebe „heute eine Faszination [für] die Liebe zum Staat“ - freilich gehe sie parallel mit „dem Erschrecken vor dem Staat“.2 Sein Argument sucht zu zeigen, dass sich seit dem 18. Jahrhundert die Gewichtung von der Durchsetzung von Souveränität und der mit ihr weithin verbundenen Disziplin und Disziplinarmacht verschoben habe zur Kalkulation, Regulierung und „Führung“ der Bevölkerung (im nationalen Rahmen). Defizitär bleibt gleichwohl die Frage nach Gewaltandrohung und Gewaltpraxis. Der Hinweis Foucaults, Disziplin sei nicht erledigt, lässt alles Weitere offen
Es sind die Fragen nach der „Liebe zum Staat“, die jenes Element markieren, das in den Staats-Debatten am Rande oder ganz ausgeblendet bleibt: Sehnsucht nach „Führung“. Sie ist verpönt - in Deutschland aus Haftung für die jüngste Geschichte, aber auch aus political correctness; letztere fordert ,selbstbestimmt‘- starke Männer und Frauen. Genau dies aber ist ein Aspekt, den Foucault in anderen Zusammenhängen entfaltet hat: das Modell der „Führung einer Herde“, des Schafhirten3 - gleichermaßen attraktiv für Akteure in den Institutionen wie für ihre Klientel. Ist dieses Sehnen nach Führung ein (über)mächtiger Antrieb, ,Staat‘ zu akzeptieren, zumindest auf seiner Seite ab und an mitzumachen? Mehr noch: gründen nicht Staatsgewalt, aber auch andere institutionelle Gewalten auf der Reichweite und ,Härte‘ solcher Sehnsüchte? Ihre Gewalt wäre dann immer auch „pastorale Macht“, ermöglicht oder begünstigt von „Liebe zum Staat“.
Zu den Beiträgen
Die folgenden Beiträge versammeln Texte aus der Kooperation des „Interdisziplinären Arbeitskreises Innere Sicherheit (AKIS)“ mit dem „Arbeitskreis Polizeigeschichte“, der seit 1990 ein jährliches Kolloquium zur Polizeigeschichte ausrichtet. Ausgehend von einer ersten gemeinsamen Tagung in Erfurt im Sommer 2001, zu „Gewalt und Polizei in der Moderne“ sind aus dieser Zusammenarbeit in den folgenden Jahren eine Reihe von Untersuchungen entstanden, die in den hier versammelten Beiträgen, als eine vorläufige Bilanz, vorgelegt werden. Sie zeigen das Potential handlungs- und akteursbezogener Analysen; sie dokumentieren nicht
nur den sozial- und alltagsgeschichtlichen Perspektivenwechsel in der Polizeigeschichte, sondern treiben ihn voran.
Die Polizei repräsentiert wie keine andere Institution das staatliche Gewaltmonopol nach innen. Doch was ist damit konkret gemeint? Der historische Blick zeigt, dass das, was jeweils unter „Polizei“ oder „Gewaltmonopol“ verstanden wurde oder werden konnte, höchst unterschiedlich war. Dies betraf die Formen wie die Reichweite polizeilicher Autorität und Durchsetzungsmacht. Es galt ebenfalls für die Frage, welche Instanzen die Befugnis hatten oder haben sollten, Polizeiaufgaben und damit auch Gewalt anzudrohen oder anzuwenden.
Flächendeckende, allgemein anerkannte und rechtlich kodifizierte Polizeiapparate bildeten sich in Deutschland und Österreich keineswegs in linearen Prozessen heraus, wie die Beiträge von Helmut Gebhardt und Ralf Pröve deutlich machen. - Gebhardt nimmt einen ,langen‘ Zeitraum in den Blick in seiner Analyse der „Rolle von Polizisten und Gendarmen im Wandel der österreichischen Staatssysteme des 19. und 20. Jahrhunderts“. Zu den Anfängen einer staatlichen Polizei im Habsburger Reich gehörte es, in den größeren Städten Polizeiwachen anzulegen, deren Personal, Selbstverständnis und Organisationsstrukturen vorwiegend militärisch geprägt waren. Obgleich die Beamten über nahezu unbeschränkte Befugnisse verfügten und zudem in ein umfangreiches Spitzelsystem einbezogen waren, blieb ihre Autorität oftmals prekär. Zwar entstand nach 1848 mit der Gendarmerie ein Polizeiverband, der nach der Auflösung der Grundherrschaft große Teile der auf dem Land lebenden Bevölkerung erstmals mit dem staatlichen Machtanspruch konfrontierte; dessen konsequente Durchsetzung blieb jedoch schwierig.
Entscheidender als die Konstitutionalisierung der Habsburger Monarchie seit den 1860er Jahren (mit rechtlicher Einhegung polizeilicher Befugnisse) waren die alltäglichen Aushandlungsprozesse zwischen Gendarmen und Polizier- ten „vor Ort“. Gebhardt betont, dass trotz der zahlreichen politischen Umbrüche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - von der Monarchie zur Ersten Republik, den „Austrofaschismus“ und dann den Nationalsozialismus bis zur Gründung der Zweiten Republik - die polizeilichen Handlungsmuster, besonders im Umgang mit Straßenprotesten, bemerkenswerte Kontinuitätslinien zeigten. Erst seit den 1980er Jahren trafen sie verstärkt auf öffentliche Kritik. So sehr sich der Staat als Träger des Gewaltmonopols durchsetzte: Gebhardts zäsurenübergreifender Blick zeigt, dass diese Entwicklung nicht einlinig verlief. Zu den Ansätzen einer Alternative gehörten 1848 in zahlreichen Orten so genannte Bürgergarden, die polizeiliche Aufgaben wahrnahmen.
Dieser Form der „Volksbewaffnung“ widmet sich Ralf Pröve in seinem Beitrag über „Bewaffnete Bürger und vorkonstitutionelle Herrschaft im frühen 19. Jahrhundert.“ Die Diskussionen um die Aufstellung von Bürgerwehren als Ordnungsinstanzen setzten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein. Einerseits entstand eine neuartige Öffentlichkeit, die staatliche Machtansprüche kritisch zu hinterfragen begann, andererseits versuchten Staat und Verwaltung in immer umfassenderen Maße auf die Bevölkerung zuzugreifen. Ihren Höhepunkt
erreichten die Debatten um die „Volksbewaffnung“ 1848, wobei sich an das Konzept der Bürgerwehr zwei weithin konträre Erwartungen knüpften: Zum einen sollte sie die Sicherheit des wirtschaftlich aufstrebenden Bürgertums gewährleisten; zum anderen galt die Bürgerwehr als „Waffe der Revolution“ gegen das stehende Heer, das den monarchischen Herrschaftsanspruch repräsentierte. In der Realität waren solche revolutionären Hoffnungen freilich der staatlich-militärischen Übermacht nicht gewachsen. Zudem erwies sich die Praxis der Bürgerwehren, deren Einsatzbereitschaft rapide nachließ, als äußerst ernüchternd. Pröve resümiert, dass die Bürgerwehren und generell das Konzept der Volksbewaffnung an einer Allianz aus alten Eliten, Militär und Konservativen, aber auch an der Paralyse eines frustrierten und verängstigten Besitzbürgertums scheiterte. Die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols erfolgte also nicht ausschließlich „von oben“, sondern entsprach auch den Bedürfnissen eines großen Teils jener Akteure, die zeitweise in Opposition zur Obrigkeit gestanden hatten.
Die Praktiken von Staatsgewalt folgen weniger aus dem Profil des politischen Systems; vielmehr gründen sie weithin auf polizeilichen Wahrnehmungsund Handlungsweisen, die aus Interaktionen mit den Polizierten resultieren. Dies jedenfalls unterstreicht auch Belinda Davis in ihrem Aufsatz „Polizei und Gewalt auf der Straße. Konfliktmuster und ihre Folgen im Berlin des 19. und 20. Jahr- hunderts“. Sie verweist auf die bemerkenswerten Kontinuitätslinien. Misstrauen zwischen Polizei und Bürgern führte bei den Polizisten auf unterschiedlichen Hierarchieebenen zu einer „Festungsmentalität“. Aus dieser Haltung ergaben sich stark ritualisierte Auseinandersetzungen, auf deren Verlaufsformen auch Veränderungen des politischen Regimes nur begrenzten Einfluss hatten. Vielmehr wurde die „Festungsmentalität“ der Polizei dadurch gefördert, dass die Bevölkerungsexplosion Berlins zwischen 1871 und 1910 zu einer Zunahme von Verhaltensweisen im öffentlichen Raum führten, die mit den Ordnungsvorstellungen der Beamten kollidierten.
Nach Davis prägten Territorialverhalten sowie die Inszenierung von „Männlichkeit“ die Konfliktdynamiken auf beiden Seiten, über alle politischen Umbrüche hinweg. So gelang es auch der Polizei im nationalsozialistischen Staat in weitaus geringerem Maße als bisher angenommen, öffentliche Räume zu kontrollieren. Dies änderte sich auch nach 1945 nicht. In ihren Versuchen, „Ruhe und Ordnung“ gegenüber Halbstarken und Gammlern durchzusetzen, die als notorische „Störer“ identifiziert wurden, unterschieden sich die Praktiken der Volkspolizei im Osten der Stadt und der West-Berliner Polizei kaum.
Nimmt Belinda Davis besonders die Kontrolle nicht explizit politischer Gruppen und Strömungen in den Blick, die den Ansprüchen der Staatsmacht auf „Ruhe und Ordnung“ zuwiderliefen, widmet sich Michael Dutton dem „Poli- zieren des Politischen in der Volksrepublik China“. Die Politik der chinesischen KP war vor und nach ihrer Machtübernahme im Jahr 1949 von der Furcht vor Abweichlern, Verrätern und inneren Gegnern geprägt. Diese Wahrnehmung wies Analogien zu der von Carl Schmitt vorgenommenen binären Freund-Feind-Unterscheidung auf. Die Verknüpfung von Klassenkampf und totalem Staat führten zu ungemein gewalttätigen Polizierungspraktiken. Die Geschichte des Maoismus
lässt sich demnach als der gescheiterte Versuch bezeichnen, einerseits die politische Intensität der Freund-Feind-Kategorisierung zu stärken, andererseits diese zu begrenzen, um die Dimensionen der daraus resultierenden Gewalt zu einzuhegen. Ein Wandel trat erst nach dem Tod Maos im Jahr 1976 ein. Die über Jahrzehnte hinweg vorgenommene polare Unterscheidung zwischen dem „Volk“ und seinen „Feinden“ verlor an Bedeutung, die Zahl der als „konterrevolutionäre Verbrecher“ Beschuldigten sank erheblich. Indessen richtet sich die Gewalt der Polizei nun gegen jene die als „sozialer Abschaum“ gelten.
Mit Polizierungs- und Kontrollpraktiken im Staatssozialismus befassen sich auch die Beiträge von Gerhard Sälter und Karin Hartewig. Gerhard Sälter analysiert in seinem Beitrag die Verhörpraktiken des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) während der 1950er Jahre. Sein besonderes Interesse gilt dabei der „instrumentellen Verwendung struktureller Gewalt und sprachlicher Übermächtigung“. Anders als Galtung versteht Sälter unter „struktureller Gewalt“ nicht ein Bündel gesellschaftlicher Zwangsverhältnisse und Asymmetrien, sondern ein in
den Untersuchungsgefängnissen des MfS zielstrebig ausgebautes System, das den Zweck hatte, gewaltsam auf Körper und Psyche der Inhaftierten einzuwirken, um diese allmählich zu zermürben. Hierzu zählten in den 1950er Jahren die vollkommene Isolierung der Gefangenen ebenso wie Dauerverhöre, Schlafentzug und die Verweigerung von Schreibmaterial, aber auch die sprachliche Übermächtigung. Aussagen wurden in Verhörprotokollen stark komprimiert und im Duktus der Staatssicherheit niedergeschrieben, der propagandistischen Parteijargon mit hermetischen polizeilichen Terminologien verknüpfte. Die Protokolle enthielten somit womöglich tatsächliche Aussagen der Verhörten, aber in den fiktionalen Erzählungen des MfS. In diesem Kontext konnte es durchaus vorkommen, dass Untersuchungsgefangene die Unterschrift unter das ihnen vorgelegte Protokoll verweigerten und in einem Aushandlungsprozess mit dem verhörenden Beamten eine neue Fassung entstand. Dieses Prozedere konnte freilich auch von der Staatssicherheit intendiert sein: Der Gefangene sollte dazu verleitet werden, am Festschreiben eines erdachten Tathergangs selbst mitzuwirken.
Um die visuelle Konstruktion verdächtiger Akteure geht es in Karin Har- tewigs Beitrag über die „DDR-Opposition in den Fotografien des Ministeriums für Staatssicherheit“. Doch auch hier rücken die Wahrnehmungen und Praktiken der - zwar nicht polizeilichen, wohl aber geheimdienstlichen - Akteure in den Mittelpunkt. Konstitutiv für das Selbstverständnis des MfS war ein alles beherrschendes dichotomes Freund-Feind-Raster. Das zentrale Medium, mit dessen Hilfe das MfS aus diffusen Feindbildern konkrete Gegner der SED-Herrschaft konstruierte und zugleich die eigene Effizienz belegte, war die Fotografie. Folgte in den ersten beiden Jahrzehnten der DDR der Einsatz der Fotografie beim MfS vor allem konventionellen kriminalpolizeilichen Vorstellungen (gerichtet auf die Dokumentation von Spuren und Beweismitteln), veränderte sich der interne Gebrauch von Bildern seit den 1970er Jahren. Im Rahmen der Strategie, „oppositionelle und subkulturelle Gruppen zu zersetzen“, kam deren visueller Überwachung immer größere Bedeutung zu. Hartewig charakterisiert diese Formen des Zugriffs durch die „operative Fotografie“ als „anonyme Gewalt“. Dieser „visual
turn“ in den Praktiken der Staatssicherheit bedurfte gleichwohl der Kreativität der einzelnen MfS-Mitarbeiter, die dazu angehalten waren, im Rahmen ihrer Observationen jeglichen Formalismus zu vermeiden. Die „operative Fotografie“ war nach Hartewig konstitutiv für einen visuellen Panoptismus, der die Allmachtsphantasien des MfS ebenso förderte wie er zur massiven Verunsicherung der „Zielpersonen“ beitragen konnte.
Die Erscheinungsformen und Ausprägungen des staatlichen Gewaltmonopols, das zeigen die Beiträge von Sälter und Hartewig ebenso, wie die Aufsätze von Gebhardt, Pröve und Davis, werden wesentlich von den polizeilichen bzw. geheimdienstlichen Akteuren und deren Wahrnehmungen bestimmt. Dabei können wiederum Gewalterfahrungen eine zentrale Rolle spielen und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen treten Polizisten als Gewaltanwender auf; zum anderen werden sie aber auch zu Zielen oftmals massiver, bisweilen sogar tödlicher Gewalt. Gerhard Fürmetz unternimmt eine Annäherung an diese „Alltägliche Gewalt gegen Polizisten im frühen Nachkriegsdeutschland“. Fürmetz macht auf ein breites Spektrum körperlicher Widersetzlichkeiten gegen die Staatsmacht aufmerksam, die sich, zumal auf dem Land, meist aus alltäglichen Situationen ergaben, in denen es den Beteiligten darum ging, ihre Lebenswelt gegen das als unzulässig empfundenes polizeiliches Einschreiten zu verteidigen. In einer Phase jedoch, in der es nach 1945 der Polizei darum ging, ihre Autorität wiederherzustellen, mussten Attacken auf einzelne Beamten als Angriffe auf den gesamten Polizeikörper gelten. In dieser polizeilichen Selbst-Wahrnehmung geriet freilich aus dem Blick, dass die Staatsmacht ihrerseits im ersten Nachkriegsjahrzehnt zu massiver Gewaltanwendung tendierte: Der Schusswaffeneinsatz galt ganz offensichtlich als legitimes Mittel zur Aufrecherhaltung der staatlichen Ordnung. Erst während der 1950er Jahre ging der Gebrauch von Schusswaffen deutlich zurück - Beleg für eine zunehmende Professionalisierung der Polizei, aber auch für die Konsolidierung ihrer Autorität.
Diese war freilich in der Bundesrepublik bis zum Ende der 1970er Jahre ausschließlich männlich konnotiert. Erst zwischen 1979 und 1990 wurden Frauen in den uniformierten Polizeidienst eingestellt. Anne Mangold geht in ihrem Beitrag über die „Praxis der Deeskalation aus der Sicht von Männern und Frauen im Streifendienst“ der Frage nach, wie Geschlechterverhältnisse und der Umgang mit Gewalt in der Polizei miteinander verbunden sind. Auf der Grundlage einer im Jahr 2001 durchgeführten empirischen Untersuchung am Beispiel der Brandenburger Polizei kommt Mangold zu dem Ergebnis, dass es nach wie vor Bereiche polizeilicher Tätigkeit gibt, die als „Männerarbeit“ betrachtet werden. Nicht selten unterscheiden vor allem männliche Beamten in ihrer Wahrnehmung zwischen „normalen Aufträgen“ und Situationen, in denen es „zur Sache geht“ und in denen maskuline, gewaltförmige Kompetenzen gefragt sind. Demgegenüber neigen Polizisten dazu, das Feld der „Gefühlsarbeit“, beispielsweise bei der Bewältigung von Familienkonflikten, den Kolleginnen zu überlassen. Derartige Arbeitsteilungen werden als die Folge des „natürlichen“ Unterschieds zwischen Männern und Frauen betrachtet, wobei durch diese Zuschreibungen die Geschlechterunterschiede erst hergestellt werden.
Thomas Ohlemacher widmet sich in seinem Aufsatz den Entstehungskontexten von und den Reaktionen auf „Gewalt gegen Polizeibeamte in der Bundesrepublik Deutschland“. Seine Befunde und Thesen resultieren aus einer umfangreichen empirischen Studie, die im Jahr 2000 durch das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen im Auftrag der Innenministerkonferenz und der Gewerkschaft der Polizei durchgeführt wurde. Deren Ausgangspunkt bildeten Wahrnehmungen, die auch in der Gegenwart von Politikern, Medienvertre- tern und Polizeibeamten bzw. polizeilichen Interessenorganisationen öffentlich reklamiert werden: Gewaltdelikte gegen Polizisten seien signifikant gestiegen. Zweifellos ist die Wahrscheinlichkeit für Polizisten, mit Tötungsabsicht angegriffen zu werden, erheblich höher als bei „normalen“ Bürger. Dennoch ist, wie Ohlemacher feststellt, das Risiko eines Polizeibeamten infolge eines Angriffs getötet zu werden, niedriger als für andere Bürger. Auch ein weiterer Befund scheint weitverbreiteten Klischees zu widersprechen. So werden die meisten Angriffe mit Tötungsabsicht auf Polizisten in eher bürgerlichen Vierteln verübt, die gemeinhin als eher ungefährlich galten. Die Täter sind überwiegend männlich, deutsch und oftmals alkoholisiert. Die Übergriffe ereignen sich meist in Alltagssituationen, wie beispielsweise Verkehrskontrollen. Besonders dieser Umstand mag - neben einer oftmals sensationsheischenden medialen Berichterstattung - dazu beitragen, die Dimensionen der Gewaltanwendung gegen Polizeibeamte zu dramatisieren. Eine Folgewirkung scheint die Bekräftigung nicht-ziviler polizeilicher Handlungsmuster. Beispielsweise ist die Hälfte der für die Studie befragten Beamten der Auffassung, der Schusswaffengebrauch durch die Polizei sei zu restriktiv reglementiert. Ferner wird kritisiert, dass die Bürgerorientierung der Staatsmacht zu weit ginge, während die straf- und disziplinarrechtlichen Überprüfungen des polizeilichen Verhaltens oftmals als Zumutungen empfunden werden.
Diese Wahrnehmungen verweisen auf das Fortwirken einer polizeilichen „Festungsmentalität“, die Thomas Lindenberger vor allem für die preußische Polizei in der Zeit des Kaiserreichs konstatiert. Er vergleicht in seinen „Lektüren physischer Gewalt zwischen Bürgern und Polizisten im 20. Jahrhundert“ polizeiliche Gewaltpraktiken in Deutschland zu Beginn und am Ende des 20. Jahrhunderts. Er fragt dabei nicht, ob die Gewaltanwendung durch die Polizei in quantitativer Hinsicht im Sinne einer zunehmenden „Zivilisierung“ der Staatsmacht rückläufig gewesen ist. Vielmehr richtet Lindenberger seinen Blick auf die Art der zu unterschiedlichen Zeiten zugelassenen bzw. gesellschaftlich akzeptierten physischen Gewaltformen. Im Berlin des frühen 20. Jahrhunderts versuchten Polizisten dem proletarisch geprägten Publikum durch ihr polizeiliches Einschreiten bürgerliche - oder eben „ordentliche“ Verhaltensweisen aufzuzwingen. In diesem Kontext kam nicht selten der Säbel zum Einsatz, der erhebliche Verletzungen hervorrufen konnte, aber auch als symbolisch aufgeladenes Instrument sozialer Distinktion fungierte; der Säbel stand für das Gewaltprivileg, das die Herrschenden für sich beanspruchten.
Indessen verteidigten die Angehörigen der Unterschichten auf der Straße hartnäckig ihre Lebensweisen und stellten mitunter sehr handfest die Legitimität
polizeilichen Handelns in Frage. Der Einsatz von Blankwaffen geriet aber auch klassenübergreifend in die Kritik; der polizeiliche Hieb mit dem Säbel galt zunehmend als „barbarischer Skandal“. Für das Ende des 20. Jahrhunderts kon- statiert Lindenberger keine grundsätzliche Abkehr von körperlicher Gewalt, verweist aber auf den Wandel der kulturellen Codierung von Gewaltausübung - auch und besonders auf Seiten der Polizei. Als Referenzpunkt firmiere nicht mehr das Idealbild des Körpers im militärischen Großverband, sondern die Vorstellung des Einzelkämpfers in einer sich individualisierenden Gesellschaft.
Der Beitrag von Lindenberger verweist darauf, dass vor allem die Straße der Ort ist, an dem Polizei und Bürger konflikthaft aufeinandertreffen. Diese Auseinandersetzungen stärken Feindbilder und Mythen - die sich verschärfend auf die Gewaltbereitschaft beider Seiten auswirken können. Der mikrologische Blick des Beitrags von Daniel Schmidt bestätigt dies für die Spätphase der Weimarer Republik: „Sozialraumstrategien und politische Gewalt im Ruhrgebiet“. Mit dem von Thomas Lindenberger geprägten Begriff der „Straßenpolitik“ widmet sich Schmidt den hochgradig gewaltgeprägten Konfliktlinien zwischen Kommunisten, Nationalsozialisten und Polizei in Dortmund. Den drei Gruppen ging es darum, den öffentlichen Raum nicht nur symbolisch, sondern auch durch uniformierte physische Präsenz zu beherrschen. Während die KPD besonders in der proletarisch geprägten Dortmunder Nordstadt mit sozialräumlicher Dominanz ihre organisatorischen Schwächen zu kompensieren suchte, war die „gelebte Gewalttätigkeit“ auf der Straße der Dreh- und Angelpunkt des Politikverständnisses der SA. Die Inszenierung einheitlicher Marschkörper wurde hier wie dort zur Metapher für die imaginierte Volksgemeinschaft, während die Konfrontationen mit dem politischen Gegner dazu beitrugen, heroische Mythen zu entwerfen oder zu stützen. Nicht zuletzt ging es darum, sich „feindliches Terrain“ handfest anzueignen. Die Polizei erhob ihrerseits den Anspruch, die Nordstadt systematisch zu „befrieden“. Dieses Ziel sollte mit resolutem Einschreiten umgesetzt werden; allerdings nahm ein Großteil der Bewohner des Stadtteils die Beamten als Besatzungsmacht wahr und begegnete ihnen entsprechend feindselig.
Lindenberger und Davis betonen, dass die kollektive Mentalität der Polizei des Kaiserreichs stark von einer „Festungspraxis“ (Alf Lüdtke) geprägt gewesen sei; Schmidt bestätigt dies im Hinblick auf die Endphase der Weimarer Republik. Demgegenüber untersucht Melanie Becker die „Organisationskultur der NS-Sicherheitspolizei“ unter organisationspsychologischen Aspekten. Der Ausgangspunkt des Beitrags ist die These, dass die Verbrechen der Sipo zwar Ausdruck und Resultat konformen Verhaltens der Beamten innerhalb eines bürokratischen Apparates gewesen seien, die Kategorien eines rationalistischen Organisationsbegriffs jedoch nicht ausreichen, um die Handlungsmuster der Sipo-Angehörigen zu erklären. Becker plädiert daher dafür, auch im Hinblick auf die Sicherheitspolizei besonders die nichtrationalen Aspekte der Organisation, nämlich deren Organisationskultur bzw. deren organisationale Identität in den Blick zu nehmen. Hierfür spielte das Leitbild eines elitären Staatsschutzkorps von „politischen Soldaten“ eine zentrale Rolle. Obgleich dessen Umsetzung größ- tenteils eine Utopie blieb, erwies es sich doch für die Führungskräfte der Si
cherheitspolizei als handlungsleitend. Selbstbild und Korpsgeist dieser Beamten waren durch einen imaginierten Dauer-Ausnahmezustand, totale Herrschaftsansprüche sowie permanente Leistungsorientierung gekennzeichnet. Entscheidend für die Wirkungsmächtigkeit dieses Selbstbildes waren aber weniger ideologische Indoktrinierungen als die konkreten Praktiken „vor Ort“. Sie gründeten auf einer Vermischung „traditioneller“ polizeilicher Denk- und Handlungsmuster mit den sozialtechnologischen Programmen der Rassenhygiene.
Um die Bedeutung von Selbstbildern und Gruppenidentitäten geht es auch im Aufsatz von Klaus Weinhauer über „Polizeieinsätze gegen Jugend- und Studentenproteste in der Bundesrepublik der 1960er Jahre“. Das polizeiliche Auftreten bei studentischen Demonstrationen und den „Beatkrawallen“ im Umfeld etwa von Rolling Stones- und Beatleskonzerten seit Mitte der 1960er Jahre war durch die Versuche gekennzeichnet, Tatkraft, Mut und Entschlossenheit zu zeigen. Diese Haltung resultierte zum einen daraus, dass viele Polizisten aus dem Arbeiter- und Handwerkermilieu stammten, in dem Männlichkeitsvorstellungen dominierten, die Disziplin und Aktivität idealisierten. Zum anderen waren hier polizeiliche Leitbilder wirkmächtig, die den Schutz des Staates überhöhten und die eigene Dienstgemeinschaft als „Todesgemeinschaft“ stilisierten. Allerdings stellten die bei Demonstrationen und Protestaktionen agierenden Polizisten keine homogene Gruppe dar, sondern entstammten verschiedenen Alterskohorten mit jeweils spezifischen Erfahrungen. So wiesen beispielsweise die Revierbeamten einen höheren Altersdurchschnitt auf als die eben erst in den Polizeidienst eingetretenen Bereitschaftspolizisten. Für die Revierbeamten - oftmals noch durch die Bürgerkriegsszenarien der Weimarer Republik geprägt - konstatiert Weinhauer resignativ-defensive Gruppenbildungen: härteres Durchgreifen gegenüber Demonstranten sei angebracht. Unter den jungen Bereitschaftspolizisten herrschte eher ein offensiv-kämpferisch Selbstverständnis: sich in den ersten Einsätzen bewähren. Im Laufe der 1960er Jahre wichen Einsatzkonzepte zur Bewältigung bürgerkriegsähnlicher Bedrohungsszenarien neuen Ansätzen eines „protest policing“, die sich an deeskalierenden Handlungsmustern orientierten.
Die Ausübung physischer Gewalt blieb jedoch auch in der Folgezeit fester Bestandteil polizeilichen Einschreitens bei Protesten und Demonstrationen, wie Michael Sturm am Beispiel der Geschichte und Verwendung des Polizeischlagstocks zeigt. Der Beitrag nimmt zwei Aspekte in den Blick: Erstens skizziert er die Entwicklung polizeilicher Hiebwaffen und ihrer Verwendung, vom Kaiserreich von 1871 bis in die jüngste Gegenwart.
Zweitens geht es um die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Emotionen, die mit dem Schlagen und Geschlagen-Werden verbunden waren und sind. Sturm vertritt die These, dass sich im Laufe der Jahrzehnte polizeiliche Gewaltpraktiken zwar verändert haben, diese Entwicklung jedoch keinen linearen Weg hin zur vielfach behaupteten Minimierung physischer Gewalt durch die Polizei markiert. Die nunmehr zivileren, „sportlichen“ polizeilichen Ausrüstungsgegenstände, wie beispielsweise der Mehrzweckeinsatzstock, repräsentieren weiterhin ein erhebliches Droh- und Gewaltpotential, sowohl in „praktischer“ Hinsicht als auch in den Wahrnehmungen und Ängsten derjenigen, die mit diesen Einsatzmitteln konfroniert sein könnten.
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