Polizei, Gewalt und Staat im 20. Jahrhundert - Perspektiven
Alf Lüdtke/Michael Sturm
Gewalt der Polizei - Gewalt gegen die Polizei
Ein aktueller Fall
Der Notruf erreichte die Regensburger Polizei am Vormittag des 30. April 2009 gegen 10.30 Uhr. Ein junger Mann meldete sich telefonisch bei der Einsatzzentrale und gab an, von seinem Mitbewohner, dem 24-jährigen Musikstudenten Tennessee Eisenberg, mit einem Messer bedroht worden zu sein. Ihm selbst sei es zwar gelungen aus der Wohnung zu entkommen, er habe aber die Befürchtung, dass sich Eisenberg etwas antun könne. Nur wenige Zeit später trafen mehrere Streifenwagen am Ort des Geschehens ein. Insgesamt acht Beamte verschafften sich Zugang zur Wohnung, wo sie auf den Studenten stießen, der ihnen mit einem Messer in den Händen gegenübertrat. Auf die Aufforderung, die Waffe fallen zu lassen, reagierte Eisenberg nicht. Er näherte sich weiter den ins Treppenhaus zurückweichenden Polizisten, die, nachdem auch der Einsatz von Pfefferspray keine Wirkung gezeigt hatte, zu ihren Schusswaffen griffen.
Wie die Beamten später zu Protokoll gaben, habe sich Eisenberg dadurch nicht beeindrucken lassen und ihnen zugerufen: „Dann erschießt's mich halt“. Kurz darauf traf ihn das erste Projektil ins Knie. Was danach geschah, ist bis heute umstritten. Eisenberg habe trotz seiner Verletzung das Messer nicht fallenlassen und einen der Polizisten derart massiv bedrängt, dass seine Kollegen innerhalb weniger Sekunden mehrere Schüsse auf den Studenten abgaben, heißt es in einer Erklärung der Staatsanwaltschaft Regensburg.1 Insgesamt wurde der Student von zwölf Kugeln, in Arme, Beine, in die Lunge und in die Herzgegend getroffen. Am Mittag des 30. April erlag Eisenberg seinen schweren Verletzungen in einem Regensburger Krankenhaus.
Während Polizei, Staatsanwaltschaft und bayerisches Innenministerium schon zu einem frühen Zeitpunkt von einer „Notwehr- bzw. Nothilfe“-Situation ausgingen, in der sich die Beamten befunden hätten, meldete die Familie Eisen- 1
berg erhebliche Zweifel an dieser Bewertung an und verwies dabei nicht zuletzt auf ein eigens in Auftrag gegebenes rechtsmedizinisches Gutachten, das die Verhältnismäßigkeit des polizeilichen Gewalteinsatzes zumindest teilweise in Frage zu stellen schien. In der Öffentlichkeit blieben die tödlichen Schüsse von Regensburg zunächst weitgehend unbeachtet und rückten erst nach einigen Wochen in den medialen Fokus. Ein Grund hierfür mag der Feststellung geschuldet gewesen sein, dass der polizeiliche Gewalteinsatz aus keinem spektakulären Anlass erfolgte. Weder galt es in Regensburg einen fanatischen Terrorverdächtigen zu überwältigen, noch einen als hochgefährlich eingeschätzten Schwerkriminellen festzunehmen. Die Beamten, die auf Tennessee Eisenberg stießen, gehörten auch keiner für resolute Gewaltanwendung geschulten Spezialeinheit an, sondern waren (und sind) im polizeilichen Einzeldienst tätig. Mit anderen Worten: Der tödliche Verlauf des Einsatzes resultierte aus einer für die Polizei beinahe schon alltäglichen Situation.
Norbert Pütter, Mitarbeiter des Instituts für Bürgerrechte und öffentliche Sicherheit in Berlin, wies daraufhin, das Einschreiten gegen einen randalierenden Mann in einer Wohnung sei ein geradezu „klassischer Fall“ polizeilicher Aufgabenbewältigung. Dennoch würden Polizisten vor allem bei solchen eskalierenden Routineeinsätzen zur Schusswaffe greifen1, wenn auch im internationalen Vergleich eher selten. Der Tod von Tennessee Eisenberg erinnert somit daran, dass Verletzungs- und auch Tötungsgewalt nicht nur bei besonderen „Lagen“ angedroht oder eingesetzt werden, etwa bei unfriedlich verlaufenden Demonstrationen, Geiselnahmen oder in der Terrorismusbekämpfung. Vielmehr gehören sie für Polizeibeamte zu ihren Handlungsoptionen, um sich gegen Widerstände zu behaupten oder Angriffe auf den eigenen Körper abzuwehren.
Indessen bleiben die Formen polizeilicher Gewaltausübung ebenso umstritten wie die Möglichkeiten und Mechanismen, unrechtmäßiges Polizeihandeln zu sanktionieren. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte wegen „Körperverletzung im Amt“ enden meist mit Einstellungsverfügungen.2 Im Falle der tödlichen Schüsse auf Tennessee Eisenberg hatte Norbert Pütter bereits Monate vor dem Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Untersuchung prognostiziert, dass die Konsequenzen für die beteiligten Beamten eher gering ausfallen dürften. Tatsächlich befand die Ermittlungsbehörde im Dezember 2009, die Polizisten seien „rechtlich befugt“ gewesen, „sich gegen den andauernden Angriff des getöteten T. Eisenberg in der festgestellten Art und Weise zu verteidigen.“3 Das Verfahren wurde dementsprechend eingestellt. In einem Kommentar anlässlich der Entscheidung der Staatsanwaltschaft warf der Journalist Hans Holzhaider die Frage auf, „ob acht Polizeibeamte gegen einen einzelnen, mit einem Messer bewaffneten Mann wirklich keine andere Verteidigungsmöglichkeit haben, als ihn zu erschießen.“ Und er schloss mit der Vermutung: „Und ganz sicher wäre das Verfahren nicht eingestellt worden, wenn der Tote ein Polizist und die Schützen Studenten gewesen wären.“1 Im gleichen Zusammenhang wies Ron Steinke in der taz darauf hin, dass in der Bundesrepublik das „Einstellen von Verfahren gegen tatverdächtige Polizeibeamten [...] die Regel sei“. Er verknüpfte seine Feststellung mit der Forderung, unabhängige Ermittlungskommissionen nach dem Vorbild anderer europäischer Staaten zu schaffen, um auf diese Weise polizeiliches Fehlverhalten effektiver überprüfen zu können.2
Aktuelle Positionen
Im Juli 2010 trat Amnesty International mit ähnlich lautenden Vorschlägen an die Öffentlichkeit. In einem Bericht dokumentierte die Menschenrechtsorganisation eine Reihe von Übergriffen, die in den vergangenen Jahren von Polizeibeamten in Deutschland begangen worden sein sollen. Bedenklich sei zudem, dass „die Ermittlungsmethoden und -abläufe in Fällen mutmaßlicher polizeilicher Misshandlung beziehungsweise unverhältnismäßiger Gewaltanwendung [.] noch nicht den Grundsätzen entsprechen, die in den von Deutschland unterzeichneten Menschenrechtsabkommen verankert sind.“ Wenn jedoch die „Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen“ würden, könne dies „zu einem Klima der Straflosigkeit führen“.3 Amnesty International fordert daher die „Einrichtung unabhängiger Polizeibeschwerdemechanismen“ und Maßnahmen, die „eine einfache Identifizierung von Polizeibeamten bei der Ausübung ihrer gesetzlichen Pflichten [.] gewährleisten.“4
Freilich: In der Regel werden derartige Kontrollansprüche von Polizeibehörden sowie deren Standes- und Personalvertretungen vehement zurückgewiesen. Dies gilt gleichermaßen für die Vorschläge, unabhängige Polizeibeschwerdestellen einzurichten wie auch für die von Bürgerrechtlern seit Jahrzehnten erhobene Forderung, Polizeibeamte besonders im Rahmen von Demonstrationseinsätzen mit Namens- oder Nummernschildern zu kennzeichnen.5 Die Argumentationsmuster, die die polizeilichen Vorbehalte stützen sollen, lauten jeweils ähnlich: Durch die Schaffung derartiger Kontroll- und Sanktionsmechanismen sehe sich die Polizei einem Generalverdacht ausgesetzt, der zudem willkürlichen Beschuldigungen von Polizisten Vorschub leisten und nicht zuletzt deren Familien in Gefahr bringen würde. In einer Stellungnahme bezeichnete Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft entsprechende Forderungen von Amnesty International schlicht als „Unfug“.6 7 Konrad Freiberg, der damalige Vorsitzende der konkurrierenden Gewerkschaft der Polizei, sprach im gleichen Kontext von einer „nicht akzeptable
Zumutung für die Einsatzkräfte“.11
Demgegenüber rücken polizeiliche Diskurse andere Wahrnehmungen in den
Mittelpunkt: Die Gewaltbereitschaft gegenüber Polizeibeamten - bei Fußballspielen, Demonstrationen oder Einsätzen in urbanen „Problemvierteln“ - habe in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) scheint diese Sichtweise zu bestätigen. So gaben 47,8 Prozent der befragten Polizisten an, im Jahr 2009 im Dienst gestoßen, geschubst oder festgehalten worden zu sein. 24,9 Prozent erklärten, sie seien mit Gegenständen beworfen worden. 26,5 Prozent hätten Faustschläge oder Fußtritte erleiden müssen. Zwischen 2005 und 2009 sei die Zahl der schweren Verletzungen mit mindestens siebentägiger Dienstunfähigkeit um 60,1 Prozent gestiegen.1 Die Polizeigewerkschaften und eine Reihe von Innenpolitikern fordern daher, Übergriffe auf Polizisten mit schärferen Gesetzen und härteren Strafen, etwa durch die Einführung eines Paragrafen 115 StGB, der speziell Angriffe auf Polizeibeamte sanktionieren soll, zu ahnden.2
Die hier skizzierten kursorischen Beobachtungen verweisen auf zweierlei:
Ein aktueller Fall
Der Notruf erreichte die Regensburger Polizei am Vormittag des 30. April 2009 gegen 10.30 Uhr. Ein junger Mann meldete sich telefonisch bei der Einsatzzentrale und gab an, von seinem Mitbewohner, dem 24-jährigen Musikstudenten Tennessee Eisenberg, mit einem Messer bedroht worden zu sein. Ihm selbst sei es zwar gelungen aus der Wohnung zu entkommen, er habe aber die Befürchtung, dass sich Eisenberg etwas antun könne. Nur wenige Zeit später trafen mehrere Streifenwagen am Ort des Geschehens ein. Insgesamt acht Beamte verschafften sich Zugang zur Wohnung, wo sie auf den Studenten stießen, der ihnen mit einem Messer in den Händen gegenübertrat. Auf die Aufforderung, die Waffe fallen zu lassen, reagierte Eisenberg nicht. Er näherte sich weiter den ins Treppenhaus zurückweichenden Polizisten, die, nachdem auch der Einsatz von Pfefferspray keine Wirkung gezeigt hatte, zu ihren Schusswaffen griffen.
Wie die Beamten später zu Protokoll gaben, habe sich Eisenberg dadurch nicht beeindrucken lassen und ihnen zugerufen: „Dann erschießt's mich halt“. Kurz darauf traf ihn das erste Projektil ins Knie. Was danach geschah, ist bis heute umstritten. Eisenberg habe trotz seiner Verletzung das Messer nicht fallenlassen und einen der Polizisten derart massiv bedrängt, dass seine Kollegen innerhalb weniger Sekunden mehrere Schüsse auf den Studenten abgaben, heißt es in einer Erklärung der Staatsanwaltschaft Regensburg.1 Insgesamt wurde der Student von zwölf Kugeln, in Arme, Beine, in die Lunge und in die Herzgegend getroffen. Am Mittag des 30. April erlag Eisenberg seinen schweren Verletzungen in einem Regensburger Krankenhaus.
Während Polizei, Staatsanwaltschaft und bayerisches Innenministerium schon zu einem frühen Zeitpunkt von einer „Notwehr- bzw. Nothilfe“-Situation ausgingen, in der sich die Beamten befunden hätten, meldete die Familie Eisen- 1
berg erhebliche Zweifel an dieser Bewertung an und verwies dabei nicht zuletzt auf ein eigens in Auftrag gegebenes rechtsmedizinisches Gutachten, das die Verhältnismäßigkeit des polizeilichen Gewalteinsatzes zumindest teilweise in Frage zu stellen schien. In der Öffentlichkeit blieben die tödlichen Schüsse von Regensburg zunächst weitgehend unbeachtet und rückten erst nach einigen Wochen in den medialen Fokus. Ein Grund hierfür mag der Feststellung geschuldet gewesen sein, dass der polizeiliche Gewalteinsatz aus keinem spektakulären Anlass erfolgte. Weder galt es in Regensburg einen fanatischen Terrorverdächtigen zu überwältigen, noch einen als hochgefährlich eingeschätzten Schwerkriminellen festzunehmen. Die Beamten, die auf Tennessee Eisenberg stießen, gehörten auch keiner für resolute Gewaltanwendung geschulten Spezialeinheit an, sondern waren (und sind) im polizeilichen Einzeldienst tätig. Mit anderen Worten: Der tödliche Verlauf des Einsatzes resultierte aus einer für die Polizei beinahe schon alltäglichen Situation.
Norbert Pütter, Mitarbeiter des Instituts für Bürgerrechte und öffentliche Sicherheit in Berlin, wies daraufhin, das Einschreiten gegen einen randalierenden Mann in einer Wohnung sei ein geradezu „klassischer Fall“ polizeilicher Aufgabenbewältigung. Dennoch würden Polizisten vor allem bei solchen eskalierenden Routineeinsätzen zur Schusswaffe greifen1, wenn auch im internationalen Vergleich eher selten. Der Tod von Tennessee Eisenberg erinnert somit daran, dass Verletzungs- und auch Tötungsgewalt nicht nur bei besonderen „Lagen“ angedroht oder eingesetzt werden, etwa bei unfriedlich verlaufenden Demonstrationen, Geiselnahmen oder in der Terrorismusbekämpfung. Vielmehr gehören sie für Polizeibeamte zu ihren Handlungsoptionen, um sich gegen Widerstände zu behaupten oder Angriffe auf den eigenen Körper abzuwehren.
Indessen bleiben die Formen polizeilicher Gewaltausübung ebenso umstritten wie die Möglichkeiten und Mechanismen, unrechtmäßiges Polizeihandeln zu sanktionieren. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte wegen „Körperverletzung im Amt“ enden meist mit Einstellungsverfügungen.2 Im Falle der tödlichen Schüsse auf Tennessee Eisenberg hatte Norbert Pütter bereits Monate vor dem Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Untersuchung prognostiziert, dass die Konsequenzen für die beteiligten Beamten eher gering ausfallen dürften. Tatsächlich befand die Ermittlungsbehörde im Dezember 2009, die Polizisten seien „rechtlich befugt“ gewesen, „sich gegen den andauernden Angriff des getöteten T. Eisenberg in der festgestellten Art und Weise zu verteidigen.“3 Das Verfahren wurde dementsprechend eingestellt. In einem Kommentar anlässlich der Entscheidung der Staatsanwaltschaft warf der Journalist Hans Holzhaider die Frage auf, „ob acht Polizeibeamte gegen einen einzelnen, mit einem Messer bewaffneten Mann wirklich keine andere Verteidigungsmöglichkeit haben, als ihn zu erschießen.“ Und er schloss mit der Vermutung: „Und ganz sicher wäre das Verfahren nicht eingestellt worden, wenn der Tote ein Polizist und die Schützen Studenten gewesen wären.“1 Im gleichen Zusammenhang wies Ron Steinke in der taz darauf hin, dass in der Bundesrepublik das „Einstellen von Verfahren gegen tatverdächtige Polizeibeamten [...] die Regel sei“. Er verknüpfte seine Feststellung mit der Forderung, unabhängige Ermittlungskommissionen nach dem Vorbild anderer europäischer Staaten zu schaffen, um auf diese Weise polizeiliches Fehlverhalten effektiver überprüfen zu können.2
Aktuelle Positionen
Im Juli 2010 trat Amnesty International mit ähnlich lautenden Vorschlägen an die Öffentlichkeit. In einem Bericht dokumentierte die Menschenrechtsorganisation eine Reihe von Übergriffen, die in den vergangenen Jahren von Polizeibeamten in Deutschland begangen worden sein sollen. Bedenklich sei zudem, dass „die Ermittlungsmethoden und -abläufe in Fällen mutmaßlicher polizeilicher Misshandlung beziehungsweise unverhältnismäßiger Gewaltanwendung [.] noch nicht den Grundsätzen entsprechen, die in den von Deutschland unterzeichneten Menschenrechtsabkommen verankert sind.“ Wenn jedoch die „Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen“ würden, könne dies „zu einem Klima der Straflosigkeit führen“.3 Amnesty International fordert daher die „Einrichtung unabhängiger Polizeibeschwerdemechanismen“ und Maßnahmen, die „eine einfache Identifizierung von Polizeibeamten bei der Ausübung ihrer gesetzlichen Pflichten [.] gewährleisten.“4
Freilich: In der Regel werden derartige Kontrollansprüche von Polizeibehörden sowie deren Standes- und Personalvertretungen vehement zurückgewiesen. Dies gilt gleichermaßen für die Vorschläge, unabhängige Polizeibeschwerdestellen einzurichten wie auch für die von Bürgerrechtlern seit Jahrzehnten erhobene Forderung, Polizeibeamte besonders im Rahmen von Demonstrationseinsätzen mit Namens- oder Nummernschildern zu kennzeichnen.5 Die Argumentationsmuster, die die polizeilichen Vorbehalte stützen sollen, lauten jeweils ähnlich: Durch die Schaffung derartiger Kontroll- und Sanktionsmechanismen sehe sich die Polizei einem Generalverdacht ausgesetzt, der zudem willkürlichen Beschuldigungen von Polizisten Vorschub leisten und nicht zuletzt deren Familien in Gefahr bringen würde. In einer Stellungnahme bezeichnete Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft entsprechende Forderungen von Amnesty International schlicht als „Unfug“.6 7 Konrad Freiberg, der damalige Vorsitzende der konkurrierenden Gewerkschaft der Polizei, sprach im gleichen Kontext von einer „nicht akzeptable
Demgegenüber rücken polizeiliche Diskurse andere Wahrnehmungen in den
Mittelpunkt: Die Gewaltbereitschaft gegenüber Polizeibeamten - bei Fußballspielen, Demonstrationen oder Einsätzen in urbanen „Problemvierteln“ - habe in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) scheint diese Sichtweise zu bestätigen. So gaben 47,8 Prozent der befragten Polizisten an, im Jahr 2009 im Dienst gestoßen, geschubst oder festgehalten worden zu sein. 24,9 Prozent erklärten, sie seien mit Gegenständen beworfen worden. 26,5 Prozent hätten Faustschläge oder Fußtritte erleiden müssen. Zwischen 2005 und 2009 sei die Zahl der schweren Verletzungen mit mindestens siebentägiger Dienstunfähigkeit um 60,1 Prozent gestiegen.1 Die Polizeigewerkschaften und eine Reihe von Innenpolitikern fordern daher, Übergriffe auf Polizisten mit schärferen Gesetzen und härteren Strafen, etwa durch die Einführung eines Paragrafen 115 StGB, der speziell Angriffe auf Polizeibeamte sanktionieren soll, zu ahnden.2
Die hier skizzierten kursorischen Beobachtungen verweisen auf zweierlei:
-
Erstens zeigen die Auseinandersetzungen um die tödlichen Schüsse auf Tennessee Eisenberg ebenso wie die in Kreisen der Polizei erhobenen Forderungen nach härteren Strafen für Übergriffe auf Polizisten, dass unterschiedliche, wenn nicht gegensätzliche Wahrnehmungen und Erfahrungen von „Gewalt“ das Verhältnis zwischen Staatsmacht und zivilen Staatsbürgern in Deutschland weiterhin durchziehen.
-
Zweitens wird deutlich, dass Polizisten nicht von einer Position jenseits der Gesellschaft agieren. Sie sind keine gesichtslosen Agenten, die das „Gesetz“ oder die Interessen der „Herrschenden“ mechanisch gegenüber dem „beherrschten“ Volk durchsetzen. Diese Vorstellungen werden nicht nur in den immer noch verbreiteten Klischees von ebenso allwissenden wie skrupellosen Gestapo-, Stasi- oder auch Verfassungsschutzmitarbeitern deutlich; sie spiegeln sich überdies in den cineastischen Fiktionen vom schwerbewaffneten, nahezu unüberwindbaren „Robocop“.
Tatsächlich jedoch bewegen sich Polizei und Polizisten als eigenständige und „eigensinnige“ Akteure in einem gesellschaftlichen Kräftefeld, das entscheidend von ihnen mitbestimmt wird.3 Deren Handlungsmuster folgen allenfalls vordergründig einer reinen Zweckrationalität. Vielmehr fließen in die Praktiken und Haltungen von Polizisten immer auch die eigenen Wahrnehmungen und Ressentiments, Ängste und Hoffnungen mit ein. Und diese speisen sich nicht zuletzt aus Erfahrungen des Dienstalltags.4
Die Bedeutungsebenen polizeilichen Handelns gehen somit weit über den
reinen Vollzug von Gesetzen, Verordnungen und Anordnungen hinaus. Das Einschreiten der Polizei löst Resonanzen aus, die auf die Staatsmacht zurückwirken. Immer wieder werden dabei - wie im Fall Tennessee Eisenberg - Rechtmäßigkeit und Methoden polizeilicher Handlungsmuster in Frage gestellt; an das Auftreten der Polizei knüpfen sich bei Teilen der Bevölkerung aber auch durchaus positivzustimmende Erwartungen und Ansprüche: sei es, dass mit polizeilicher Präsenz die Hoffnung auf ein sicheres und berechenbares Leben verbunden wird1, sei es, dass Kooperation mit der Polizei die Chance zu bieten scheint, an staatlicher Macht teilzuhaben.
Polizisten zählen nach Feuerwehrleuten und Ärzten zu den angesehensten Berufsgruppen in Deutschland2; Polizeimessen und Tage der offenen Tür in Polizeieinrichtungen erfreuen sich kontinuierlich hoher Beliebtheit. Offenbar wird die Rolle der Polizei keineswegs ausschließlich durch deren Verankerung im Institutionengefüge des Staates definiert. Vielmehr ist Polizei einer der Akteure im Feld politisch-gesellschaftlicher Konflikte - welche zumal bei den Amtsträgern die Grenzen ihrer Verhaltensweisen stets aufs Neue ausloten. Das Durchsetzen polizeilicher Autorität gehört ebenso wie das Infragestellen dieser Autorität zu „Herrschaft als sozialer Praxis.“3
Polizeiforschung: Akteure und Praktiken
Diese Sichtweise blieb in der deutschsprachigen historischen Polizeiforschung jedoch lange Zeit marginal. Widmeten sich soziologische Studien bereits in den frühen 1970er Jahren den Entstehungs- und Konstruktionsprozessen polizeilicher Wahrnehmungs- und Handlungsmuster4, folgte die überwiegende Zahl der bis zum Beginn der 1990er Jahre erschienenen polizeigeschichtlichen Veröffentlichungen traditionellen institutionen- und verwaltungsgeschichtlichen Ansätzen.5 Diese lieferten zwar umfangreiche Informationen über strukturelle, technische und rechtliche Entwicklungen innerhalb und außerhalb der Polizeibehörden, wussten aber nur wenig oder gar nichts zu berichten über die alltäglichen polizeilichen Praktiken, das Selbstverständnis und die Dispositionen von Polizisten.6 Erst die breitere Rezeption alltags- und kulturgeschichtlicher Zugänge führte zu einem allmählichen „Paradigmenwechsel in der Polizeigeschichtsforschung“7 und somit zu erkennbar akteurszentrierteren Perspektiven. Die Forderung, das „vielschichtige Geflecht der Machtstrategien“ stärker in den Blick zu nehmen und dabei auch die Erfahrungen „der Vielen“8 sowie Vorstellungen und Bilder von Polizei zu berücksichtigen, fand ihren
Niederschlag in einer Reihe innovativer polizeigeschichtlicher Arbeiten.
Hier erfuhr besonders die Rolle der Polizei im Nationalsozialismus eine stärkere Aufmerksamkeit. Anknüpfend an die Studien von Robert Gellately, der am Beispiel der Gestapo-Stelle Würzburg1 zeigen konnte, wie sehr deren Erfolg von der bereitwilligen Zuarbeit aus der Bevölkerung abhängig war, trugen zahlreiche weitere Untersuchungen zu differenzierten Erkenntnissen hinsichtlich des Personals, der Praktiken und der „vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Politischer Polizei und Gesellschaft“2 bei. Aber auch andere Polizeiformationen wie beispielsweise die Kriminalpolizei und die uniformierte „grüne“ Ordnungspolizei, die lange Zeit im Schatten des langlebigen „Gestapo-Mythos“ (Robert Gellately) wenig Beachtung gefunden hatten, rückten seit Mitte der 1990er Jahre stärker in den Blick der historischen Forschung. Dabei zeigte sich, dass beide Institutionen im polykratischen Gefüge des „Dritten Reichs“ keineswegs nur den traditionellen „Normenstaat“ (Ernst Fraenkel) verkörperten, sondern eigeninitiativ an der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik teilnahmen. Die Angehörigen der Polizeibataillone bildeten gewissermaßen das „Fußvolk der ,Endlösung‘“3, ohne das die präzedenzlosen Massenverbrechen zumal in Osteuropa und in der Sowjetunion in ihren Dimensionen kaum denkbar gewesen wären. Demgegenüber schufen die nach 1933 ständig ausgeweiteten Befugnisse für die Beamten der Kriminalpolizei Handlungsräume, die diese unter dem Begriff der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ eigenständig ausfüllten und ihre Praktiken zunehmend radikalisierten.4
Obgleich diese neueren Studien die vielfältigen Formen polizeilicher Partizipation an der NS-Herrschaft herausarbeiteten, stellten sie doch die „automatische Durchschlagskraft des Kausalfaktors ,Weltanschauung‘“5 in Frage. Ins Zentrum der Betrachtung rückten hingegen die vielschichtigen Verschränkungen von individuellen wie kollektiven Erfahrungen, generationellen Prägungen und situativen Dynamiken, die das Handeln und die Entscheidungsspielräume von Polizisten mitbestimmten.6
Dieses Erkenntnisinteresse blieb freilich nicht auf die NS-Zeit beschränkt, sondern spiegelte sich auch in Studien zur Polizei im Kaiserreich7 und in der Weimarer Republik8, der Volkspolizei der DDR9 oder zur Polizei in der Bun- desrepublik.10 Hier trugen neuere Forschungen dazu bei, oftmals sehr monolithische Interpretationen beispielsweise des „SED-Staats“11 oder die griffige These
von der „Restauration der Polizei“1 in der frühen Bundesrepublik zu differenzieren. „Öffentliche Bilder der Polizei, alltägliche Widersetzlichkeiten und damit [der] Grad der Akzeptanz polizeilicher Eingriffshandlungen“ wurden zentral, um „den Spielraum des ,Aushandelns‘ staatlicher Sanktionsgewalt in den spezifischen Systemkontexten von Ost und West zu erfassen.“2 Wesentliche Impulse für eine alltags- und kulturgeschichtlich ausgerichtete Polizeigeschichte gingen von dieser handlungs- und akteurszentrierten neueren Gewaltforschung aus.
Gewalt: Akteure und Situationen
Neuere Gewaltforschung: physische Gewalt
Seit etwa zwei Jahrzehnten konzentrieren sich Beobachter von historischer wie aktueller Gewalt auf das Handeln der Akteure, auf das ,Wie‘ ihres Vorgehens - auf ihre Gewalttat. Fragen nach sozial-strukturellen Bedingungen für Verhalten und Handeln der Akteure sind aufgehoben in Erkundungen ihrer situativen Verhaltensformen, kulturellen Bedeutungsnetzen und rituellen Dynamiken.3 Der besondere Fokus dieser neueren Gewaltforschung liegt auf dem körperlichen Verhalten, auf Gesten und Mimik ebenso wie auf Körperkontakt, mehr noch auf direkten Zugriff. Es geht um handfestes Zupacken, Zuschlagen oder Zutreten - Taten, die den Körpern der Geschlagenen Schmerz zufügen (und in aller Regel zufügen sollen). Die Gewalttat zielt auf die Angst anderer, auf ihre Verletzung, wenn nicht auf ihren Tod.4
Diese Perspektive löste das bis in die 1980er Jahre vielfach vorherrschende Theorem der „strukturellen Gewalt“ 5 ab. Dessen Impuls war die Kritik der herrschenden Verhältnisse und Eliten - nach dem scheinbaren Ende der „heißen“ Kriege, zumindest in den westlichen „Zentren“ nach 1945. Denn anders als es modernisierungstheoretisch orientierte Annahmen voraussetzten, hatten z. B. Urbanisierung und soziale wie räumliche Mobilisierung die Lebensweisen der Menschen vielleicht in mancher Hinsicht „rationalisiert“; diese Umwälzungen hatten aber keineswegs im Selbstlauf die Allgegenwart von Gewalt überwunden. Vielmehr zeige sich „strukturelle Gewalt“ in anhaltenden oder neuen sozial-ökonomischen Ungleichheiten wie der Armut und Krankheitsanfälligkeit von „Randständigen“ und „Unterklassen“.
Im akademisch-publizistischen Betrieb verdunkelte die Konzentration auf diese Gewalt der Verhältnisse vielfach den Blick für jene physische (Verlet- zungs-)Gewalt, wie sie auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedrohlich war.6 Bedeutsam waren hier die Fernsehbilder von Protestaktionen und dem Vorgehen der polizeilichen oder auch militärischen Staatsgewalten in den „inner
cities“ von Berlin, Paris oder Chicago. Entscheidender dürften aber die Bildberichte von napalmverbrannten oder massakrierten Zivilisten aus der angeblichen „Peripherie“ kolonialer oder entkolonisierter Regionen gewesen sein. Vor allem solche Bilder machten physische Gewalt und ihre Gräuel als alltägliche Herrschaftspraxis wieder erkennbar.
Proteste gegen „strukturelle“ wie gegen physische Herrschaftsgewalt gaben zugleich Anstoß zu „Gegengewalt“ - zu physischer Gewalt, die sich in den Selbstdeutungen der Akteure wie mancher Sympathisanten allein gegen „Sachen“ richtete. Diese „Gegengewalt“ traf in den späten 1960er und den 1970er Jahren rasch auf eine nicht selten überaus „harte Hand“ staatlicher Akteure. Neben solchen unmittelbaren Erfahrungen gehörte zum Wahrnehmungshorizont von „Gegengewalt“ auch das Bilderrepertoire der Shoah - erweitert oder überlagert von Fernsehbildern und Fotos aus dem kriegszerstörten Vietnam.
NS-Täterforschung: uneindeutige Profile
Die Untersuchung physischer Gewalt fragt nach den Möglichkeiten, den Praktiken und den Folgen konkreter Gewalttaten. In exemplarischer Weise hat der US-amerikanische Historiker Christopher Browning die verbundene Dynamik rekonstruiert. Ein erster Beitrag war seine 1991 erschienene Studie „Ordinary Men“ - die einer Gruppe von (Mit-)Tätern des Mordes an den Juden Europas nachgeht, die unterhalb der „Kommandohöhen“ agierten. Im Zentrum steht ein militärisch gegliederter und militärisch operierender Polizei-Verband, vor allem seine Mordaktionen ab Juli 1942 im „Generalgouvernement“, einem Teil des vom Deutschen Reich besetzten Polen.
Browning betont, es seien auch in großen Organisationen wie der Polizei oder den Polizei-Bataillonen „einzelne Menschen“ gewesen, die „über einen längeren Zeitraum hinweg andere Menschen zu abertausenden umgebracht haben.“1 Entscheidend sei die weitere Sequenz gewesen, die nach einem ,ersten Mal‘ die Schwellen für das Mitmachen beim Töten wie für dessen ,Normalisierung‘ immer weiter gesenkt habe; Gruppendruck und Gewöhnung bestimmten danach das Mit- und Weitermachen der allermeisten.
Es ist gerade diese systematische Kontextualisierung, die belegt, dass selbst im Krieg und im Rahmen eines militärischen Befehlsverhältnisses auch in einer angeblich „totalen Institution“ (Erving Goffman) dennoch unterschiedliche Handlungsoptionen versucht und auch realisiert werden konnten. Zugleich unterstreicht der Autor, dass die mörderische Gewalttat ungeachtet individuellen Ausscherens einzelner - das für sie offenbar keine langfristig gravierenden Folgen hatte - ein ,Erfolg‘ im Sinne der Planer und Befehlsgeber war.2
Koloniale Gewalt - universell eingesetzt ?
Die entgrenzte Gewalttat ist das zentrale Element von Herrschaft im kolonialen Alltag. Konkret beruhte sie auf tödlicher Feuerkraft und deren militärischer Organisation. Für die kolonialen Eroberer und Machthaber sowie ihre Mittelsmänner galt es, die „Fügsamkeit der Besiegten nicht nur auf längere Zeiträume, sondern vor allen Dingen bei Abwesenheit der neuen Herrscher (zu) gewährleisten“1. In dieser Logik „sollte die Gewalt so fürchterlich sein, wie die Ohnmacht der Eroberer groß war und die Drohung lange glaubhaft sein sollte“. Dieses Argument legt die phänomenologische Analyse von Heinrich Popitz zugrunde. In dieser Sicht meint Übermacht überlegene, konkreter: todesgefährliche „Verletzungsfähigkeit“. Sie erweise sich als „absolut, weil sie das Absolute in dieser Welt, den Tod, ins Werk setzen kann“. Mit dieser Gewalt werde „dem frechen Maul‘ unter den Besiegten ,das Maul gestopft‘, der Sieger stellt keine Fragen, sondern ordnet an.“ Die übermächtige Gewalt erfordere keine gesonderte Legitimation; vielmehr „rechtfertigt [sie] sich durch ihre Tatsächlichkeit und ihre Überlegenheit selbst“.
Diese Gewalt bestimmte die koloniale Aneignung - in vielen Fällen als militärische Eroberung. Sie war jedoch weder an militärische Verbände gebunden noch an zivile Kommissare oder Beamte und deren Verweis auf weltliche oder göttl iche Autoritäten. In den Siedlerkolonien Nord- und Lateinamerikas, aber auch in Afrika oder Australien waren es die Siedler selbst, die entgrenzte absolute Gewalt nicht allein beanspruchten, sondern alltäglich fortwährend einsetzten. Siedler wie Amtspersonen waren stets wenige - nicht selten nur ein kleiner Bruchteil der Kolonisierten, denen sie in Alltagssituationen begegneten. Es war freilich nicht allein die geringe Zahl, sondern vor allem die konkrete Situation der Akteure vor Ort, die bei den Kolonialherren eine eigentümliche Selbstermächtigung und zugleich Gewaltentgrenzung beförderte. „Herrisches Auftreten“ und „unmissverständliche“, jede Diskussion ausschließende Befehle schienen keine Alternative zu kennen, wohl aber die Ergänzung des scharfen Schusses. Nicht Vertrauen, sondern Misstrauen und Erzwingen von Gehorsam waren die Maximen in den kolonialen (oder imperialen) Gesellschaften wie Staaten.
Die Kolonialmacht herrschte durch unkalkulierbar-punktuellen Gewalteinsatz, der zugleich seine Wiederholung androhte. Konkret waren das etwa die „Twentyfive“, die 25 Prügelschläge, die ein Feldwebel der kolonialen (aus Einheimischen rekrutierten), militärisch organisierten Polizeitruppe in Togo offenbar als einziges Kommunikationsmittel mit den untergebenen Schwarzen einsetzte. Prügel „regierte“ zumal die „Steuerarbeit“ (ein gesondertes ArbeitsVerhältnis, mit dem Steuerpflichten abgearbeitet wurden) oder das Eintreiben von Zöllen.2 Bei der „Steuerarbeit“ und dem hier überdeutlichen Vorrang gewaltsamer
Züchtigung und Disziplinierung ist die Parallele zur ,harten Hand‘ gegen die abhängigen Knechte und Mägde in der ostelbischen Gutsherrschaft unverkennbar. Faustschläge und (Stock- oder Peitschen-)Prügel waren freilich nie das letzte Mittel in den kolonialen Besitzungen. Freilich beschränkten sich die lebensgefährlichen Waffen nicht mehr auf Säbel oder Karabiner: Bei „Strafexpeditionen“ avancierte seit den 1890er Jahren das „Maxim“-Gewehr, also maschinelles Schnellfeuer, zum Instrument wie Symbol der herrschenden Tötungsgewalt. Die Polizei folgte dem militärischen Organisations- und Einsatzmuster. Folgerichtig markierte das Massaker in seiner flächendeckenden Blindheit für einzelne Personen (seien es Verdächtige oder ,Feinde‘) die Bruchlinie zwischen den Herrschenden und den Besiegten; sie war an brutaler Eindeutigkeit kaum zu übertreffen.
Dennoch zeigt sich selbst in dieser Zweipoligkeit kein eindeutiges Profil kolonialer Gewalt. Die Unschärfe tritt besonders dann hervor, wenn es nicht um die scheinbar klassischen Kolonial-Räume und -Fälle in außereuropäischen Territorien geht. So hat Christopher Browning an Beispielen aus der Eroberungs- und Besatzungspolitik der Nationalsozialisten betont, wie wesentlich die Unterscheidung zwischen kolonialem und metropolitanem Raum für die Akteure der Gewalt im Nationalsozialismus war. Im „Reichsgebiet“ behandelten Schutzpolizisten offenbar die Ausgegrenzten - im konkreten Fall: „Nicht-Arier“ - weniger brutal und mitunter ausdrücklich ,ziviler‘ als in den Teilen Polens, die nach 1939 besetzt oder annektiert waren. Diese Gebiete sollten kolonisiert werden.1
Der örtliche wie der räumliche Bezug sind wesentlich. Allerdings erfordern sie vermehrte Nahsicht, um die Differenzen von Alltagswirklichkeiten wahrzunehmen. Nicht Staaten und ihre Grenzen, sondern Regionen, Landschaften, aber auch einzelne Dörfer oder Stadtteile zeigen offenbar Unterschiede - in der Metropole wie der kolonialen ,Provinz‘. So wohnten im London der Wende zum 20. Jahrhundert die „Barbaren“ in East London und die „Herren“ in Highgate. Damit wird eine Parallele erkennbar, bei der beispielsweise der preußische Militärstaat und der englische Kolonial-Imperialismus deutliche Ähnlichkeit zeigen: Hier wie dort machten die obrigkeitlichen Akteure wiederholt Anleihen bei den Verfahren in eigenen oder fremden außereuropäischen Kolonien, wenn es ,zu Hause‘ um die Polizierung der „gefährlichen Klassen“ von Besitzlosen und (Besitz-)Armen ging. Das meinte Gewalteinsatz, schloss aber Infrastruktureingriffe (Wohnungsbau, Nachbarschafts- und Familienkonzepte) nicht aus - auch hier mit Anleihen bei kolonialen Modellen oder Praktiken. Dass diese ihrerseits bereits eine Melange waren - beispielsweise aus East London und (südafrikanischem) Durban - unterstreicht Wechselbeziehungen, die freilich asymmetrisch waren und blieben.2
Insofern war die Selbst-Entgrenzung, wie sie die Praxis kolonialer Herrschaftsgewalt kennzeichnet,1 keineswegs auf außereuropäische Gebiete oder Situationen beschränkt. Auch im Selbstverständnis der Akteure war diese Differenz häufig sekundär. Nicht zuletzt begünstigten europaweit wirksame Konzepte einer „inneren Kolonisation“ zumindest zweierlei: die Vorstellung einer unüberwindlichen Schranke zwischen „us and them“ sowie die Entgrenzung von Gewalt. Dabei sind eigene Wege und damit Differenzen zwischen den (National-)Staaten vielfach überschätzt worden. In Preußen-Deutschland strebten manche offenbar eine „rassische Privilegiengesellschaft“ (Jürgen Zimmerer) an, zumindest gegenüber Polen, Kaschuben, Ruthenen - überhaupt gegenüber slawischen Menschen und Menschengruppen „aus dem Osten“. Überblendungen kolonialer und metro- politaner Herrschaftspraktiken zeigen sich aber auch in der gewalttätigen Beharrlichkeit, mit der Agenturen des französischen Zentralstaates im frühen wie im späteren 19. Jahrhundert „Bauern zu Franzosen“ machten.2 Die Diskriminierung von Bretonen, Provenzalen und Elsässern im „Mutterland“ selbst war von jener arroganten Missachtung geprägt, die man gegenüber Einheimischen in den außereuropäischen Besitzungen nicht erst ,neu lernen‘ musste.
Die Bedeutungsebenen polizeilichen Handelns gehen somit weit über den
reinen Vollzug von Gesetzen, Verordnungen und Anordnungen hinaus. Das Einschreiten der Polizei löst Resonanzen aus, die auf die Staatsmacht zurückwirken. Immer wieder werden dabei - wie im Fall Tennessee Eisenberg - Rechtmäßigkeit und Methoden polizeilicher Handlungsmuster in Frage gestellt; an das Auftreten der Polizei knüpfen sich bei Teilen der Bevölkerung aber auch durchaus positivzustimmende Erwartungen und Ansprüche: sei es, dass mit polizeilicher Präsenz die Hoffnung auf ein sicheres und berechenbares Leben verbunden wird1, sei es, dass Kooperation mit der Polizei die Chance zu bieten scheint, an staatlicher Macht teilzuhaben.
Polizisten zählen nach Feuerwehrleuten und Ärzten zu den angesehensten Berufsgruppen in Deutschland2; Polizeimessen und Tage der offenen Tür in Polizeieinrichtungen erfreuen sich kontinuierlich hoher Beliebtheit. Offenbar wird die Rolle der Polizei keineswegs ausschließlich durch deren Verankerung im Institutionengefüge des Staates definiert. Vielmehr ist Polizei einer der Akteure im Feld politisch-gesellschaftlicher Konflikte - welche zumal bei den Amtsträgern die Grenzen ihrer Verhaltensweisen stets aufs Neue ausloten. Das Durchsetzen polizeilicher Autorität gehört ebenso wie das Infragestellen dieser Autorität zu „Herrschaft als sozialer Praxis.“3
Polizeiforschung: Akteure und Praktiken
Diese Sichtweise blieb in der deutschsprachigen historischen Polizeiforschung jedoch lange Zeit marginal. Widmeten sich soziologische Studien bereits in den frühen 1970er Jahren den Entstehungs- und Konstruktionsprozessen polizeilicher Wahrnehmungs- und Handlungsmuster4, folgte die überwiegende Zahl der bis zum Beginn der 1990er Jahre erschienenen polizeigeschichtlichen Veröffentlichungen traditionellen institutionen- und verwaltungsgeschichtlichen Ansätzen.5 Diese lieferten zwar umfangreiche Informationen über strukturelle, technische und rechtliche Entwicklungen innerhalb und außerhalb der Polizeibehörden, wussten aber nur wenig oder gar nichts zu berichten über die alltäglichen polizeilichen Praktiken, das Selbstverständnis und die Dispositionen von Polizisten.6 Erst die breitere Rezeption alltags- und kulturgeschichtlicher Zugänge führte zu einem allmählichen „Paradigmenwechsel in der Polizeigeschichtsforschung“7 und somit zu erkennbar akteurszentrierteren Perspektiven. Die Forderung, das „vielschichtige Geflecht der Machtstrategien“ stärker in den Blick zu nehmen und dabei auch die Erfahrungen „der Vielen“8 sowie Vorstellungen und Bilder von Polizei zu berücksichtigen, fand ihren
Niederschlag in einer Reihe innovativer polizeigeschichtlicher Arbeiten.
Hier erfuhr besonders die Rolle der Polizei im Nationalsozialismus eine stärkere Aufmerksamkeit. Anknüpfend an die Studien von Robert Gellately, der am Beispiel der Gestapo-Stelle Würzburg1 zeigen konnte, wie sehr deren Erfolg von der bereitwilligen Zuarbeit aus der Bevölkerung abhängig war, trugen zahlreiche weitere Untersuchungen zu differenzierten Erkenntnissen hinsichtlich des Personals, der Praktiken und der „vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Politischer Polizei und Gesellschaft“2 bei. Aber auch andere Polizeiformationen wie beispielsweise die Kriminalpolizei und die uniformierte „grüne“ Ordnungspolizei, die lange Zeit im Schatten des langlebigen „Gestapo-Mythos“ (Robert Gellately) wenig Beachtung gefunden hatten, rückten seit Mitte der 1990er Jahre stärker in den Blick der historischen Forschung. Dabei zeigte sich, dass beide Institutionen im polykratischen Gefüge des „Dritten Reichs“ keineswegs nur den traditionellen „Normenstaat“ (Ernst Fraenkel) verkörperten, sondern eigeninitiativ an der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik teilnahmen. Die Angehörigen der Polizeibataillone bildeten gewissermaßen das „Fußvolk der ,Endlösung‘“3, ohne das die präzedenzlosen Massenverbrechen zumal in Osteuropa und in der Sowjetunion in ihren Dimensionen kaum denkbar gewesen wären. Demgegenüber schufen die nach 1933 ständig ausgeweiteten Befugnisse für die Beamten der Kriminalpolizei Handlungsräume, die diese unter dem Begriff der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ eigenständig ausfüllten und ihre Praktiken zunehmend radikalisierten.4
Obgleich diese neueren Studien die vielfältigen Formen polizeilicher Partizipation an der NS-Herrschaft herausarbeiteten, stellten sie doch die „automatische Durchschlagskraft des Kausalfaktors ,Weltanschauung‘“5 in Frage. Ins Zentrum der Betrachtung rückten hingegen die vielschichtigen Verschränkungen von individuellen wie kollektiven Erfahrungen, generationellen Prägungen und situativen Dynamiken, die das Handeln und die Entscheidungsspielräume von Polizisten mitbestimmten.6
Dieses Erkenntnisinteresse blieb freilich nicht auf die NS-Zeit beschränkt, sondern spiegelte sich auch in Studien zur Polizei im Kaiserreich7 und in der Weimarer Republik8, der Volkspolizei der DDR9 oder zur Polizei in der Bun- desrepublik.10 Hier trugen neuere Forschungen dazu bei, oftmals sehr monolithische Interpretationen beispielsweise des „SED-Staats“11 oder die griffige These
von der „Restauration der Polizei“1 in der frühen Bundesrepublik zu differenzieren. „Öffentliche Bilder der Polizei, alltägliche Widersetzlichkeiten und damit [der] Grad der Akzeptanz polizeilicher Eingriffshandlungen“ wurden zentral, um „den Spielraum des ,Aushandelns‘ staatlicher Sanktionsgewalt in den spezifischen Systemkontexten von Ost und West zu erfassen.“2 Wesentliche Impulse für eine alltags- und kulturgeschichtlich ausgerichtete Polizeigeschichte gingen von dieser handlungs- und akteurszentrierten neueren Gewaltforschung aus.
Gewalt: Akteure und Situationen
Neuere Gewaltforschung: physische Gewalt
Seit etwa zwei Jahrzehnten konzentrieren sich Beobachter von historischer wie aktueller Gewalt auf das Handeln der Akteure, auf das ,Wie‘ ihres Vorgehens - auf ihre Gewalttat. Fragen nach sozial-strukturellen Bedingungen für Verhalten und Handeln der Akteure sind aufgehoben in Erkundungen ihrer situativen Verhaltensformen, kulturellen Bedeutungsnetzen und rituellen Dynamiken.3 Der besondere Fokus dieser neueren Gewaltforschung liegt auf dem körperlichen Verhalten, auf Gesten und Mimik ebenso wie auf Körperkontakt, mehr noch auf direkten Zugriff. Es geht um handfestes Zupacken, Zuschlagen oder Zutreten - Taten, die den Körpern der Geschlagenen Schmerz zufügen (und in aller Regel zufügen sollen). Die Gewalttat zielt auf die Angst anderer, auf ihre Verletzung, wenn nicht auf ihren Tod.4
Diese Perspektive löste das bis in die 1980er Jahre vielfach vorherrschende Theorem der „strukturellen Gewalt“ 5 ab. Dessen Impuls war die Kritik der herrschenden Verhältnisse und Eliten - nach dem scheinbaren Ende der „heißen“ Kriege, zumindest in den westlichen „Zentren“ nach 1945. Denn anders als es modernisierungstheoretisch orientierte Annahmen voraussetzten, hatten z. B. Urbanisierung und soziale wie räumliche Mobilisierung die Lebensweisen der Menschen vielleicht in mancher Hinsicht „rationalisiert“; diese Umwälzungen hatten aber keineswegs im Selbstlauf die Allgegenwart von Gewalt überwunden. Vielmehr zeige sich „strukturelle Gewalt“ in anhaltenden oder neuen sozial-ökonomischen Ungleichheiten wie der Armut und Krankheitsanfälligkeit von „Randständigen“ und „Unterklassen“.
Im akademisch-publizistischen Betrieb verdunkelte die Konzentration auf diese Gewalt der Verhältnisse vielfach den Blick für jene physische (Verlet- zungs-)Gewalt, wie sie auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedrohlich war.6 Bedeutsam waren hier die Fernsehbilder von Protestaktionen und dem Vorgehen der polizeilichen oder auch militärischen Staatsgewalten in den „inner
cities“ von Berlin, Paris oder Chicago. Entscheidender dürften aber die Bildberichte von napalmverbrannten oder massakrierten Zivilisten aus der angeblichen „Peripherie“ kolonialer oder entkolonisierter Regionen gewesen sein. Vor allem solche Bilder machten physische Gewalt und ihre Gräuel als alltägliche Herrschaftspraxis wieder erkennbar.
Proteste gegen „strukturelle“ wie gegen physische Herrschaftsgewalt gaben zugleich Anstoß zu „Gegengewalt“ - zu physischer Gewalt, die sich in den Selbstdeutungen der Akteure wie mancher Sympathisanten allein gegen „Sachen“ richtete. Diese „Gegengewalt“ traf in den späten 1960er und den 1970er Jahren rasch auf eine nicht selten überaus „harte Hand“ staatlicher Akteure. Neben solchen unmittelbaren Erfahrungen gehörte zum Wahrnehmungshorizont von „Gegengewalt“ auch das Bilderrepertoire der Shoah - erweitert oder überlagert von Fernsehbildern und Fotos aus dem kriegszerstörten Vietnam.
NS-Täterforschung: uneindeutige Profile
Die Untersuchung physischer Gewalt fragt nach den Möglichkeiten, den Praktiken und den Folgen konkreter Gewalttaten. In exemplarischer Weise hat der US-amerikanische Historiker Christopher Browning die verbundene Dynamik rekonstruiert. Ein erster Beitrag war seine 1991 erschienene Studie „Ordinary Men“ - die einer Gruppe von (Mit-)Tätern des Mordes an den Juden Europas nachgeht, die unterhalb der „Kommandohöhen“ agierten. Im Zentrum steht ein militärisch gegliederter und militärisch operierender Polizei-Verband, vor allem seine Mordaktionen ab Juli 1942 im „Generalgouvernement“, einem Teil des vom Deutschen Reich besetzten Polen.
Browning betont, es seien auch in großen Organisationen wie der Polizei oder den Polizei-Bataillonen „einzelne Menschen“ gewesen, die „über einen längeren Zeitraum hinweg andere Menschen zu abertausenden umgebracht haben.“1 Entscheidend sei die weitere Sequenz gewesen, die nach einem ,ersten Mal‘ die Schwellen für das Mitmachen beim Töten wie für dessen ,Normalisierung‘ immer weiter gesenkt habe; Gruppendruck und Gewöhnung bestimmten danach das Mit- und Weitermachen der allermeisten.
Es ist gerade diese systematische Kontextualisierung, die belegt, dass selbst im Krieg und im Rahmen eines militärischen Befehlsverhältnisses auch in einer angeblich „totalen Institution“ (Erving Goffman) dennoch unterschiedliche Handlungsoptionen versucht und auch realisiert werden konnten. Zugleich unterstreicht der Autor, dass die mörderische Gewalttat ungeachtet individuellen Ausscherens einzelner - das für sie offenbar keine langfristig gravierenden Folgen hatte - ein ,Erfolg‘ im Sinne der Planer und Befehlsgeber war.2
Koloniale Gewalt - universell eingesetzt ?
Die entgrenzte Gewalttat ist das zentrale Element von Herrschaft im kolonialen Alltag. Konkret beruhte sie auf tödlicher Feuerkraft und deren militärischer Organisation. Für die kolonialen Eroberer und Machthaber sowie ihre Mittelsmänner galt es, die „Fügsamkeit der Besiegten nicht nur auf längere Zeiträume, sondern vor allen Dingen bei Abwesenheit der neuen Herrscher (zu) gewährleisten“1. In dieser Logik „sollte die Gewalt so fürchterlich sein, wie die Ohnmacht der Eroberer groß war und die Drohung lange glaubhaft sein sollte“. Dieses Argument legt die phänomenologische Analyse von Heinrich Popitz zugrunde. In dieser Sicht meint Übermacht überlegene, konkreter: todesgefährliche „Verletzungsfähigkeit“. Sie erweise sich als „absolut, weil sie das Absolute in dieser Welt, den Tod, ins Werk setzen kann“. Mit dieser Gewalt werde „dem frechen Maul‘ unter den Besiegten ,das Maul gestopft‘, der Sieger stellt keine Fragen, sondern ordnet an.“ Die übermächtige Gewalt erfordere keine gesonderte Legitimation; vielmehr „rechtfertigt [sie] sich durch ihre Tatsächlichkeit und ihre Überlegenheit selbst“.
Diese Gewalt bestimmte die koloniale Aneignung - in vielen Fällen als militärische Eroberung. Sie war jedoch weder an militärische Verbände gebunden noch an zivile Kommissare oder Beamte und deren Verweis auf weltliche oder göttl iche Autoritäten. In den Siedlerkolonien Nord- und Lateinamerikas, aber auch in Afrika oder Australien waren es die Siedler selbst, die entgrenzte absolute Gewalt nicht allein beanspruchten, sondern alltäglich fortwährend einsetzten. Siedler wie Amtspersonen waren stets wenige - nicht selten nur ein kleiner Bruchteil der Kolonisierten, denen sie in Alltagssituationen begegneten. Es war freilich nicht allein die geringe Zahl, sondern vor allem die konkrete Situation der Akteure vor Ort, die bei den Kolonialherren eine eigentümliche Selbstermächtigung und zugleich Gewaltentgrenzung beförderte. „Herrisches Auftreten“ und „unmissverständliche“, jede Diskussion ausschließende Befehle schienen keine Alternative zu kennen, wohl aber die Ergänzung des scharfen Schusses. Nicht Vertrauen, sondern Misstrauen und Erzwingen von Gehorsam waren die Maximen in den kolonialen (oder imperialen) Gesellschaften wie Staaten.
Die Kolonialmacht herrschte durch unkalkulierbar-punktuellen Gewalteinsatz, der zugleich seine Wiederholung androhte. Konkret waren das etwa die „Twentyfive“, die 25 Prügelschläge, die ein Feldwebel der kolonialen (aus Einheimischen rekrutierten), militärisch organisierten Polizeitruppe in Togo offenbar als einziges Kommunikationsmittel mit den untergebenen Schwarzen einsetzte. Prügel „regierte“ zumal die „Steuerarbeit“ (ein gesondertes ArbeitsVerhältnis, mit dem Steuerpflichten abgearbeitet wurden) oder das Eintreiben von Zöllen.2 Bei der „Steuerarbeit“ und dem hier überdeutlichen Vorrang gewaltsamer
Züchtigung und Disziplinierung ist die Parallele zur ,harten Hand‘ gegen die abhängigen Knechte und Mägde in der ostelbischen Gutsherrschaft unverkennbar. Faustschläge und (Stock- oder Peitschen-)Prügel waren freilich nie das letzte Mittel in den kolonialen Besitzungen. Freilich beschränkten sich die lebensgefährlichen Waffen nicht mehr auf Säbel oder Karabiner: Bei „Strafexpeditionen“ avancierte seit den 1890er Jahren das „Maxim“-Gewehr, also maschinelles Schnellfeuer, zum Instrument wie Symbol der herrschenden Tötungsgewalt. Die Polizei folgte dem militärischen Organisations- und Einsatzmuster. Folgerichtig markierte das Massaker in seiner flächendeckenden Blindheit für einzelne Personen (seien es Verdächtige oder ,Feinde‘) die Bruchlinie zwischen den Herrschenden und den Besiegten; sie war an brutaler Eindeutigkeit kaum zu übertreffen.
Dennoch zeigt sich selbst in dieser Zweipoligkeit kein eindeutiges Profil kolonialer Gewalt. Die Unschärfe tritt besonders dann hervor, wenn es nicht um die scheinbar klassischen Kolonial-Räume und -Fälle in außereuropäischen Territorien geht. So hat Christopher Browning an Beispielen aus der Eroberungs- und Besatzungspolitik der Nationalsozialisten betont, wie wesentlich die Unterscheidung zwischen kolonialem und metropolitanem Raum für die Akteure der Gewalt im Nationalsozialismus war. Im „Reichsgebiet“ behandelten Schutzpolizisten offenbar die Ausgegrenzten - im konkreten Fall: „Nicht-Arier“ - weniger brutal und mitunter ausdrücklich ,ziviler‘ als in den Teilen Polens, die nach 1939 besetzt oder annektiert waren. Diese Gebiete sollten kolonisiert werden.1
Der örtliche wie der räumliche Bezug sind wesentlich. Allerdings erfordern sie vermehrte Nahsicht, um die Differenzen von Alltagswirklichkeiten wahrzunehmen. Nicht Staaten und ihre Grenzen, sondern Regionen, Landschaften, aber auch einzelne Dörfer oder Stadtteile zeigen offenbar Unterschiede - in der Metropole wie der kolonialen ,Provinz‘. So wohnten im London der Wende zum 20. Jahrhundert die „Barbaren“ in East London und die „Herren“ in Highgate. Damit wird eine Parallele erkennbar, bei der beispielsweise der preußische Militärstaat und der englische Kolonial-Imperialismus deutliche Ähnlichkeit zeigen: Hier wie dort machten die obrigkeitlichen Akteure wiederholt Anleihen bei den Verfahren in eigenen oder fremden außereuropäischen Kolonien, wenn es ,zu Hause‘ um die Polizierung der „gefährlichen Klassen“ von Besitzlosen und (Besitz-)Armen ging. Das meinte Gewalteinsatz, schloss aber Infrastruktureingriffe (Wohnungsbau, Nachbarschafts- und Familienkonzepte) nicht aus - auch hier mit Anleihen bei kolonialen Modellen oder Praktiken. Dass diese ihrerseits bereits eine Melange waren - beispielsweise aus East London und (südafrikanischem) Durban - unterstreicht Wechselbeziehungen, die freilich asymmetrisch waren und blieben.2
Insofern war die Selbst-Entgrenzung, wie sie die Praxis kolonialer Herrschaftsgewalt kennzeichnet,1 keineswegs auf außereuropäische Gebiete oder Situationen beschränkt. Auch im Selbstverständnis der Akteure war diese Differenz häufig sekundär. Nicht zuletzt begünstigten europaweit wirksame Konzepte einer „inneren Kolonisation“ zumindest zweierlei: die Vorstellung einer unüberwindlichen Schranke zwischen „us and them“ sowie die Entgrenzung von Gewalt. Dabei sind eigene Wege und damit Differenzen zwischen den (National-)Staaten vielfach überschätzt worden. In Preußen-Deutschland strebten manche offenbar eine „rassische Privilegiengesellschaft“ (Jürgen Zimmerer) an, zumindest gegenüber Polen, Kaschuben, Ruthenen - überhaupt gegenüber slawischen Menschen und Menschengruppen „aus dem Osten“. Überblendungen kolonialer und metro- politaner Herrschaftspraktiken zeigen sich aber auch in der gewalttätigen Beharrlichkeit, mit der Agenturen des französischen Zentralstaates im frühen wie im späteren 19. Jahrhundert „Bauern zu Franzosen“ machten.2 Die Diskriminierung von Bretonen, Provenzalen und Elsässern im „Mutterland“ selbst war von jener arroganten Missachtung geprägt, die man gegenüber Einheimischen in den außereuropäischen Besitzungen nicht erst ,neu lernen‘ musste.
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