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Die Straße beherrschen, die Stadt beherrschen. Sozialraumstrategien und politische Gewalt im Ruhrgebiet 1929-1933

Am Morgen des 16. Oktober 1932 befanden sich die ausgedehnten Arbeiterquartiere der Dortmunder Nordstadt in heller Aufregung - von Süden kommend näherten sich mehrere Kolonnen uniformierter SA-Männer, insgesamt etwa 800 Nationalsozialisten, die von einigen Hundertschaften Polizei begleitet wurden.1

Am Vorabend hatte die NSDAP in einer öffentlichen Versammlung die „Wiedereroberung“ des „roten Nordens“ angekündigt. Nicht zufällig fand diese Veranstaltung in der Gastwirtschaft „Börse“ am Viehmarkt statt, also in unmittelbarer Nähe des bevorzugten Versammlungsplatzes der Kommunisten - nicht nur das Vorhaben selbst, auch der Ort seiner Verkündung stellte also eine ungeheure Provokation dar. Als sich die Nationalsozialisten am folgenden Sonntagmorgen sammelten und auf den Weg in Richtung Norden machten, wurden sie dementsprechend bereits erwartet: Die Häuserschutzstaffeln der KPD waren alarmiert, um die Invasion der „Faschisten“ abzuwehren. Zahlreiche Menschen versammelten sich auf den Straßen - aus Neugier, aus Furcht oder um sich der SA entgegenzustellen. Nachdem sie in ihrem Zielgebiet eingetroffen waren - offiziell, um Flugblätter zur kommenden Reichstagswahl zu verteilen - setzten die Nationalsozialisten alles daran, die ohnehin angespannte Lage eskalieren zu lassen: Einzelne Trupps drangen in Häuser ein, belästigten Passanten und zettelten Schlägereien an. Verbale Auseinandersetzungen spitzten sich zu, schließlich flogen Steine.

Nachdem eine SA-Kolonne beschossen und zwei Männer schwer verletzt worden waren, entwickelte sich eine regelrechte Straßenschlacht, bei der die SA allerdings nur noch eine Nebenrolle spielte: Im unübersichtlichen urbanen Terrain flammten an verschiedenen Stellen Kämpfe zwischen Polizisten und Kommunisten auf, bei heftigen Schusswechseln wurden zwei Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt. Unter den Getöteten befand sich auch eine unbeteiligte junge Frau, die von einer Polizeikugel getroffen wurde, als sie aus dem Fenster 1

ihrer Wohnung schaute. Der Dortmunder Norden kam erst zur Ruhe, nachdem die Polizei die SA-Kolonnen zusammengefasst und aus den proletarischen Vierteln hinaus eskortiert hatte.

Obwohl dieser Abgang alles andere als ruhmreich erscheint, feierte die NS- Presse die Ereignisse als großen Sieg.1 Tatsächlich hatte die Dortmunder SA unter Beweis gestellt, dass sie dazu in der Lage war, die halbe Stadt in Angst und Schrecken zu versetzen. Obwohl von der angekündigten Eroberung des Nordens weit entfernt, handelte es sich nach den Maßstäben der Nationalsozialisten um einen symbolträchtigen Erfolg. Auch die Kommunisten verkündeten stolz einen Sieg auf der ganzen Linie: Sie hatten im „Dortmunder Wedding“ ihre Herrschaft behauptet und die „Faschisten“, also SA und Polizei, verjagt.2

Auf Seiten der Dortmunder Polizei jedoch gab es keinerlei Anlass zur Freude. Trotz eines beträchtlichen Kräfteansatzes war es nicht gelungen, Ruhe und Ordnung auf den Straßen zu gewährleisten. Im Gegenteil: Der „Dortmunder Blutsonntag“ verstärkte vielmehr den Eindruck, dass die Polizei die Kontrolle über Teile der Stadt verloren hatte. Um diesem Anschein entgegenzuwirken, rückten am folgenden Morgen erneut mehrere Hundertschaften Polizei in die Nordstadt ein und durchkämmten sie. Diese Razzia verfolgte weniger den Zweck, tatsächlich Waffen zu finden oder Heckenschützen zu verhaften, es handelte sich vielmehr um einen Akt symbolischer Gewalt, der den Bewohnern des Aufruhrgebiets schockartig die Überlegenheit der Staatsmacht vor Augen führen sollte.3 Die großangelegte Aktion ist also als Versuch der Polizei zu verstehen, sich eines verloren geglaubten Terrains rasch wieder zu bemächtigen und so dem eigenen Gewaltmonopol erneut Geltung zu verschaffen.

Ausgehend von den Ereignissen des 16. Oktober 1932 möchte ich im Folgenden die Macht- und Straßenkämpfe in der Ruhrgebietsmetropole Dortmund, einer Gewalthochburg der frühen 1930er Jahre, untersuchen. Dabei knüpfe ich zum einen an eine Reihe wichtiger Studien an, die im vergangenen Jahrzehnt zur politischen Gewalt in der Weimarer Republik erschienen sind4, setze aber zum anderen sowohl in regionaler als auch in konzeptioneller Hinsicht neue Schwerpunkte. Während sich die einschlägige Forschung zumeist auf die Perspektive der Militanten auf beiden Seiten des politischen Spektrums konzentriert und den Staat, obwohl in Gestalt seiner Polizisten zentraler Akteur, tendenziell en passant behandelt, ist es das Anliegen dieses Beitrags, die Polizei stärker in die Analyse politischer Gewalt einzubinden. Im Mittelpunkt stehen also die Gewaltstrategien und -praktiken von Polizisten, Kommunisten und Nationalsozialisten in ihrer gegen- und wechselseitigen Bedingtheit. Besondere Bedeutung kommt dabei der sozialräumlichen Dimension der Auseinandersetzungen zu.5 Da diese markante territoriale Signatur eine Konsequenz der zunehmenden Politisierung des öffentlichen Straßenraums in der Moderne war, bildet das Konzept der Straßenpolitik

den Ausgangspunkt meiner Überlegungen.1

Straßenpolitik

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts veränderten die Straßen der Städte sowohl ihre Funktion als auch ihre Bedeutung: Sie entwickelten sich vom Ort sozialer Kommunikation zum Ort politischer Artikulation und Mobilisation, vom Ort herrschaftlicher Repräsentation zum Ort politischer Manifestation und Konfrontation.2 In der „Politik-Arena“ Straße3 wurde nun um die Macht im Staat und die Gestaltung des politisch-sozialen Systems gekämpft. Straßenpolitik, verstanden als breites Spektrum physisch-symbolischer Auseinandersetzungen auf der Straße und um die Straße, vollzog sich als Konflikt zwischen einerseits dem Staat und seinen Institutionen und andererseits denjenigen sozialen Gruppen, die von der Teilhabe an der Herrschaft ausgeschlossen waren.4 5 Dementsprechend ist also zwischen einer Straßenpolitik von oben und einer Straßenpolitik von unten zu unterscheiden.

Der Staat verfolgte zwei wesentliche straßenpolitische Ziele: Zum einen diente ihm der Straßenraum zur Repräsentation und Visualisierung von Macht, indem beispielsweise eine an obrigkeitlichen Inszenierungsbedürfnissen orientierte bauliche Gestaltung vorgenommen oder aber bei Militärparaden das staatliche Gewaltpotential vorgeführt wurde.11 Zum anderen strebte die Obrigkeit nach der alltäglichen Kontrolle des Straßenraums. Zu diesem Zweck setzte der Staat seine Gewaltmittel - vor allem seine Polizeikräfte - ein, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, die Bevölkerung zu disziplinieren und somit gleichzeitig eine potentielle Opposition niederzuhalten.6 Dem staatlichen Willen zur Suprematie stellte sich eine Straßenpolitik von unten entgegen, die ebenfalls zwei Dimensionen aufweist. Erstens handelt es sich um die Summe zahlreicher vor- bzw. nur implizit politischer Straßenereignisse und -zusammenstöße zwischen Angehörigen städtischer Unterschichten und der Polizei, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie dem staatlichen Machtanspruch auf die Straße zuwiderlaufende Interessen artikulieren.7 Zweitens beinhaltet Straßenpolitik von unten kollektive und direkte Aktionen mit explizit politischen Zielen, die sich vor allem durch den Grad ihrer Gewalthaftigkeit unterscheiden. Es kann sich also sowohl um revolutionäre Straßengewalt als auch um friedliche Straßendemonstrationen handeln.8

Straßenpolitische Akteure streben also danach, den öffentlichen Raum zu besetzen oder zu behaupten - und folgen dabei symbolpolitischen Strategien. Vor

diesem Hintergrund vollzieht sich Straßenpolitik stets als Terrainkampf, der beispielsweise bereits während der Revolution von 1848/49 oder im Rahmen der preußischen Wahlrechtskämpfe zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu beobachten ist.1 Nach dem Ersten Weltkrieg spitzten sich die Konflikte um die öffentliche Repräsentation von Macht und Stärke zu. In Gestalt der kommunistischen und faschistischen Bewegungen formulierten neue Akteure neue Ziele und etablierten neue Methoden zu deren Erreichung. Es galt, das Straßenbild nicht nur mit Flaggen und Plakaten zu beherrschen, sondern auch und vor allem durch (uni-) formierte physische Präsenz.2 Diese „zunehmende Visualisierung, Dramatisierung und Gewaltaufladung des Politischen“3 in Verbindung mit dem Auftreten neuer, untereinander konkurrierender sozialer Bewegungen veränderte die straßenpolitischen Rahmenbedingungen nachhaltig. Staat und Polizei waren herausgefordert, auf diesen fundamentalen Wandel zu reagieren.

Die polizeiliche Durchdringung des Ruhrgebiets

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand im Rahmen eines beispiellosen Prozesses das Ruhrgebiet, ein industrieller Ballungsraum ersten Ranges, der durch eine zutiefst polarisierte Gesellschaftsstruktur gekennzeichnet war. Das daraus resultierende Konfliktpotential - und die entsprechenden Ordnungsprobleme - waren von Bürgertum und Obrigkeit schon früh als enorme Sicherheitsrisiken identifiziert worden. Konsequenterweise begleitete der preußische Staat die industrielle Expansion mit einem sukzessiven Ausbau der Polizei, die als „Disziplinierungsagentur“4 für die Industriebevölkerung fungieren sollte.

Um eine möglichst weitreichende Überwachung zu gewährleisten, wurden die Städte des Ruhrgebiets seit dem späten 19. Jahrhundert mit einem flächendeckenden System von Stützpunkten und Beobachtungsposten überzogen. Dieser Ausbau der polizeilichen Infrastruktur bedeutete eine strategische Durchdringung des öffentlichen Raumes, die sowohl sicherheits-, als auch symbolpolitischen Erwägungen folgte.5 So scheuten die staatlichen Polizeiverwaltungen des Ruhrgebiets in den 1920er Jahren weder Mühen noch Kosten, sich durch repräsentative, moderne und funktionale Bauvorhaben als ebenso machtvolle wie moderne Behörden zu inszenieren.6 Vor diesem Hintergrund erinnerten die neu errichteten Polizeiämter und Polizeipräsidien in ihrer architektonischen Gestaltung an Festungen und führten so einer potentiell renitenten Bevölkerung den Herrschaftsanspruch des Staates symbolisch vor Augen. Dementsprechend war es kein Zufall, dass die Dortmunder Polizei im Jahr 1928 eines der modernsten

Polizeigefängnisse Europas am Viehmarkt errichten ließ, also im - symbolischen, nicht geographischen - Zentrum des von den Kommunisten dominierten Nordens der Stadt.1

Im nördlichen Stadtgebiet Dortmunds ballten sich, eingerahmt von gewaltigen Hütten- und Stahlwerken und zahlreichen Zechen, dicht besiedelte Arbeiterquartiere, die insbesondere in den 1920er Jahren eine fortschreitende Tendenz zur Deklassierung und Verelendung aufwiesen. Bedingt durch jahrelange öffentliche Vernachlässigung und schwere sozioökonomische Krisen staute sich ein Frustrationspotential an, dessen Folgen in einer deutlich erhöhten Kriminalitätsrate und einer verstärkten Tendenz zu politischem Radikalismus bestanden.2

Die Dortmunder Nordstadt, als sozial prekär und politisch unzuverlässig stigmatisiert, wurde sehr viel stärker poliziert als andere Bezirke der Stadt: Während sich in vergleichbaren Vierteln in Süden, Westen oder Osten der Stadt jeweils ein Polizeirevier befand, war die Zuständigkeit für den Norden auf vier Reviere aufgeteilt.3 Ausgehend von diesen Basen spannte die Polizei ein engmaschiges Netz von Posten und Streifen auf, deren dichte Präsenz ein hohes Maß an Kontroll- und Präventionskapazität gewährleisten sollte. Diese „kleinräumige revierzentrierte und fußstreifengestützte Organisationsform“4 implizierte ein permanentes Konfliktpotential, da die Bewohner der als Ordnungs- und Sicherheitsrisiko eingestuften Viertel die patrouillierenden Polizisten als stetige Provokation wahrnahmen. In einer Arbeitergegend wie dem Hoeschviertel rund um den Borsigplatz bestand für einschreitende Polizisten stets die Gefahr, dass sich die Polizierten solidarisierten.

Die Folge konnten spontane Gewaltausbrüche sein. So sah sich eine Polizeistreife am Abend des 4. Juli 1930 in der Borsigstraße plötzlich mit einer Menge von fast 2.000 Menschen konfrontiert, die für einen jungen Arbeiter Partei ergriff, den die Beamten kurz zuvor wegen einer Tätlichkeit festgenommen hatten und nun zur Wache bringen wollten. Als ein Überfallkommando sowie acht Beamte des 6. Reviers mit Gummiknüppeln eingriffen, eskalierte die Situation, es flogen Steine und Bierflaschen aus der Menge und aus den Fenstern. Mehrere Beamte wurden abgedrängt und umzingelt. Erst als die Polizei Schreckschüsse abgab, liefen die Menschenmassen auseinander. Zwei Polizisten wurden durch Steinwürfe leicht verletzt.5

Vor dem Hintergrund solcher latenten Alltagsrisiken, aber auch der aus den frühen 1920er Jahren stammenden Bürgerkriegserfahrung, begriffen die Polizisten ihren urbanen Einsatzraum vorwiegend als potentiell feindliches Terrain, das es systematisch zu befrieden galt. Dessen alltägliche Durchdringung folgte exakten Regularien, d. h. ausgefeilten Streifenplänen, deren unbedingte Einhaltung streng kontrolliert wurde. Dem disziplinierenden Auftrag entsprach also ein rigides internes Disziplinierungsregime im täglichen Dienstbetrieb.6 Die strikte

bürokratische Routine staatlicher Straßenpolitik konterkarierte die in der zeitgenössischen Polizeitheorie immer wieder betonte Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit, zu der die Polizisten erzogen werden sollten.1

Der Versuch, den öffentlichen Raum möglichst planmäßig zu durchdringen, begrenzte zudem die Erfolgschancen der Polizeiarbeit, da es angesichts der genau zu befolgenden Vorgaben kaum Möglichkeiten gab, auf unerwartete Vorkommnisse zu reagieren. Dennoch galt die disziplinierte Straßenpräsenz der Polizisten als Schlüssel zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung, da sie nicht nur staatliche Allgegenwart suggerierte, sondern der Öffentlichkeit auch ein bestimmtes Bild der Polizei vermittelte. Die „körperliche Rhetorik“2 des straffen, sauberen und korrekt uniformierten Polizisten diente als Ausweis seiner inneren, soldatischen Haltung. Nachlässigkeiten in Kleidung oder Hygiene deuteten nach dieser tief in der Gesellschaft verankerten Sichtweise hingegen auf Charakterschwäche hin.3

Während also im Falle eines Polizisten der perfekte Zustand seiner Uniform auf seine moralische Integrität, Autorität und Legitimation verwies, wurde das verwahrloste Äußere eines Arbeitslosen als Ausdruck der durch ihn verkörperten Gefährdung der Prinzipien von Sicherheit und Ordnung gedeutet. In den Augen eines entsprechend sozialisierten Polizisten wurde der Deklassierte so schnell zum Lumpen, den normengerecht zu behandeln überflüssig war. Dies verweist auf ein wesentliches Kennzeichen der Polizei im Ruhrgebiet in der Zwischenkriegszeit: Polizisten nahmen die Wirklichkeit durch den Filter eines dichotom angelegten Weltbildes wahr und entwickelten eine spezifi sche Sichtweise des pauschalen Verdachts. Sie unterteilten ihr Gegenüber anhand bestimmter Merkmale wie Wohnsitz, Aussehen etc. in „normal“ bzw. „abweichend“.4 Ganze Stadtviertel, komplette soziale Gruppen wurden auf diese Weise generalisierend als verdächtig definiert.5 Derartige kategorische Perzeptionen und kulturelle Dispositionen6 führten zu festgefahrenen Handlungsmustern, das heißt zu vorgeblich bewährten und für die entsprechende Klientel als angemessen betrachteten Praktiken. Da die Defi nitionsmacht eines Polizisten, d. h. seine „sozial vorstrukturierte Chance, eine Situation für andere verbindlich zu definieren“7, weit über seine rechtlich abgesicherten Kompetenzen hinausgeht, sind ihm im Rahmen seines dienstlichen Handelns weit gefasste Spielräume ermöglicht. In der Konsequenz mussten Angehörige der stigmatisierten Gruppen im Umgang mit der Polizei deutliche Nachteile in Kauf nehmen, insbesondere auch weil ihre potentielle Beschwerdemacht gering war.8

Polizeiliche Vorurteile und Feindbilder rekurrierten nicht nur auf soziale bzw. sozialräumliche Deutungsmuster, sie waren auch weltanschaulich ak

zentuiert. Vor allem aus den Wirren der Nachkriegszeit, insbesondere aus den Märzkämpfen von 1920 und den ersten Monaten des Ruhrkampfs 1923, bezog die Polizei des Ruhrgebiets ein nahezu unerschöpfliches Arsenal an Mythen und Erzählungen.1 Diese kollektiv geteilten stilisierten Erinnerungen an die Nahvergangenheit überhöhten und heroisierten zum einen den polizeilichen Kampfeinsatz, zum anderen dämonisierten sie den Gegner, also die „Roten“ bzw. die „Bolschewisten“: Diese hätten sich durch eine ausgesprochen hinterhältige und grausame Kampfesweise ausgezeichnet.2

Solche Deutungsmuster prägten sich nicht nur bei den direkt beteiligten Polizisten aus der Front- und Freikorpskohorte ein - sie wurden von diesen älteren Beamten auch an ihre jüngeren Kameraden weitergegeben. So festigte sich nicht nur das soldatische Selbstverständnis innerhalb der Polizei, es vererbten sich auch Feindbilder, deren Wirksamkeit durch die polizeilicher Wahrnehmung inhärente Tendenz zur Stereotypisierung begünstigt wurde. Mithin wirkte die Erinnerung an die Auseinandersetzungen aus der Frühphase der Republik auch ein Jahrzehnt später handlungsleitend. In Verbindung mit den in der Ausbildungspraxis und auf informellen Wegen implementierten Vorstellungen über wehrhafte Männlichkeit und einer nur oberflächlich gezügelten Gewaltbereitschaft ergab sich eine spezifische kriegerische Mentalität. Geführt von Polizeioffizieren, die der Republik aus einem militärisch geprägten Selbst- und Weltbild heraus überwiegend ablehnend gegenüber standen3, operierten zu Beginn der 1930er Jahre nicht nur die in Krieg und Nachkrieg antibolschewistisch imprägnierten älteren Schutzpolizisten, sondern auch die Angehörigen der jüngeren Polizistenkohorte, die in den Polizeibereitschaften Dienst taten, im mentalen Bürgerkriegsmodus. Ihre straßenpolitische Praxis folgte mithin nicht ausschließlich den Vorgaben von oben, sondern besaß eine eigene Dynamik, die regelmäßig in Überschreitungen und exzessive Misshandlungen mündete.

Am 22. Juni 1930 beispielsweise wurden im Anschluss an eine gewalttätig verlaufene Demonstration in Dortmund mehrere Kommunisten im Hof des 5. Polizeireviers, wegen seiner Lage am Steinplatz als „Steinwache“ bekannt und nach 1933 als Gestapogefängnis und „Hölle Westdeutschlands“ berüchtigt, derart zusammengeschlagen, dass ein unbeteiligter Zeuge von Szenen „unbeschreiblicher Bestialität“ sprach.4 Auch berichtete die liberale Presse mit beißender Ironie von den „Heißspornen“ in der Polizei, „die eine frischfröhliche Attacke gerne mitmachen“, wenn es gegen die Kommunisten gehe.5 Vor allem aber starben in den letzten drei Jahren der Republik in Deutschland 170 Kommunisten und zahlreiche Unbeteiligte durch Polizeiwaffen, die den Faschismus-Thesen der KPD so traurige Plausibilität verliehen.6

Mit ihrer Kombination aus martialischen Männlichkeitsbildern, Imaginationen soldatischer Kameradschaft und klaren Feindbilder stand die gelebte Polizis-

tenkultur1 in einem diametralen Gegensatz zu den zivilen und demokratischen Leitbildern offizieller preußischer Polizeipolitik.2 In deren Mittelpunkt stand das Idealbild milden und angemessenen polizeilichen Handelns, getragen von Beamten, die sich, so der Bochumer Polizeipräsident Georg Stieler, als „Freund und Berater der Bevölkerung, [als] Vertrauensmann für jeden Volksgenossen“3 verstehen sollten. Die Idee einer modernen „wahren Volkspolizei“4, die vor allem mit dem preußischen Innenminister Carl Severing und seinem Staatssekretär Wilhelm Abegg verbunden ist, wurde in der Mitte der 1920er Jahre, vor allem in Gestalt der Großen Berliner Polizeiausstellung von 1926, offensiv an die Öffentlichkeit getragen. In der polizeilichen Praxis jedoch waren diesem „Freund-und- Helfer“-Konzept enge Grenzen gesetzt.

Kommunistische Straßenpolitik

Eine frappierende Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit kennzeichnete auch die Kommunisten im Ruhrgebiet, erstens hinsichtlich ihrer organisatorischen Stärke und zweitens in ihrer Gewaltstrategie und ihren straßenpolitischen Praktiken. Auf den ersten Blick musste die KPD den Zeitgenossen gerade im Ruhrgebiet als kraftstrotzende Organisation erscheinen - je nach Standpunkt, als enorme Bedrohung für die bestehende Ordnung oder als verlässliche Garantin einer besseren Zukunft. Bei den Wahlen zu Beginn der 1930er Jahre etablierte sich die KPD in vielen Städten des Ruhrgebiets als stärkste Partei. Allein in Dortmund wählten am 6. November 1932 fast 100.000 Menschen kommunistisch - die Stadt erwies sich somit neben Berlin und Gelsenkirchen als bedeutendste Hochburg der KPD.5

Die tatsächliche Schlagkraft der Kommunisten im Bezirk Ruhrgebiet entsprach jedoch weder ihren beeindruckenden Wahlerfolgen noch ihrer beträchtlichen Mitgliederzahl von etwa 30.000 Menschen.6 So charakterisierte im März 1932 ein Mitglied der KPD-Bezirksleitung in Essen seine Partei wie folgt: „Nach außen mächtige Fassaden und innen hohl.“7 Eine tatsächliche Massenbasis in den Betrieben konnte ebenso wenig geschaffen werden, wie es gelang, die sehr volatile Mitgliederschar dauerhaft zu binden.8 Dieses Problem betraf insbesondere die kommunistischen Wehrorganisationen wie den „Kampfbund gegen den Faschismus“ (KBF) oder den „Roten Massenselbstschutz“.9 So wird die beachtliche Zahl von etwa 3.100 kommunistischen Kampfbündlern in Dortmund Ende

19311- dies bedeutete zu diesem Zeitpunkt eine mehr als dreifache Überlegenheit gegenüber der SA - durch eine hohe Fluktuationsrate relativiert. Zudem versäumte es die KPD, die potentielle Militanz ihrer Anhänger effektiv zu organisieren: Statt in Nachfolge des 1929 verbotenen Rotfrontkämpferbundes (RFB) eine neue einheitliche Parteiarmee zu bilden, verzettelten sich die Kommunisten in diversen Parallelgründungen. Auch die illegalen Strukturen der Partei, der legendenumwobene „Apparat“, litten an mangelnder Koordination.2 In dieser organisatorischen Schwäche wurzelte die strukturelle Unterlegenheit der kommunistischen Kampfbünde gegenüber der SA.3

Sowohl die Geheimorganisationen als auch die offiziellen Wehrverbände der KPD bildeten dennoch einen fruchtbaren Nährboden für kontrollierte und unkontrollierte Gewalt gegen den „faschistischen“ Gegner. Dies hing vor allem mit ihrer jeweiligen subkulturellen Beschaffenheit zusammen. In den illegalen Strukturen dominierten kommunistische Kader, die sich dem „Ideal des harten, selbstlosen, bolschewistischen Berufsrevolutionärs“4 verpflichtet sahen und somit die Notwendigkeit von Gewaltausübung internalisiert hatten. Erwerbslosenkolonnen, Massenselbstschutz und KBF rekrutierten sich überwiegend aus jungen Arbeitslosen mit Zeit und Freiräumen, um sich in den politischen Kampf zu stürzen - die einen hatten dabei eine vermeintlich bessere Zukunft im Sinn, andere suchten das Gemeinschaftserlebnis oder aber eine halbwegs gesicherte Versorgung in der Gegenwart, die die paramilitärischen Ableger von KPD und auch NSDAP versprachen.5

Dementsprechend war die Gewalttätigkeit dieser jungen Männer keineswegs nur an politische Ziele gekoppelt, sondern stellte auch eine verlockende Möglichkeit dar, die Grenzen alltäglichen Verhaltens zu überschreiten und so als Ventil für den eigenen Frust zu dienen.6 Dabei folgten die kommunistischen Straßenkämpfer sozialräumlichen Vorstellungen. Es ging ihnen darum, bestimmte Straßenzüge und Stadtviertel, ihr Revier, gegen den Feind zu behaupten. Der Feind waren die „Faschisten“, zu denen neben den Kapitalisten und der Sozialdemokratie insbesondere die SA und die Polizei als Träger „faschistischer“ Gewalt zählten. Im Falle der Polizei verband sich die Faschismusanalyse der Komintern mit dem glühenden, oftmals auf vorpolitischen Motiven fußenden Polizistenhass vor Ort, der auf eine jahrzehntelange Geschichte von Konfrontation und Konflikt zurückging. Somit korrespondierten die Wahrnehmungsmuster auf Seiten der Polizei mit den Feindbildern der Arbeiterbevölkerung, die die staatlichen Sicherheitsorgane vor allem als Kontroll- und Disziplinierungsagentur der Obrigkeit wahrnahm. Nach dem Ersten Weltkrieg verstärkte sich der Eindruck, es mit einer Besatzungsmacht zu tun zu haben. Mit dem Einzug schwer bewaffneter Formationen kriegserfahrener Veteranen in regelrechte Polizeikasernen wurden die Ruhrgebietsstädte ab 1919 gleichsam zur Garnison. Die Ereignisse des Frühjahrs

1920 vertieften die Gräben: Die enorme Brutalität der Kämpfe und die zahlreichen Opfer standen seitdem nicht nur zwischen der Polizei und ihren kommunistischen Gegnern, sondern auch zwischen der Polizei und weiten Teilen der Bevölkerung.1

Den staatlichen Ambitionen, die sozialräumliche Durchherrschung des Ruhrgebiets in den 1920er Jahren zu forcieren, stellte die kommunistische Straßenpolitik einen eigenen Gestaltungswillen entgegen. Die Partei und ihre Vorfeldorganisationen betrieben gezielt den Ausbau einer eigenen Infrastruktur, um ihren Anspruch auf bestimmte urbane Räume zu dokumentieren. Diese galt es als „Symbol und Manifestation kollektiv geteilter Werte und Gefühlslagen“2 unbedingt zu verteidigen. Das Ringen um die Straßen, die zugleich wesentlicher Bestandteil und symbolischer Träger einer ebenso sozial wie ideologisch fundierten Gruppenidentität waren3, fand als Symbolkampf statt: Wer seine Farben, Fahnen und Uniformen unangefochten auf der Straße zeigen konnte, beherrschte sie. Dementsprechend ging es den Kontrahenten sowohl darum, ihre Farben in das Terrain des Gegners zu tragen, als auch darum, den Gegner gerade daran zu hindern, auf diese oder auf andere Weise einen Herrschaftsanspruch auf das als eigenes Territorium verstandene Gebiet zu stellen.

Vor diesem Hintergrund gingen kommunistische Kampfgruppen in Dortmund in Hochzeiten politischer Auseinandersetzungen dazu über, den von ihnen reklamierten Norden der Stadt so weit wie möglich für Nationalsozialisten zu sperren. Dabei kam ihnen der Verlauf der Eisenbahntrassen und Bahndämme entgegen, die die Stadt zerteilen: Die kommunistischen Straßenkämpfer besetzten die wenigen Unterführungen. Indem sie dort weitgehend ungehindert von der Polizei Kontrollen durchführten, konnten sie die Präsenz uniformierter SA-Leute in der Nordstadt zeitweise unterbinden. Bedeutender als ihr tatsächlicher Effekt war die symbolische Dimension solcher Handlungen, mit denen die Kommunisten ihr Terrain absteckten und ihre durch die überforderte Polizei kaum einzudämmende Herrschaft unter Beweis stellten.4

Im Alltag dokumentierten die kommunistischen Straßenkämpfer ihre Dominanz durch regelmäßige nächtliche Überfälle auf Nationalsozialisten, die in der Nordstadt wohnten. Zwar versuchte die SA, ihre Männer zu schützen, meist jedoch vergebens. In der Nacht zum 6. Dezember 1930 begleitete ein Trupp von etwa 20 Männern zwei SA-Angehörige zu ihren Wohnung im Norden, die kurz zuvor einen ihrer Nachbarn, den sie für einen politischen Gegner hielten, krankenhausreif geprügelt hatten und nun Vergeltung fürchteten. Auf dem Rückweg geriet die Gruppe mit Kommunisten aneinander, es fielen Schüsse, ein Nationalsozialist wurde in den Kopf getroffen und starb am folgenden Tag.5 Die permanente Gefährdung führte dazu, dass zahlreiche exponierte SA-Leute ihre Wohnungen in der Nordstadt verließen.6

In ihrem Streben nach sozialräumlicher Dominanz erzielten die Kommunisten vor 1933 Erfolge, die ihnen bei ihrer doktrinären Strategie des „organisierten Massenkampfes“ versagt blieben.1 Während bei kommunistischen Massenaktionen, beispielsweise den Bergarbeiterstreiks von 1931 und 19322, der bombastische Organisationsaufwand in keinem Verhältnis zum Mobilisierungsertrag stand, profitierte die sozialräumliche Durchdringungspraxis von einem weitaus intensiveren Engagement der oftmals lokal verwurzelten Straßenkämpfer und deren Bedürfnis, Handlungsräume gegenüber Polizei und SA zu behaupten. Somit verfehlten die zentral angeordneten und gesteuerten Akte des „Massenterrors“, neben Streiks vor allem Erwerbslosenproteste und Hungermärsche, ihr Ziel.

In kleinräumigen Zusammenhängen vor Ort jedoch gelang es Kommunisten, die SA fast völlig aus dem Geschehen zu drängen und gleichzeitig das staatliche Gewaltmonopol erfolgreich zu torpedieren.3 Die Erfolge kommunistischer Straßenpolitik belegt ein Befehl des Kommandeurs der Dortmunder Schutzpolizei, Polizeioberst Karl Schneider, vom 2. Februar 1933, in dem es heißt: „Es darf nicht vorkommen, dass KPD-Anhänger sich in den engen Straßen der inneren Stadt als die alleinigen Herren betrachten.“4 Aus dieser Weisung geht zweierlei hervor: Zum einen die - wenn auch vorläufige - Akzeptanz der kommunistischen Herrschaft auf den Straßen der Außenbezirke, zum anderen das beachtliche Ausmaß, in dem sich die Polizei auf die Terrainkämpfe der Kommunisten eingelassen hatte: Offenbar ging es den staatlichen Organen nun vor allem darum, begrenzte Territorien zu behaupten. Den Anspruch, das Gewaltmonopol umfassend durchzusetzen, hatte die Dortmunder Polizei zu diesem Zeitpunkt aufgegeben.

Die SA im Kampf um die Straße

Während die Kommunisten verschiedene Schauplätze von Politik im Blick hatten, insbesondere den Betrieb, betrachteten die Nationalsozialisten stets die Straße als ihr zentrales Handlungsfeld: „Wir haben dem Marxismus beizubringen, daß der künftige Herr der Straße der Nationalsozialismus ist, genauso wie er einst der Herr des Staates sein wird.“5 Obwohl von einer verhältnismäßig schwachen sozialen Basis aus agierend, etablierten sich die nationalsozialistische SA in den frühen 1930er Jahren auch im Ruhrgebiet als treibende straßenpolitische Kraft. Trotz ihrer in gewissem Rahmen proletarischen Prägung fehlte es ihr zwar an Rückhalt im traditionellen Arbeitermilieu6, diesen Nachteil glich die SA jedoch durch organisatorische Stärke und bedingungslosen Aktivismus aus - ihre gelebte Gewalttätigkeit bestimmte die straßenpolitische Praxis des Nationalsozialismus.

In Gestalt des „Marxismus“ legte Hitlers SA-Befehl Nr. 1 ein klares Feindbild fest, gegen das sich die konkrete Gewalt zu richten hatte. Mit Erfolg - obwohl die proletarisch geprägte SA des Ruhrgebiets die bürgerlichen „Spießer“ aus den Gartenstädten und die „Systempolizei“ mit gleicher Inbrunst hasste wie die

Kommunisten, konzentrierte sie ihre Gewalttaten im Regelfall auf Kommunisten und Sozialdemokraten. Dies hatte den unschätzbaren Vorteil, dass die Nationalsozialisten ihre begrenzten Kräfte nicht im Kampf mit verschiedenen Gegnern verzettelten. Das konkrete Ziel bestand darin, die Macht in den Arbeitervierteln des Ruhrgebiets zu erringen, also beispielsweise im Essener Segeroth, im Gelsenkirchener Olgaviertel, rund um den Bochumer Moltkemarkt oder in der Dortmunder Nordstadt. Um die Territorien des Gegners symbolisch einzunehmen und dessen Vorherrschaft ins Wanken zu bringen, favorisierte die SA reichsweit das Mittel der propagandistisch inszenierten und flankierten Straßenaufmärsche, bei denen ihre Stürme, Sturmbanne und Standarten in proletarische Viertel zogen.1 Die braununiformierte Marschsäule, die in „rotes“ Terrain eindrang, erfüllte vier wesentliche Funktionen:

Erstens symbolisierte der einheitliche und formierte Marsch-Körper wesentliche Elemente der faschistischen Sinnwelten. Die ausgerichteten und uniformierten Männer bildeten gleichsam eine Metapher auf die imaginierte Volksgemeinschaft. Sie demonstrierten Dynamik, Stärke, Geschlossenheit und stehen somit in enger Beziehung zum faschistischen Bewegungskult. Gleichzeitig verbanden sich im Vormarsch auf die Hochburgen des politischen Gegners die für faschistische Bewegungen typischen Elemente symbolhafter und gelebter Gewalttätigkeit.2

Zweitens stabilisierte das Erlebnis des gemeinsamen Vorstoßes in eine feindliche Umgebung den NS-Kampfbund von innen, denn die „heroische“ Bewährung vor dem Feind stiftete Gemeinschaft und Sinn. Wenn es zudem gelang, aus der angedeuteten Gewalt des Marschierens in die tatsächliche Gewalt des Prügelns überzugehen, befriedigte dies die in ihrer erlebnisorientierten Binnenkultur angelegten Grundbedürfnisse der SA.3 Aus der Gewalterfahrung entstanden Geschichten, die, immer wieder aufs Neue erzählt und ausgeschmückt, Feind- ebenso wie Heldenbilder konstruierten. Vor diesem Hintergrund trug die militante Straßenpolitik der Nationalsozialisten wesentlich zur Erfindung einer heroischen SA-Tradition bei. Sie produzierte die Märtyrer und die Mythen, die für den faschistischen Totenkult konstitutiv waren. Dementsprechend bemühte sich die nationalsozialistische Propaganda um eine regelrechte Sakralisierung der SA-Straßengewalt.4

Drittens betrachteten die nationalsozialistischen Parteistrategen die Auf- und Einmärsche der SA als „eine der stärksten Propagandaformen“.5 Mit ihren Kolonnen im Gleichschritt marschierender und uniformierter Jungmänner knüpfte sie augenscheinlich an militärische Traditionen Deutschlands an, die in bürgerlichen Kreisen sehr geschätzt wurden: Neben dem jung-dynamischen Auftritt der SA wirkten die traditionellen deutschnationalen Wehrverbände und Kriegervereine eher behäbig.

Viertens trugen geschlossene SA-Formationen erheblich zur Eskalation der politischen Gewalt bei. Die symbolische Eroberung angeblich „marxistischer“ Straßenzüge schlug regelmäßig - wie am 16. Oktober 1932 in Dortmund - in blutigen Ernst um, da die Kommunisten nicht willens waren, SA-Invasionen in das von ihnen reklamierte Terrain tatenlos hinzunehmen. Dieses raumorientierte Gewaltpotential gezielt aktivierend, gelang es den Nationalsozialisten immer wieder, eine Spirale der Gewalt auszulösen, die Verantwortung dafür aber erfolgreich dem Gegner zuzuweisen. Zudem forcierten die von der SA provozierten Gewaltorgien den Eindruck, der Polizei sei die Kontrolle über den öffentlichen Raum entglitten und könne nicht mehr für Sicherheit und Ordnung garantieren. Somit diente sich die SA, die dem „roten“ Schreckgespenst scheinbar so mutig die Stirn bot, einem bürgerlich-konservativen Publikum als alternative antibolschewistische Schutzmacht an.1

In der Praxis waren diese von der zeitgenössischen NS-Literatur mythisch überhöhten Ereignisse allerdings nicht die Regel. SA-Aufmärsche im Ruhrgebiet und insbesondere in Dortmund waren selten und zudem oft erfolglos - trotz punktueller spektakulärer Aktionen wie am 16. Oktober 1932 waren die Straßenkämpfer des Nationalsozialismus in Dortmund weit davon entfernt, Arbeiterviertel durch geschlossen marschierende Formationen zu erobern.2 Der alltägliche Kampf um die Kontrolle der Straße wurde vor allem in Gestalt kleiner dimensionierter und sozialräumlich orientierter Gewaltakte geführt.3 Dabei beabsichtigten es die Nationalsozialisten zunächst, in Gestalt ihrer Sturmlokale feste Außenposten in den Arbeitervierteln zu etablieren. Solche Versuche erwiesen sich in Dortmund, aber auch in anderen Städten des Ruhrgebiets, vor 1933 als vergeblich.

Ab Ende 1930 drängten die Straßenkampfgruppen der Kommunisten die Nationalsozialisten systematisch aus der Dortmunder Nordstadt heraus. War es der SA bis dahin noch möglich, sich in Wirtshäusern im Norden oder in unmittelbarer Nähe zum Norden zu treffen, mussten die Nationalsozialisten schließlich in den Osten oder Süden der Innenstadt ausweichen.4 Der ursprünglich im Norden beheimatete SA-Sturm 83 verlegte im Jahr 1931 seinen Schwerpunkt an den Ostwall und machte die Gaststätte „Zur Wolfsschlucht“ zum neuen Sturmlokal.5 Da es also nicht gelingen mochte, sich in den klassischen Arbeitervierteln des Nordens dauerhaft festzusetzen, entschieden sich die Nationalsozialisten dazu, ihre Infrastruktur in weniger proletarisch geprägten Stadtbezirken auszubauen. Dabei konzentrierten sie sich vor allem auf den Osten der Innenstadt, ein sozial durchmischtes Viertel, in dem der Wählerzuspruch für die NSDAP sehr hoch war. Folgerichtig etablierten die Nationalsozialisten in den Jahren 1931 und 1932 ihre logistische Basis in dem Gebiet um Schwanenwall und Ostwall.6 In der

Nachbarschaft einschlägiger Sturmlokale richtete die NSDAP ihre Geschäftsstelle im Haus Schwanenwall 4 ein, an das seit Ende 1931 auch ein SA-Heim angeschlossen war. Nicht weit entfernt befanden sich zudem das Hauptquartier der SA-Standarte 98, die Zeugmeisterei sowie ein geheimes Waffenlager.1

Als Ballungsraum offizieller Einrichtungen und informeller Zentren des Nationalsozialismus wurde die östliche Innenstadt Dortmunds zur straßenpolitischen Kampfzone. Sowohl die Verkehrslokale als auch die kasernenartigen SA- Heime dienten den nationalsozialistischen Straßenkämpfern als Ausgangspunkt, um die Umgebung durch regelmäßige Gewaltakte in permanenter Unruhe zu halten und letztlich unter ihre Kontrolle zu bekommen.2 Darüber hinaus fühlten sich die Kommunisten herausgefordert, durch Angriffe auf die Basis der Nationalsozialisten ihre ungebrochene Macht unter Beweis zu stellen. Bereits wenige Tage nach Eröffnung des SA-Heims versuchten etwa 40 kommunistische Kämpfer, es am 8. Dezember 1931 zu erstürmen. Das Unternehmen artete in eine heftige Schlägerei aus und scheiterte letztendlich.3

Die Dortmunder SA beschränkte sich jedoch nicht nur darauf, das von ihr beanspruchte Terrain zu behaupten, sondern versuchte immer wieder, die Gewalt in das Gebiet des Gegners zu tragen. Nachdem sie bei frühen Einmarschversuchen im Jahr 1930 empfindliche Niederlagen eingesteckt hatte, konzentrierte sich die SA nun vor allem darauf, im Rahmen des „Versammlungskleinkriegs“4 gezielt an der Eskalation zu arbeiten. Da sie sich in einer Situation der strukturellen Unterzahl befand, vermied es die Dortmunder SA zumeist, Veranstaltungen des politischen Gegners gezielt zu stören.

Die Nationalsozialisten verlegten sich darauf, eigene Versammlungen als Plattform für eine berechnete Gewalteskalation zu nutzen. Indem sie die Orte der Auseinandersetzung bestimmte, verschaffte sich die SA so einen nicht zu unterschätzenden (Heim-)Vorteil. Zudem war es den Nationalsozialisten auf diese Weise möglich, das Geschehen selbst zu bestimmen. So bestanden bei Veranstaltungen in Außenbezirken oder umliegenden Kleinstädten weitaus günstigere Aussichten, denn auf diese Weise konnte die SA dem zahlenmäßig weit überlegenen und in Straßenkampf wie Saalschlacht erfahrenen Gegner in der Nordstadt aus dem Weg gehen. Motivierende Erfolgserlebnisse wurden so wahrscheinlicher. Wenn sie sich stark genug fühlten oder aber zu einem politisch opportunen Zeitpunkt - Wahlkampf, Gauparteitag - ein symbolträchtiges und öffentlichkeitswirksames Ereignis inszenieren wollten, verlegten die Nationalsozialisten ihre Saalveranstaltungen in den Norden - wie beispielsweise am Vorabend des 16. Oktober 1932. Dabei konnten sie darauf zählen, dass sich ihre sozialräumlich denkenden und handelnden Gegner provozieren lassen würden.5 Mit ihrer wachsenden Mitgliederzahl stieg im Laufe des Jahres 1932 auch das Selbstbewusstsein der Dortmunder SA, die ihre zuvor eher reaktiven Methoden der

Gewaltanwendung modifizierte und erweiterte. So wendete sie sich der Straßenkriegsführung in Gangstermanier zu: In der Nacht zum 9. August 1932 wurden an einer Straßenkreuzung in der Nordstadt aus einer vorbeifahrenden Limousine fünf Schüsse auf einen bekannten kommunistischen Kader abgege- ben - der Mann verblutete noch am Tatort.1 Für das Attentat war die Stabswache der Dortmunder SA verantwortlich, eine Truppe ausgesuchter SA-Männer, die gezielte Aktionen gegen politische Gegner durchführte.2

Angesichts der in der NS-Presse im Sommer 1932 immer wieder aufgegriffenen Vergleichen zwischen der Dortmunder Nordstadt und „Chikago“3, liegt die Vermutung nahe, dass die spektakulären Vorgänge während der Bandenkriege in der US-Gangsterhochburg das SA-Terrorkommando zu der Gewalttat aus dem Hinterhalt inspirierten. Der Mordanschlag vom 9. August blieb denn auch kein Einzelfall - bis zum Jahresende folgten zahlreiche weitere nächtliche Drive-by- Attacken auf Menschen wie auch auf Lokalitäten.4 Wie sich ein SA-Mann später erinnerte, durfte „sich die SA daraufhin im Norden nicht mehr sehen lassen“.5 Die Terrortaktik der SA trug also wesentlich dazu bei, dass sich die Konfrontationen zwischen den weltanschaulichen Gegnern in der zweiten Jahreshälfte 1932 zuspitzten. Wie sich am 16. Oktober 1932 zeigte, waren die Kommunisten wilder entschlossen denn je, alle Angriffe der SA zurückzuschlagen.

Eskalation 1932

Im Krisenjahr 1932 befand sich Dortmund stets hart am Rande eines echten Bürgerkriegs - in einigen Fällen wurde die imaginäre Grenze dieses Zustands tatsächlich überschritten. Politische Gewalt gehörte neben den drängenden Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situation zum bedrohlichen Alltag der Bevölkerung, der die Parteipresse der Kommunisten wie der Nationalsozialisten immer wieder die Inkompetenz des Staates vor Augen zu führen suchte: Der Polizei gelänge es nicht, Sicherheit und Ordnung zu garantieren, insbesondere nicht im Terrain des jeweiligen Gegners. Während also die NS-Zeitung „Rote Erde“ die „Chikago“-Verhältnisse im Norden anprangerte, beklagte sich die kommunistische Presse über ungehindert marodierende SA im Osten - beide Seiten kündigten an, die entsprechenden Viertel in naher Zukunft vom Gegner zu säubern.6

Die Zeitungskampagnen begleiteten eine Gewaltpraxis, die zum einen auf die unbedingte Behauptung des jeweils eigenen Territoriums zielte und zum anderen offensive Vorstöße in die feindlichen Viertel vorsah, um die Ansprüche des Gegners ad absurdum zu führen. Nicht nur Kommunisten und Nationalsozialisten
folgten diesem Aktionsmuster: Die Kampfbünde diktierten vielmehr auch der Dortmunder Polizei einen raumorientierten Handlungsrahmen. Wollte sie ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen, musste sie die Kontrolle über die von Kommunisten bzw. Nationalsozialisten reklamierten Viertel zurückgewinnen und dort ihr Gewaltmonopol durchsetzen. Die Konsequenzen lassen sich beispielhaft anhand der Gewaltereignisse am Schwanenwall im Frühjahr und Sommer 1932 vorführen.

Nach der Gründung des SA-Heims Ende 1931 wurde die östliche Innenstadt zu einem Schwerpunkt politischer Gewaltkriminalität. Bereits am 9. Februar 1932 wurde das institutionelle Zentrum der Dortmunder SA polizeilich geschlossen - den Anlass bot ein flüchtiger Doppelmörder, der dort Unterschlupf gefunden hatte, die tiefere Ursache jedoch lag zweifellos in der permanenten Herausforderung, die diese SA-Kaserne für die Polizei bedeutete. Die Adresse Schwanenwall 4 blieb aber weiter ein steter Unruheherd.1

In der erhitzten Atmosphäre der Wahlkämpfe im Frühjahr 1932 spitzte sich die Lage weiter zu und erreichte schließlich am 19. April 1932 ihren Kulmina- tionspunkt.2 Wenige Tage zuvor, am 13. April, war die SA verboten worden - diese Maßnahme sollte das zuletzt entschlossene Vorgehen seitens des preußischen Staates gegen die nationalsozialistische Parteiarmee konsequent abschließen.3 Allerdings galt es nun, dem administrativen Akt auf der Straße Geltung zu verschaffen. Dort verhielten sich SA-Angehörige nun gezielt provokativ, um ihrerseits die Wirkungslosigkeit des Verbots zu demonstrieren. Im Umkreis des Schwanenwalls musste das Überfallkommando der Dortmunder Polizei in den sechs Tagen nach dem 13. April elf Mal eingreifen, um Übergriffe der SA zu unterbinden. Polizisten, die in der östlichen Innenstadt auf Streife gingen, sahen sich zudem permanenten Beschimpfungen und Belästigungen seitens der Nationalsozialisten ausgesetzt.4 Am frühen Abend des 19. April schließlich sollte ein aus sieben Beamten bestehendes Überfallkommando eine Ansammlung von etwa 300 bis 350 Nationalsozialisten zerstreuen, die den Schwanenwall bevölkerten, Passanten anpöbelten und Polizeibeamte beschimpften. Die Räumungsaktion schlug schnell in eine regelrechte, anderthalbstündige Straßenschlacht um, in deren Verlauf die von den Nationalsozialisten mit Rufen wie „Bluthunde!“, „Feigling!“ oder „Schlagt den Hund tot!“ provozierten und entnervten Beamten ausgiebig von ihren Gummiknüppeln Gebrauch machten und dabei auch Unbe- teiligte trafen. Polizisten drangen zudem mehrfach in die NSDAP-Geschäftsstelle ein, die den nationalsozialistischen Straßenkämpfern als Refugium diente, und räumten diese schließlich in wenig zimperlicher Art und Weise, nachdem es dort zu - in amtlicher Terminologie - Widerstandshandlungen größeren Ausmaßes gekommen war.

Die Dortmunder Nationalsozialisten stilisierten sich im Nachgang zu Opfern von Polizeiwillkür und initiierten eine regelrechte Kampagne gegen die Polizei, an

deren Ende ein reichsweit als skandalös empfundenes Urteil gegen die beteiligten Beamten stand: Das Landgericht Dortmund schenkte den offensichtlichen Falschaussagen mehrerer Nationalsozialisten Glauben und verurteilte am 10. August 1932 acht Polizisten wegen Hausfriedensbruch und Körperverletzung im Amt zu mehrmonatigen Haftstrafen, die zugleich die Entlassung der Betreffenden zur Folge hatten. Diese tendenziöse Rechtsprechung verbesserte in den folgenden Monaten die Position der SA gegenüber der Polizei, die bei entsprechenden Einsätzen in Anbetracht eventuell drohender juristischer Konsequenzen gehemmt war.1

Jenseits des juristischen Nachspiels und dessen polizeipraktischen Konsequenzen demonstriert die „ Schwanenwall-Affäre“ vor allem den Zusammenstoß der sozialräumlich orientierten Gewalt der SA mit einem ebenfalls auf die Durchdringung und Behauptung von Räumen ausgerichteten Polizeikonzept, bei dem die Schutzpolizei an ihre Grenzen stieß. Trotz immensen Aufwandes gelang es der Dortmunder Polizei nicht, die östliche Innenstadt im Sommer 1932 unter Kontrolle zu bekommen. Vor allem nach der Aufhebung des SA-Verbots am 17. Juni 1932 konnte die nationalsozialistische Parteiarmee nicht daran gehindert werden, ihrem hegemonialen Anspruch durch ausufernde Gewalt Nachdruck zu verleihen, die sich vor allem gegen Kommunisten und Sozialdemokraten, aber auch vermehrt gegen Unbeteiligte richtete.2 Ohne von der Polizei gehindert zu werden, dominierten SA-Leute nicht nur das Straßenbild, sondern maßten sich auch Polizeibefugnisse an, indem sie wahllos Passanten durchsuchten. Parallel zur Vorherrschaft der Kommunisten im Norden, war es den Nationalsozialisten also gelungen, ein ganzes Stadtviertel zu durchdringen und dort das staatliche Gewaltmonopol erfolgreich zu unterminieren.

Die Situation am Ende des Jahres 1932 stellte sich in Dortmund wie folgt dar: Die Kommunisten konnten davon ausgehen, die Arbeiterviertel der Nordstadt, den „Dortmunder Wedding“, weitgehend uneingeschränkt zu beherrschen. Trotz wachsender Zustimmung fehlten aber die Kräfte, sich südlich der Bahndämme festzusetzen. Die Nationalsozialisten hatten sich im Osten der Stadt festgesetzt, waren aber bislang nicht in der Lage gewesen, das „soziale Gelände“3 der Arbeiterbewegung unter ihre Kontrolle zu bringen: Jahrelange Bemühungen hatten keine dauerhaften Stützpunkte in den Arbeitervierteln des Nordens erbracht, die „rote Hochburg“ Dortmund blieb vorerst ungeschleift. Auch die Straßenpolitik des Staates erwies sich in dieser Hinsicht als erfolglos: Im Kampf um die Straße war der Polizei die Initiative abgenommen worden. Zwar konnte die Polizei bei Großeinsätzen wie am 16. Oktober 1932 punktuell die Oberhand behalten, in einigen Stadtvierteln war es ihr aber nur noch eingeschränkt möglich, alltägliche staatliche Kontrolle auszuüben. Obwohl die Polizei einen beachtlichen Aufwand betrieb, um diese Situation zu ändern, konnten sowohl Kommunisten als auch Nationalsozialisten wachsende Freiräume erkämpfen. Der Autoritätsverlust fraß am Selbstbewusstsein der Polizisten.

Fazit

Um die Jahreswende 1932/33 schien die Machtstellung der Kommunisten in Dortmund ungefährdet zu sein, kaum vier Wochen später jedoch hatte sich die Lage fundamental zu ihren Ungunsten verschoben. Durch die Ernennung Hitlers zum deutschen Reichskanzler und Görings zum preußischen Innenminister fanden sich SA und Polizei plötzlich als straßenpolitische Partner im gleichen Lager wieder. Trotz teilweise heftiger Aversionen gegeneinander, die sich in Jahren der Konfrontation aufgebaut hatten1, begriffen beide Seiten die erzwungene Kooperation als Chance. Mit Unterstützung staatlicher Machtmittel konnte die SA nun darauf hoffen, ihre straßenpolitische Mission zu erfüllen und die „marxistischen“ Arbeiterviertel tatsächlich zu erobern. Die schmerzliche „Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ der SA schien so überwunden werden zu können.2

Auf Seiten der Polizei wiederum wurden die von den neuen Machthabern erheblich erweiterten Kompetenzen als Möglichkeit begriffen, dem eigenen Gewaltmonopol auch in „roten“ Vierteln wieder uneingeschränkt Geltung zu verschaffen: Niederlagen und Demütigungen aus der Vergangenheit konnten auf diese Weise vergessen gemacht werden. Diese Aussicht trug nicht unerheblich dazu bei, Verwirrung, Hilflosigkeit und Überforderung zu überwölben, die sich innerhalb der Polizei im Februar 1933 zunächst ausbreiteten, als in Gestalt der SA ein alter Feind als neuer Herr auftrat.3 Straßenpolitische Frustrationserlebnisse fanden ihr Ventil in einem beispiellosen Gewaltausbruch, der innerhalb weniger Wochen zur Zerschlagung der Arbeiterbewegung an Rhein und Ruhr führte.

Sowohl SA als auch Polizei wurden in ihren Aktionen also von Abrechnungsmentalität und Kompensationsbedürfnis geleitet. In dem Maße wie sich die SA-Praxis, befreit von jeglicher polizeilichen Kontrolle, brutalisierte, radikalisierte sich auch, befreit von jeglicher rechtsstaatlichen Kontrolle, das Handeln der Polizisten: Es galten nun Dinge als machbar, von denen so mancher Beamte wenige Wochen zuvor nur geträumt hatte. Willkürliche Verhaftungswellen und Razzien wurden zu den bevorzugten Instrumenten derart enthemmter polizeilicher Straßenpolitik. So bedeutete jede Razzia den plötzlichen Einfall Hunderter schwerbewaffneter Polizisten in ein abgesperrtes Gebiet, das sie Hand in Hand mit uniformierten SA-Männern nach Personen, Waffen oder Propagandamaterial durchkämmten.

Im Gegensatz zu republikanischen Zeiten, als es noch konkreter Anlässe für großangelegte Durchsuchungsaktionen bedurft hatte, war die Razzia nun beliebig wiederholbar und somit auch das mit ihr verbundene Schockerlebnis jederzeit reproduzierbar. Um die Kontrolle zurückerlangen, die sie vor 1933 partiell eingebüßt hatte, setzte die Polizei diesen Effekt gezielt ein. Die Niederlagen, die die Kommunisten so auf ihrem eigenen Terrain hinnehmen mussten, führten innerhalb kurzer Zeit zu ihrer vollständigen Demoralisierung.4 Indem der Staat

willkürlich Angst und Schrecken verbreitete, um die eigene Macht zu demonstrieren, adaptierte er die straßenpolitischen Methoden seiner vormaligen Gegner. Im Terrorfeldzug des Frühjahrs 1933 fanden also Straßenpolitik von oben und Straßenpolitik von unten zusammen.​


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