Staat und Staatsgewalt : Mehrfache Entgrenzungen?
Die Analyse von „Polizei“ konzentriert sich ebenso wie die von „Gewalt“ auf die Praktiken der historischen Akteure. Der Blick auf Verhalten und Handeln von Individuen oder Gruppen erfordert zugleich die Konzentration auf einzelne Situationen; zentral wird das Situative von Verhaltens- und Handlungsweisen. Das ist nicht nur eine Frage der Methode, von Mikroanalyse und Erkundung von Alltagswirklichkeiten. Denn zugleich geht es darum, eine Eigentümlichkeit des Sozialen wie des Historischen zu erschließen: Institutionen wie Verhaltensweisen sind ,wirklich‘ erst dann, wenn sie in diesem oder jenem Moment konkret und ,praktisch‘ (folgenreich) werden. Das Situative einer Polizeistreife oder Polizeiwache ist ihr ,Kern‘, bündelt alle Facetten der Institution, hier die der Polizei. Und gleichermaßen gilt: Gewalt wird erst im Moment ihres Ausübens wie ihres Erleidens tatsächlich ,Gewalt‘.
Ist aber nicht Staat eine jener Rahmungen, die (relativ) stabile Bedingungen wie Grenzen für Verhaltensweisen der Zugehörigen, aber auch der Ausgeschlossenen markiert? Staats-Gewalt und ihre Institutionen oder Agenten - überhaupt alle Gewalt, die Staatsangehörige erleiden oder ausüben, unterliegt dem Anspruch auf staatliche Setzung. Das gilt zumindest für die Formen des modernen Staates1, wie sie in europäischen Kontexten, aber auch weltweit seit der frühen Neuzeit - höchst ungleichmäßig - entfaltet wurden. Oder genauer: auch rechtsstaatliche Einhegung
hat den Anspruch auf staatlichen Letztentscheid bisher nicht berührt. Die Akteure auf den Kommandohöhen, ihre Untergebenen wie die (vielfach akademischen) Ideengeber beharren darauf. Und die Adressaten von Polizei und Verwaltung nehmen nicht nur hin oder fügen sich; sie erwarten offenbar nicht selten, fordern mitunter Regulierung, notfalls Machtspruch und „kurzen Prozess“.
In den letzten Jahren scheint hier freilich eine vierfache Veränderung, besser: Erweiterung erkennbar. Zum einen ist zumal nach den mörderischen Anschlägen von 9/11 in den USA (sowie vom März 2004 in Madrid und Juli 2005 in London) ein Konzept wieder präsent, das allen Bemühungen, die unbeschränkte Herrschafts- und Staatsgewalt frühmoderner Prägung einzuhegen, beharrlich entgegengesetzt wurde, das des Staatsnotstandes. Dieser Ausnahmezustand kenne kein rechtliches Gebot, sondern nur den Machtspruch des Souveräns, konkret: seines staatlichen Repräsentanten. - Zweitens wird nicht oder nicht mehr nur von Staat, sondern verstärkt von „Staatlichkeit“ gesprochen und geschrieben. In Wechselwirkung damit hat die Rede von der „governance“ seit den 1990er Jahren enorme Konjunktur. Hier wie dort geht es um das Aufweichen scheinbar festgefügter Grenzziehungen, um veränderte Gewichtungen von staatlicher und nicht-staatlicher „politische[r] Regelung gesellschaftlicher Zusammenhänge“1. - Zum Dritten haben Erkundungen zur Prägekraft und materialen wie kulturellen Eindringtiefe von Infrastrukturen die Debatte neu justiert: Was heißt staatliches Handeln und was bedeutet physischer Gewalteinsatz angesichts der Folgewirkungen und der Durchschlagskraft von Kraftwerken, Verkehrswegen oder Wasserleitungen - oder ihres Fehlens oder Verfalls? In diesem Feld jenseits der eingeschliffenen Staatskonzepte wird - viertens - ein Argument Michel Foucaults zunehmend beachtet, zumindest zitiert. Er hat vorgeschlagen, das Auftreten individueller Selbst-Sorge nicht bürgerschaftlicher Widerständigkeit zuzurechnen. Vielmehr zeige sich hier „gouvernementalite“, das heißt eine spezifisch moderne Steuerungsleistung der Regierenden.
Daran anschließend soll zum Abschluss gefragt werden, ob nicht - Staat hin oder her - die Akteurs- wie die Systemperspektive auf eigentümliche Weise immer wieder den Blick ,von oben‘ oder ,von außen‘ begünstigen oder gar erfordern. Was also würde es bedeuten, Erwartungen an und Hoffnungen auf „den Staat“ wörtlich zu nehmen? Sind Signale und Äußerungen einer „Liebe zum Staat“ vielleicht verstörend, aber dennoch begründet?
Staatsnotstand - Ausnahmezustand
Staat meint eine historisch spezifische Konfiguration. Zumindest seit dem 16. und 17. Jahrhundert ist in Europa feudale Herrschaft von staatlichen Regierungs- wie Durchsetzungsformen unterschieden worden. Staat nutzte (und meinte) Vorstellungen eines „gemeinen Besten“, in Abkehr von personalen Vorteilen oder Verpflichtungen. Prekär ist aber genau dies: dass Staat als Synonym für den Anspruch seiner Vertreter genommen wird, einer ,Sache‘ verpflichtet zu sein, die für ,alle‘
elte. Dennoch ist genau dieser Anspruch eine wirkmächtige Selbstbeschreibung moderner Staatlichkeit geworden.1
Die Unterscheidung von ,personalen‘ und ,sachlichen‘ Beziehungen war stets mehrdeutig und umstritten. Thomas Hobbes hatte in seinem „Leviathan“ Mitte des 17. Jahrhunderts die Projektion einer alles überragenden Ober-Gewalt, einer Übermacht entworfen, die „peace and defence“ durchsetzen würde. Dieser „sterbliche Gott“ zeigte gleichwohl menschliche Züge.2 Vielleicht auch deshalb wurde der Leviathan im europäischen Kontext zum Sinnbild von Staatsgewalt, nicht nur in Zeiten der Fürstensouveränität. Bezugspunkt war ein friedensstiftendes Überwesen, tätig in mehreren Registern zugleich.3 Es verfügte, zumindest in der Imagination, über Vernichtungsgewalt wie über Rechtssprechung, intervenierte zugleich Tag für Tag (wie Nacht für Nacht) mit polizieren- den Zugriffen im Alltag der „Subjekte“.
Die Entfaltung konstitutioneller wie parlamentarischer Staatlichkeit wurde angetrieben von Konflikten um die Grenzen des Staates. Allerdings fordern auch konstitutionelle (sowie parlamentarische) Staaten „alle Gewalt“ im Notstand, wenn verfassungsmäßige Ordnung und Staat nicht mehr mit den verfassungsgemäßen Mitteln zu sichern sei.4 Bei einem Angriff von außen, oder wenn sich Aufruhr im Innern rege, müssten alle verfügbaren Mittel in „kurzem Prozess“ eingesetzt werden - diese Argumentationsfigur macht die Staatsgewalt wieder unumschränkt souverän. Die Geschichtlichkeit des Staates selbst, das heißt seine konkrete Lage, gegen die Protest, Streik oder „Gegengewalt“ Gründe haben mag, geraten aus dem Blick.
Der Ausnahmezustand öffnet ein Terrain der unbegrenzten Möglichkeiten für Gewalt des (oder im Namen des) Staates - nicht nur für die traditionellen Gewalthaber wie das Militär und, seit dem 19. Jahrhundert, die Polizei. Wenn das Gesetz ausgesetzt wird, verlieren die Normen ihre Macht, ohne dass die Staatsgewalt verschwinden würde. Ausnahmezustand und Souveränität sind also nicht bloß staatsrechtliche Konstruktionen. Ethnographisch genaue Analysen polizeilicher Verhaltensweisen ,vor Ort‘ zeigen darüber hinaus, wie sehr der Ausnahmezustand - und seine Unbestimmtheit - stets in den Alltag polizeilichen Handelns eingelassen ist: wenn in konkreten Situationen entschieden wird, was zur (Wieder-)Herstellung von Sicherheit notwendig ist. „Kurzer Prozeß“ wird in alltäglichen (Inter-)Aktionen gemacht.5 - Das gilt auch für die Staaten des „real
existierenden Sozialismus“. Bis 1989/90 galt zwar die Doktrin der Einheit von Gesellschaft und Staat, jedenfalls von (herrschender) Partei und Staat. Wie sehr aber die jeweilige „Partei der Arbeiterklasse“ die von ihr kontrollierte Staatsmacht für den eigenen Machterhalt und gegen alle gesellschaftlichen Regungen einsetzte, zeigt die entgrenzte, jeder öffentlichen Kritik entzogene Bekämpfung angeblicher oder tatsächlicher „Feinde“. Die gewalttätige Willkür offizieller wie informeller „Organe“, zumal von Polizei und Staatssicherheit, etablierte einen Ausnahmezustand im Alltag.
Staat erweist sich zumal in solchen Situationen als ein Moment von Herrschaftspraxis, das nicht dekretiert werden kann. Vielmehr sind es vielfältige Akteure, die ihn immer wieder ,machen‘. Staat wird ,wirklich‘ in den sozialen Praktiken der Vielen, in denen diese sich von staatlichen Ansprüchen und Angeboten markierte Situationen aneignen, sie also nutzen (aber auch umgehen oder ignorieren). Das heißt auch: Staat bleibt bei aller Gewaltsamkeit fragil genug, um keineswegs dauerhaft ,sicher‘ zu sein.
Parallel hat seit den 1980er Jahren eine sehr anders gelagerte ,Ausnahme‘ vermehrte Beachtung gefunden: Staaten, die empirisch „schwach“ (geworden) schienen und damit ebenfalls die Norm des Staatlichen in Frage stellten („trou- bled“ oder „failing states“, „prekäre Staaten“). Es geht dabei nicht um Staaten oder Empires wie das koreanische Kaisertum, Qing-China oder das Osmanische Reich im späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert. Im Blick sind vielmehr ,neue‘ Staaten, wie sie im Zuge der Dekolonisierungen seit dem frühen 19. Jahrhundert, vor allem aber seit den 1950er Jahren entstanden sind. Nach 1989/90 hat sich dieses Feld erheblich erweitert - die europäischen wie asiatischen Nachfolgestaaten der UdSSR und deren ehemaligen Blockstaaten (und die Nachfolgstaaten im ehemaligen Jugoslawien) gelten Vertretern der alteingesessenen Staaten als unzureichend, wenn sie nicht völlig zu versagen scheinen.
Zentrales Kriterium staatlicher Stärke sind (im Sinne des Idealtypus staatlicher Herrschaft von Max Weber) bürokratisch-regelhafte Abläufe und insbesondere Absicht und Fähigkeit der staatlichen Akteure, konkurrierende Gewalten physisch-direkt zu übermächtigen, innerstaatlich wie in der Staatenkonkur- renz.1 „Failing states“ sind danach genau jene, die den Ausnahmezustand nicht oder nicht mehr zu verhängen und durchzusetzen vermögen (zum Beispiel Haiti). Als Maßstab gelten die „westlichen“ Staaten, überwiegend in West- und Mitteleuropa sowie Nordamerika. Dabei wird aus einer Abstraktion (wie sie im Idealtypus auftritt) kurzerhand die angeblich treffende Beschreibung von Wirklichkeit. Die fortwährenden Steuerungskrisen, die gravierenden Regulierungs- wie Verteilungs-Defizite auch und gerade in angeblich vorbildlichen Staaten sind ausgeblendet; gelten soll allein der Mythos des intakten und deshalb ,starken‘ Staates.
Staatlichkeit“ und governance
„Staatlichkeit“ oder „governance“: beide Begriffe spiegeln vermehrte Skepsis gegen staatlich-hoheitliche Institutionen und Normen. Sie signalisieren zugleich einen ebenso vagen wie weitreichenden Optimismus.1 Danach wären die Lenkungskapazitäten von ,Staat‘ in Kooperationen mit nicht-staatlichen Akteuren zu steigern; Gemeinschaftsgüter ließen sich marktförmig erstellen.2 Vermehrte gesellschaftliche Selbstregulierung (zum Beispiel Selbstpolizierung) würde den Staat idealiter ersetzen. An seine Stelle tritt in diesem Konzept gesellschaftlich organisierte „Handlungskoordination“ zum allgemeinen Besten.3
Vorausgesetzt ist hier wie dort, dass der Nationalstaat (europäisch-nordamerikanischer Prägung) nicht mehr allein die Szene beherrsche und analytisch überholt sei. Eine wachsende Vielfalt inter- und transnationaler (sowie inter- und transregionaler) Kooperationen und Netzwerke habe die Souveränitäts- und Definitionsmacht des modernen Staates ausgehöhlt. Freilich, Analysen von „gover- nance“ als „Handlungskoordination“ zeigen nicht selten eine starke Beteiligung, wenn nicht die führende Rolle staatlicher Akteure aller Hierarchiestufen - auch von Polizei und Justiz - bei solchen Kooperationen. Sie umfassen die globalen Drogenmärkte ebenso wie transnational-mafiöse Erzwingungs- und Ausbeutungskartelle, aber auch lokal-regionale Bereichungsseilschaften, zum Beispiel in den Bau-, Immobilien- oder Entsorgungsbranchen. Ob sich darin die neuesten Varianten jener Klientelpolitik und Korruption zeigen, die zum vertrauten Inventar von (Staats-)Bürokratien gehören, ist zumindest eine offene Frage. Bisher spricht vieles dafür, dass das Neue dieser Innovation vor allem die Überschrift ist.
In jedem Fall aber sind Analysen alltäglicher Praktiken der jeweiligen Akteure entscheidend.4 Nur dann lassen sich Asymmetrien der Definitionsmacht erkennen. Zugleich stehen diese Praktiken in Resonanz mit Vorstellungen von gesellschaftlicher wie staatlicher Ordnung, vielleicht von „gutem Leben“. Genauer: es sind weitreichende Hoffnungen, aber auch Ängste, die sich mit Ordnungskonzepten und ihren Metaphern, wie der vom „Vater Staat“, verbinden.
Parallel bleibt die Frage, inwieweit vermehrte inter- und transnationale Verkettungen tatsächlich den nationalstaatlichen Rahmen einschränken oder gar obsolet machen. Zumal in bestimmten Handlungsfeldern zeigt sich eine Gegenbewegung: bei Sicherheit und Polizei sowie dem Rechtssystem, aber auch bei Infrastrukturregelungen der Tele-Kommunikation oder der Verkehrssysteme. Übernationale Zugriffe und Interventionen (EU-Richtlinien!) ermuntern offenbar nationalstaatliche Gegenzüge und Re-Formierungen.5 Das SchengenAbkommen ist ein besonders triftiges Beispiel. Überdies: sind nicht die aktuellen Menschenrechts- und Demokratiekonzepte westlicher Provenienz bei allen universalistischen Ansprüchen immer nationalkulturell durchsäuert? Insofern ist das vermehrte Beharren von Staaten wie der Volksrepublik China auf historisch begründeten eigenen Maßstäben, zumal für staatliches Handeln, keine ,vormo- derne‘ Besonderheit.1 Ob dies ein imperialer oder ein nationaler Gestus ist - er wird sich auch bei weiteren inter- und transnationalen Vernetzungen nicht von selbst erledigen.
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