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Organisationskultur der Sicherheitspolizei im Nationalsozialismus

Einleitung

Die NS-Sicherheitspolizei, d. h. der organisatorische Zusammenschluss von Kriminalpolizei und Gestapo, zeichnet verantwortlich für einige der größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts: Sie organisierte die Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung, verfolgte Roma und Sinti, politisch Oppositionelle und jene, die dazu erklärt wurden. Auch sogenannte Berufsverbrecher4 und ,Aso- ziale‘, Prostituierte und autonome Jugendliche fielen ihrem Plan der rassereinen Volksgemeinschaft zum Opfer, die weder fremdes Blut noch abweichendes Verhalten in ihren Reihen duldete.

Im folgenden sollen die Verbrechen der Sicherheitspolizei (kurz: Sipo) unter einer organisationspsychologischen Perspektive betrachtet werden. Die Organisationspsychologie liefert mit ihrem analytischen Instrumentarium zur Erklärung und Beschreibung des Handelns, der Kognitionen und Emotionen von Menschen in Organisationen eine Deutungsvariante, die bislang in der Forschung über die staatsterroristische Verbrechen der NS-Zeit weitgehend unbeachtet geblieben ist. Folgende Überlegungen lassen einen Organisationspsychologischen Zugang als fruchtbar erscheinen:​


  • Die Verbrechen der Sicherheitspolizei waren keine Handlungen von autonomen oder isolierten Individuen. Vielmehr fanden sie in einem kollektiven und organisierten Kontext statt, der, wie aus der Gruppenpsychologie bekannt ist, menschliches Verhalten in spezifischer Weise prägt.​
  • Den Verbrechen der Sicherheitspolizei kommt nicht die Eigenschaft zu, die Verbrechen üblicherweise zugeschrieben wird: Es handelt sich hierbei nicht um abweichendes, sondern um konformes Verhalten. Die Mehrzahl der Polizisten handelten in Übereinstimmung oder Vorwegnahme von normativen Bestimmungen ihrer Organisation.​
Die Prämisse, von der aus die Organisationspsychologie als theoretischer Zugang gewählt wurde, lässt daher kurz wie folgt formulieren: Bei den Verbrechen der

NS-Sicherheitspolizei handelt es sich um konformes Verhalten von Menschen in Organisationen.

In der klassischen Organisationslehre werden Organisationen als rationaler Zusammenschluss von Individuen zur Erreichung eines spezifischen Zieles beschrieben. Dieses nationalistische4 Organisationsmodell lenkt das Augenmerk auf formale und strukturelle Charakteristika von Organisationen. Die Verbrechen der Sicherheitspolizei können unter dieser Perspektive als ,Verwaltungsmassenmord‘ beschrieben werden: Arbeitsteiligkeit, Rationalisierung und Aktenförmigkeit der Vorgänge, lange Befehlsketten, räumliche und emotionale Distanz erscheinen als Bedingungen polizeilichen Handelns. Die psychologischen Mechanismen, die in einem bürokratischen, effizienzorientierten Apparat die Konformität der Mitglieder bestimmen, lassen sich wie folgt beschreiben: Verantwortungsdiffusion durch die Mediatisierung von Handlungsschritten, Vorherrschaft einer Funktionsmoral, emotionale und kognitive Abkopplung von Handlungen und ihren Konsequenzen, Gehorsam gegenüber unmoralischen Befehlen sowie verfahrensmäßige und sprachliche Dehumanisierungs- und Neutralisationsprozesse.

Trotz seiner Eignung zur Herausstellung dieser wichtigen Determinanten für die Konformität der Sicherheitspolizisten ist die Erfassung der NS-Sicherheits- polizei mit einem rationalistischen Organisationsbegriff nicht hinreichend. Das klassische bürokratische Organisationsmodell nimmt die Selbstbeschreibung von Organisationen - die Rationalitätsfassade - allzu sehr für bare Münze und vernachlässigt wichtige soziale Dimensionen einer Organisation. Das Interesse der neueren Organisationspsychologie gilt daher auch weniger der Untersuchung formaler Organisationsstrukturen, sondern vielmehr den informellen und nichtrationalen Aspekten von Organisationen. Diese werden in der organisationspsychologischen Forschung mit den Begriffen der Organisationalen Identität bzw. der Organisationskultur erfasst.

Organisationale Identität wird in einem Prozess der Selbst-Reflexion und Standortbestimmung einer Organisation entwickelt und ist mithin nicht mit der externen Beschreibung des Ist-Zustandes einer Organisation zu verwechseln. Die Frage nach der Identität einer Organisation taucht üblicherweise in Situationen des Umbruchs und des Wandels auf. Erst, wenn Herausforderungen anstehen, die organisationalen Wandel erforderlich machen, wird die Frage nach der Identität bedeutsam. Diese Standortbestimmung kann dann über die Formulierung eines Leitbildes organisationalen Wandel initiieren und neue Handlungsroutinen, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster innerhalb der Organisation hervorbringen. Diese handlungs- und kognitionsleitenden Muster und Routinen können mit dem Begriff der Organisationskultur erfasst werden.

Zunächst soll versucht werden, die organisationale Identität der Sicherheitspolizei als ,Staatsschutzkorps‘ zu beschreiben und auf seine Leitbildfunktion für die Polizeiführung hin zu untersuchen. Anschließend soll nachgezeichnet werden, auf welche Weise und mittels welcher Strategien dieses Leitbild die Organisationskultur(en) von Kripo und Gestapo beeinflusste bzw. organisationskulturellen Wandel initiierte. Abschließend wird untersucht, welche Implikationen die spezifi sche organisationale Identität und Organisationskultur der
icherheitspolizei für die Motivation v. a. der Führungskräfte zur Planung und Durchführung der staatsterroristischen Verbrechen hatte.

Organisationale Identität der NS-Sicherheitspolizei?

Die deutsche Polizei war nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten umfassenden Wandlungs- und Entgrenzungsprozessen unterworfen: Zentralisierung der Befehlsgewalt und organisatorische Umstrukturierungen; Herauslösung aus der staatlichen Verwaltung und Angliederung an die SS, Ausweitung der Aufgabenbereiche und der territorialen Zuständigkeiten, Neuformulierung der Leitbilder und der Ziele und eine damit einhergehende Entbindung aus rechtlich fixierten Vorgaben waren Elemente einer durchgreifenden Änderung der Organisation.1

Die Verwaltungsabteilungen der Polizei waren mit der Aufgabe konfrontiert, einen Spagat zwischen bürokratischer Tradition und neuen Herausforderungen des Maßnahmenstaates zu bewältigen. Um die Loyalität der aus dem Weimarer Polizeiapparat übernommenen Beamten nicht zu gefährden, durfte sie alte Identifikationsgrundlagen nicht vollständig zerstören. Auch mit der Bevölkerung - dem Volk, in dessen Dienst sich die neue Polizei zumindest dem Programm nach stellte - durfte sie nicht durch undurchsichtigen und das Vertrauen brechenden Wandel auf Konfrontationskurs gehen, da sie strukturell auf deren Mithilfe bei Kriminalisierung und Aufklärung angewiesen war. Zugleich musste sie jedoch verbindliche neue Identifikationsgrundlagen und Handlungsmuster schaffen, die Stabilität und Sinnhaftigkeit zu vermitteln in der Lage waren, um ihre neu gesteckten Ziele mithilfe weltanschaulich motivierter und eigeninitiativer Führungskräfte zu erreichen. Vor allem aber mussten Kriminalpolizei und Gestapo sowohl nach innen wie auch nach außen ihre Fähigkeit zur Anpassung an eine sich ändernde Umwelt demonstrieren, um ihre Machtstellung im polykratischen Gefüge des NS-Staates zu sichern und auszubauen. Daher war die Polizeiführung mit einem grundlegenden Problem adaptiver Organisationen konfrontiert: der gleichzeitigen Etablierung von Stabilität und Wandel: „like individuals, who engage in interpretations and practices intended to maintain the continuity of self-concepts over time and place, organizations work at the appearance of consistency in value and action; paradoxically, they also work at maintaining an aura of adaptability“.1 2

Ein von Werner Best im Oktober 1936 ins Leben gerufener ,Ausschuss für Polizeirecht der Akademie für deutsches Recht‘, der mit dem Ziel gegründet wurde, Begriff, Aufgabenstellung und Positionierung der Polizei im Staatsgefüge zu bestimmen, kann als Versuch verstanden werden, ein einheitliches und verbindliches organisationales Leitbild für die Sicherheitspolizei zu entwickeln. Die Ergebnisse der von den Mitgliedern des Ausschusses erstellten Gutachten zur Frage Welcher Begriff der Polizei erwächst aus der nationalsozialistischen Auffassung von Volk und Staat?‘ reproduzierten in ihrer Uneinheitlichkeit und

Unvereinbarkeit zunächst das Bild einer begrifflich und formal nicht eingrenzbaren Organisation. Selbst nach einer halbjährigen Beratungszeit konnte eine Einigung auf eine mehr als allgemein gehaltene Definition Bests nicht erreicht werden. Als Ergebnis der Beratungen formulierte Best demnach folgerichtig das Ziel, dass eine formalrechtliche Festlegung der Ziele und Aufgaben der Sicherheitspolizei unbedingt abzulehnen sei. Auf die Formulierung eines ,Reichspoli- zeiverwaltungsgesetzes‘, die ursprünglich als Ergebnis aus den Beratungen des Ausschusses resultieren sollte, wurde verzichtet: „Nicht eine neue kodifizierte Ordnung schuf der Nationalsozialismus, erkannte Best, sondern Dynamik, stete Veränderung mache sein Wesen aus.“1

Die von Best konstatierte Unmöglichkeit, eine formalrechtliche Festlegung des Wesens der Sicherheitspolizei zu bestimmen, führte jedoch nicht zu einem Verzicht auf die Bestimmung der zentralen Merkmale der organisationalen Identität, sondern resultierte in der Entwicklung eines Leitbildes für die Führungskräfte. Als Leitbild für die Führung der Sicherheitspolizei sollte das Ideal des ,Staatsschutzkorps‘ und seiner politischen Soldaten‘ dienen.

Das Staatsschutzkorps - ein Leitbild für die Führung

Mallmann und Paul geben zu bedenken, dass „das von Heydrich präferierte Ideal eines Staatsschutzkorps weitestgehend Utopie [blieb]“,2 unterschätzen damit jedoch möglicherweise die handlungsleitende Macht einer solchen Selbstdefinition als Identifikationsgrundlage für die Führungskräfte: Das Leitbild wirkte weniger durch seine Verwirklichung in formalen Strukturen, sondern vielmehr darüber, dass es die Identifikation der Führungskräfte mit ihrer Organisation, also die Kongruenz zwischen organisationaler und personaler Identität fördern sollte. Von Identifikation eines Individuums mit einer Organisation kann gesprochen werden, wenn zentrale Merkmale der organisationalen Identität in die Konstruktion der personalen Identität integriert werden: „organizational identification occurs when an individual's beliefs about his or her organization become self- referential or self-defining [im Original kursiv]“.3 Die Elemente des organisatio- nalen Leitbildes, mit dem die Polizeiführer (als SS-Männer und Mitglieder des Staatsschutzkorps) sich identifizieren sollten, werden im folgenden dargestellt.

Eine häufig praktizierte Methode zur Etablierung eines organisationalen Selbstverständnisses ist der Rekurs auf Metaphern und Vergleiche. Diese sind geeignet, die zentralen Merkmale einer Organisation herauszustellen und schaffen soziale Identität durch Abgrenzung und Integration. Eine bedeutsamer und häufig verwendeter Vergleich war die Gleichstellung der Sicherheitspolizei mit dem Militär: Genauso wenig wie die Wehrmacht bei ihrem Kampf gegen die äußeren Feinde rechtlichen Bindungen unterworfen werden könne, dürfe die Staatspolizei bei ihrem Vorgehen gegen die inneren Feinde rechtlich beschränkt werden. Im

Bild des Staatsschutzkorps, das den Krieg gegen den ,inneren Feind‘ führen sollte, verwirklicht sich das Ideal des ,totalen Krieges‘. Die totale Mobilmachung richtete sich nicht nur gegen den äußeren Feind, sondern auch gegen all jene im Inneren, die die Wehrfähigkeit des deutschen Volkes aufgrund ihrer ,Minderwertigkeit zu behindern schienen: „In einer Bevölkerungspolitik, die auf Vernichtung all jener zielte, die für die ,Wehrgemeinschaft‘ als unbrauchbar eingestuft werden, fielen nationalsozialistische rassen- und nationalsozialistische Leistungsideologie zusammen“.1

Eine weitere, häufig verwendete Metapher war die Darstellung der Sicherheitspolizei als ,Arzt am deutschen Volkskörper‘. Organische Bilder der Gesellschaft als ,Volkskörper‘, als eigenständiger Entität, die biologischen Gesetzmäßigkeiten folgt und die Darstellung abweichenden und unerwünschten Verhaltens als ,Krankheit‘ an diesem Organismus prägten das rassenhygienische Denken. Die Metapher der Sicherheitspolizei als Mediziner der Volksgemeinschaft war damit an allgemeine nationalsozialistische Semantiken anschlussfähig. Die Metapher bot eine direkte Anknüpfung an die zentralen Aspekte sicherheitspolizeilicher Arbeit: Überwachung, Diagnose, zweckdienliche und effektive Behandlung. Der Vergleich sicherheitspolizeilicher Arbeit mit der Arbeit eines allein an biologischen Gesetzmäßigkeiten orientierten Arztes rationalisierte damit auch die Definitionsmacht der Sicherheitspolizei über den Gegner: Zur Überwachung des Gesundheitszustandes des deutschen Volkes und zur Erkennung und Bekämpfung von ,Zerstörungskeimen‘ müsse der Sicherheitspolizei jedes geeignete Mittel unabhängig von rechtlicher Fixierung zur Verfügung stehen. Die Sicherheitspolizei war somit mit der umfassenden Aufgabe betraut, „das deutsche Volk als organisches Gesamtwesen, seine Lebenskraft und seine Einrichtungen gegen Zerstörungen und Zersetzung zu sichern“.2 Diese Aufgabe war sowohl defensiver wie offensiv-präventiver Art: Neben der unmittelbaren Gefahrenabwehr hatte die Sicherheitspolizei auch für die Erforschung und Prävention möglicher zukünftiger Gefahren Sorge zu tragen.

Die wissenschaftlich verbrämten und mit kriegerischen und medizinischen Metaphern versehenen äußeren Ziele der rassenhygienischen Ideologie sollten sich in der Person des SS-Führers mit einem soldatischen Habitus und mit der affektiven und auf Handlung drängenden Motivation zu ihrer Durchsetzung verbinden. Der Ausnahmezustand des ständigen Angespanntseins und der ständigen Erwartung des Gegners sollte die Wahrnehmung der politischen Soldaten‘ prägen. Der SS-Führer war als Gegenbild zum Beamten konzipiert, der sich von der Eigenlogik der Bürokratie leiten ließ. Aufgrund seiner weltanschaulichen Durchdringung und Weitsicht, also aufgrund seiner vollständigen Identifikation mit den Zielen des Nationalsozialismus sollte er in der Lage sein, die gewünschte Flexibilität und Dynamik der Organisation der Polizei zu gewährleisten.3

Treue, Gehorsam und Kameradschaft waren die zentralen Werte, die das Verhältnis der leitenden Polizisten zu ihren Vorgesetzten und zum Reichsführer-

SS prägen sollten. Treue und Gehorsam waren absolut gesetzt, die Bindung, die durch sie eingegangen werden sollte, war unwiderruflich und beinhaltete die unhinterfragte Übernahme der von den Führern gestellten Aufgaben und Zieldefinitionen. So findet sich der Traum von der totalen Herrschaft1 auch in der Binnenperspektive der Organisation: Totale Kontrolle und Beherrschung waren Voraussetzung für die Stabilisierung und Befreiung von jeglicher subjektiven Unwägbarkeit: „Die Treuebindung garantierte völlige Stabilität der Grundempfindung, zugleich auch innere Unbeweglichkeit“.2 3 Gehorsam bildete das praktische und dynamische Pendant zur Treuebindung. Nicht nur affektive Übereinstimmung und Determinierbarkeit, sondern auch ständige Leistungsbezeugungen waren gefordert: „Die Treuebindung war unveränderbar und statisch, die Gehorsamspflicht verlangte beständige Bewegung und Leistung“.11

Mit der auf Gehorsam verpflichtenden Leistungsideologie verknüpfte sich direkt der Eliteanspruch der SS: „Die ,bessere Rasse, das ,gute Blut‘ setzte sich im Lebenskampf durch, also war der überlegene auch der Bessere. Aus der Umkehrung dieses Schlusses erfolgte für die SS die Notwendigkeit, beständig am ,Kampf‘ teilzunehmen und durch ihre Leistung das gute Blut, das in ihr lebte, zu beweisen“.4

Die Identität der Sicherheitspolizei als Staatsschutzkorps war in erster Linie ein Leitbild für die weltanschauliche Ausbildung und die kollektive Gleichschaltung der Führungsschichten. Daher richteten sich die Instrumente der organisatorischen Verklammerung der Polizei mit der SS zu einem Staatsschutzkorps vor allem auf jene Aspekte, die direkt mit den Aufgaben und Funktionen der PolizeiFührungselite zusammenhingen. Das Führerideal, das die SS propagierte und in den Reihen der höheren Polizeibeamten durchzusetzen plante, war eine ganzheitliche „Managementkonzeption“, die die zum Führer heranzubildende Person in ihrer Gesamtheit, ihrem Charakter, ihrer Weltanschauung, Lebensführung und in ihren sozialen Bezügen erfasste. SS-Führer zu sein bedeutete weit mehr als Techniken der Leitung und Kontrolle von Menschen und Organisationen zu beherrschen. Die Bindung des Führers an die Organisation des Staatsschutzkorps sollte eine direkte, ungefilterte Übertragung und Internalisierung der spezifischen Normen und Leitbilder gewährleisten.​


Enkulturation der Führungsschichten: Vom Leitbild zur Handlung


Die dargestellte organisationale Identität der Sicherheitspolizei als Staatsschutzkorps kann als grundlegende Rahmung des polizeilichen Handelns erfasst werden. Organisationskultureller Wandel setzt eine solche Standortbestimmung und Richtungsvorgabe über einen selbstreferentiellen Prozess voraus, der neue Ziel- und Sinndeutungen ermöglicht, traditionelle Handlungsformen umdeutet und neue Betätigungsfelder und Arbeitsweisen initiieren kann. Die leitbildgesteuerte Neuausrichtung sicherheitspolizeilicher Wahrnehmungs- und Handlungsmuster sollte über die Polizeiführung als ,Cultural Agents‘ erfolgen. Welcher Maßnahmen und Strategien sich Himmler, Heydrich und Best sich bedienten, um die geforderte Ausrichtung der höheren Polizeibeamten am Leitbild des Staatsschutzkorps zu erreichen, soll im folgenden dargestellt werden.

Die wichtigsten Strategien zur Durchsetzung des organisationalen Leitbildes des Staatsschutzkorps waren Erziehung und Auslese. Diese beiden Strategien spielten im NS-Staat allgemein eine bedeutende Rolle. Durch Erziehung sollte nationalsozialistisches Gedankengut in den einzelnen Mitgliedern der Volksgemeinschaft verankert werden, durch Auslese sollten diejenigen Personen ermittelt

werden, denen Führungspositionen anvertraut werden konnten. Die Kombination dieser beiden Elemente stellte das Komplement zu negativer Auslese und Vernichtung dar und diente dem Ziel der Herstellung der Volksgemeinschaft.

Auslese und Erziehung in speziell zu diesem Zweck eingerichteten Führerschulen und Führerlagern stellten daher auch für die Ausbildung leitender Polizeikräfte ein wichtiges Instrument der Personalentwicklung dar. 1937 wurde das Polizeiinstitut Charlottenburg, das seit 1927 als Ausbildungsstätte für die preußische Kriminalpolizei diente, zur ,Führerschule der Sicherheitspolizei^ Vor allem die Kriminalkommissarsanwärter der Gestapo hatten strengen Anforderungen an die politische Zuverlässigkeit zu genügen, ihre Ausbildung bei der Kriminalpolizei sollte sie zusätzlich mit fachlichem Können und Wissen versorgen. Sowohl für die Gestapo als auch für die Kripo galten ab 1936 reichsweit die gleichen, bislang preußischen Vorschriften über Einstellung, Ausbildung und Beförderung. Gestapo- und Kripokommissarsanwärter besuchten gemeinsam die Ausbildungslehrgänge. 1938 wurde im Zuge vorläufiger Laufbahnrichtlinien für den SD auch eine Angleichung der Einstellung und Ausbildung der Sicherheitspolizei und des SD eingeführt. Bei den Lehrgängen wurden Kriminaltaktik und Kriminalistik gelehrt, aber auch Rechts- und Staatsbürgerkunde sowie ab 1936 nationalsozialistische Weltanschauung. Ab 1938 kamen SS-mäßige Erziehung hinzu, mit dem Kriegsbeginn erweiterte sich die Themenpalette um Ostkunde, Auslandskunde, besetzte Gebiete, Ausländer im Reich, Bandenbekämpfung, Menschenführung.1 Die geschlossene Unterbringung, die Uniformpflicht für Lehrer und Schüler seit 1938 und die militärische Verwaltungsstruktur der Schule prägten den Lagercharakter der Ausbildungsstätte. Nur SS-Führer mit besonderer charakterlicher, weltanschaulicher, fachlicher und persönlicher Eignung wurden als Lehrpersonal

der Führerschule zugelassen.1

Neben der umfassenden weltanschaulichen Erziehung sollten die Führerlehrgänge auch einen Beitrag zur Eingliederung der Kommissarsanwärter in die SS leisten, ab 1937 wurden alle Lehrgangsteilnehmer zum Beitritt in die SS angehalten - eine Aufforderung, der man sich jedoch widersetzen konnte.2 Die Verschmelzung der Ausbildung der Sicherheitspolizeiführung mit der SS-Indoktrination wurde durch weitere, ab 1940 eingerichtete Lagertypen forciert: Ab 1940 wurden SS-Führerlager für diejenigen Angehörigen der Sicherheitspolizei eingerichtet, die sich zum SS-Führer befördern lassen wollten. Vor Beginn oder nach Beendigung des Ausbildungslehrganges zum Kriminalkommissar mussten SS-Führerprüfungen abgeleistet werden;3 die Lager dienten also zugleich der Ausbildung und der Auswahl geeigneten Nachwuchses. Die Führerlager sollten der „Erweiterung und Festigung des weltanschaulichen und politischen Wissens und der Stärkung der Kameradschaft unter den SS-Führern der Sicherheitspolizei und des SD“4 dienen. Es war geplant, dass SS-Führer der Sicherheitspolizei regelmäßig ein solches Führerlager besuchen sollten. Ab 1942 sollten auch für mittlere Beamte, die nicht Mitglieder der SS waren, sogenannte ,Führerlager der Sicherheitspolizei stattfinden‘, deren Absolvierung Voraussetzung für eine Beförderung in höhere Positionen sein sollte.

Besondere Bedeutung erhielt die weltanschauliche Schulung5 in den besetzten Gebieten, denn „die politischen und militärischen Ereignisse seit Kriegsbeginn hatten nach Meinung des RSHA eine Fülle neuer politischer Fragen‘ aufgeworfen“.6 Die weltanschauliche Schulung war breit angelegt und umfasste u. a. die Themen Rassenkunde, nationalsozialistische Bewegung, Geschichte der SS und der Polizei, deutsche Geschichte, aktuelles politisches Wissen. Diese Inhalte sollten nicht nur der Wissensanhäufung, also rein kognitiven Zwecken dienen, sondern sollten die Lehrgangsteilnehmer vor allem motivieren, im nationalsozial istischen Sinne zu handeln und zu fühlen und ihre alltäglichen Erlebnisse mit Hilfe eines herrschaftlich erwünschten kognitiven Schemas einzuordnen und zu bewerten.7 Seit 1940 wurden sogenannten ,Ausleselehrgänge für Sicherheitspolizei und SD‘ eingerichtet, um geeignete Bewerber für leitende Positionen in der Sicherheitspolizei zu ermitteln.

Eine weitere wichtige Maßnahme, die die Bindung der Polizeiführung an das Staatsschutzkorps fördern sollte, war der Einsatz von Strategien der Personalrotation und der Gruppenbildung. Wie Paul ausführt, praktizierte die Gestapo eine Personalpolitik der Rotation, Gestapo-Stellenleiter wechselten häufig ihre Dienststelle, „wodurch sich die durchschnittliche Verweildauer in einer Dienststelle auf 17 bis 24 Monate reduzierte“.8 Dadurch wurden die Gestapostellenleiter

gezielt entwurzelt, also von Bindungen außerhalb des Korps gelöst. Auch der gezielte Einsatz von Arbeitsteams in den Osteinsätzen, die aus Mitgliedern bestanden, die sich „teilweise schon aus jahrelanger Zusammenarbeit kennen- und schätzen gelernt hatten“1, diente der Bindung an das Korps, vertreten durch konkrete Personen, die einander durch die Prinzipien der Treue und Kameradschaft nicht nur emotional, sondern auch weltanschaulich verpflichtet waren (s. u.).

Eng mit der Verpflichtung auf Treue und Gehorsam zusammenhängend, versuchte die nationalsozialistische Führung das personalpolitische Prinzip der ,Menschenführung‘ durchzusetzen. Dieses Prinzip ergab sich aus der „Himm- lerschen Forderung, dass der SS-Führer ,führen‘ und nicht ,verwalten‘ sollte“.2 Die aus dem Prinzip der Menschenführung erwachsende ,Personalisierung‘ von Verwaltungsakten und Unterstellungsverhältnissen versetzte den einzelnen Polizisten in eine Position direkter Abhängigkeit und Verpflichtung gegenüber dem jeweiligen Vorgesetzten. Wie Banach zu bedenken gibt, blieb die Ausformulierung und Umsetzung des Prinzips der Menschenführung jedoch unklar, die Begriffsbestimmung unscharf, dies nicht zuletzt, weil „ein Mindestmaß an staatlich geprägter Bürokratie erhalten bleiben [musste], um den Beamten das Gefühl der Kontinuität zu vermitteln und ihm als Teil des anonymisierten Ganzen das Gefühl eines Nicht-Verantwortlichseins für seine Maßnahmen zu geben“.3

Die geschilderten Maßnahmen zur weltanschaulichen Schulung und Bindung der Polizeiführung an das Staatsschutzkorps wurden durch die Einrichtung der Institution der Inspekteure der Sicherheitspolizei flankiert, denen neben der Aufgabe der weltanschaulichen Schulung auch direkte Kontrollfunktionen zugeteilt waren. Durch einen Erlass des Reichssicherheitshauptamtes vom 9. April 1942 wurden die Inspekteure der Sicherheitspolizei und des SD angehalten, regelmäßig ,Befähigungsberichte‘ über die Sipo- und SD-Dienststellenleiter anzufertigen; daneben waren die Inspekteure verpflichtet, regelmäßig Inspektionen, in deren Verlauf Dienstbesprechungen stattfanden, durchzuführen. Diese als ,Arbeitstagungen‘ institutionalisierten Besprechungen, an denen Gestapo- Kripo und SD -Stellenleiter und ggf. Experten teilnahmen, dienten der Übermittlung von Erlassen des Reichssicherheitshauptamtes, der Erteilung von Weisungen, der Besprechung von allgemeinen und Einzelfragen; auch fanden Vorträge zur Arbeit der Sicherheitspolizei statt.4 Die Arbeitstagungen erfüllten somit mehrere Funktionen zugleich: Sie förderten die weltanschauliche Schulung und Gleichrichtung der Dienstellenleiter und dienten der Koordination der Aufgaben von Gestapo, Kripo und SD; sie forcierten somit die Bindung der Dienstellenleiter an die Organisation der Sicherheitspolizei. Nicht zuletzt aber waren sie ein effektives Mittel zur Kontrolle der Aktivitäten und der weltanschaulichen Verlässlichkeit der Dienstellenleiter.
Organisationskultureller Wandel ,von oben‘: ,Vorbilder‘, Inspekteure und Initiationen

Dass die geforderte ganzheitliche Identifikation mit den Zielen und Leitbildern des , Schwarzen Ordens‘ bei den in wilhelminischer und Weimarer Beamtentradition sozialisierten Kriminalkommissaren nicht vollständig gelingen konnte, war Best, Heydrich und Himmler durchaus bewusst. Ein umfassender Kulturwandel im Sinne einer vollständigen und einheitlichen Identifikation aller Polizisten mit der SS-Ideologie und dem Leitbild des Staatsschutzkorps stellte zwar ein langfristig anzustrebendes Ziel dar, das jedoch kurzfristig mit dem vorhandenen Personal nicht zu erreichen war.1 Daher gilt es zu klären, auf welchem Wege der von den Führern des Staatsschutzkorps initiierte Kulturwandel stattfinden konnte und welcher Strategien sich die Führung der Sipo bei der Etablierung neuer Handlungsformen und Deutungsmuster bediente.

Mallmann/Paul stellen fest, dass die elaborierten rassenhygienischen Ideologien für die Handlungen und Wahrnehmungen der Polizeibeamten in den regionalen Kripo- und Gestapostellen zumindest in den Anfangsjahren keine dominante Rolle gespielt haben. Die kulturelle Einbettung der SS-Ideologie fand erst im Zuge der Verschmelzung der Polizei mit der Schutzstaffel statt und wurde durch Vorbilder aus den Reihen der SS in den Sipo-Alltag transportiert.2 Die jungen und ambitionierten Gestapostellenleiter bildeten hierbei die personalpolitische Schnittstelle zwischen den sich zunehmend radikalisierenden Anordnungen und Erlassen des Hauptamts Sicherheitspolizei bzw. später des Reichssicherheitshauptamtes und der konsequenten Umsetzung dieser Erlasse vor Ort. Sie stellten durch ihre Machtstellung die Legitimationsfigur für die Durchführung von Maßnahmen dar, sie bestimmten eigenmächtig (trotz teilweise gegenteiliger Anordnung) die Anwendung spezifischer Maßnahmen wie etwa der sogenannten verschärften Vernehmung. Neben ihrer faktischen Macht zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Rassenpolitik stellten die Gestapostellenleiter als SS- Führer auch die Deutungen und Legitimationen für die einzelnen Maßnahmen bereit und versorgten die Beamten und Angestellten mit ideologischen Rahmungen für die sich radikalisierenden Arbeitsformen.

Die konkrete Praxis vor Ort wurde durch die ideologisch geschulten Gestapostellenleiter zwar weltanschaulich gerahmt, zu ihrer spezifischen Durchführung bedurfte es jedoch weiterer Figuren, deren Einfluss auf die Handlungsweisen der Polizisten unmittelbarer war. Die Praxis der ,verschärften Vernehmung4 etwa, die bis 1941 offiziell vom RSHA, später von den Gestapostellenleitern zu geneh- migen war,3 lag faktisch in der Entscheidungsgewalt jedes einzelnen GestapoBeamten. Nicht für alle Gestapobeamten war die Folter jedoch ein präferiertes Vernehmungsinstrument. Vielmehr scheint es, als habe es bei den regionalen Gestapostellen einzelne Beamte bzw. Angestellte gegeben, die in besonderem Maße zu gewaltsamen Geständniserpressungen neigten. Vor allem die ,Seiten-

einsteiger‘, die ihren Weg in die Gestapo durch den Dienst in der NSDAP, SA oder SS und über ihre Tätigkeit in der Hilfspolizei gefunden hatten und nicht über die herkömmlichen kriminalistischen Fähigkeiten zur Gefangenenvernehmung verfügten, wählten die Folter als Verhörmethode, während die Beamten der höheren Dienstränge sich eher auf ihre kriminalistische Kompetenz verließen. Dieser Unterschied kann einerseits als Hinweis auf die Existenz von organisationskulturellen Unterschieden gewertet werden, andererseits auch als ein Trend zur zunehmenden Deprofessionalisierung, der durch den chronischen Personalmangel vor allem in den Kriegsjahren hervorgerufen wurde und somit das Fehlen kriminalistischer Qualifikationen ,kompensierte‘.

Neben der direkten Role-model-Funktion von Gestapostellenleitern und brutalisierten SS-Seiteneinsteigern hatte die Polizeiführung jedoch auch eine spezielle Institution geschaffen, die über unterschiedliche persönliche und formelle Einflussmöglichkeiten verfügte, um Kulturwandel zu initiieren und zu überwachen. Die Institution der Inspekteure der Sicherheitspolizei wurde geschaffen, um die Beamten und Angestellten der regionalen Gestapo- und vor allem auch der Kripostellen auf den neuen sicherheitspolizeilichen Kurs einzuschwören. Mit einem Erlass vom 15.1.1940 wurde die Unterstellung der IdS unter die Verwaltungsbehörden aufgehoben, sie hatten die Aufgabe, bei Kontakten mit der staatlichen Verwaltung allein die Interessen des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD zu vertreten.

Die Autorität der Inspekteure bei der Verfolgung des Autonomisierungs- strebens der Sicherheitspolizei und bei der Einflussnahme auf die regionalen sicherheitspolizeilichen Dienststellen bestimmte sich dabei primär durch die Persönlichkeit des jeweiligen Inspekteurs. Ihre Weisungsbefugnis war personalisiert, „die Stellung des Inspekteurs bestimmte sich in hohem Maße durch sein Ansehen und sein Durchsetzungsvermögen innerhalb der regionalen Machtstrukturen“.1 Einfluss auf die fachliche Arbeit der Beamten hatten die Inspekteure nicht. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass ihr kultureller Einfluss vor allem im Bereich der Ideologie- und damit der Sinnvermittlung lag, denn zum Aufbau des Staatsschutzkorps aus Sipo und SD trugen die Inspekteure vor allem durch ^weltanschauliche Schulung‘ bei und ein Erlass vom 9.4.1942 verfügte, dass die Inspekteure regelmäßig ,Befähigungsberichte‘ über die Leiter der regionalen Sipo-Stellenleiter anzufertigen hatten. Darüber hinaus fanden regelmäßige Inspektionen statt, die von Besprechungen begleitet waren.2

Die Ergänzung formaler Anordnungen und formaler Weisungsgewalt durch eine Institution, die vor allem durch direkte Kommunikation und Beziehungspflege in wiederholten Inspektionen, Arbeitsbesprechungen und Schulungen Einfluss auf die Sipo-Beamten nehmen konnte, scheint für die dynamische und entgrenzte Entwicklung der Sicherheitspolizei besonders effektiv gewesen zu sein. Die IdS konnten aufgrund ihrer persönlichen Unterstellung unter die Spitze der Sicherheitspolizei und formell nicht determinierten Weisungsbefugnis flexibel und
rasch auf geänderte Bedingungen reagieren und unmittelbaren Einfluss auf die Praxis vor Ort nehmen.

Neben ,Vorbildern‘ und Inspekteuren spielte noch eine weitere, führungsgesteuerte Technik der Einflussnahme eine bedeutsame Rolle bei der Einübung und Einschwörung der Beamten auf neue Handlungsmuster: direkt von Himmler angeordnete Verhaftungsaktionen gegen Berufsverbrecher4 und ,Asoziale‘, die unter einer organisationskulturellen Perspektive als Initiationen bezeichnet werden können.

Das Instrument der Vorbeugehaft gehörte zwar auch schon vor der Verhaftungsaktion von 2000 Berufsverbrechern im Jahr 1937 zum Repertoire kriminalpolizeilicher Praxis, wurde bis dahin jedoch eher in geringer Quantität angewendet. Mit der durch einen Schnellbrief Himmlers erlassenen Verhaftungsaktion sollten an einem einzigen Tag im gesamten Reichsgebiet etwa 2000 nicht in Arbeit befindliche „Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“ interniert werden. Die Aktion erfüllte mehrere Funktionen: Sie sollte Arbeitskräfte für die neu zu errichtenden Konzentrationslager beschaffen, die Länder außerhalb Preußens an das Instrument der Vorbeugehaft gewöhnen und - was in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse ist - die Kriminalisten zu einer kontinuierlichen Praxis der Verhängung von Vorbeugehaft bewegen. Damit verschob sich für die Kriminalbeamten auch der Sinn dieses Instruments: „War es Daluege und Liebermann von Sonnenberg noch darum gegangen, die Gruppe der Berufsdelinquenten durch selektiven Terror gegen einzelne zu Wohlverhalten zu zwingen, zogen Nebe und Himmler 1937 aus dem Ausbleiben der Marginalisierung von Kriminalität den Schluß, von nun an alle erkannten Angehörigen dieser Gruppe zu internieren, um zum Ziel zu gelangen“.1 Die Vorbeugehaft entwickelte sich durch die Aktion vom Ultima-Ratio-Instrument der Generalprävention durch selektiven Terror hin zum alltäglichen Mittel kriminalpolizeilicher Sanktionierung.

Die ,Aktion Arbeitsscheu Reich‘ vom April bzw. Juni 1938, bei der Gestapo und Kripo in Zusammenarbeit mit Fürsorgeeinrichtungen und Arbeitsämtern insgesamt etwa 10500 in Konzentrationslager verbrachten (davon fielen allein 9000 auf die Verhaftungsaktion der Kripo), erfüllte eine ähnliche Funktion: Die Verhaftung von ,Asozialen‘ wurde kontinuierliche Praxis, ebenso die Zusammenarbeit mit den Fürsorgeeinrichtungen.2

Die Verhaftungswellen schwenkten Gestapo und vor allem die Kriminalpolizei unmittelbar auf den neuen ideologischen Kurs der Ausmerze Unangepasster ein. Die Aktionen setzten nicht, wie etwa die Schulungsarbeit der IdS, auf kommunikative Indoktrinierung, sondern auf die faktische Wirkung direkter Aktion: Der ,Erfolg‘ der Aktionen rechtfertigte die weitere Anwendung der Vorbeugehaft und gewöhnte die Polizisten an die neue Praxis. Hinter den mit den Aktionen erreichten Stand an Radikalisierung zurückzufallen, war vom kriminalistischen Standpunkt aus kaum denkbar. Sollte das polizeiliche Vorgehen weiterhin kon

sistent und konsequent bleiben und dadurch disziplinierend wirken, musste der einmal eingeschlagene Pfad weiter beschritten werden. Die Teilnahme an den Aktionen war öffentlich, eindeutig, unwiderrufbar, und, da die angeordneten Verhaftungszahlen deutlich überschritten wurden, freiwillig. Diese Faktoren machen einen etwaigen Rückzug vom eingeschlagenen Handlungsstrang auch psychologisch kostspielig und damit unwahrscheinlich.1

Auch die Tätigkeit der Sipo-Führungskräfte in den Einsatzgruppen wirkte als Initiation für eine sich zunehmend radikalisierende Vernichtungspraxis. Der ,Sondereinsatz‘ im Osten war eine Gelegenheit für die abgeordneten SipoFührungskräfte, die an sie delegierte Verantwortung gemäß des nicht explizierten, aber zu erahnenden Führerwillens auszufüllen. Die beteiligten Polizisten erlernten während ihrer Mitgliedschaft in den Einsatzgruppen Probleme, die sich beim massenhaften Töten von Menschen stellten, zu lösen. Dabei stellten sich die Massenerschießungen in Polen und der Sowjetunion für die beteiligten Polizisten einerseits als technisches Problem dar, das nach Kriterien der Effizienz zu lösen war. Im Rahmen der ,Außerordentlichen Befriedungsaktion‘ vom Mai 1940 ordnete beispielsweise Dr. Eberhard Schöngarth ,Musterexeku- tionen‘ an, die den Zweck verfolgten, den untergeordneten Dienststellen die zweckmäßigste Form der Massenerschießung vorzuführen. Durch die dauernde Beteiligung an Massenerschießungen waren die abgeordneten Polizisten jedoch andererseits gezwungen, auch den Umgang mit möglicherweise auftretenden psychischen Hemmungen zu erlernen, wollten sie ihre eigene seelische Gesundheit und Leistungsfähigkeit nicht gefährden. Diese Erfahrungen im technischen und psychischen Umgang mit dem Töten brachten die Gestapostellenleiter bei ihrer Rückkehr aus den Osteinsätzen mit in die regionalen Gestapostellen. Ihre Gewalterfahrungen trafen dort mit dem oben geschilderten Prozess zunehmender Radikalisierung der Ermittlungsmethoden durch kriminalistisch ungeschulte Kriminalangestellte zusammen, die im Zuge der Versetzung qualifizierteren Personals in die besetzten Gebiete eingesetzt worden waren: „All dies begünstigte, dass sich auch im ,Altreich‘ selbst die Grenzziehungen zwischen kriminalpolizeilichen Arbeitsweisen und militärischen Kampfformen verwischten“.2

Selbst-Radikalisierung der Kriminalpolizei

Betrachtet man die Entgrenzungs- und Radikalisierungsprozesse der Kriminalpolizei unter dem Aspekt der Organisationskultur, so wird deutlich, dass ein Rekurs auf offizielle Muster der organisationalen Identität der Sicherheitspolizei als Staatsschutzkorps nur eingeschränkte Erklärungskraft für die Analyse alltäglichen Polizierens hat. Es gilt eher, die funktionale Melange dazustellen, die überkommene Traditionen und Denkmuster und .normalisierende' bürokratische Handlungsformen mit dem sozialtechnologischen Programm der Rassenhygiene eingingen.

Elemente und Deutungsfiguren der Rassenhygienischen Ideologie fanden durchaus Eingang in kriminalistische Praxis; die größtmögliche Nähe zum Programm der Vernichtung ,Gemeinschaftsfremder' findet sich in den Konzepten der führenden Kriminalisten, die aus ihrem professionellen Selbstverständnis heraus Anschluss an wissenschaftliche Standards der zeitgenössischen Kriminologie, d. h. der Kriminalbiologie suchten. Ihre wissenschaftlichen kriminalistischen Vorstellungen ließen sich angemessen mit der rassistischen SS-Ideologie und den Konzeptionen einer völkischen Polizei kurzschließen und trugen zu einem nicht unerheblichen Teil zur (Selbst)-Radikalisierung der Kripo bei. Auch in Begründungs- und Argumentationsfiguren für die Verhängung von Schutzhaft oder für die Anordnung von Deportationen, insbesondere bei speziellen Verfolgtengruppen wie vorbestraften Juden oder bei Sinti und Roma finden sich Rassismen, die direkt der nationalsozialistischen Ideologie entspringen.1

Dennoch bildeten NS-Rassismen nicht die generelle Grundlage für kriminalpolizeiliche Ausgrenzung. Die Praxis der NS-Kripo ging vielmehr zunächst auf organisationskulturelle Handlungsformen und Deutungsmuster zurück, die bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten im alltäglichen Umgang mit Delinquenten und sozial deklassierten Personengruppen entwickelt wurden und spiegelt somit die Radikalisierung genuin kriminalpolizeilicher Organisa- tionskultur wider. Wie Wagner und Roth den überlieferten Dokumenten und Protokollen der Duisburger und Kölner Kripostellen entnehmen, sind Deutungsfiguren, die dem Berufsverbrecherparadigma und konventionellen bürgerlichen Disziplinierungsvorstellungen entspringen, dominant.

Der Übergang von kriminalistischen Traditionen und Konzepten der Berufsverbrecherbekämpfung und der Sozialdisziplinierung Unangepasster zur Vernichtungspraxis wurde durch die praktizierte Kontinuität der bürokratischen Handlungslogik vereinfacht. Zwar stellten die neuentwickelten Instrumente der planmäßigen Überwachung, der Vorbeugehaft und der damit verbundenen Deportationen durchaus einen Bruch mit bisherigen Mitteln der Verbrechensbekämpfung dar; ihre bürokratische Umsetzung in normierte Verwaltungsakte glättete diesen Bruch jedoch für die Wahrnehmungen der Kriminalisten. Kriminalpolizeiliche Praxis blieb zu einem großen Teil Schreibtischarbeit,2 die Fomalisierung von Handlungsschritten und Vorgängen und die Einführung bürokratischer Begrifflichkeiten für die neuen Handlungsformen fügte die neuen Maßnahmen rasch in den Alltag der Verwaltungsarbeit ein.

Bürokratisierung und Normierung verbrecherischer Maßnahmen des NS-Staates werden zumeist unter dem Aspekt der Verantwortungsentlastung durch Neutralisation bewertet. Unter einer organisationspsychologischen Perspektive leistet die Aktenförmigkeit und die Normierung von Verfahren jedoch einen weiteren, möglicherweise ebenso bedeutsamen Beitrag zur Ermöglichung verbrecherischer Handlungen: Schematisierung ermöglicht Routine und damit praktische Einübung jener ideologischen Basisannahmen, die sich in den Akten und Karteien

wiederfinden.

Die Modus-operandi-, Sippschafts- und Jugendlichenkarteien der Kriminalpolizei wurden entlang NS-ideologischer, d. h. v. a. kriminalbiologischer Annahmen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit geordnet. Daher sind sie nicht allein Indikator für die (Über-) Bürokratisierung der Organisation der Sicherheitspolizei, sie sind auch ein hochsignifikantes kulturelles Artefakt: Im Umgang mit den Kriterien, die der Systematisierung von Personen in Karteiform zugrunde liegen, produzierten, reproduzierten und lernten die Kriminalisten die neuen, von der Polizeiführung importierten organisationskulturellen Prämissen über das Wesen der Kriminalität, die der Anlage der Karteien zugrunde lagen. Das immer komplexer werdende Datenverwaltungssystem, das sich außer in immer umfassenderen Karteien auch in einem Ausbau der Dienststellen für Nachrichtenwesen und Erkennungsdienst äußerte, beschleunigte so „die Anpassung an die vom Reichskriminalpolizeiamt propagierten Wahrnehmungsmuster und Tätigkeitsfelder, Kriminalitätstheorien und kriminalpolitischen Leitvorstellungen“.1

Die kriminalpolizeiliche Anwendung von Deutungsschemata, die aus alltäglicher Praxis und Common-Sense-Vorstellungen über asoziales Verhalten entsprangen, wurde vor allem mit Beginn des Krieges noch durch Ängste im Zusammenhang mit der drohenden Anomisierung der Gesellschaft und dem damit einhergehenden drohenden Kontrollverlust verschärft. Die kriminalpolizeiliche Disziplinierungsmacht schien durch das zahlreiche und ubiquitäre Auftreten von Kriegsdelikten gefährdet. Angesichts des massenhaften Auftretens von kriminellen Handlungen auch bei ansonsten ,unauffälligen‘ Bürgern wäre ein Zweifel der Kriminalisten an der Angemessenheit ihrer kriminologischen und kriminalpolitischen Konzeption zu erwarten gewesen, denn „der am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen beginnende zweite Weltkrieg sollte [...] mit der aus seinen sozialen Verwerfungen resultierenden Kriminalität sowohl das kriminalbiologische Modell des Reichskriminalpolizeiamtes als auch Heindls Konzept vom Berufsverbrecher4 gründlich blamieren“.2

Tatsächlich reagierte die Kriminalpolizei angesichts des drohenden Kontrollverlusts durch umgreifende Kriegsdelikte jedoch nicht mit einer Revision ihrer kulturellen Handlungs- und Deutungsmuster, „sondern mit offensichtlicher Verhärtung: der Polizist an der Basis wandelte sich in dieser Phase vom autoritären Erzieher zum Verteidiger eines unweigerlich zusammenbrechenden Normengefüges und zum Kämpfer um den eigenen Kontrollanspruch“.3

Dieses scheinbar widersinnige Phänomen konsistenten und sogar eskalierenden Verhaltens trotz offensichtlicher Unangemessenheit lässt sich unter einer organisationskulturellen Perspektive als Commitment gegenüber einem einmal eingeschlagenen Handlungsmuster verstehen. Gerade angesichts des drohenden Scheiterns des gewählten Handlungsstranges wird eskalierendes Commitment wahrscheinlich. Die Tatsache, dass die Durchsetzung der spezifischen kriminalpolitischen Konzeptionen bereits mit hohen Investitionen verbunden war, öffen

lich diskutiert und vertreten wurde, und die Tatsache, dass für die Kriminalpolizei weitergehende Interessen - etwa ihre Stellung im Machtgefüge des Staates, die durch ihre Effektivität legitimiert war - auf dem Spiel standen, machte eine Abkehr von kulturellen Mustern undenkbar.1

Organisationskultur der Gestapo: das „Geheime“ und die Verteidigung des Kontrollanspruchs

Hans-Joachim Heuer verwendet bei seiner Analyse der Gestapo den Begriff des ,Geheimen' als Schlüssel zum Verständnis interner geheimpolizeilicher Interaktion und liefert somit einen Ansatz zum Verständnis der Organisationskultur der Gestapo. Der Aspekt des Geheimen bezieht sich dabei zunächst auf Elemente der strukturellen Rahmung des Gestapo-Handelns. Von der Bevölkerung weitgehend unbekannt und der Nachprüfung durch öffentliche Gerichtsbarkeit entzogen, hatte die Gestapo einen Möglichkeitsraum geschaffen, innerhalb dessen das Handeln von externer Kontrolle befreit war. Ein für die Analyse geheimpolizeilicher Organisationskultur bedeutsamerer Aspekt des Geheimen dürfte jedoch in der (strukturell ermöglichten) Herausbildung einer starken Gruppenbindung, der damit einhergehenden Ausarbeitung gruppeninterner Normsysteme und der damit verbundenen Abgrenzung von externen normativen Verpflichtungen liegen: „Durch das spezifisch begrenzte Kommunikationsnetz und der damit einhergehenden inhaltlichen Reduzierung (i. S. von gebrochener Komplexität) der Arbeitswelt entsteht für jedes Mitglied eine exklusive Realität“.2

Der von der Corporate Identity der Sicherheitspolizei als Staatsschutzkorps vorgegebene Binnenwert der „Kameradschaft' hat in einer Organisation, die ihre Interaktionen an der Prämisse der Geheimhaltung orientiert, unmittelbar handlungsrelevante Bedeutung: Nicht der Geheimnisträger als verschwiegenes Individuum ist gefragt, sondern die Gemeinschaft der durch Interna verbundenen Mitglieder ist zur gegenseitigen Loyalität verpflichtet. Das Bewusstsein, über exklusives und machtvolles Wissen zu verfügen und nach selbstgewählten Methoden selbstgestellte Problemlagen zu bearbeiten, führt zu der Notwendigkeit, dem Problem der internen Integration der Organisationsmitglieder, das sich prinzipiell für jede Organisation stellt, besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Der angestrebte Korpsgeist, der aus der Ideologie des ständigen Kampfes resultierte und der das unbedingte Einstehen füreinander aufgrund drohender Gefahr beinhaltete, dürfte für den internen Zusammenhalt der Gestapo - und auch der Einsatzgruppen - interaktionsleitend gewesen sein: „Es werden Leistungen erwartet, die in gewöhnlichen' Beziehungen nicht erbracht werden müssen. Dies bezieht sich u. a. auf Unterstützung in der Arbeit, Akzeptanz der Anderen, Nichtäußern von Kritik, informelles Verbot der Weitergabe von intimeren Kenntnissen über die Gruppe, ihre Absichten und Weltbilder.“3

Die auf die interne Integration der Organisationsmitglieder gerichteten kulturellen Muster ermöglichten der Gestapoführung einen raschen Wechsel von Zielformulierungen und Strategien. Die starke Bindung der Gestapoleute aneinander und an ihre Organisation, die durch die geschilderte Konzeption der orga- nisationalen Identität als Korps vor allem von den jeweiligen Führungspersonen gefordert wurde, stellte einen gewissen ,Loyalitätskredit‘ auch angesichts immer neuer Zielformulierungen und Methoden dar. Vor allem die zahlreichen Neuzugänge zur Gestapo hatten eine grundsätzliche Bereitschaft zum Commitment zu erweisen, die sich nicht auf konkrete Ziele und Normen bezog, sondern die allgemeine Bereitschaft zur Anerkennung der Wahrnehmungs- und Handlungsmuster in der Gestapo anzeigte.1

Die Bereitschaft zur normunabhängigen Loyalität dürfte je nach sozialer Herkunft und bisheriger beruflicher Sozialisation der Gestapobeamten zwar unterschiedlich ausgeprägt gewesen sein, war jedoch bei der Gestapo wahrscheinlich generell größer als bei der Kripo, bei der nationalsozialistische Deutungs- und Handlungsmuster nur insofern befolgt wurden, als sie sich als anschlussfähig an bisherige organisationale Traditionen der kriminalistischen Arbeitsweise erwiesen.

Die Zielformulierungen und Gegnerdefinitionen der Gestapo und die Abschließung und Exklusivität der Gestapo im Staatsschutzkorps bedingten einander. Den Beschreibungen Heydrichs und Himmlers zum Wesen des ,unsichtbaren Gegners4 liegen paranoide, direkt von einer Gefährdung der eigenen Organisation ausgehende Befürchtungen zugrunde. Die Gefahr durch Feinde drohte nicht allein der abstrakten Volksgemeinschaft, sondern immer auch zugleich der eigenen Organisation. Juden etwa schienen nicht nur die rassische Substanz des Volkes zu unterminieren, sonders versuchten scheinbar ebenfalls, die staatlichen Institutionen zu unterwandern.2 Der Feind schien somit auch in den eigenen Reihen zu drohen und die Verteidigung des Staates und der Volksgemeinschaft verwandelte sich zunehmend in eine Verteidigung des eigenen Kontrollanspruchs.

Das sukzessive selbsterzeugte Gefährdungsszenario wird gegen Ende des Krieges real: Der durch den Rassenkrieg herbeigeholte Fremdarbeiterstrom und die aus der unzufriedenen Bevölkerung wiedererstarkende Widerstandsbewegung bedroht den Repressionsapparat in kaum kontrollierbarer Weise. Die ausufernde Feinddefinition und die Furcht vor der Zerstörung der eigenen Existenz ließ nur noch äußerste Gewalt als adäquates Mittel der Repression erscheinen: „Mit Zunahme der Zahl potentieller Feinde, die mit herkömmlichen polizeilichen Mitteln nicht länger kontrolliert werden konnten, wuchs auch der Rückgriff auf immer brutalere Verfolgungs- und Unterdrückungsmethoden“.3

oziale Identifikation und organisationales Commitment

Im vorherigen Kapitel wurde bereits geschildert, welche Strategien angewendet wurden, um die Bindung der Sipo-Führer an das Leitbild des Staatsschutzkorps zu initiieren und aufrechtzuerhalten. Es bleibt jedoch noch zu klären, warum diese Strategien - in unterschiedlicher Ausprägung - auf individueller Ebene wirksam werden konnten. Es gilt daher, kollektivbiographischen Erfahrungen, Bedürfnisse und Motive zu ermitteln, die die Identifikation und Selbstverpflichtung gegenüber dem Staatschutzkorps und damit die Voraussetzung zur Begehung von Initiativtaten durch die Führungskräfte der Sicherheitspolizei erklären können.1

Das Führungspersonal der Sicherheitspolizei war kein repräsentatives Sample der deutschen Bevölkerung, das allein durch ideologische Verblendung und Indoktrination dem sicherheitspolizeilichen Leitbild folgte. Durch Personalselektion, die solche Männer in Führungspositionen lancierte, die aufgrund ihres kollektivbiographischen Hintergrundes bereits über kognitive Schemata verfügte, die denen des sicherheitspolizeilichen Leitbildes glichen und durch Aus- und Fortbildungsmaßnahmen, die diese latent vorhandene Einstellungsähnlichkeit noch weiter ausbaute, konnte die Führung der Sicherheitspolizei sicherstellen, dass die gewünschte Verschmelzung des Staatsschutzkorpsleitbildes mit dem Habitus seiner Führer gelang.

Zunächst einmal ist zu bemerken, dass es sich bei der Führungsschicht der Sicherheitspolizei um eine sehr junge Kohorte handelte. 68 Prozent gehörten den Geburtsjahrgängen nach 1904 an, weitere 24 % waren zwischen 1894 und 1903 geboren.2 Sie waren somit deutlich jünger als die ihnen unterstellten Kollegen, das Durchschnittsalter der Gestapoangehörigen der Gestapostelle Kiel lag nach Angaben von Paul bei etwa 40 Jahren.3 Für die Kriminalpolizei ergibt sich jedoch ein etwas differenziertes Bild: So waren unter den Kriminalkommissaren in Berlin aufgrund einer gezielten Verjüngung des Führungspersonals im Jahr 1937 nur 20 % über 50, in der Provinz betrug das Durchschnittsalter der Kommissare jedoch 55 Jahre.4

Die soziale Herkunft der Sipo-Führungselite war mittelständisch geprägt, die Väter der Unterschicht waren im Vergleich zur Gesamtbevölkerung un- terrepräsentiert,5 ein Drittel der Väter waren Beamte. 70.4 % der Gestapo- und Kripoführer schlossen ihre Schulbildung mit dem Abitur ab. Die meisten der Abiturienten nahm ein Hochschulstudium auf, dominant mit 60 % waren dabei die Staats- und Rechtswissenschaften. Für die Stapostellenleiter betrug der Anteil sogar 87 %.6

Die kollektiven Erfahrungen, mit denen diese Kohorte während ihrer Studi

enzeit konfrontiert wurde, prägten mit hoher Wahrscheinlichkeit die Bereitschaft der Studenten, leitende Positionen in der Repressions- und Vernichtungsmaschinerie der Sicherheitspolizei zu übernehmen: Das elitäre Selbstbild, das Akademiker pflegten und durch das sie sich von der restlichen Bevölkerung abgrenzten, wurde durch die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Veränderungen zur Zeit der Weimarer Republik bedroht, eine Erfahrung, die zu zunehmender Radikalisierung von Teilen der Studentenschaft führte. Völkisches Denken, ein idealisierender Frontkämpfermythos, Rassismus - vor allem in seiner antisemitischen Ausprägung-, Sozialdarwinismus und die wissenschaftliche Untermauerung durch Positivismus, der gerade bei den Jurastudenten in Form eines Rechtspositivismus gepflegt wurde, waren kognitive Schablonen, die latente Unsicherheitserfahrungen und Ängste vor Statusverlusten zu kompensieren versprachen. Härte gegenüber sich selbst und gegenüber anderen, Idealisierung des Volkes und des Krieges, emotionslose Orientierung am sachlich Gebotenen prägten den Habitus jener Studentenkohorte, aus denen sich die Sipo-Führung rekrutierte. Sie waren bereit und befähigt, die rassistische Utopie der Volksgemeinschaft rational zu organisieren und ohne störende Einflüsse der von ihnen abgelehnten bürgerlichen Moral effizient, also notfalls auch gewaltsam durchzuführen.

Ein eher profaner, aber verstärkender Grund für die Attraktivität der Gestapo für junge Akademiker dürfte in der schlechten Arbeitsmartsituation gelegen haben. Die Studenten in der Weimarer Republik hatten im stärkeren Maße als ihre Kommilitonen im Kaiserreich mit Arbeitslosigkeit zu rechnen. Die Weltwirtschaftskrise führte zu einer Überfüllung der Hochschulen, mehr Studenten erlangten einen akademischen Abschluss, als der Arbeitsmarkt zu fassen vermochte. Karrierewünsche trotz ungünstiger Arbeitsmarktsituation machten vor allem die expandierende Organisation der Gestapo zu einem verlockenden Arbeitgeber, zumal die leitenden Positionen gut bezahlt wurden.1

Die ungewöhnlich hohe Anzahl von Akademikern in Sipo-Führungspositionen kann zum einen mit den Einstellungsbedingungen für die höheren Be- amtenlaufbahnen erklärt werden, darüber hinaus dürfte sie aber auch Ausdruck einer gezielten Personalpolitik gewesen sein. Im Gegensatz zu R. Heydrich, der hoffte, einen „neuen politisch-soldatischen Beamtentypus, der sich von der klassischen Bürokratie durch weltanschauliches Bekenntnis, Mobilität und Flexibilität abheben sollte“2 zu etablieren, hielt der Personalchef der Sicherheitspolizei, Werner Best, an den fachlichen Anforderungen an das höhere Beamtentum fest, um eine gewisse „Professionalität in die sich anarchisch zu entwickeln drohende Gestapo [zu] bringen“.3 Best kam es statt auf ideologische Begeisterung eher auf die Fähigkeit der neuen Führungselite an, aus fachlicher Qualifikation und emotionsloser Sachorientierung heraus den effizienten Ausbau der Sicherheitspolizei zu gewährleisten.

Heydrichs Wunsch nach , revolutionärer Dynamik‘ und Bests Suche nach .unpersönlicher Objektivität bildeten zusammen ein personalpolitisches An

orderungsprofil, zu dessen Erfüllung die junge, akademisch ausgebildete und völkisch-nationalistisch geprägte Führungselite prädestiniert war. Die relative Homogenität des Führungskorps, die mit einem elitären Wir-Bewusstsein verbunden gewesen sein dürfte, hatte für die engagierte und effiziente Durchführung des Völkermordes einen großen Einfluss. Durch die kollektiven Erfahrungen mit einem rassistischen, völkischen und rationalistischen Diskurs in der Weimarer Zeit war daher bereits eine Basis für die zu erreichende Identifikation der Führungskräfte mit dem Ideal des Staatsschutzkorps gegeben. Wahrscheinlich hing mit dem Eintritt in die SS, den 1944 immerhin 85 % aller Gestapoleiter und 46 % aller Kripoleiter vollzogen,1 eher eine zusätzliche Formalisierung und Emotionalisierung der Bindung an ein gleichgesinntes Kollektiv zusammen als eine weltanschaulicher Neuausrichtung und Gleichschaltung.

Neben der kollektivbiographischen Erfahrung des Sipo-Führungskorps dürften jedoch auch weitere Faktoren die Bereitschaft zur Identifikation und Selbstverpflichtung gefördert haben. Diese Faktoren sollen in jenen Motiven und Bedürfnissen verortet werden, die von Organisationspsychologie als grundlegend für die Identifikation eines Individuums mit einer Organisation herausgestellt wurden.

Die Identifikation mit der organisationalen Identität des Staatsschutzkorps konnte die Selbstwahrnehmung der Polizisten als kompetente und konsistente Akteure fördern und ihnen damit ein Gefühl der Sicherheit verschaffen. Der Rekurs auf organisational angebotene Muster der Wirklichkeitswahrnehmung- und Bearbeitung machte die Bedingungen und Ergebnisse des eigenen Handelns kontrollierbar und verlieh ihnen Sinn. Damit eine Organisationale Identität als Grundlage und Verstärkung der eigenen Identität gewählt wird, müssen diese Muster jedoch nicht nur hinreichend plausibel und attraktiv sein, sie müssen einer Organisation zugerechnet werden können, die mächtig genug scheint, um sie dauerhaft stabilisieren und durchsetzen zu können.

Die von Sicherheits- und Konsistenzbedürfnissen geleitete Identifikation mit einer starken und stabilen organisationalen Identität wird vor allem in Situationen wahrgenommener Bedrohung durch ,Andere‘ und in Situationen wahrgenommener Ambiguität wahrscheinlich. Identifikation mit der eigenen Organisation wäre in diesem Fall ein Schutzmechanismus zur Stabilisierung der indirekt attackierten Sinnwelt durch Verstärkung der Kohäsion. „Identity is felt to be secure if the powers that have certified it seem to prevail over ,them‘ - the strangers, the adversaries, the hostile others - construed simultaneously with the ,we‘ in the process of self-assertion“.2 Die Konstruktion der Bedrohung der eigenen Existenzgrundlagen durch den ,Volksfeind‘, dessen verschiedene Erscheinungsformen zu bekämpfen das Programm der Sicherheitspolizei war, sorgte in grundlegender Weise für die Identifikation der Polizisten mit den Zielen und Leitbildern ihrer Organisation.

Die Bedrohung durch den Volksfeind war zunächst nur als abstrakte Gefährdung der Volksgemeinschaft konzipiert und nicht als unmittelbare Reaktion

des Gegners auf polizeiliche Maßnahmen. Mit der Eskalation der Verfolgungsund Vernichtungsmaßnahmen schien die Gefährlichkeit des Gegners jedoch in zunehmenden Maße auch aus den dem polizeilichen Vorgehen selbst zu resultieren und wurde damit zur unmittelbaren Bedrohung der eigenen Existenz.1 Es ist denkbar, dass die wahrgenommene Verschiebung der Gründe für die Gegnerschaft des ,Anderen‘ die Zielrichtung von einer abstrakten Identifikation mit der Volksgemeinschaftsideologie hin zu einer konkreteren Identifikation mit der eigenen Organisation geführt haben mag.

Neben dieser unmittelbaren existentiellen Bedrohung durch Gegner sind jedoch auch die Bedrohungen der Sinnwelten durch verwandte Organisationen mit anderen Leitbildern zu erwähnen. Die zahlreichen Aushandlungsprozesse über Machtbereiche und Kompetenzverteilungen, bei denen die Sicherheitspolizei die von ihr besetzten Bereiche staatlicher Herrschaft zu verteidigen und zu legitimieren hatte, etwa mit Organisationen der inneren Verwaltung, der Justiz, der Wehrmacht und dem SD, konnten als potentielle Bedrohungen des eigenen ,Claims‘ und damit zu einem erhöhten Kohäsions- und Identifikationsdruck der verantwortlichen Führung geführt haben, ebenso wie die internen Kompetenz- und Ressourcenkonflikte zwischen Gestapo und Kriminalpolizei.

Neben der Bedrohung der Organisation durch außen können auch intrapersonale Konflikte zur Verstärkung der Identifikation führen. Abivalente oder widersprüchliche Kognitionen, die im Sinne der Dissonanztheorie von Individuen als unangenehme Spannungen empfunden werden, können durch Verstärkung der Bindung an ein salientes Deutungsschema abgemildert oder aufgelöst werden. Es ist zu vermuten, dass die Parallelität der Erfahrung eines von einer bürokratischen Kultur geprägten Alltags polizeilichen Handelns und die Erfahrung starker körperlicher und psychischer Anspannung und Belastung im ,Osteinsatz', die viele Polizeiführer machten, ambivalente Emotionen und Kognitionen erzeugte, die unter anderem durch eine Verstärkung der Bindung an das Staatsschutzkorps integriert werden konnten. Gerade im Falle der Dissonanzreduktion, die für viele Polizisten (auch der unteren Ränge) in den Mordkommandos der besetzten Gebiete zur Notwendigkeit wurde, um ihre - zumindest zu Anfang der Einsätze auftretenden - physischen Reaktionen der Abscheu und der Übelkeit beim Anblick Erschossener zu überwinden, war Identifikation mit dem ideologischen Programm des Staatsschutzkorps eine wahrscheinliche Reaktion. Die Identifikation mit der SS-Identität bot die Möglichkeit, gerade in Situationen höchster Anspannung und Ambivalenz ein Gefühl der Stabilität und der Sinnhaftigkeit zu bewahren, da sie Verhaltens- und Bewertungsstrategien zur Verfügung stellte, die menschliche Extremsituationen zur Grundlage hatten: „Dabei stellt sich eine spezifische Verkoppelung her aus der Einsicht in die Notwendigkeit inhumaner Handlungen und dem Gefühl, diese Handlungen nur widerwillig, gegen das eigene mitmenschliche Empfinden auszuführen - und gerade diese Verkoppelung bietet die Basis, sich ,trotzdem' als anständig wahrzunehmen“.2

Die geforderte Härte gegenüber sich selbst und gegenüber den Mitmenschen bedeutete eben nicht, keine Anspannung und Abscheu beim Töten zu empfinden, sondern nur, diese in einer spezifischen Weise zu interpretieren: nicht als ,Gewissensregung', die das Handeln in Frage stellt, sondern als zu überwindende Schwäche. Der Ekel und die Abscheu, die von vielen Polizisten während der Exekutionen empfunden wurden, musste nicht Anlass für grundsätzliche ethisch motivierte Zweifel am eigenen Handeln sein. Der Unsicherheit und Dissonanz erzeugende Einfluss der empfundenen physischen Erregung konnte durch die Identifikation mit einem ideologisierten Persönlichkeitsbild, in dem menschliche Extremsituationen ausdrücklich thematisiert wurden und in dem der Ausnahmezustand bereits als Folie für das alltägliche Handeln diente, aufgehoben werden.

Im Zusammenhang mit Tötungshandlungen kann auch das Konzept des ,so- zialpsychologischen Commitments'1 herangezogen werden, das erklärt, warum das Aufrechterhalten eines einmal eingeschlagenen Handlungsstranges zur Bin- dung an das Handlungsleitbild führt. Es ist vielfach nachgewiesen worden, dass für Polizisten in den Einsatzgruppen grundsätzlich die Möglichkeit bestand, sich (etwa durch Versetzung) den mörderischen Einsätzen zu entziehen. Geht man davon aus, dass die Polizisten von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machten (was durch die Verpflichtung zur Kameraderie bzw. der Ablehnung von ,Feigheit‘ und der Forderung nach ,Aktion‘ vor allem für die Polizeiführung wahrscheinlich ist), trug gerade die wahrgenommene Freiwilligkeit gemeinsam mit dem Bedürfnis nach Konsistenz dazu bei, die Selbstverpflichtung gegenüber der einmal begonnenen Handlungsfolge zu verstärken und das Töten fortzusetzen.

Ein weiteres naheliegendes Motiv für die Identifikation mit einer Organisation ist das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Vor allem in Situationen sozialer und emotionaler Isolierung wird das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einem ausschlaggebender Faktor für die Identifikation mit Gruppen oder Organisationen. In diesen Situationen dürfte der konkrete Inhalt einer organisationalen Identität für den Identifikationsprozess eher nebensächlich sein. Situationen emotionaler und sozialer Isolierung bestimmten den Erfahrungsbereich der Gestapo- und Kripoführungskräfte in erheblichem Maße, da die dynamische Anpassung der Sicherheitspolizei an immer neue Aufgabenfelder und die territoriale Expansion ihres Zuständigkeitsbereichs die Flexibilität ihres Führungspersonals voraussetzte: „In einem System sich kumulierender Aufgaben und ständiger Expansion benötigte der Maßnahmenstaat mobile und allseits einsetzbare Organisatoren der Macht und keine an ihrem Schreibtisch klebende und nur an der Wahrung ihrer Privilegien orientierte Beamte“.2

Das Rotationsprinzip in der Personalpolitik, das nur kurze Aufenthalte an der gleichen Dienststelle vorsah, die von Best geleitete zentrale Ausbildung des Gestapo-Führungspersonals in Berlin und die Ungewissheit, welcher Stapostelle man nach Beendigung der Ausbildung zugeteilt würde, aber auch die zahlreichen Abordnungen in die mobilen Einsatzkommandos der besetzten Gebiete schlossen stabile Bindungen außerhalb des beruflichen Kontextes nahezu aus. Die Bindung

an die abstraktere Identität der SS-Gemeinschaft des Staatsschutzkorps konnte diese durch die Personalpolitik forcierte Bindungslosigkeit auffangen - ein Effekt, der von der Personalführung durchaus gewünscht und geplant war: Nicht nur die Flexibilität des sicherheitspolizeilichen Führungspersonals sollte durch die Rotation erhöht werden; die Rotation zielte zugleich darauf ab, das Korpsgefühl der Sipo-Führer zu verstärken, in dem es andere Bindungen kappte und die entwurzelten Männer damit zur Identifikation mit ihrer Organisation zwang.1

Verstärkt wurde dieser emotionale Druck zur Identifikation mit der SS-Identität durch das bereits dargestellte Prinzip des Einsatzes von Gruppen in den besetzten Gebieten. Durch die Zusammenführung von Sipo- und SD-Führern, die sich bereits aus längerer Zusammenarbeit kannten und einander Sympathie entgegenbrachten, erhielt die eher abstrakt konzipierte Identität des Staatsschutzkorps eine konkrete Gestalt. Die ohnehin schon naheliegende Bindung an die Werte und Ziele der Sicherheitspolizei wurde durch die Bindung an eine sie repräsentierende Gruppe affektiv forciert, „förderte sie doch aus engstem Raum den Identifikationsprozess mit der als ,historisch‘ verstandenen Neuordnungsaufgabe von Sipo und SD“.2

Die Betonung von Kameradschaft und Kameraderie als zentraler Wert der SS-Ordens-Ideologie legte die Verschmelzung affektiver Bindung und weltanschaulicher Gleichrichtung nahe; affektive Bindung an das Korps ohne Identifikation oder Internalisierung der gemeinsamen Weltanschauung war nicht denkbar. Die gekoppelten Prinzipien der Kameradschaft und der Treue bildeten dabei den Rahmen, innerhalb dessen die Befriedigung sozialer Bedürfnisse möglich war, andere Formen der affektiven Bindung waren nicht vorgesehen. Die Wahrnehmung der eigenen Gesellungs- und Affiliationsbedürfnisse war somit durch die in der Identität des SS-Führers vorgesehene Verbindung emotionaler (Kameradschaft) und affektiv aufgeladener weltanschaulicher Identifikation (Treue gegenüber den Führerbefehlen) direkt an die Akzeptanz der rassenhygienischen Aufgaben der Sicherheitspolizei gekoppelt. Der gemeinsame Besuch von Schulungslehrgängen, jährliche Treffen der Gestapoleiter, die Distanzierung der SS-Führer von Unterführern und Mannschaften, der homogene geistige und soziale Hintergrund der ,Gestapojuristen‘ und ähnliche weitere Faktoren taten ihr übriges, Identifikationsprozesse auf der Basis affektiver Bindung zu verstärken.

Eine weitere wichtige Rolle für die Identifikation mit dem StaatsschutzkorpsLeitbild dürfte die Funktion des Leitbildes für die Selbstbestärkung und -aufwertung gespielt haben. Die Einbeziehung der Sicherheitspolizei als prominenter Akteur in einen ganzheitlichen rassenhygienischen völkischen Ordnungsentwurf, der ohne die Behinderung durch formale Beschränkungen verwirklicht werden konnte, war Grundlage der Herausbildung einer elitären organisationalen Identität der Sicherheitspolizei als moderne, fortschrittliche und mächtige Institution. Die ausschließliche Verpflichtung gegenüber wissenschaftlichen (d. h. vor allem kriminalbiologischen und sozialdarwinistischen) und weltanschaulich/völkisch begründeten ,Lebensgesetzen‘ als Alternative zur Bindung an als künstlich emp

fundene rechtsstaatliche Prinzipien verschaffte der Sicherheitspolizei, die sich der Wehrmacht gleichrangig fühlte und nicht länger als Hilfsdiener der Justiz fungierte, ein Selbstverständnis großer historischer Bedeutsamkeit: „Der Eindruck, an einem Projekt aktiv beteiligt zu sein, das die politisch-biologische „Gesun- dung“ des deutschen Volkes - und perspektivisch des ganzen Kontinentes - in Angriff nahm und dabei alle bis dahin gekannten Dimensionen sprengte, verlieh den Einzelnen zudem das Empfinden von historischer Größe und der Einmaligkeit des Vorhabens sowie ein Gefühl der Dankbarkeit, dabei mittun zu dürfen“.1

Die Förderung des Leistungs- gegenüber dem Anciennitätsprinzips knüpfte als personalpolitische Maßnahme ebenfalls an das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung an. Zwar gelang es Himmler und Heydrich mit Rücksicht auf das Reichsinnenministerium nicht vollständig, die in der staatlichen Bürokratie üblichen Beförderungsrichtlinien aufzuheben und durch leistungsorientierte Beförderungsgrundsätze zu ersetzen, es gelang ihnen jedoch vielfach, sie zugunsten besonders beförderungswürdig erachteter Personen zu durchbrechen. Die frühzeitige und zügige Beförderung in Spitzenpositionen eines Regierungs- oder Kriminaldirektors diente Heydrich und Himmler hauptsächlich dazu, die Schaltstellen der Macht mit jungen, nationalsozialistisch geprägten und verlässlichen Männern zu besetzen.2 Die Karrierewünsche und die Bedürfnisse nach Statuserhöhung der jungen Akademiker konnten zu diesem Zwecke instrumentalisiert werden; die Aussicht auf eine leistungsorientierte Beförderung motivierte zur Identifikation im Sinne eines sogenannten austauschbezogenen Commitments, bei dem Identifikation als Gegenleitung zu den von der Organisation erhaltenen Vergünstigungen erbracht wird.3 Die Bewerbung bei der Gestapo versprach vor allem für die juristisch ausgebildeten Hochschulabgänger einen raschen sozialen Aufstieg als Gegenleistung für demonstriertes Engagement beim Aufbau des Repressionsapparates. Das reichhaltige Arsenal an offen sichtbaren Zeichen des beruflichen Erfolges wie Rangabzeichen, öffentliche Belobigungen, Titel und Uniformen, das die Sicherheitspolizei zu vergeben hatte, förderte die Leistungsbereitschaft zusätzlich.4

Auch die Verschmelzung des Polizeiapparates mit der SS, personalpolitisch forciert durch die Ausbildungen zum SS-Führer, und die vereinfachte Aufnahme in die Schutzstaffel im Zuge der ,Dienstgradangleichung' versprach die Aufwertung des sozialen Status und damit des Selbstwertgefühls. Die SS war von Himmler mit dem Ziel ins Leben gerufen worden, einen neuen ,Adel', eine herrschende Elite für das zu gründende Deutsche Reich zu stellen.5 Neben dem Bewusstsein, einer auserwählten Elite anzugehören, versprach die SS-Mitgliedschaft auch so- ziale Sicherheit durch die erreichte Position im nationalsozialistischen Machtgefüge und trug so direkt zur Herausbildung der erwünschten sozialen Identität bei6.

Organisationspsychologie der ,Weltanschauungsexekutive‘?

Die Konzepte der organisationalen Identität und der Organisationskultur, der Identifikation und des Commitments sind für die Analyse ,normaler‘ gegenwärtiger Organisationen (insbesondere von Wirtschaftsunternehmen) formuliert und ausgearbeitet worden. Es kann daher nicht selbstverständlich davon ausgegangen werden, dass diese Konzepte sich zur Analyse der ,Weltanschauungsbürokratie‘1 der Sicherheitspolizei eignen.

Der Versuch, eine Organisation des Staatsterrors mit einem theoretischen Instrumentarium, dessen hauptsächliches Anwendungsgebiet heutige Wirtschaftsbetriebe sind, zu erfassen, ist eine Gratwanderung zwischen der wünschenswerten Entdämonisierung des nationalsozialistischen Staatsterrors durch Rekonstruktion von ,Normalität‘ und der zu vermeidenden Gefahr der ,Norma- lisierung4. Das Durckheimsche Postulat, Soziales durch Soziales zu erklären und die Webersche Hoffnung, man könne Handlungen über die verstehende Rekonstruktion des ihnen zugrundeliegenden Sinnes ursächlich erklären, mögen durch das Verweilen beim Grauen‘2 der nationalsozialistischen Verbrechen erschüttert werden. Dieser Zweifel findet sich in seiner radikalsten Formulierung bei Hannah Arendt, die bei ihrer Analyse der Vernichtungslager vor allem herausstellte, dass diese die bis dato unhinterfragt akzeptierten Grundannahmen über menschliches Sozialverhalten ad absurdum führten.3

Die Rückführung konkreter verbrecherischer Handlungen auf allgemeine, von der Organisationspsychologie beschriebene Mechanismen wird den unterschiedlichen und möglicherweise widersprüchlichen und halbbewussten Interessen, Motivlagen und Wahrnehmungsmustern der Polizisten, die im nachhinein kaum isoliert werden können, nicht gerecht. Aussagen über gruppendynamische Prozesse etwa lassen sich aufgrund der Quellenlage nur mit Einschränkungen rechtfertigen; persönliche und nicht auf Gruppenprozesse oder Organisationsstrukturen rückführbare Nebenmotive und Inkonsistenzen im Verhalten können retrospektiv kaum erfasst werden. Gerade diese Ambivalenzen, Widersprüche und Unwägbarkeiten sind jedoch Ausdruck von situativen Bedingungen, die per se nicht wiederholbar sind und somit die externe Validität der im Labor bzw. in ,normalen‘ Unternehmen getesteten Hypothesen über menschliches Verhalten in Gruppen und Organisationen auf den Prüfstand stellen.

Die Frage, inwieweit das analytische Instrumentarium der Organisationspsychologie auf eine Organisation anwendbar ist, deren Ziele nicht in der Produktion von Gütern oder Dienstleistungen, sondern in der massenhaften Terrorisierung und Ermordung von Menschen bestanden, kann hier nicht abschließend beantwortet werde. Organisationen des Staatsterrors stellen einen Grenzfall dar, an dem die Organisationspsychologie zeigen kann, ob sie ,mehr‘ ist als eine

Hilfswissenschaft für Manager.

Literatur

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Bauman, Zygmunt 1999: Culture as Praxis, London/Thousand Oaks/New Delhi

Birn, Ruth Bettina 1986: Die Höheren SS- und Polizeiführer. Himmlers Vertreter im Reich und in den besetzten Gebieten, Düsseldorf

Bröckling, Ulrich 1997: Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion, München

Browder, George C. 1996: Hitler's Enforcers. The Gestapo and the SS Security Sevice in the Nazi Revolution, New York/Oxford

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Heuer, Hans-Joachim 1995: Geheime Staatspolizei. Über das Töten und die Tendenzen der Entzivilisierung, Berlin/New York

Heydrich, Reinhard 1936: Wandlungen unseres Kampfes, München/Berlin

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