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„Bilder vom Feind“. Die DDR-Opposition in den Fotografien des Ministeriums für Staatssicherheit

Der Bilderberg

Langsam, die Reihe fast geschlossen, bewegen sich die sommerlich Gekleideten auf den Platz zu. Einige von ihnen haben sich untergehakt. Alle tragen große Pappschilder vor sich, die ihre Oberkörper vollständig bedecken. Die Schilder zeigen Ausschnitte einer backsteinfarbenen Mauer, die von einem doppelten Stacheldraht gesichert ist. Die Demonstranten erregen öffentliche Aufmerksamkeit. Sie waren sich im Voraus dessen wohl bewusst gewesen. Aber nun blicken sie unsicher zur Seite. Kurze Zeit später werden sie „Mauer und Stacheldraht“ abnehmen und zerstören. 1
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Abbildung 1 Demonstration gegen Mauer und Grenze, Budapest 13.8.1989

Unter den Aufnahmen, die nach der Wende im ehemaligen Ministerium für Staatssicherheit gefunden wurden, befindet sich auch das Polaroid-Foto der demonstrierenden DDR-Bürger, die am 13. August 1989, dem Jahrestag des Mauerbaus, in Budapest aufgenommen wurden. Es gehört zu einer ganzen Serie von Aufnahmen. Auf welchem Weg die Fotos aus Ungarn nach Ostberlin gelangten, ist nicht bekannt. Man darf aber zu Recht vermuten, dass noch im Sommer 1989 der lange Arm der Staatssicherheit in Gestalt brüderlicher Amtshelfer beim ungarischen Geheimdienst ohne Mühe bis in das sozialistische Lager‘ reichte. Kooperationen und Absprachen waren unter den Geheimpolizeien seit den 1980er Jahren verstärkt worden.1

Nach dem Untergang der Diktatur zeigte die Hinterlassenschaft des Ministeriums für Staatssicherheit, dass viele Befürchtungen von Oppositionellen und Nonkonformisten über das Ausmaß geheimpolizeilicher Aktivitäten gegen eine kritische oder sozial auffällige Minderheit wohlbegründet waren.2 Seit den 1970er Jahren hatte das MfS die mutmaßlichen Feinde der Republik, aber auch so genannte negativ-dekadente oder feindlich-negative Personen, zunehmend mit den Mitteln der Fotografie ins Visier genommen. Die Stasi häufte auf diese Weise einen beträchtlichen Bilderberg an.3 Der Tätigkeitsbericht der „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ (BStU) verzeichnet nach dem Stand des Jahres 2009 insgesamt etwa 1.447.000 Fotopositive, -negative und Dias sowie rund 2.750 Filme und Videos.4

Der weitaus größte Teil dieser Bilder umfasst Observations- und Ermittlungsfotos, Bilddokumentationen, Schulungsmaterial und Übungsfotos sowie Fotos zur Identifizierung und Registrierung. Fotografien finden sich in nahezu allen Hauptabteilungen oder „Linien“, wie sie das MfS nannte,5 insbesondere aber auf der Linie II (Spionageabwehr), der Linie VI (Grenze, Tourismus und Passkontrolle), und der Linie XX (Kirche, Opposition, Kunst und Wissenschaft). Bei den Fotos handelte es sich meist um Auftragsarbeiten der Hauptabteilung VIII, die für Observationen, Ermittlungen und Verhaftungen zuständig war und der Hauptabteilung IX, dem strafrechtlichen Untersuchungsorgan des MfS. Hinzu kamen Aufnahmen der „Inoffiziellen Mitarbeiter“ (IM), von denen zuletzt 174.000

für das MfS tätig waren.1 Diese Vertrauensleute und Informanten lieferten nicht nur die bekannten Spitzelberichte, sondern mitunter auch Fotos von den Personen, auf die sie angesetzt worden waren. Sie gaben auf diese Weise oppositionellen Gruppen und Sympathisierenden ein Gesicht und trugen so zu ihrer schnelleren Identifizierung und zur effektiveren Observierung der Szenen und Milieus bei. Hinzu kamen schließlich Fotos aus dem privaten Leben der Verdächtigten, die sich das MfS durch Beschlagnahmung oder während einer heimlichen Wohnungsdurchsuchung, verschaffte.

Was hatte es mit diesen Fotos auf sich? Wozu dienten sie? Wie war die Fotografie eingebunden in den Repressionsapparat der Stasi? Veränderte sich dieser Apparat in vierzig Jahren und wenn ja in welcher Weise? Und schließlich: Welches Feindbild glaubte die Staatssicherheit in den Konterfeis zu erkennen?

Das Freund-Feind-Denken

Konstitutiv für die marxistische Ideologie, wie auch für die politische Praxis des MfS als „Schild und Schwert der Partei“ war ein strenge Zweiteilung der Welt in Freunde und Feinde und die moralische und emotionale Aufladung dieser Dichotomie.2 Die Arbeiterklasse und die neue Heimat des Sozialismus standen danach einem globalen Feind, nämlich der Bourgeoisie, dem Faschismus in der Bundesrepublik, dem Imperialismus, dem Kapitalismus gegenüber. Diese Grundkonstellation galt sowohl in den Zeiten des Kalten Krieges wie auch in der Phase der Entspannungspolitik seit den 1970er Jahren. Die Behauptung, im Sozialismus selbst, seien die antagonistischen Klassenstrukturen aufgehoben, hatte weitreichende Konsequenzen für die Definition und Einschätzung des Feindes: Er wurde letztlich immer als äußerer Feind imaginiert, der im Innern der DDR allenfalls „willige Werkzeuge“, „Helfer und Helfershelfer“ fand, die zum falschen Tun verführt wurden oder sich aus niederen Motiven anstiften ließen.

Auf diese Weise externalisierte und kriminalisierte die Staatssicherheit jede Form des politischen Widerstands gegen die SED-Herrschaft in der jungen DDR, aber auch alle späteren Formen des politischen und gesellschaftlichen Dissenses: die Bürgerbewegung, Friedens- und Umweltgruppen oder jugendliche Subkulturen. Sie alle waren in den Augen der Staatssicherheit keine originären Gewächse der DDR, sondern letztlich ferngelenkte Importartikel aus dem Westen. Der äußere Feind „inspirierte“ und „organisierte“, was „feindliche Kräfte“, „feindliche personelle Stützpunkte“, „negative Elemente“ dann im Innern „realisierten“. Daher sprach das MfS auch mit dem Erstarken einer vielfältigen, aber meist systemimmanenten Regimekritik und mit dem Aufkommen der Bürgerbewegungen despektierlich stets nur von der „sogenannten inneren Opposition“, von „Menschenrechtlern“, „Friedensaposteln“ und der „sogenannten Umweltbewegung“

Daran war soviel richtig, dass sich die Bewohner der DDR, die vom MfS „unsere Menschen“ genannt wurden, beharrlich am westlichen Nachbarn orientierten. Private und verwandtschaftliche Kontakte, Rundfunk und Fernsehen und nach 1972 die politisch erwünschte Annäherung der beiden deutschen Staaten ließen Moden, Konsum- und Kulturgüter, aber auch die politischen Ideen der neuen sozialen Bewegungen zirkulieren.1 Dennoch greift eine Analyse der sozialen Bewegungen, Subkulturen und politischen Opposition in der DDR zu kurz, wenn man sie lediglich als Imitation westlicher Vorstellungen begriffe. Jenes denkwürdige Amalgam aus marxistischem Revisionismus, Sozialdemokratie, grünen und friedensbewegten Themen und linkem Protestantismus hatte mindestens ebenso viele Ideen osteuropäischer Dissidenten aufgenommen; und es antwortete auf die Verhältnisse in der DDR.

Der ideologische Filter des Freund-Feind-Denkens führte zu beträchtlichen Verzerrungen der Wahrnehmung. Kennzeichnend war die verbreitete Vorstellung, der Klassenfeind sei gleichsam ubiquitär und omnipotent, und er kenne keine logistischen Probleme, um seine konterrevolutionären Aktivitäten auszudehnen und unter der Bevölkerung Zweifel, Kritik und Unruhe zu säen.2 Dazu gehörte auch die Fehlwahrnehmung, sämtliche Haltungen und Handlungsweisen in der pluralistischen westlichen Demokratie gehorchten letztlich einer zentralen strategischen Steuerung. So vergrößerte sich in den Augen der Staatssicherheit in 40 Jahren DDR die Zahl der Feinde beständig. Ihre Tarnungen, Masken und Verkleidungen schienen unerschöpflich. Umgekehrt gelang es dem MfS, von sich selbst den Eindruck eines stets präsenten und hochgradig effizienten Apparates zu erzeugen. Auf lange Sicht bestand vielleicht einer der größten Erfolge der Geheimpolizei in der DDR darin, dass sie in ihrer vermeintlichen Allgegenwärtigkeit überschätzt wurde. Nicht wenige DDR-Bürger vermuteten, von der

Stasi observiert zu werden. Der allgemeine Verdacht, es gebe eine flächendeckende Beobachtung, beförderte ein Klima des gegenseitigen Misstrauens und der Selbstzensur. Doch über 40 Prozent derer, die nach der Wende einen Antrag auf Einsicht in „ihre Akte“ stellten, mussten feststellen, dass gar keine Akte über sie existierte.11

Der Repressionsapparat und seine Arbeit am Feind

Unter dem Schutz der sowjetischen Berater widmete sich das MfS in den ersten Jahren der Gegnerbekämpfung mit brutaler Gewalt und Effizienz. Schnelle Verhaftungen, stalinistische Verhörmethoden, physische Gewalt und pseudorechtsförmige Geheimprozesse prägten das Bild eines Sicherheitsapparates, der über nur

wenige Mitarbeiter verfügte.1 2 Doch der Volksaufstand des 17. Juni 1953, die tiefste politische Krise der DDR, änderte alles. Nachdem man die Aufständischen in einer Welle von Verhaftungen isoliert und den politischen Widerstand gegen die SED-Herrschaft in den fünfziger Jahren mit Erfolg ausgeschaltet hatte,3 konzentrierte sich die Staatssicherheit darauf, ihr Informationssystem zu verbessern. Man wollte in Zukunft frühzeitig vor Ereignissen dieser Art gewarnt sein.4 Die SED forderte im Herbst 1953 von ihrer Geheimpolizei „ein objektives Bild über die wirkliche Lage in den Betrieben, unter der Bevölkerung und beim Feind“. In den Parteien und Massenorganisationen, in der FDJ, in den volkseigenen Betrieben, in der Landwirtschaft, im Transportwesen, in allen Einheiten der Volkspolizei, in der Kirche wollte man die „Schädlingstätigkeit, Sabotage und Diversion“ aufspüren.

Das MfS antwortete mit der stetigen Ausdehnung des Apparates und der Zahl seiner Zuträger und Informanten. Seit dem Mauerbau verdoppelte sich der Personalbestand der Hauptamtlichen etwa alle zehn Jahre: 1961: 20.000; 1971: 45.000 und 1982 schließlich mehr als 85.500. Bis zum Ende der DDR brachte es die Staatssicherheit zu einer beträchtlichen Entfaltung ihres Überwachungsapparates: Sie hatte zuletzt knapp 91.000 Hauptamtliche Mitarbeiter, 174.000 Inoffi- zielle Mitarbeiter (IM), eine durchaus erwünschte Fluktuation unter den IM von etwa 10 Prozent jährlich und eine „IM-Dichte“ von einem IM pro 100 Bewohner der DDR.5 Mit dem Ausbau des Sicherheitsapparates leitete das MfS eine Verschiebung vom Repressions- zum Kontrollorgan ein. Auf den ersten Blick ist es verwunderlich, dass die Geheimpolizei auch nach 1961 so stark expandierte. Doch das Debakel des 17. Juni blieb der Staatssicherheit bis zum Untergang der DDR gegenwärtig. Nichts pointierte das Trauma der Niederlage besser als eine Dienstbesprechung im Büro Erich Mielkes, dem langjährigen Minister für Staatssicherheit, im Herbst 1989. Mielke stellte die bange Frage: „Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht?!“ Die Antwort, die ihm ein hochrangiger Militär des MfS gab, schien ihn kaum zu beruhigen: „Der ist morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da.“6 Opposition, jede Form moderater Kritik außerhalb der SED und selbst nonkonformistisches Verhalten berührten in der DDR sofort die Frage nach der politischen Legitimität des zweiten deutschen Staates.
Zu den größten Herausforderungen des MfS wurden in den folgenden Jahren aber Ereignisse anderer Art: der Prager Frühling 1968, die Entspannungspolitik Willy Brandts, der KSZE-Prozess und das Erstarken der Friedens- und Umweltbewegung in den achtziger Jahren.1 Während des Prager Frühlings bekämpfte die Staatssicherheit jede Perspektive eines dritten Weges, die den Sozialismus grundsätzlich bejahte, aber verändern wollte.2 Man fürchtete eine Kritik an der führenden Rolle der SED und man sah eine schleichende „ Sozialdemokratisierung und „Liberalisierung“ der sozialistischen Gesellschaft heraufziehen. Die Entspannungspolitik Willy Brandts, die seit dem Grundlagenvertrag von 1972 eine Vielzahl an Kontaktmöglichkeiten zwischen den Bewohnern der beiden deutschen Staaten schuf, wurde in den Augen der Staatssicherheit vollends zum Sicherheitsrisiko, weil nun die Möglichkeiten der getarnten feindlichen Einflussnahme dramatisch wuchsen. Andererseits erschwerten die „neuen Bedingungen des Klassenkampfes“ eine brachiale oder spektakuläre Antwort der Stasi auf solche „feindlichen Angriffe“. Schließlich war der SED-Führung daran gelegen, den politischen Dialog in Zeiten des „Wandels durch Annäherung“ nicht abreißen zu lassen. Darüber hinaus hatte die DDR endlich einen nennenswerten Gipfel diplomatischer Anerkennung erklommen, als sie 1975 die Schlussakte von Helsinki unterzeichnete. Darin verpflichtete sie sich, die Menschenrechte und auch das Recht auf Freizügigkeit, zu achten und auf politische Verfolgung zu verzichten.

Der innenpolitische Preis für den außenpolitischen Erfolg war beträchtlich. Die Zeit der schnellen Verhaftungen und kurzen Prozesse war passe. Gefragt waren von nun an die geheimpolizeilichen Instrumente der Prophylaxe, Prävention und Vorbeugung und die subtileren Methoden der lautlosen, nichtöffentlichen Repression im Vorfeld einer Verhaftung und vor einem möglichen, aber oftmals politisch unerwünschten Strafprozess. Der „Maßnahmenstaat“ veränderte sein Gesicht, und sein Exekutivorgan, das MfS, berief sich dabei zunehmend auf eine pseudodemokratische Camouflage: die „sozialistische Gesetzlichkeit“.3

Obwohl es auch in den 1970er Jahren immer wieder zu Verhaftungen kam, kann als zentrale Strategie des MfS im Abwehrkampf gegen soziale und politische Abweichung in der Honecker-Ära die „Zersetzung“ gelten.4 Die Staatssicherheit versuchte fortan, subkulturelle Milieus wie die Rocker, Punker oder die Skinheads, neue soziale Bewegungen und die politische Opposition zu disziplinieren, einzuschüchtern und jegliche Gruppenbildung und Vernetzung zu atomisieren, und unwirksam zu machen, also zu zersetzen. Doch zunächst musste sie ihre Gegner kennen und erkennen. Unter den angewandten Methoden und Maßnahmen kam der visuellen Überwachung, also der „operativen Fotografie“ eine herausragende Bedeutung zu. Sie war Teil jener anonymer, Kontrollansprüche, die sich gleichwohl gezielt gegen einzelne richtete, weil die Vertreter der Staatsmacht mit

der Persönlichkeit, der Privatsphäre, dem sozialen Umfeld und mit den Gewohnheiten des mutmaßlich verdächtigen Individuums vertraut waren.

Öffentliche und geheime Bilder vom Feind

Frühzeitig ging die Staatssicherheit in die bildpropagandistische Offensive und suchte ihr Heil in der Konterpropaganda. Eine Strategie, die später etwas euphemistisch Öffentlichkeits- und Traditionsarbeit genannt wurde, nahm in den 1950er Jahren ihren Anfang. Plakate warben nach dem 17. Juni 1953 für öffentliche Ausstellungen der Staatssicherheit. In diesen Ausstellungen präsentierte sich das MfS als entschlossener, hoch motivierter, dynamischer und erfolgreicher Abwehrdienst gegen alte Nazis und SS-Leute, gegen westliche Spione, Saboteure und Brandstifter und schließlich gegen sogenannte konterrevolutionäre Terrororganisationen wie das Ostbüro der SPD, den „Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen“ oder die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“. Gezeigt wurden in diesen Leistungsschauen neben erbeuteten Objekten und vermeintlichen Beweismitteln vor allem Ermittlungsfotos und Fotos der Angeklagten in Strafpro- zessen, die mit kurzen Zitaten und Zeitungsausschnitten kombiniert wurden. Öffentlich präsentierte sich das MfS niemals - auch in späteren Jahren nicht - als Geheimpolizei gegen die eigene Bevölkerung, sondern stets als Abwehrdienst gegen äußere Feinde oder als Kundschafter im Dienste des Sozialismus, sofern die Auslandsspionage gemeint war. Stets bediente sich die Staatssicherheit der althergebrachten Bildwelten von feindlichen Agenten, Spionen und gerade noch entlarvten Saboteuren aus dem Westen.​
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Abbildung 2 Plakatwerbung des MfS nach dem 17. Juni 1953, 1955​


Eine Ausstellung zum 35. Jubiläum des MfS, „Dem Feind keine Chance“, bewegte sich auch im Jahre 1985 ganz auf der Ebene traditioneller Abwehrarbeit. Kritiker und Oppositionelle der 1970er und 1980er Jahre waren in der Öffentlichkeit nicht bildwürdig. Im Gegenteil als Staatsfeinde verfielen sie der „dam- natio memoriae“, die jegliche Namensnennung oder eine Präsentation von Fotos vermied.1 Fotos von aufgegriffenen „Republikflüchtlingen“ konnten hingegen gezeigt werden, weil sie zur Propaganda gegen westdeutsche „Menschenhändlerbanden“ taugten.

Im Gegensatz zum öffentlichen Gebrauch veränderte sich der interne Einsatz der Fotografie in vierzig Jahren. In den ersten beiden Jahrzehnten blieb die Fotografie im Wesentlichen auf die klassischen Anwendungsbereiche der kriminalpolizeilichen Arbeit beschränkt. Für Ausbildungszwecke fasste ein Text aus dem Jahr 1952 ihre Einsatzmöglichkeiten zusammen.2 Die Fotografien von Häftlingen und die Einrichtung einer Häftlingskartei wurden darin als Mittel zu ihrer späterer Identifizierung empfohlen. Bei dieser Gelegenheit wies der Autor darauf hin, dass Häftlinge nicht unrasiert oder „durch Kopfverletzungen (Verbände) entstellt“ zu fotografieren seien. Das MfS als pseudostrafrechtliches Untersuchungsorgan bediente sich der traditionellen erkennungsdienstlichen Methode nach dem „System Bertillon“. Zur Inventarisierung des Menschen hatte der Pariser Polizeipräfekt Alphonse Bertillon im 19. Jahrhundert ein Verfahren erfunden, das bald seinen Namen tragen sollte. Die Katalogisierung der sogenannten .unveränderlichen Merkmale‘, und die Fotografie des Verhafteten mit einer speziellen Täterlichtbildkamera - rechtes Profil, en face, linkes Halbprofil - dienten seitdem der Identifizierung von Kriminellen.3

Konventionell kriminalpolizeilich zu nennen ist auch der Einsatz der Fotografie zur Sicherung von Beweismitteln und Spuren und zur Dokumentation von Tat- und Ereignisorten, die mit Orientierungsfotos beginnen sollte, um nach den Übersichtsfotos bei den Detailfotos zu enden. Für die erkennungsdienstliche Praxis wurde die besondere Bedeutung der sogenannten „stummen Zeugen“ und ihre fotografi sche Sicherung und Auswertung betont. Da auf Zeugenaussagen kein Verlass sei und „selbst Geständnisse keine sicheren Beweise sind“, wurde die besonders gründliche Dokumentation von Ereignisorten empfohlen. Denn: „Agenten, Spione und Saboteure schrecken nicht vor den gemeinsten und verbrecherischsten Mitteln wie Mord, Brandstiftung, Sprengstoffanschlag, Attentate und den verschiedensten Fälschungen zurück.“ Und da der Feind geschult sei und über wissenschaftliche und technische Kenntnisse und Mittel verfüge, könne eine erfolgreiche Bekämpfung durch das MfS ebenfalls nur in der „Anwendung und Ausnutzung wissenschaftlicher und technischer Hilfsmittel“ beste-
hen.1 Konventionelle Polizeiarbeit wurde auf diese Weise zur „sozialistischen Kriminalistik“ aufgewertet.2 Und sie wurde letztlich defensiv, als ideologische Notwehr legitimiert.

In allen Abteilungen des MfS kam der Einübung in die Techniken der Identifizierung eine zentrale Bedeutung zu. Erkennen, Beschreiben, Klassifizieren und Wiedererkennen wurden in der Schule des Sehens mit Hilfe von physio- gnomischen Musterbüchern, zunehmend aber auch an beliebigen Porträt- und Gruppenfotos geübt. Dabei kam dem Training von Personenbeschreibungen, eine besondere Bedeutung zu.

Identifizierte Feinde wurden in Bildermappen gesammelt. Ein solches Album voller Porträtfotos stellte die Staatssicherheit von Funktionären und Mitgliedern der „Zeugen Jehovas“ 1952 zusammen. Die Religionsgemeinschaft war 1951 in der DDR verboten worden, weil die SED sie als mutmaßliches Einfallstor amerikanischer „Agenten“ betrachtete. Auch von oppositionellen Gruppen fertigte das MfS in den achtziger Jahren Fotoalben an. Zwar fehlte der Staatssicherheit das kriminalanthropologische Interesse eines Cesare Lombroso, der nach dem „geborenen Verbrecher“ suchte.3 Doch mangelte es ihr nicht an jener Form von Sozialrassismus, der Nonkonformisten und politisch Andersdenkende schnell als „Asoziale“ und „negativ-dekadente Elemente“ abstempelte.

Als die Staatssicherheit ihren Apparat zum Kontrollorgan ausbaute, setzte zeitgleich eine Verwissenschaftlichung der geheimpolizeilichen Fertigkeiten ein. Aus der praktischen Arbeit heraus entstanden Diplomarbeiten und seit 1968 sogar Dissertationen an der MfS-eigenen Juristischen Hochschule. In vielen Qualifikationsarbeiten entwickelten die Kursteilnehmer Methoden zum effektiveren Einsatz der Fotografie, etwa bei der Personenbeobachtung, bei heimlichen Wohnungsdurchsuchungen oder bei der Kontrolle westlicher Botschaften in der Hauptstadt der DDR.

Bei der „operativen Fotografie“ konnten die Mitarbeiter der Staatssicherheit ihrer Kreativität freien Lauf lassen. Ja, sie waren dazu angehalten, „jeglichen Schematismus zu vermeiden und einen originellen, der Situation angepaßten Weg auszuarbeiten“. Dies galt als „schöpferischer Prozeß“. Der Einsatz der offenen und maskierten Fotografie wurde als vielseitige und selbständige Tätigkeit begriffen. Sie verlangte Reaktionsvermögen und Gespür für geheimpolizeilich bedeutsame Situationen. „Handlungen lesen können“ nannte man das. Auch bei den technischen Kräften war Phantasie gefragt. Die Kamera-Tarnungen - Kleidungsstücke, Handtaschen, textile Einkaufsbeutel, Aktentaschen, Motorradhelme oder Autos -, die vom operativ-technischen Sektor (OTS), einer Spezialabteilung des MfS, präpariert wurden, waren oft Prototypen. Jederzeit willkommen waren aber auch Verbesserungen und Ideen aus den Reihen der Schnüffler, die „Neuerervorschläge“. Die Erfindungen, die nicht selten zu Ehren eines SED-Parteitags in der Abteilung „Neuererwesen“ der HA VIII eingereicht wurden, waren Geld wert und

wurden prämiert.

Ganz unter dem Vorzeichen der „Verwissenschaftlichung des Sozialismus“ stand die allmähliche Professionalisierung des geheimpolizeilichen Beobachtens. Der Autor einer Diplomarbeit, die 1969 an der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam angenommen wurde, gab folgendes Beispiel aus der Praxis:

„Das Objekt war über das Wochenende auf einem Campingplatz zu beobachten, wobei alle Kontaktaufnahmen zu anderen Personen fotografisch zu dokumentieren waren.

In Vorbereitung der Beobachtung wurde dazu in der Nähe des Zeltes vom Objekt ein Zelt für die Beobachter aufgebaut. Das Zelt diente den Mitarbeitern als Unterkunft und gleichzeitig als getarnter Aufenthaltsort. Aus ihm konnte in verschiedene Richtungen sowohl beobachtet, als auch fotografisch dokumentiert werden (offene Kamera mit Teleobjektiv). Aus einem anderen Blickwinkel kam eine abgeparkte Krad-Beiwagenmaschine mit zwei eingebauten Kameras - mit Normal- und Teleobjektiv - zum Einsatz. Die Kameras konnten aus dem Zelt mit Fernsteuerung ausgelöst werden.

Ein Mitarbeiter, legendiert als Landschaftsmaler (mit entsprechenden Fachkenntnissen), kam in ca. 40 m Entfernung vom Objekt zum Einsatz. Seine Tätigkeit als Maler war so legendiert, daß er sich dort längere Zeit aufhalten konnte. In seinem Malerkoffer befand sich eine eingebaute Kamera mit Teleobjektiv. Der Koffer übernahm gleichzeitig die Funktion eines Fotostativs. Weiterhin standen den Beobachtern die Fotomodelle ,Sturzhelm‘, ,Feldstechertasche‘ und ,Strandtasche‘ zur Verfügung.“1

Der Hauptmann war bestrebt aufzuzeigen, wie die Mitarbeiter des MfS alle sich bietenden Möglichkeiten zur fotografi schen Dokumentation „allseitig nutzen“ können.

Auch in der alltäglichen Praxis der Beobachtung stiegen die Anforderungen. Unter Anleitung ihrer Vorgesetzten schwärmten die unteren und mittleren Chargen aus, um das Handwerk des konspirativen Fotografierens zu erlernen und zu trainieren. Die anschließende Auswertung erbrachte, wie es scheint, anfangs mehr Kritik als Lob. Der häufigste Kommentar der Schulungsleiter lautete „Zielen üben!“. Bereits 1972 war man an der Juristischen Hochschule des MfS, der Meinung, eigentlich dürfte es keinen operativ tätigen Mitarbeiter geben, der nicht fotografieren kann. Ein Dozent pointierte dies in seiner Vorlesung wie folgt: „Die Fotokamera in der Hand des Tschekisten ist eine wichtige Waffe im Kampf gegen den Feind, die häufiger, u. U. auch effektiver eingesetzt werden kann als die Dienstwaffe, die wir ständig tragen und deren Handhabung wir ständig trainieren.“2 Fotografieren anstatt zu schießen, geduldig beobachten, ermitteln,

kontrollieren und zersetzen anstatt mit brachialer Gewalt schnell zuschlagen und verhaften - die Staatssicherheit griff zu subtileren Methoden.

Visual Turn

Seit den 1970er Jahren wandte die Geheimpolizei zunehmend geheimdienstliche Mittel zur „Informationsgewinnung“ an: Neben den IM, der Postkontrolle, der Telefon- und Raumüberwachung kam vermehrt die Fototechnik zum Einsatz. Es kam zum „visual turn“. Seitdem die Politik des „Wandels durch Annäherung“ eine Übersiedlungsbewegung ausgelöst hatte, nahm die Zahl der „Vorkommnisse“ an der Grenze und die Zahl der Fluchtversuche zu. Insbesondere die Berliner Mauer erschien in den überaus zahlreichen Fotografien der Staatssicherheit als Raum, den „Demonstrativtäter“ von West und Ost zur politischen Provokation missbrauchten. Menschliche Tragödien und politische Happenings ereigneten sich an der Grenze, die - von beiden Seiten aus - unablässig fotografiert wurde. Jede einzelne gescheiterte Republikflucht wurde vom MfS als Straftat in Berichten und Bildern dokumentiert. Für die Aufnahmen wurde die Tat nachgestellt, als ob die Aussagen und Geständnisse noch nicht genügten. Da sitzen zwei Personen, denen die Flucht über die Ostsee misslang, in einem Schlauchboot. Doch das Schlauchboot ist in einer Garage plaziert. Menschen krümmen sich im Kofferraum von Autos. Seltsame und groteske Schauspiele für die Staatssicherheit waren dies. Die Beweisaufnahme wurde zur Demütigung, bevor es ins Untersuchungsgefängnis des MfS ging, aus dem der Weg in den Westen meist nur durch den „Häftlingsfreikauf“ führte.1

Aufgrund von ersten Verdachtsmomenten oder Hinweisen sammelte der Sicherheitsapparat Informationen über politisch oder sozial auffällige Personen.2 Dabei ging es keineswegs um eine flächendeckende Beobachtung - eine Aufgabe, die gar nicht zu leisten gewesen wäre. Man konzentrierte sich auf „ Schwerpunkte“. In den 1960er Jahren waren dies noch immer die besonders zu sichernden Institutionen des sozialistischen Gemeinwesens, in die sich der Feind eingeschlichen haben konnte: die volkseigenen Betriebe, das Verkehrs- und Nachrichtenwesen, der Staatsapparat, die gesellschaftlichen Organisationen, die Landesverteidigung. Eine Veränderung markierte in den sechziger Jahren die Aufmerksamkeit der Staatssicherheit für die Jugend, die vor den vielfältigen verderblichen Einflüssen des Klassenfeindes geschützt werden sollte. Mit der Öffnung der DDR zum Westen kam es schließlich zu einer explosionsartigen Ausdehnung der Schwerpunkte. Nun standen vor allem die Sicherung der Grenze und umgekehrt die „Flucht- und Ausreisebewegung“, der „Polittourismus in die DDR“, zunehmend aber auch Künstler und Literaten, die allenthalben sprießenden subkulturellen Milieus, die Kirche und die politischen und sozialen Bewegungen im Zentrum des Interesses.​

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Abbildung 3 Heimliche Observation von Wolf Biermann, Berlin

1970er Jahre. Sig. BStU HA XX Fo 144​

In „Operativen Personenkontrollen“ (OPK) sollte festgestellt werden, ob man es bereits mit Gegnern der SED-Regimes zu tun hatte. Persönlichkeitsbild, Ansichten, Gewohnheiten, Aktivitäten und Freundschaften wurden „aufgeklärt“. Entwendete Passfotos zur Identifizierung der Betroffenen und Observationsfotos der HA VIII, reicherten die Akten an. Die „OPK“ stellte ein erstes Instrument der Feindbekämpfung dar. Hier wurde vor allem breit gesammelt. Das Ergebnis dieser Sammelwut war aber noch offen, weil am Ende die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, oder die Überführung der „OPK“ in einen „Operativen Vorgang“ (OV), oder sogar eine Anwerbung des Betroffenen als Inoffizieller Mitarbeiter stehen konnte. In den 1980er Jahren brachte es das MfS auf jährlich etwa 8.000 operative Personenkontrollen, von denen ca. 700 schließlich in einen „operati- ven Vorgang“ mündeten.1 Die allermeisten der „operativen Vorgänge“ wurden jedoch eingeleitet, ohne dass zuvor eine förmliche „OPK“ angesetzt worden war. Auf der Grundlage so genannter „Eröffnungsberichte“ ergänzte die Staatssicherheit darin gezielt die vorhandenen Bausteine zur Biographisierung des Feindes. Sie sammelte weiteres Material zur Person, Familienverhältnissen und beruflichem Werdegang und differenzierte das Profil feindlicher Aktivitäten durch IMBerichte und Observationsfotos.

Auch private Fotos gelangten in die Akten. So belieferte z. B. IM „Karin Lenz“, die seit 1983 Mitglied der Berliner Gruppe „Frauen für den Frieden“ war, ihren Führungsoffizier mit Aufnahmen von der jährlichen Friedenswerkstatt und von Festen der Gruppe, die sie als begeisterte Foto-Amateurin angefertigt hatte.2

In „politisch-operativen Zielstellungen“ wurde genau beschrieben, welche Paragraphen des Strafgesetzbuches gegen die Observierten in Anwendung
gebracht werden sollten, welche Beweise hierzu auf welche Weise gesammelt oder fingiert und welche „Zersetzungsmaßnahmen“ ergriffen werden sollten, um einen Gruppenzusammenhang zu zerstören oder einzelne Personen psychisch zu terrorisieren. Von Zeit zu Zeit hielt das MfS die Ergebnisse der Arbeit in „Sachstandsberichten“ und Fotodokumentationen fest, bis die Zersetzungsarbeit im Sinne des MfS erfolgreich zur Neutralisierung des Gegners oder, seltener, zu seiner Verhaftung führte. In den achtziger Jahren wurden etwa 5.000 operative Vorgänge jährlich bearbeitet, von denen vermutlich 20.000 bis 25.000 Personen betroffen waren.1

Noch immer diente die Fotografie der klassischen Identifizierung, der Sicherung tatsächlicher Beweismittel und der Dokumentation von Tatorten und Ereignisorten. Doch zugleich wurde sie zum herausragenden Medium der Ausforschung. Den Fotos der Verdächtigten kamen mitunter geheimnisvollere Qualitäten zu, die hinter der Evidenz des Sichtbaren zu liegen schienen. Nicht wenige Aufnahmen enthielten für das angestrengte Auge des geheimpolizeilichen Betrachters Botschaften wie diese: „Noch ist nichts zu sehen ...“ oder „Auf den ersten Blick sieht es harmlos aus, aber .“ Die Fotografie und eine hochgradig distanzierte und verschleiernde Sprache der Bürokratie verhalfen der Staatssicherheit zu einem kalten Blick auf den Gegner, für dessen Ausschaltung andererseits so starke Emotionen eingefordert wurden: „Abscheu“, und „Hass“ gegen den Feind zu hegen und „Unversöhnlichkeit“ im Klassenkampf zu üben, gehörte zu den feststehenden Topoi der internen wie der öffentlichen Agitation. Die zunehmende Verbreitung des Mediums Fotografie in der geheimpolizeilichen Praxis - etwa bei heimlichen Wohnungsdurchsuchungen - diente darüber hin- aus im doppelten Sinne einem visuellen Panoptismus. Einerseits steigerte sich die Allmachtsphantasie der Staatssicherheit bis zur totalitären Vorstellung von der Inventarisierung des lebenden und toten Inventars der gesamten DDR in prophylaktischer Absicht.2 Andererseits konnten sich die Objekte der Beobachtung - ganz wie im Jeremy Bentham'schen Modell des Beobachterhauses - nie sicher sein, wann sie überwacht und fotografiert wurden und wann sie sich selbst überlassen blieben. Aus dieser Grundstimmung wurde allzu schnell die Vermutung einer allgegenwärtigen Staatssicherheit.

End-Spannung

In ihren ideologischen Einschätzungen blieb die Staatssicherheit bis zuletzt befangen in Verschwörungs- und Agententheorien, die tendenziell zu einer Überschätzung oppositioneller Gruppierungen führten. Zugleich wurde sie mit den Jahrzehnten immer professioneller in der empirischen Arbeit der geheimpolizeilichen Beobachtung und Ermittlung. In der realen Verfolgungspraxis waren der Stasi in den 1970er und 1980er Jahren jedoch aus Gründen der Parteiräson die

Hände gebunden. Als „Schild und Schwert der Partei“ hatte sie den Primat des Politischen, den die SED zur Maxime erhob, loyal mitzutragen. Die Spannung, die in dieser Konstellation angelegt war, entlud sich auf unterschiedliche Weise. Einen politischen Ausweg aus dem Dilemma eröffnete die Möglichkeit der Abschiebung missliebiger Personen in den Westen gegen Devisen, wovon zunehmend Gebrauch gemacht wurde. Die MfS-Zentrale hingegen vertraute auf die stetige Expansion und Modernisierung des Apparates. Und sie setzte auf die Perfektionierung seiner Arbeit als Organ der Beobachtung, Ermittlung, Untersuchung und Zersetzung. Eine solche Berufsauffassung war aber in der Spätzeit der DDR den Mitarbeitern auf Bezirks- und Kreisebene immer schwerer zu vermitteln. Frustration breitete sich aus. Die Rede des Leiters des MfS-Untersuchungsorgans (HA IX), Generalmajor Fister, die dieser auf einer erweiterten Leitungssitzung der Grundorganisation der SED-Kreisleitung im November 1987 gehalten hatte, verdeutlicht diese Friktion. Mit dem Anwachsen der Friedensbewegung auf der ganzen Welt und der neuen Politik Gorbatschows sei auch die Stasi konfrontiert. Die tschekistische Arbeit sei komplizierter geworden. Und er führte aus:

„Im Prinzip bejaht z. B. jeder politische oder ökonomische Kompromisse im Interesse der Erreichung strategischer Ziele. Aber wenn aktuelle Kompromisse oder erfor- derliche politisch-taktische Festlegungen zu Konsequenzen in der tschekistischen Arbeit führen, dann gibt es Fragen, zeitweilige Unklarheiten bis zu Unverständnis und Unsicherheit. [...]

Fragen in den Bezirken: Wann schlagen wir endlich wieder gegen übersiedlungsersuchende Erzwinger los?“ Wir wollen doch revolutionär gegen Feinde vorgehen, warum bremst uns die Zentrale? Warum sperren wir den provokatorischen Liedermacher KRAWCZIK [Stephan Krawczyk] nicht ein? [.]

Die Aufgabe steht: besser, klüger, besonnener, überlegener arbeiten, die Vorbeugung verstärken; alles rechtzeitig erfahren und geeignete, die Politik der Partei unterstützende und nicht ihr schadende Maßnahmen überlegen, konzipieren und Schäden verhindern. Lieber 3 x messen, ehe man schneidet! Klassische tschekisti- sche Arbeit!“1

Die Anwendung physischer Gewalt durch die Militärs der Staatssicherheit dürfte in den letzten beiden Jahrzehnten die große Ausnahme gewesen sein, nicht aber der Einsatz psychischer Repression, wie die Maßnahmepläne zur Zersetzung, aber auch die Erfahrungen von Oppositionellen in Untersuchungshaft bezeugen. In dieser Situation nahmen manche der hauptamtlichen Mitarbeiter Zuflucht zum Zynismus.​


Abbildung 4 Geburtstagsfeier von Siegfried Hähnel, 9.6.1984.

BStU BV Berlin Trad.kabinett 14​

Zum 50. Geburtstag des „Stellvertreters Operativ“ und späteren Leiters der Berliner Bezirksverwaltung des MfS, Siegfried Hähnel, im Juni 1984, verkleideten sich Mitarbeiter der Linie XX für die Gratulation: Sie schlüpften in die Kostümierungen ihrer Überwachungsobjekte. Und sie ließen sich in diesem Aufzug fotografieren.

Für einen Moment statteten sie sich mit den Attributen des Gegners aus, tauschten die Rollen und inszenierten eine „verkehrte Welt“. Das boshafte Lachen half - unmittelbarer als jede Agitation - die Gemeinschaft im Kampf gegen den Feind zu festigen. Die Parodie und die karnevaleske Inszenierung erklären aber die Aufnahmen noch nicht vollständig. Die Perfidie der Szene liegt darin, dass die Objekte der Observation, die sich als „Typen“ präsentieren, demjenigen gratulieren, der im wirklichen Leben die operativen Maßnahmen gegen solche wie sie leitet. Diese Art von Pfannenfreundschaft der Gänse mit dem Fuchs suggeriert einen Akt lustvoller Unterwerfung und freudiger Dankbarkeit, der anstößig wirkt. Beständig hatte das MfS seit seiner Gründung die „allseitige und tiefe Verbundenheit des Volkes“ mit seiner Staatssicherheit beschworen. Die Geburtstagsfotos für den „Leiter Operativ“ zeigen die kongeniale Inszenierung dieser märchenhaften Wunschvorstellung, von der andererseits alle Beteiligten wussten, dass sie illusionär war.

Literatur

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