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Gewalt gegen Polizeibeamte in der Bundesrepublik Deutschland, 1985-2000: Entstehungskontexte, Reaktionen, Paradoxien

Die Mobilisierung der Zivilgesellschaft und ihrer politisch-administrativen Institutionen

Deutschland im Sommer 2000: Mehrere Polizisten sind durch Angreifer getötet worden - und immer war es dieselbe Form der öffentlichen Aufmerksamkeit, welche die Taten fanden. Unmittelbar nach den Ereignissen verbreitete sich die Nachricht in Windeseile. Auf den Bildschirmen der Nachrichtenredaktionen erschien eine Eilmeldung der Nachrichtenagenturen, die Nachricht selbst gelangte bis in die Hauptnachrichtensendungen. Die Aufbereitung geschah je nach Temperament der unterschiedlichen Sender: Während die öffentlich-rechtlichen Sender eher sachlich-zurückhaltend berichteten, wurden in den privaten Sender eher dramatisierend wirkendes Bild- und Textmaterial gesendet. Auf dem Markt der Medien waren üblicherweise: Aussagen des Pressesprechers der betroffenen Polizeieinheit, Statement des Innenministers des jeweiligen Bundeslandes, Filmmaterial zum Tatort, erste Äußerungen von „Experten“. In den Tagen danach verändert sich die Nachrichtenlage. Es dominieren nunmehr Hintergrundberichte: Berichte zu den Trainingsmöglichkeiten der Beamtinnen und Beamten, Aussagen von Politikern zu beabsichtigten Änderungen (z.B. Strafrechtsverschärfungen, Schutzwesten beschaffen). Prominent wird noch einmal von der Beerdigung der Opfer berichtet. Allmählich verklingt aber die öffentliche Aufmerksamkeit, so wie es für die „Erregungskurve“ bei einem solchen, große Aufmerksamkeit erzeugenden Thema, das viele Nachrichtenwertfaktoren mit sich führt (u. a. Gewalt, Personifizierbarkeit, Plötzlichkeit, Emotion), nicht unüblich ist.

Es sei denn: Mehrere Ereignisse überlagern sich und verhindern ein Abebben der öffentlichen Erregung. So geschah es eben im Sommer 2000 als innerhalb kurzer Zeit in Nordrhein-Westfalen drei Beamtinnen und Beamte getötet
wurden. Die Medien zeichneten einen Trend, sie vermuteten „amerikanische Verhältnisse“. Die Politiker sahen sich in Folge dessen zunehmend unter starkem Handlungsdruck. Die Medien kamen nicht „zur Ruhe“. Es musste etwas geschehen - eben um Handlungsbereitschaft und -fähigkeit von Politik und Polizeiführung zu belegen.

Diskutiert wurden konkret im Arbeitskreis II (AK II) als dem zuständigen politisch-administrativen Gremium direkt unterhalb der Innenministerkonferenz des Bundes und der Länder (IMK) u. a. Prüfungen der rechtlichen Möglichkeiten, der technischen Einsatzmittel und der Einsatzrichtlinien. Die IMK und die Gewerkschaft der Polizei (GdP) haben sich im Rahmen der angeschobenen Aktivitäten u. a. entschlossen, ein Forschungsprojekt des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) finanziell und strukturell zu unterstützen. Hierbei stimmten IMK und GdP der Forderung des KFN zu, keine Auftragsforschung zu finanzieren, sondern einen Vertrag mit dem KFN auf Basis einer Forschungsförderung zu schließen. Diese Vertragsgestaltung sicherte dem KFN nach einer kurzen Frist die vollen Verfügungsrechte über die Daten und Analysen der Studie. In diesem Sinne kann dieses Projekt als „Forschung über die Polizei“ in einem besonders sensiblen Bereich polizeilicher Tätigkeit (Gewaltanwendung gegen und durch Beamte, fehlerbehaftetes Verhalten, Korpsgeist etc.) angesehen werden.

Forschungsstand, Datengrundlage und Ergebnisse eines empirischen Projektes

Die bisherige Forschung hat sich des Themenkomplexes ,Gewalt und Polizei‘ unter verschiedenen Perspektiven angenommen. Mehrheitlich wurde dabei die Gewaltanwendung durch die Polizei ins Blickfeld gerückt.1 Dem gegenüber befassen sich - sowohl international als auch für Deutschland - nur relativ wenige Untersuchungen mit der Gewalt gegen die Polizei.

Für die Bundesrepublik Deutschland stellen die von 1977 bis 1994 von der Polizei-Führungsakademie (PFA) - heute Deutsche Hochschule der Polizei - unter Leitung von Joachim Jäger unternommenen Untersuchungen das umfangreichste Forschungsunternehmen dieser Art dar. Im Rahmen dieser Studien wurden jeweils ca. 500-800 Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte schriftlich befragt, die infolge eines Angriffs für mehr als sieben Tage dienstunfähig waren.2 Die jüngste in diesen Bereich fallende Untersuchung - im Jahr 2000 herausgegeben von der Fachhochschule Villingen-Schwenningen - befasst sich mit Widerstand gegen

Polizeibeamtinnen und -beamte in Baden-Württemberg im Jahr 1997.1 Bei dieser Analyse wurden 1514 Ermittlungsakten ausgewertet sowie 1318 Polizisten schriftlich befragt, die in diesen Akten als Betroffene aufgeführt sind. Zwar geht Widerstand gegen die Polizei nicht zwangsläufig mit Angriffen einher. Dennoch gibt diese Untersuchung einen Einblick in konflikthafte Polizei-Bürger-Begegnungen und ist aus diesem Grund für den Themenkomplex Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten von Interesse. Darüber hinaus liegt eine Aktenanalyse von Sessar et al. (1980) zu 232 Fällen versuchter und vollendeter Tötung zum Nachteil von Polizeibeamten vor. In dieser Untersuchung wurden Fälle vollendeter Tötungen aus dem Zeitraum 1950-1977 und Fälle versuchter Tötung aus den Jahren 1970-1977 einbezogen. Eine zeitlich weiter zurückliegende Aktenanalyse von Stührman (1965) beschäftigt sich mit Widerstand gegen Polizeibeamte im Amtsgerichtsbezirk Kiel mit einer untersuchten Zahl von 123 entsprechender Vorfälle aus den Jahren 1958-1962.

Für das konkrete empirische Projekt wurden dem KFN Kurzinformationen zu über 4.000 Fällen von Angriffen gegen Beamtinnen und Beamte aus den Jahren 1985-2000 zur Verfügung gestellt. Im Folgenden werden zunächst die Ergebnisse der Analyse dieser Daten sowie die Resultate einer repräsentativen Befragung bei einer realisierten Stichprobe von ca. 1.100 dieser Beamtinnen und Beamten vorgestellt. Darüber hinaus werden die Ergebnisse von Aktenanalysen zu den Angriffen sowie einer Befragung von Hinterbliebenen zu Fürsorgeaspekten präsentiert.

Grunddaten

Der Tod von acht Polizistinnen und Polizisten im Jahr 2000 infolge von Angriffen ist bezogen auf die letzten fünf Jahre ein außerordentlich hoher Wert. Ähnlich hohe Zahlen von getöteten Polizisten gab es jedoch bereits in einzelnen Jahren zu Beginn und Mitte der 1990er Jahre (vgl. Abbildung 1). Die Höchstwerte der Jahre 1972 (15) und 1975 (9) sind jedoch bislang nicht wieder erreicht worden. Von deutlichen zeitbedingten Einflüssen - wie etwa die des Linksterrorismus in den siebziger Jahren - kann in den 1980er und 1990er Jahren auf den ersten Blick nicht gesprochen werden: Nach unseren Recherchen kamen zwischen 1972 und 1980 mindestens neun Angehörige der Polizei durch Aktivitäten linksgerichteter Terroristen zu Tode,2 in den 1990er Jahren - einer Zeit vermehrter rechtsgerichteter Gewalttaten - kam nach Zählung des BKA ein Polizist durch rechtsextremistische Handlungen zu Tode.3

Die Zahl der verletzten Beamten infolge tätlicher Angriffe ist in der zweite Hälfte der neunziger Jahre geringer als in der Mehrzahl der Jahre, für die in den 1980er und 1990er Jahren vergleichbare Daten erhoben wurden.

Die von Bund und Ländern dem KFN gemeldeten Zahlen belegen einen Anstieg der Angriffe mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz von 1985 bis 1994, danach sinken diese Zahlen. Trotz eines neuerlichen Anstiegs im Jahr 2000 (Basis: Zahlen des ersten Halbjahres 2000) ist der Höchstwert von 1994 aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erreicht worden. Dies stimmt in großem Maße mit der allgemeinen Entwicklung der Tötungsdelikte bezogen auf die Gesamtbevölkerung überein. Auch die absolute Zahl von Angriffen mit Schusswaffen gegen Polizeibeamte sinkt seit 1995, steigt aber im Jahr 2000 an.

Das Risiko eines Beamten, mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz angegriffen zu werden, ist erheblich höher als das eines Normalbürgers. Das Risiko eines Beamten, im Dienst infolge eines Angriffs getötet zu werden, ist jedoch in einem durchschnittlichen Jahr geringer als das Risiko eines Normalbürgers, Opfer eines tödlichen Angriffs zu werden. Allgemein wird jeder dreizehnte Beamte, der mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz angegriffen wird, getötet. Dieses Verhältnis verbessert sich in den neunziger Jahren deutlich gegenüber den achtziger Jahren. 85 % der getöteten Beamten wurden mit Schusswaffen oder Messern angegriffen.

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Quelle: PFA, BKA, GdP, Erhebungen der Bundesländer und des Bundes, eigene Berechnungen KFN

Abbildung 1 Durch Angreifer getötete Polizisten,

Bundesrepublik Deutschland 1972-2000

Wir haben in der Bundesrepublik bislang keine „amerikanischen Verhältnisse“, was das Tötungsrisiko eines Polizeibeamten angeht. Das Risiko eines US-Poli- zisten, durch einen Angriff im Dienst zu Tode zu kommen, ist immer noch um ein
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Abbildung 2 Durch Angriffe getötete Polizisten Deutschland und USA im Vergleich (pro 100.000 Beamtinnen und Beamte, aufgerundete Zahlen, ohne BGS)

Befragung der angegriffenen Beamtinnen und Beamten

Das KFN hat aus der Gesamtzahl von über 4.000 angegriffenen Beamten (mit oder ohne Tötungsabsicht bzw. -vorsatz) ca. 2.300 Beamte systematisch bzw. zufällig ausgewählt und schriftlich zu ihren Erfahrungen befragt. Über 50 % der Angeschriebenen haben geantwortet, über 1.000 der Bögen waren einschlägig und auswertbar. Die Sample sind, was ihre Zusammensetzung angeht, repräsentativ für die Grundgesamtheit aller Angegriffenen.

Die Angriffe finden weit überwiegend bei Dunkelheit, im öffentlichen Raum und in eher bürgerlichen Vierteln statt (vgl. Abbildung 3). Die Mehrzahl der Angriffs-Orte galt zuvor als ungefährlich. Die Beamten waren zum Angriffszeitpunkt mehrheitlich als Funkstreife eingesetzt. Die Täter waren weit überwie-

gend deutscher Nationalität, fast ausschließlich männlich und allein. Sie waren zu großen Teilen alkoholisiert und fast zur Hälfte bereits polizeibekannt, den Beam
ten jedoch persönlich unbekannt. Der Angriff erfolgte fast immer überraschend.

Bei Angriffen mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz gilt: Im Vergleich zu anderen Angriffen entwickeln sich überproportional viele Angriffe mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz aus Fahrzeugkontrollen und Situationen ohne vorherigen Körperkontakt. Die Angreifer sind zu fast 100 % Männer, sie sind eher älter und weniger oft alkoholisiert. In ca. der Hälfte aller Fälle sind die Täter mit Schusswaffen bewaffnet, in ca. 2/3 dieser Fälle liegt illegaler Waffenbesitz vor.

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Abbildung 3 Charakter des Stadtgebiets, Angriffe mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz ohne Folgen und mit Folgen​





Angriffe mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz und gravierenden Folgen ereignen sich überproportional häufig bei Überprüfungen von verdächtigen Personen, beim Verhindern einer Flucht, beim Ansprechen und bei der Verfolgung von Personen. Wenn Tötungsabsicht bzw. -vorsatz vorliegt, gestalten sich zudem Durchsuchungen und Identitätsfeststellungen besonders gefährlich. Die Täter sind in noch weniger der Fälle alkoholisiert. Sie werden von den Beamten vor dem Angriff nicht als besonders aggressiv wahrgenommen. Schutzwesten helfen entscheidend, Verletzungen zu verringern. Auch der kontrollierte Umgang mit der Dienstwaffe (d. h. ständiges Mitführen, Einsatz von Warnschüssen, Androhung und Einsatz gezielter Schüsse) helfen das Risiko einer Verletzung der Polizisten, aber auch das Tötungsrisiko auf Seiten des Angreifers zu verringern. Besonders gefährlich ist die Vereinzelung der Beamten - sowohl beim Einschreiten als auch bei der Suche/Verfolgung. Nicht die explizite Absprache vor dem Einsatz, sondern längere gemeinsame Arbeit vermindert das Risiko einer Verletzung. Jahrelange Zusammenarbeit birgt jedoch auch die Gefahr, dass sich unter Umständen gefährliche, ja „tödliche Routinen“ einschleifen. Wird auf der Dienststelle weniger Wert auf Eigensicherung gelegt, führt dies zu einem erhöhten Risiko gravierender
Verletzungen. Allerdings gibt es offenbar konkrete Einsatz-Situationen, in denen es Beamten nicht möglich war, sich an die Richtlinien der Eigensicherung zu halten. Dies betrifft vor allem Schlägereien als Anlass des Einschreitens sowie Vereinzelungssituationen bei der Verfolgung und/oder Suche. Wir finden bei den mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz und gravierenden Folgen Angegriffenen hohe Werte für dem Angriff nachfolgende Probleme im beruflichen und privaten Alltag (z. B. Gereiztheit, Niedergeschlagenheit, Schlafstörungen etc.).

Aus dem Erlebten ergeben sich aus Sicht der Beamten eine Fülle von praxisnahen Forderungen und Vorschlägen zur Ausstattung und Ausbildung (vor allem zur körperlichen Abwehr und zum Umgang mit der Dienstwaffe). Trotz des hohen Ausbildungs- und Übungsstands haben die Beamten ein ausgeprägtes Bedürfnis nach mehr psychologischer Schulung und Nachbetreuung, aber auch nach Ausbildung im Bereich der Konflikthandhabung. Die Hälfte der Befragten fordert ein Überdenken der ihres Erachtens zu restriktiven Regelung zum Schusswaffeneinsatz. Im Rahmen unserer Studie konnte jedoch nicht geklärt werden, ob die Beamtinnen und Beamten ihre rechtlichen Möglichkeiten korrekt einzuschätzen wissen. Die Mehrheit beklagt zudem eher häufig auftretende Unvereinbarkeiten zwischen den Richtlinien zur Eigensicherung und der alltäglichen Praxis, allerdings bewähren sich die Richtlinien in der überwiegenden Mehrheit der berichteten Fälle (insbesondere bei Tötungsversuchen trifft dies zu).

Darüber hinaus hat ein Teil der befragten Beamten und Beamtinnen die Gelegenheit zu detaillierten Informationen und Anmerkungen am Ende des Fragebogens genutzt. Diese Anmerkungen sind somit nicht verallgemeinerbar. Sie stellen Meinungsäußerungen aus der innerpolizeilichen Diskussion heraus dar, können jedoch für die Aus- und Fortbildung hilfreich sein. Bei diesen weiteren und offenen Anmerkungen heben die kommentierenden Beamtinnen und Beamten neben ungünstigen Umweltbedingungen (Dunkelheit, enge Räume etc.) das Unvorhersehbare der Angriffe hervor. Viele von den Beamten angeführte individuelle Aspekte (wie z.B. fehlende Fitness und unzureichender Informationsstand) werden von ihnen aber auch auf Gründe zurückgeführt, die ihrer Ansicht nach in der Organisation Polizei liegen. Hier wird von den Befragten auf Probleme, Widersprüche und Dilemmata hingewiesen, welche die Eigensicherung im polizeilichen Alltag erschweren. Dies sind (in der Reihenfolge der Häufigkeit der Nennungen, die diesen Aspekten zugeordnet werden können):

■ eine zu starke Bürgerorientierung der letzten Jahre. Sie verhindere eine effektive Eigensicherung. Eigensicherung könne sogar zum Karriererisiko für den Beamten und auch den Vorgesetzten werden („fasse ich jemand zu hart an, kriege ich Ärger mit dem Vorgesetzten, der seine Karriere gefährdet sieht“). Des weiteren wird genannt​


  • das Streben nach vordergründiger Effizienz des Handelns, welche des öfteren​
    • über die Eigensicherung gestellt wird („solange es gut geht und der Beförderung dient“). Bemängelt werden zudem​
    • zu formale, starre und damit der Praxis nicht angemessene Regelungen („jeder Fall ist anders“) und​
    • das Fehlen fester Arbeitspartner („mit dem ich eingespielt bin und auf den oder die ich mich verlassen kann“).​
    • Genannt werden aber auch die fehlende Erfahrung junger Beamter (und manchmal der systematisch behinderte Erwerb derselben) und​
    • die Erfahrung von Überforderung in der Situation („in Sekundenschnelle entscheiden“) und einer als überzogen empfundenen Überprüfung („... und dann sitzen die monatelang zusammen und bewerten dein Verhalten“).​
    • Auch fehle es bisweilen an der Einsatzfähigkeit und Vorbildfunktion älterer Beamte (angesprochen werden mangelnde Fitness, aber auch die Inszenierung von „Erfahrung“ und „Unverwundbarkeit“ durch ältere Beamte - und eine sich infolgedessen u. U. entwickelnde „tödliche Routine“).​
    • Ein Grundkonflikt, der hinter den Äußerungen sowohl im standardisierten Teil als auch in den offenen Anmerkungen sichtbar wird, ist der zwischen Instinkt/ Erfahrung auf der Ausführungsebene vs. der Idee der Planbarkeit allen Verhaltens auf der Führungsebene.1 Die Tragik des Nicht-Gelingens liegt wohl letztlich in dem Unplanbaren - und dem Umgang damit. Die mögliche Lösung könnte in einem Training bestehen, das auf das Erleben des Unvorhersehbaren vorbereitet - und damit ein Set von Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, das in der Situation automatisiert abläuft und damit die Handlungsfähigkeit aufrechterhält. Die Überzeugung, das alles planbar ist, macht es unmöglich, mit den Unvorhergesehenen souverän umzugehen. Bislang scheint zudem ein regelmäßiger Austausch über gefährliche Situation und die Probleme des Umgangs damit in der Polizei nur ungenügend vorhanden zu sein - auch weil „Fehler“ das individuelle Fortkommen, sprich den organisationsinternen Aufstieg behindern. „Fehler“ sind somit nicht primär auf der Ebene des Individuums, sondern eher auf der Ebene der fehlenden Fehlerkultur in der Organisation („wir machen keine Fehler - und wenn, dann reden wir nicht darüber“) zu suchen. Eben jene fehlende Fehlerkultur könnte einer kontinuierlichen Weiterentwicklung der Professionalität im Bereich der Eigensicherung entgegenstehen.


    Aktenanalysen

    Teil des Forschungsprojektes „Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und -beamte“ des KFN ist darüber hinaus eine Analyse von Justizakten zu sämtlichen Angriffen mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz gegen bundesdeutsche Polizisten und Polizistinnen aus den Jahren 1985 bis Mitte 2000. Das Definitionskriterium für die Auswahl der

    Akten ist der polizeiliche Tatvorwurf gegen die Täter bzw. Täterinnen. Ziel der Untersuchung ist einerseits die Analyse der juristischen Aufarbeitung solcher Angriffe und andererseits die Analyse der sozialen und personenbezogenen Merkmale der Angriffssituationen.

    Bis zum 27.11.2001 konnten dem KFN 373 Akten für die Untersuchung zur Verfügung gestellt werden. Diesen konnten Angaben zu 578 Angriffen gegen einzelne Beamtinnen und Beamte entnommen werden. Einige dieser Fälle mussten jedoch aus der Analyse entfernt werden, da die Polizei bei diesen keinen Tatvorwurf wegen eines Tötungsdeliktes erhoben hatte, sodass 479 Angriffe für die Untersuchung verblieben. In die Analyse der juristischen Aufarbeitung konnten letztlich 383 Angriffe einbezogen werden, da in den anderen Fällen die Täter entweder unmittelbar getötet wurden, entkamen, vor der Anklageerhebung starben oder unbekannt blieben, so dass hier eine Analyse des Verlaufs der juristischen Aufarbeitung nicht möglich war.

    Im Verlauf der juristischen Aufarbeitung ist vielfach eine Reduktion des ursprünglich von der Polizei erhobenen Tatvorwurfs eines Tötungsdeliktes zu beobachten. Dieser Befund zeichnet sich bereits auf der staatsanwaltschaftlichen Ebene ab, da nur knapp die Hälfte (49,1 %) der Angriffe mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz eine Anklage wegen eines Tötungsdeliktes zur Folge hatte. Auf der Ebene der Gerichte setzt sich die Einschränkung des Tatvorwurfs fort: Lediglich 43,1 % der Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft ein Tötungsdelikt gegeben sah, führte auch zu einer entsprechenden Verurteilung. Somit erfolgte in lediglich 21,1 % der Fälle, in denen von Polizeiseite der Tatvorwurf eines Tötungsdeliktes erhoben wurde, auch tatsächlich eine Verurteilung wegen eines solchen Deliktes.1

    Knapp die Hälfte der untersuchten Angriffe hatte eine Verurteilung ausschließlich aufgrund von Delikten zur Folge, die nicht zur Gruppe der Tötungsdelikte gehören. Unter denjenigen Fällen, bei denen die Staatsanwaltschaft bzw. das Gericht ein Tötungsdelikt gegeben sah, kann im Verlauf der juristischen Aufarbeitung ein Anstieg des Anteils von vollendeten Tötungen (gegenüber versuchten Tötungen) festgestellt werden. Die Zeitdauer zwischen Angriff und Verurteilung weist keine Auffälligkeiten auf, etwa hinsichtlich einer besonders langandauernden Bearbeitung solcher Taten durch die Justiz.

    Die Merkmale der Angriffsituationen können auf Basis der Aktenanalyse (unter Einschluss der getöteten Beamtinnen und Beamten) wie folgt zusammengefasst werden: Die angegriffenen Beamten waren deutlich überwiegend männlich, im Funkstreifendienst eingesetzt und schwerpunktmäßig zwischen 21 und 40 Jahren alt. Als besonders riskant erwiesen sich Einsätze wegen Straftaten, zur Überprüfung verdächtiger Personen/Sachen und (vorläufige) Festnahmen. Straftaten als Anlass des Einschreitens waren vor allem solche, die Konflikte zwischen Bürgern betrafen (Bedrohung, Raub, Körperverletzung usw.). Der Anteil derer, die

    im Rahmen einer Verkehrskontrolle oder bei Streitigkeiten eingeschritten sind, ist unter den getöteten Beamtinnen und Beamten deutlich höher als unter den überlebenden. Mehrheitlich kam es im Verlauf des Angriffs nicht zum Schusswaffengebrauch durch die Beamtinnen und Beamten (59,2 %). Allerdings haben die Polizisten und Polizistinnen häufiger gezielt geschossen, ohne zuvor einen Schusswaffengebrauch anzudrohen oder einen Warnschuss abzugeben, was darauf hindeuten kann, dass die Angriffe auf die Beamtinnen und Beamten vielfach sehr plötzlich ausgeführt wurden. Zudem haben die überlebenden Polizistinnen und Polizisten häufiger die Dienstwaffe benutzt als die getöteten Beamtinnen und -beamten.

    In rund einem Drittel der Fälle konnten schwerwiegendere körperliche Folgen auf Seiten der Beamtinnen und Beamten durch deren eigenes Verhalten (Abbruch einer Handlung, Flucht etc.) oder andere polizeiliche Maßnahmen (Hilfe durch Kollegen etc.) verhindert werden. Die Täter handelten zum größten Teil allein, waren männlich und besaßen die deutsche Staatsangehörigkeit. Überwiegend gehörten sie der Altersgruppe der 21-40jährigen an. Zudem waren sie größtenteils zum Zeitpunkt des Angriffs bereits vorbestraft, in der Hauptsache wegen Diebstahls- und Gewaltdelikten. Die analysierten Angriffe mit Tötungsabsicht bzw. -vorsatz ereigneten sich vielfach in Situationen, die aus Sicht der Täter eine gewisse „Endgültigkeit“ besaßen, wie dem Verhindern einer Flucht, Verfolgungen und (vorläufigen) Festnahmen. Allerdings kam es häufig bereits vor oder während der Kontaktaufnahme durch die Beamtinnen und Beamten zum Angriff, was erneut als Hinweis auf die Plötzlichkeit und das Überraschende vieler solcher Taten gewertet werden kann. Beinahe sämtliche Angriffe (97,6 %) erfolgten unter Einsatz von Waffen oder ähnlichen Gegenständen, wobei besonders häufig Schusswaffen, Kraftfahrzeuge (bei Überfahrversuchen) und Messer benutzt wurden. Führten die Angreifer Schusswaffen mit, so handelte es sich in der deutlichen Mehrheit um illegalen Waffenbesitz.

    Ein weiterer Bestandteil des Forschungsprojektes „Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und -beamte“ des KFN ist eine Analyse von Justizakten zu Fällen, in denen Polizeibeamtinnen und -beamte im Zeitraum 1985 bis Mitte 2000 in Notwehr- und Nothilfesituationen oder aufgrund hoheitlicher Befugnisse von der Schusswaffe Gebrauch gemacht hatten und den Täter dabei verletzten oder töte- ten. Im Rahmen dieser Untersuchung werden zum Einen situative Umstände und unmittelbare Folgen des polizeilichen Schusswaffengebrauchs und zum Anderen die justizielle Aufarbeitung solcher Ereignisse mit Blick auf die juristischen Folgen und die Dauer der Verfahren gegen die Beamtinnen und Beamten analysiert.

    Für 353 als einschlägig gemeldete Fälle konnten dem KFN bis Ende März 2002 lediglich 138 Akten für die Analyse des polizeilichen Schusswaffengebrauchs in Notwehr- und Nothilfesituationen zur Verfügung gestellt werden. Diese Akten enthielten Angaben zu 93 für die Untersuchung relevanten Fällen. Die​
Aktenanalyse erbrachte folgende Ergebnisse:​


  • Die überwiegende Mehrheit der Täter überlebte den Schusswaffengebrauch durch die Beamtinnen und Beamten.​
  • Die deutliche Mehrheit der Schussabgaben erfolgte zur Abwehr eines Angriffs (80,6 %).​
  • Mehrheitlich hatten die Polizistinnen und Polizisten den Schusswaffengebrauch nicht mündlich angedroht, was hauptsächlich in einem Mangel an Zeit begründet lag. Rund ein Fünftel gab einen Warnschuss ab.​
  • Rund 80 % der Schüsse wurden auf eine Entfernung von maximal sechs Metern zum Täter abgegeben.​
  • Trotz des bestehenden Zeitmangels schossen die Polizistinnen und Polizisten in der Mehrzahl auf die Gliedmaßen.​
  • In rund der Hälfte der Fälle setzten die Täter ihre ursprüngliche Handlungen trotz der polizeilichen Schussabgabe fort.​
Zur justiziellen Aufarbeitung des polizeilichen Schusswaffengebrauchs ergaben sich folgende Befunde:​


  • Mehr als jedes vierte Verfahren gegen die Beamtinnen und Beamten wurde bereits im Rahmen der Vorermittlungen eingestellt.​
  • Im deutlich überwiegenden Teil der Verfahren kam es spätestens auf der Ebene weiterer Ermittlungen zur Einstellung. Nur in 9 % der Fälle erfolgte eine Anklage.​
  • Lediglich rund 1 % der dem KFN vorliegenden Fälle von Schusswaffengebrauch führte zu einer Verurteilung des Beamten bzw. der Beamtin.​
  • Etwas weniger als die Hälfte der Verfahren dauerte bis zu einem halben​
Jahr. Mehr als zehn Prozent erstreckte sich über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr.

Hinterbliebenenbefragung

Der abschließende Teil der Studie „Gewalt gegen Polizeibeamte und -beamtinnen“ des KFN ist die Befragung von Hinterbliebenen von Polizeibeamten und -beamtinnen, die infolge von Angriffen getötet wurden. Die sogenannte Hinterbliebenenbefragung ging der Frage nach, in welchem Umfang und in welcher Art und Weise der Staat Fürsorgeleistungen gegenüber Hinterbliebenen gewährt hat. Darüber hinaus konnten die Befragten aus ihrer Sicht fehlende Unterstützungsleistungen benennen. Im Rahmen einer qualitativen Untersuchung wurden zur Erfassung gewährter oder fehlender Fürsorgeleistungen des Staates 12 Interviews mit Hinterbliebenen von Polizeibeamten und -beamtinnen geführt, die in
den Jahren 1985 bis 2000 durch Angriffe in der Ausübung ihres Dienstes getötet wurden. Die Hinterbliebenen hatten sich auf Anfrage des KFN hin über die ehemaligen Polizeidienststellen der getöteten Beamtinnen und Beamten zu einer Teilnahme an der Befragung bereit erklärt. Die Interviews wurden gemäß den Regeln der qualitativ orientierten empirischen Sozialforschung transkribiert, anonymisiert, zusammengefasst, nach Aussageinhalten geordnet und schließlich ausgewertet.

Die Auswertung der Interviews ergab, dass Hinterbliebene den gewaltsamen Tod des Angehörigen als grundlegend lebensverändernde Erfahrung wahrnehmen. Auf Basis der Angaben der Befragten lassen sich unterscheiden: (a) eine Schockphase, die in dem Moment einsetzte, in dem die Hinterbliebenen vom Tod des Angehörigen erfuhren, und die wesentlich dadurch bestimmt ist, dass die Hinterbliebenen den Tod des Angehörigen nicht wahrhaben wollen und um eine Aufrechterhaltung der Lebenssituation vor dem Tod bemüht sind, (b) eine Phase, in der die Hinterbliebenen sich „bewusster“ mit den Auswirkungen des Todes konfrontiert sahen, sowie (c) eine Phase, in der sich die Hinterbliebenen mit ihrer Rolle als „indirektes“ Opfer einer Gewalttat identifizieren.

Weiterhin ergab die Auswertung, dass die Hinterbliebenen einen Hilfebedarf bei allen Personen sehen, die mit dem Getöteten in enger familiärer Bindung standen. Die Hilfen sollten zum Ziel haben, durch finanzielle, psychologische und bürokratisch-organisatorische Hilfeleistungen das (Über-)Leben der Hinterbliebenen zu sichern und eine Neugestaltung des Lebens (insbesondere durch die Herausbildung einer neuen Perspektive) nach dem Tod des Angehörigen zu ermöglichen. Die Befragten gaben an, dass ausreichend finanzielle Hilfen insbesondere für Partner/innen und Kinder vorhanden waren. Es fehlten jedoch psychologische und bürokratisch-organisatorische Hilfestellungen. Zur Art und Weise der gewährten Hilfen ergab sich aus der Auswertung, dass die Hinterbliebenen in Zukunft eine professionellere Gewährleistung von Hilfen wünschen, die folgende Kriterien erfüllen sollte: (a) die Zuständigkeit und Verantwortung für die Gewährleistung von Hilfen für Hinterbliebene sollte eindeutig bei staatlichen Stellen liegen und dort organisatorisch eindeutig identifizierbar sein, (b) den Hinterbliebenen sollten in Zukunft Ansprechpartner bei der Polizeibehörde als Koordinatoren der Hinterbliebenenbetreuung zur Verfügung stehen, (c) finanzielle, psychologische und organisatorisch-bürokratische Hilfen sollten in Zukunft professionell und umfassend auf Basis eines differenzierten (u. a. auf der Grundlage der hier gemachten Vorschläge) zu erarbeitenden Konzeptes gewährt werden, (d) die Hilfeleistungen sollten in der Art und im Umfang immer am individuellen Bedarf eines Hinterbliebenen orientiert sein. Auch sollten Hilfeleistungen immer nur in Absprache mit den Hinterbliebenen und im Respekt vor der Lebenssituation und den Erfahrungen der Hinterbliebenen erfolgen („Unterstützung ohne Entmündigung“).

Diskussion der Resultate

Es sind zwei Aspekte, die im Folgenden in der Perspektive dieses Sammelbandes interessieren: Zum einen ist die Frage zu diskutieren, wie valide und zuverlässig die vom KFN ermittelten Daten sind. Zum anderen bleibt die Frage, was wir aus diesen Daten für das Verhältnis Bürger-Staat in einer sich als zivil verstehenden Gesellschaft bzw. nach dem Ideal der Zivilität strebenden Gesellschaft lernen können.

Wie valide sind die Daten ?

Die hier versammelten Daten unterliegen selbstverständlich den Problemen aller empirischen Projekte: Daten sind immer nur Annäherungen an die Wirklichkeit. Stichprobenprobleme, zu geringe Rückläufe, Verzerrungen bei den Antworten im Sinne sozialer Erwünschtheit - dies sind nur einige der vielfältigen Einschränkungen der theoretischen und empirischen Validität solcher Projekte. Generell können die allgemeinen (gleichsam oberflächlichen) Qualitätsmerkmale unseres Projektes als befriedigend bis gut bezeichnet werden: Rücklaufquoten von über 50 % und eine hohe Motivation bei den Befragten können als gute Voraussetzungen für die empirische Validität bezeichnet werden. Problematisch ist jedoch (a) die Stichprobengenerierung: Es handelt sich hierbei um von der Polizei definierte Tötungsdelikte (etwa im Sinne der PKS-Standards der „Ausermittlung“ eines Deliktes). Dass diese Definition im Sinne des Standards der PKS nicht von allen weiteren Instanzen des Strafverfahrens geteilt wird, dies zeigt alleine die dramatisch zu nennende Reduktion des Tatvorwurfs durch staatsan- waltschaftliches und richterliches Handeln - so wie sie auch bei unseren Analysen dokumentiert werden konnte (vgl.oben). Zudem mussten die Daten (b) von einigen Bundesländern retrospektiv erhoben bzw. ermittelt werden: Nicht alle Länder verfügten über eine Erhebungsroutine für die von uns gewünschten Daten. Das heißt: Das Projekt war von der „Erinnerungsfähigkeit“ der Organisation abhängig. Und hier dürfte gelten: je weiter zurück(reichend), um so schwieriger (dürfte die Erinnerungsfähigkeit zu mobilisieren sein). Auch könnte es (c) sein, dass „problematische Fälle“ zu Reaktanz von Organisationen und/oder Individuen führen. Soll heißen: die Organisation könnte „belastende“ Fälle nicht erinnern, Befragte könnten solche Ereignisse verdrängt haben (oder befürchten, dass ihre Angaben im Fragebogen mit ihren Aussagen im früheren Verfahren abgeglichen werden - was durch die perzipierte Relevanz u. a. für versorgungsrechtliche Fragen mehr als problematisch sein dürfte). Auch die Annäherung an die Hinterbliebenen enthielt (d) einen Filter, der unter Umständen für die Organisation problematische Fälle mit höherer Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen haben könnte: Um für
Hinterbliebene belastende Kontakte zu vermeiden, wurde zwischen KFN und Behörden vereinbart, dass die letzte Dienststelle des getöteten Beamten darüber entscheiden sollte, ob eine Annäherung an die Partner(innen) und/oder Verwandten durch Mitarbeiter des KFN stattfinden könnte. Sollte die Dienststelle Furcht vor Kritik oder Konflikten gehabt haben, wäre eine mögliche Handlungsoption, den Kontakt KFN-Hinterbliebene präventiv als potenziell „belastend“ einzustufen.

All diese Punkte schränken die Validität der Aussagen selbstverständlich ein. Trotzdem kann gelten, dass dieses Projekt eine weitreichende, substanzielle Annäherung an die gesellschaftliche Wirklichkeit und an die öffentlichen und privaten Folgen von Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und -beamte darstellt - und damit Lernmöglichkeiten für Öffentlichkeit, Polizeiorganisation und Einzelpersonen eröffnet.

Lernpotenziale einer zivilen Gesellschaft

Generell kann zunächst festgehalten werden, dass die „öffentliche Erregung“ als Indikator der Mobilisierung der Zivilgesellschaft zumeist größer, weil dramatischer ist als die Kennziffern der tatsächlichen Lage: So wurde die Zahl der getöteten Beamten im Jahr 2000 als zahlenmäßige Spitze einer Entwicklung von immer mehr Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten gesehen. Dies ist jedoch, dies zeigen die Zahlen der Getöteten, Verletzten und Angegriffenen, in dieser Eindeutigkeit nicht der Fall. Zivile Gesellschaften bleiben trotz aller inhärenter Rationalität eben doch „Erregungsgemeinschaften“ (Peter Sloterdijk). Sie werden in ihren Aufmerksamkeitsregeln entscheidend bestimmt von Massenmedien - und damit notwendigerweise von „Nachrichtenwertfaktoren“ wie Emotionalität, Personifizierbarkeit, Gewalt etc.

Weiterhin zeigen die Daten überraschende Befunde: Es sind nicht die „unzivilisierten“ Bereiche der Gesellschaft, die für die Hüter des Zivilen gefährlich sind, sondern eben jene „bürgerlichen Wohngebiete“, welche die Studie als vorrangige Orte des Angriffs identifiziert hat. Also auch hier ist Raum für (auf der individuellen Ebene durchaus auflösbare) Paradoxien.

Des weiteren kann man die öffentlichen Reaktionen auf Tötungen als eine gleichsam öffentliche Inszenierung mit dem Ziel der „Einhegung des Nicht-Zivilen“ verstehen: Nach dem Tod eines Beamten, einer Beamtin kommt es zu dem immergleichen Ablauf der öffentlichen (hier vor allem politischen) Betroffenheit und der Behauptung eines politisch-administrativen Handlungswillens. Dies erscheint als eine Art Gemeinschaftsbildung bzw. -simulation innerhalb einer modernen Gesellschaft notwendig und sinnvoll. Aus der in ihren Ergebnissen
vorgestellten Hinterbliebenenbefragung lässt sich jedoch erkennen, dass es so etwas wie einen „Inszenierungsüberschuss“ gibt, der auf Kosten der Angehörigen der Beamtinnen oder Beamten geht: Politiker und Polizeiführer, die all zu stark in Richtung der Öffentlichkeit denken und handeln, kränken und demütigen unter Umständen die Angehörigen. Und in dieser Kränkung liegt wiederum ein Potenzial für die Legitimation „inzivilen“ Verhaltens anderer Beamter oder Beamtinnen (z.B. in Form der Rechtfertigung abweichenden Verhaltens von Polizisten). Es bestehen somit die Gefahr einer Unterstützung von Handlungspotenzialen, die in nicht-zivile Richtung(en) weisen - eben durch „gut gemeintes“, öffentliches Handeln in Reaktion auf inziviles Verhalten. Dieser Dynamik paradoxer, nicht-intendierter Effekte sollten sich Politiker, Polizeiführer und Polizisten (be)ständig bewusst sein.​


Literatur

Backes, Uwe 1991: Bleierne Jahre. Baader-Meinhof und danach, Erlangen/Bonn/Wien Behr, Rafael 2000: Cop Culture. Der Alltag des Gewaltmonopols, Opladen

BKA 1977: Auszug aus der Chronik des Terrorismus, in: Funke, M. (Hg.): Terrorismus. Untersuchungen zur Struktur und Strategie revolutionärer Gewaltpolitik, Kronberg/ Taunus, S. 331-365

BKA/KI 16 1982: Vorsätzliche Tötungen und Tötungsversuche an Polizeivollzugsbeamten, in: Forschung und Entwicklung, Beilage zum Bundeskriminalblatt 224, H. 3, S. 1

Falk, Ekkehard 2000: Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Ein praxisbezogenes Forschungsprojekt (Texte der Fachhochschule Villingen-Schwenningen, Hochschule für Polizei, Bd. 25), Villingen-Schwenningen

Falk, Gerhard 1986: Violence and the American Police. A Brief Analysis, in: International Review of History and Political Science 23, S. 23-34

Fachhochschule Villingen-Schwenningen (Hg.) 2000: Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Villingen-Schwenningen​


FBI (Hg.) 2000: Crime in the United States 1999. Uniform Crime Reports, Washington

FBI (Hg.) 2002: Law Enforcement Officers Killed and Assaulted 2000, URL: http://www. fbi.gov/ucr/killed/00leoka.pdf, [03.04.2006]

Hudson, James R. 1970: Police-Citizen Encounters That Lead to Citizen Complaints, in: Social Problems 18, S. 179-193

Jäger, Joachim 1988: Gewalt und Polizei. Theoretisch-empirische Beiträge zur Kriminologie des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte und zur Konfliktforschung (Beiträge zur gesellschaftswissenschaftlichen Forschung, Bd. 6), Pfaffenweiler​


Jäger, Joachim 1994: Angriffe auf Polizeibeamte 1992, Münster

Jesse, Eckhard/Backes, Uwe 1985: Totalitarismus - Extremismus - Terrorismus, Opladen

Kania, Richard R. E./Mackey, Wade C. 1977: Police Violence as a Function of Community Characteristics, in: Criminology 15, S. 27-48

Kolbe, Harry 2002: Umgang mit der Presse nach einem Schusswaffengebrauch. Vortrag auf der Tagung „Eigensicherung und Schusswaffeneinsatz bei der Polizei“, Frankfurt am Main 29./30. Oktober 2002

Milton, Caherine H./Wahl Hallebeck, Jeanne/Lardner, James/Albrecht, Gary L. 1977: Police Use of Deadly Force, o. O. (Police Foundation)

Ohlemacher, Thomas/Rüger, Arne/Schacht, Gabi/Feldkötter, Ulrike 2003: Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und -beamte 1985-2000. Eine kriminologische Analyse, BadenBaden

Ohlemacher, Thomas/Rüger, Arne/Schacht, Gabi 2002: Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und -beamte: Zwischenergebnisse der KFN-Studie, in: Schriftenreihe der PolizeiFührungsakademie (Schwerpunktheft: Die polizeiliche Eigensicherung), H. 3+4, S. 19-37

Phillips, Tim/Smith, Philip 2000: Police Violence Occasioning Citizen Complaint. An Empirical Analysis of Time-Space Dynamics, in: British Journal of Criminology 40, S. 480-496

Scholzen, Reinhard 2000: Die Polizistenmorde von Dortmund und Waltrop. Fragen und Antworten zu einem unglaublichen Geschehen, in: Kriminalistik 54, S. 621-624

Sessar, Klaus/Baumann, Ulrich/Müller, Josef 1980: Polizeibeamte als Opfer vorsätzlicher Tötung (BKA-Forschungsreihe, Band 12), Wiesbaden

Sessar, Klaus 1981: Rechtliche und soziale Prozesse einer Definition der Tötungskriminalität (Kriminologische Forschungsberichte aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Bd. 3). Freiburg im Breisgau

Stührmann, Ralf 1965: Widerstand gegen die Staatsgewalt §113. Eine kriminologische und dogmatische Untersuchung, München

Vrij, Albert/Van der Steen, Jaap/Koppelaar, Leendert 1994: Aggression of Police Officers as a Function of Temperature. An Experiment with the Fire Arms Training System, in: Journal of Community and Applied Social Psychology 4, S. 365-370