»Wegen Schulden hat noch keiner die Wahl verloren«
Im Deutschen Bundestag gibt es eine Gruppe Parlamentarier, die sich über fast alle Parteigrenzen hinweg nahestehen. Das sind die »Haushälter«. Ihr politischer Traum ist ein nachhaltig ausgeglichener Staatshaushalt, also einer, der auf Dauer ohne netto neu aufgenommene Schulden auskommt.
Die natürlichen Fressfeinde der Haushälter sind die Sozialpolitiker. Auch sie verbünden sich nicht selten mit ihresgleichen aus anderen Fraktionen, denn sie wollen für allerlei Segnungen jenes Geld ausgeben, das die Haushälter bewilligen müssen, aber wegen ihres Traums nicht bewilligen wollen. In diesem quasi genetisch angelegten Streit ist das beste Argument der Sozialpolitiker seit jeher leider dieses: »Wegen Schulden hat noch keiner die Wahl verloren.« Das sitzt. Denn es stimmt.
Aus 60 Jahren Bundesrepublik ist weder auf Bundesnoch auf Länderebene eine Wahl in Erinnerung, in der es spielentscheidend um Schulden und kaputte Haushalte gegangen wäre – und die ein amtierender Regierungschef eben deswegen verloren hätte. Kein Wunder also, dass die Entwicklung der staatlichen Gesamtverschuldung nur eine Richtung kennt: nach oben. An dieser im Großen und Ganzen stetig nach oben strebenden Kurve ist (mit Ausnahme der Jahre 2009, 2010) nicht abzulesen, wie es der Republik in welcher Phase wirtschaftlich ging. Oder welche Parteien gerade regierten. Ob es hagelte oder die Sonne lachte, nur einmal ist ein Rückgang der Gesamtschulden zu verzeichnen. Das war, als die Versteigerung der UMTS-Handy-Lizenzen dem damaligen Finanzminister Hans Eichel rund 100 Milliarden Mark in die Kasse spülte, die großenteils in eine Altschulden-Sondertilgung gingen.
Schulden machen ist eigentlich immer, gelernt ist gelernt: »Wegen Schulden hat noch keiner die Wahl verloren.« Selbst nach drei Jahren ordentlichen Wachstums (2008) nahm die Bevölkerung ein zweistelliges Milliardendefizit beim Bund ohne größeren Aufstand hin. Wenn überhaupt, stockt der Öffentlichkeit nur kurz der Atem, wenn es um neue Schuldenrekorde geht – oder um 20 Milliarden Euro an Krediten für das
bankrotte Griechenland. In den Jahren 2009 und 2010 überstieg die Neuverschuldung allein des Bundes zusammengenommen die 100 Milliarden Euro deutlich – was eine Bruttoverschuldung von sage und schreibe mehr als 300 Milliarden Euro bedeutete, die der Staat bei den Anlegern einsammeln musste. Im Jahr 2013 soll das Defizit des Bundeshaushalts immer noch um die 45 Milliarden Euro betragen, so sieht es zumindest die Finanzplanung der schwarz-gelben Koalition vor. Doch Aufruhr blieb aus, bleibt aus und wird ausbleiben.
Dabei sind die Deutschen ein Volk emsiger Sparer, wie es kaum ein zweites auf dem Globus gibt. Weiterhin legen sie ein gutes Zehntel ihres verfügbaren Einkommens auf die hohe Kante. Das »Sparschwein« wurde hierzulande erstmals 1550 urkundlich erwähnt, und immer noch wird mit 1400 Milliarden Euro der bei weitem größte Anteil der Vermögen als Bar-, Spar- oder Festgeld gehalten. Anders die Deutschen als politisches Kollektiv. Als »die Wähler« nämlich haben sie in aller Regel die Spendierhosen an, respektive weigern sie sich, sie jenem Typus Politiker stramm zu ziehen, der über die Jahre aus dem Posten »Zins und Tilgung« den derzeit schon drittgrößten im Bundeshaushalt gemacht hat. Und seien die Schulden von heute hundert Mal die Steuererhöhungen von morgen: Zumindest in der Politik gilt der Satz der Ökonomen von der strukturell angelegten »Vernachlässigung der in der Zukunft liegenden Bedürfnisse«.
Die Politiker dürfen fest mit der Nachsicht der Wähler rechnen, wenn sie in Sonntagsreden für die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen plädieren und im Alltag weiter Schulden machen. Das ist einer der ganz wenigen Politikerwidersprüche, die sich nie wirklich rächen.
Das prägt, kein Wunder: So haben die allermeisten Politiker das gedankliche Gegenstück von Schuldenmachen – sparen beziehungsweise weniger ausgeben – inzwischen als offizielle Politikoption aussortiert.
Stellvertretend ließe sich CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt mit dem intern heiter formulierten Satz zitieren: »Ach, das mit dem Sparen wird doch politisch total überschätzt.« Oder wie es der CDU-Strippenzieher und heutige Umweltminister Norbert Röttgen auf dem Höhepunkt der schwarz- gelben Koalitionsverhandlungen 2009 sinngemäß formulierte: Man zöge sich nicht den Zorn der halben Republik zu, um »heroisch« von 90 Milliarden Defizit auf 78 Milliarden zu kommen – und von den Leitartiklern dann immer noch verprügelt zu werden. Dazu passt auch dieser durch Zufall belauschte Dialog der Unions-und FDP-Unterhändler in
der Koalitionsarbeitsgruppe »Steuern/Finanzen«. Sagt der CDU-Verhandler (sinngemäß) zu seinem FDP-Gegenüber: »Wo sind denn Eure Sparvorschläge aus der letzten Legislaturperiode?« Antwort des FDPlers: »Wir reden jetzt nicht über Sparen. Denn wenn wir anfangen, geht ihr raus und sagt, wir wollten sparen und streichen. Und wo sind eigentlich eure Vorschläge?« Antwort des CDUlers: »Wir fangen auch nicht an. Dann geht ihr raus, erzählt es rum, und wir kriegen von den Leuten die Prügel. So haben wir nicht gewettet.« Gegen Ende der Koalitionsverhandlungen trug sich eine Episode zu, die dieses Bild vom Bürger bei Politikern aller Parteien weiter zementiert haben dürfte. Die schwarz-gelbe Noch-nicht-ganz-Koalition versuchte, einen zweistelligen Milliardenbetrag absehbarer Neuverschuldung in einen Schattenhaushalt wegzudrücken. Erst da brach die Empörung durch. Aber wiederum nicht wegen der in Rede stehenden Summen, sondern allein wegen der Trickserei – wegen des Versuchs, Medien und Bürger für dumm zu verkaufen.
Fazit: Die öffentlichen Ausgaben massiv zu stutzen, weil die entsprechenden langfristig sicheren Einnahmen fehlen, hält kaum ein Politiker mehr für angezeigt – außer natürlich in Griechenland, das nicht länger über seine Verhältnisse leben dürfe. Aber in Deutschland scheinen die Politiker noch dürfen zu wollen, weil sie wissen, dass die Wähler sie lassen. Vom »größten Sparpaket« der Nachkriegsgeschichte, das die schwarz-gelbe Koalition aufgelegt haben will, war bei Lichte besehen nur die Hälfte echte (gleichwohl sozial gerechte) Ausgabenkürzung. Die andere Hälfte summierte sich aus Steuer- und Abgabenerhöhungen, manches davon auf reichlich Sand gebaut. Ansonsten soll Wachstum die Probleme lösen, mehr Steuereinnahmen in die Kassen spülen und die Sozialversicherungen entlasten. So redeten in den 70er, 80er und 90er Jahren freilich nur »Sozen, die nicht mit Geld umgehen können« (Helmut Kohl).
Nun werden die Politiker nicht müde, auf die »Schuldenbremse« zu verweisen, und Finanzminister Wolfgang Schäuble sagte sogar, dass er ohne Schuldenbremse das Amt vermutlich gar nicht übernommen hätte. Tatsache ist: In einer der letzten Bundestagssitzungen ihrer Amtszeit schrieb die große Koalition 2009 ins Grundgesetz, dass für Bund und Bundesländer gegen Ende des nächsten Jahrzehnts neue Schulden weitgehend verboten sein sollen. Um im steten Gleitflug ans Ziel zu kommen, müsse in jedem
Jahr bis dahin die Neuverschuldung des Bundes um zehn Milliarden Euro schrumpfen. Das wäre in der Tat ein epochaler Wandel, und man würde es gern glauben. Doch Politik ohne Schulden für Deutschland ist wie Fußball ohne Foul, Junkie ohne Stoff, ist wie Kinder, die nie naschen. Nach der ersten Sparrunde im Zeichen der Nachkrise kommt die eigentliche Bewährungsprobe in den Jahren 2011 bis 2013. Aber wie den Deutschen ein Dauersparprogramm politisch verkaufen?
Man könnte versuchen, »Schuldenabbau nicht als Bedrohung, sondern als Verheißung« (Wolfgang Schäuble) darzustellen: So dass Schuldenabbau am Ende als einzige Alternative zu einer massiven Inflation erschiene, als einzige Alternative zur Urangst der Deutschen, denen die brutalen Geldentwertungen des 20. Jahrhunderts gleichsam in der nationalen DNA stecken. Schon heute fürchtet laut Umfragen jeder dritte Berufstätige, dass der Staat wegen seiner hohen Verschuldung die gesetzliche Rente im Alter kürzen wird. Wer Sparen als Rezept gegen Inflation anzupreisen vermag, bekommt also auch jene 20 Millionen Rentner auf seine Seite, die einer hohen Inflation nahezu wehrlos ausgesetzt sind. Ob das klappt? Darauf wetten mag wohl kaum jemand, aber an dieser Stelle einfach nur zu unken, ist nicht der springende Punkt. Vielmehr ist es eine ganz besondere, bezeichnende Ironie, dass die »Schuldenbremse« nicht aus Furcht vor dem gestrengen Wähler und seinem klaren Votum zustande kam. Vielmehr obsiegten bei den maßgeblichen Politikern in Union und SPD zwei Einsichten: Dass, erstens, immer neue Schulden die kommenden Generationen tatsächlich in nicht zu rechtfertigender Art und Weise belasten – ihre Zukunft verzehren, ehe sie begonnen hat. Und dass trotzdem, zweitens, weder Wähler noch Gewählte vom Schuldenmachen loskommen würden, wenn sie den politischen Mechanismus dafür nicht gleichsam in einem Tresor wegschließen und die Schlüssel dafür wegwerfen würden. Nichts anderes bedeutet die Schuldenbremse im Grundgesetz, das ja nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit an dieser Stelle wieder zu ändern wäre, die es im aufgefächerten Fünf-Parteien-System der Zukunft bei diesem Thema wohl nie mehr geben wird. Und genau das hoffen fast alle ehrlich sparbemühten Politiker, die man zu diesem Punkt befragen kann. Ist das nun weise, nehmen die Politiker die eigenen Schwächen und die ihrer Wähler einfach nur nüchtern in den Blick? Oder ist es schlicht feige? Sei's drum, allemal ist es entlarvend: Selten hat sich ein Parlament derart entmannt. Ein ranghoher SPD-Abgeordneter, der
partout nicht genannt werden will, sagte damals: »Die Leute haben noch nicht im Entferntesten begriffen, was wir da mit uns und letztlich mit ihnen veranstaltet haben.« Das staatliche Budget zu bemessen, mit Schulden oder ohne, dieses Recht trotzten die Parlamente einst den Fürsten als erstes ab, gleichsam in ihrer Geburtsstunde. Von dort bis zur parlamentarischen Demokratie unserer Tage verläuft eine nicht immer gerade, doch stolze Linie. Weil die deutschen Politiker (aus gutem Grund) glauben, dass hemmungsloses Schuldenmachen bei Wahlen in Deutschland nicht schadet und sauberes Haushalten nichts nutzt, haben sie das Budgetrecht vor den Wählern (und sich selbst) in Sicherheit gebracht. Keine schöne Pointe.
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