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»Ein Drittel Irre ist immer dabei«

Jeder Bundestagsabgeordnete hat so eine Geschichte, wirklich jeder. Und wenn man als Journalist mit der Hand auf dem Herzen verspricht, sie nicht mit Name und Ort weiterzugeben, dann wird sie auch erzählt. Zum Beispiel diese von der gut gekleideten Dame, die in der Bürgersprechstunde »ihre« Bundestagsabgeordnete bat, für sie doch bitte einen Kontakt zu einem bestimmten saudischen Kronprinzen herzustellen. Denn diesen Prinzen habe sie vor 30 Jahren kennengelernt, und er versuche seither bestimmt, sie in Deutschland zu erreichen. Und außerdem, sagte die Dame, werde sie deswegen vom saudischen wie vom deutschen Geheimdienst in ihrer Wohnung abgehört. Worauf die Abgeordnete nach einigem Hin und Her ihr ziemlich launig riet: »Stellen Sie sich doch ins Wohnzimmer und rufen laut nach dem Prinzen, das kommt auf dem Dienstweg ganz bestimmt an.« Worauf die Dame antwortete: »Das mache ich doch schon jeden Abend.
Wenn das geklappt hätte, säße ich doch nicht hier bei Ihnen, Frau …« »Politik zieht Irre an wie das Licht die Motten«, sagen Politiker, die von Wahlkampfveranstaltungen am Infostand zurückkommen, aus ihren Bürgersprechstunden plaudern oder in der »Abteilung Kurioses« ihrer Postmappe stöbern. Die allermeisten von ihnen meinen es nicht böse, erzählen in einem Ton eher belustigter Resignation: »Es gibt so viele Leute, die niemanden mehr zum Reden haben.« Zum Beispiel jene ältere Frau, die sich am Wahlkampfstand der »Piraten-Partei« deren Ein-Punkt-Programm grenzenloser Freiheit im Internet erklären ließ. Am Ende eines längeren Gespräches nickte sie freundlich interessiert, so wird in Berlin erzählt, steckte das Info-Material ein und sagte im Weggehen: »Aber das, was ihr da vor Somalia macht, das finde ich gar nicht gut.« Vor Somalia hatten einheimische Piraten gerade wieder ein westliches Handelsschiff gekapert.
Soll man lachen oder weinen?
Mehrere hundert Briefe, Anfragen und Mails kriegt ein prominenter Abgeordneter im Monat, heißt es. Immerhin noch um die 150 ein Neuling im Bundestag und das Doppelte, wenn wirklich wichtige Beschlüsse anstehen. In den letzten Jahren, so berichten Abgeordnete aller Parteien, sei der Ton der Zuschriften »fordernder und unfreundlicher geworden«. Beim
Bier in der Parlamentarischen Gesellschaft gegenüber vom Reichstag erzählen sie mit schiefem Grinsen, wie sie sich von ihren Wahlkreisbürgern einspannen lassen (müssen): bei der Suche nach einem Arbeitsplatz, wenn Beistand geleistet werden muss im Nachbarschaftsstreit über die Höhe des Jägerzauns, ja, selbst wenn es um Karten für das Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker geht. »Für Simon Rattle, drei Karten, bitte!«, hieß es am Telefon. »Das war vielleicht ein Gerenne. Simon Rattle! Berliner Philharmoniker! Was man nicht alles tut …« Politik zieht aber auch die Hasserfüllten, die vermeintlich zu kurz Gekommenen an. Die sich ihr Leben lang zurückgesetzt fühlen, immerzu gedeckelt. Die ihre Fäuste wild schütteln, an Theken und in Salons schwadronieren oder jene unflätigen Briefe schreiben, in deren rechtes oberes Eck Franz Müntefering zum Beispiel ein »A« kritzelt. »Das könnte für Ablage stehen«, erzählte der Ex-SPD-Chef einmal. »Aber man könnte es auch anders lesen …« Längst nicht mehr die Ausnahme sind wüste Beschimpfungen gegen alles Politische und alle Politiker, die auf »unsere Kosten« immer nur den Falschen »Zucker in den Ar… blasen«, aber rein gar nichts für die wahre Mehrheit im Land tun, die bittere Not leidet.
Schnell ist in diesen Briefen die Grenze zur offenen Drohung (»an die nächste Laterne …«) überschritten, den Tatbestand von Beleidigung erfüllen sie allemal. »Die Distanzlosigkeit hat deutlich zugenommen«, sagt Philipp Rösler, qua Amt als Gesundheitsminister einer der unbeliebtesten Politiker im Land. Gleichwohl müssen die Absender Folgen fast nie fürchten, denn Politiker haben ein dickes Fell.
Wichtiger ist denn auch die Frage, ob dieses Dauerfeuer einen Politiker in seinem Denken und Handeln nachhaltig beeinflusst. Ob es in das Bild der Politiker von »den Bürgern« und von Deutschland insgesamt eingeht oder nicht. Tatsache ist: Es wächst die Zahl derer, denen es die Vervielfachung des Medienangebotes ermöglicht, »ein Leben zu führen, ohne je mit Politik in Berührung zu kommen«, wie ein erfahrener Bundestagsabgeordneter sagt. »Mit ARD und ZDF allein war das eben ganz anders.« Mehr noch: Quer durch alle Bildungs- und Einkommensschichten wächst die Zahl der Einpersonen-Haushalte, in denen es fürchterlich still und einsam sein kann.
Und schließlich wird eine wachsende Gruppe von Menschen sichtbar, die mit der stetigen Beschleunigung des Alltags nicht mehr Schritt hält und in eine eigene Welt abdriftet. Von diesen Menschen bekommen Politiker mehr zu sehen als andere Berufsgruppen im Land, Taxifahrer und Allgemeinärzte
vielleicht ausgenommen. Denn Politik vor Ort ist eben immer auch soziale Wärmestube. »Guck mal, und die dürfen auch alle wählen …«, sagte ein rasant in Spitzenämter aufgestiegener Nachwuchspolitiker Niedersachsens einmal bei einer entsprechenden Gelegenheit aus dem Mundwinkel. Die allermeisten Politiker reden von solchen Erlebnissen entweder mit echter Betroffenheit oder mit mühsam unterdrücktem Grinsen. Bei der politischen Diagnose grinst dann freilich keiner mehr: Ein bestimmter Teil der Gesellschaft ist mit keinem Mittel, das der Politik zur Verfügung steht, mehr zu erreichen. Ein bestimmter Teil der Gesellschaft hat in einer nicht mehr rückgängig zu machenden Weise mit dem öffentlichen Leben abgeschlossen, ohne selbst auch nur den Wunsch artikulieren zu können, wieder eingeschlossen zu werden. Es sind nicht unbedingt alles Verlierer, bestimmt aber verlorene Menschen, und sie werden eher mehr als weniger.
So sehen es die meisten der Politiker, die darüber zu reden bereit sind. Man kann ihnen aber kaum vorwerfen, dass sie keine Abhilfe wissen, dass sie den Status quo akzeptieren und sich lieber anderen Problemen widmen. Ja, man kann sogar nachvollziehen, dass manch einer der Bundestagsabgeordneten es so sieht wie ein prominenter CDU- Parlamentarier aus dem Merkel-Führungskreis: »So bedauerlich eine sinkende Wahlbeteiligung ist: Was wäre eigentlich für eine im besten Sinne staatstragende Politik gewonnen, wenn diese Gruppe tatsächlich noch wählen ginge — und dann für den erstbesten Hokuspokus stimmen würde?«