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»So kenne ich die Deutschen gar nicht«

Anfang 2009 wird die Bild-Zeitung mit einem Medienpreis für ihre Berichte über die Finanzkrise und deren Folgen ausgezeichnet.
Bankenverbandschef Klaus-Peter Müller sagt als Laudator zur Begründung: Bild erhalte den Preis »für sachliche, verhaltene und hysteriefreie Berichterstattung über die Bankenkrise«. Und an die Adresse der verantwortlichen Redakteure: »Sie haben der Versuchung reißerischer Schlagzeilen widerstanden und so dazu beigetragen, dass der Ansturm auf die Bankschalter ausblieb.« Das klang zwar wie wider Willen vergiftet, wie das ungläubige »Lob« für einen notorischen Verkehrsrowdy, der endlich einmal eine ganze Woche lang kein Kind auf dem Zebrastreifen totgefahren hat. Aber es sagte indirekt auch eine Menge über die Deutschen – und wie sie nicht sind. Nicht mehr sind.
Auch wenn die Finanzkrise fürs erste wieder vergessen scheint, auch wenn die deutsche Wirtschaft ihren beispiellosen Einbruch annähernd wettgemacht hat – ein Satz wird hoffentlich bleiben, wie ihn sinngemäß ganz viele Politiker von CDU/CSU, SPD, Liberalen und Grünen im Lauf der vergangenen zweieinhalb Jahre immer wieder formulierten: »So kenne ich die Deutschen gar nicht!« Staunend, geradezu ungläubig blickten Politiker aus Regierung und Opposition auf die Bürger, nannten sie »ernsthaft«, »vernünftig« oder »einfach total gelassen«. Vorläufiges Fazit des Heidelberger Politologen Manfred Schmidt: Die Gefasstheit der Deutschen in der Krise »grenzt an ein Wunder«. Oder wie es ein damaliges sozialdemokratisches Kabinettsmitglied im kleinen Kreis sagte: »Man lernt das deutsche Volk von einer Seite kennen, die mich beruhigt.« Und die ihm wohl neu war.
Schließlich war das Bild von den Deutschen, facettiert durch zahllose Umfragen und Studien, über Jahrzehnte ein ganz anderes. Geprägt von »german angst« vor wahlweise Krieg, Waldsterben, Atomtod, Klima- Erwärmung oder vor allem zugleich. Wer hätte vor diesem Hintergrund nicht darauf gewettet, dass die Beinahe-Kernschmelze im Bankensektor, der brutale Konjunkturabsturz weltweit oder später die von Griechenland ausgelöste Euro-Krise sich nicht zum nächsten, kollektiven Zukunftstrauma
in Deutschland auswachsen würde? Was hatten auch ernstzunehmende Experten nicht prophezeit: »Sechs Millionen Arbeitslose« (Achtung, Demokratie-Abkehr und Hitler-Comeback!). »Soziale Unruhen« (Achtung, Linkspartei über 50 Prozent!). »Das Ende des Euro« (Achtung, Kriegsgefahr in Europa!). Und zu welchen extremen Mitteln und Worten hatte die Bundesregierung gegriffen: Erst der Rettungsschirm für die deutschen Banken, dem später noch die Teilverstaatlichung großer Häuser folgte; dann die Garantieerklärung für alle deutschen Sparguthaben, der Staatsfonds für krisengeschüttelte Unternehmen bis hin zum 750- Milliarden-Euro-Rettungsschirm für die europäische Gemeinschaftswährung. Zeitweilig malte man an höchster Stelle den Untergang des internationalen Bankensystems an die Wand oder aber das Auseinanderbrechen des Euro — vermutlich mit handfesten Gründen, wenn die Berichte über dramatische Nachtsitzungen und Zentralbanker am Rande des Nervenzusammenbruches auch nur annähernd zutreffen.
Kurzum: An Krisentremolo und Krisenbeschlüssen seitens der Regierung (und in der Folge an Krisenmeldungen seitens der Medien) fehlte es nicht.
Doch die Deutschen ließen sich nicht wirklich beeindrucken, zeigten »stiff upper lipp«, als wären sie Briten. Die Politiker staunten, der damalige Finanzminister Peer Steinbrück resümierte am Ende mit Stolz in der Stimme: »Die Deutschen haben sich nicht hysterisch machen lassen.« Aber mehr noch: Als die große Koalition Milliarden-Bürgschaften für den maroden Autobauer Opel beschloss, mussten sich die Politiker von Regierung wie Opposition erneut belehren lassen. Ein Spitzenmann der Union berichtete damals von einem vertraulichen Treffen mit der Allensbacher Chefdemoskopin Renate Köcher: »Frau Köcher hat uns Zahlen, absolut gehärtete Zahlen, gezeigt, wonach mehr als die Hälfte der Befragten noch mehr Steuergeld für Opel klar ablehnen. Die Leute wollen kein Geld verbrennen sehen.« In Aussicht gestellt wurden die Milliarden dennoch, offenkundig war das Bild, das die meisten Verantwortlichen von den Deutschen im Kopf hatten, stärker als die Allensbacher Zahlen.
Ähnlich bei der populistischen »Rettung« des Quelle-Konzerns durch Ministerpräsident Horst Seehofer, die selbst in dessen Bundesland Bayern 70 Prozent der Befragten ablehnten. Ähnlich auch, als die herunter gewirtschaftete Karstadt-Warenhauskette (Arcandor) um Staatshilfe bat: Der damalige SPD-Vormann Franz Müntefering wollte sie retten lassen, hoffte auf Zuspruch der Bürger und täuschte sich damit gewaltig. Bis tief
hinein in die Reihen der SPD-Wählerschaft stellten sich breite Mehrheiten gegen eine Karstadt-Rettung, die der Staat schließlich unterließ. Und am Ende behielten die Leute Recht: Für Opel fand sich eine Lösung ohne Staatsgeld, für Karstadt auch. Und Quelle ging trotz Staatshilfe unter.
Schlussfolgerung des SPD-Wahlkampfmanagers Kajo Wasserhövel: »Die Menschen lassen sich von der kumulierten Medienlage nicht mehr beeindrucken, sie koppeln sich ab. Wahlentscheidend ist das persönliche Gespräch. In der Familie, unter Freunden und am Stammtisch.« Selten war der Unterschied zwischen populistisch und populär so groß. Im ganzen Superwahljahr 2009 hatte die Wirtschaftskrise keinen sichtbaren Einfluss auf die Sonntagsfrage. Und nicht nur das: Über das ganze Jahr hinweg legte ausgerechnet jene Partei sensationelle Ergebnisse hin, die sich ungeniert zu einem fröhlichen Kapitalismus bekannte — die FDP. Auch bei den Wahlen des Jahres 2010 und 2011 scheint die Wirtschaftskrise keine entscheidende Rolle gespielt zu haben oder noch zu spielen. Die Krise ist noch nicht vorüber. Aber an der Urne ist sie nie angekommen.
In internationalen Vergleichsstudien legen die Deutschen darüber hinaus das größte Maß an Zuversicht an den Tag. Mitten in der Krise stieg der Wunsch nach Kindern deutlich an, wuchs unter den Jungen der Anteil der Zuversichtlichen deutlich. Mitten in der Krise schrumpfte sogar die Zahl derer um ein Drittel, die der Meinung sind, in der Gesellschaft gehe es ganz allgemein »ungerecht« zu. Fazit eines damaligen Ministers: »Wir haben uns in den Leuten getäuscht. Die sind realistischer, als viele in der Politik glauben.« Von der Krise ließen sie sich nicht aus der Ruhe bringen, und dem schnellen Aufschwung danach trauten sie lange nicht.
Dreh- und Angelpunkt dafür ist bis heute die Lage auf dem Arbeitsmarkt.
Soziologische Studien belegen, dass auf jeden neuen Arbeitslosen drei Personen im Bekanntenkreis kommen, die sein Schicksal auch um den eigenen Job bangen lässt. Arbeitslosigkeit ist also der größte Brandbeschleuniger für eine gesellschaftliche Verunsicherung, die jederzeit auch auf die Politik übergreifen könnte. »Die Leute wollen jetzt keine Prinzipienreiterei«, sagten nicht wenige Politiker in jenen Krisenwochen, als sie beim Abschied von der Erhardschen Ordnungspolitik die Tür für staatliche Interventionen so weit aufmachten, dass sogar ein Gesetz zur Bankenverstaatlichung hindurch passte. »Die Leute wollen, dass wir etwas für die Wirtschaft und die Jobs tun. Ob sich Ludwig Erhard dabei im Grabe dreht, ist denen schnuppe.« Pragmatismus pur also. Umso entscheidender,
dass die Krise den Arbeitsmarkt bei weitem nicht in dem befürchteten Maße erreichte. Die Regierung schuf dazu kurz entschlossen eine kostspielige aber wirksame Kurzarbeiterregelung, die Unternehmen wiederholten die Fehler der Vergangenheit nicht, sondern hielten ihre Stammbelegschaften, und die Arbeitnehmer selbst verzichteten in der Kurzarbeit auf einen Teil ihrer Gehälter. Dieses Krisenopfer ist in Euro schwer zu beziffern, dürfte sich aber auf mehrere Milliarden summieren, die die Firmen bislang sparten. Das zeigte: der deutsche Arbeitsmarkt, die deutschen Unternehmer, die deutschen Arbeitnehmer — allesamt besser als ihr Ruf. Das Ausland, die USA inklusive, sprechen vom »german job-wunder«; 2010 und 2011 ist Deutschland die Wachstumslokomotive in Europa, wird von China und Russland geradezu hofiert. Ein seltenes Zusammenspiel zwischen einer gelassenen Bevölkerung und einer entschlossen agierenden Politik, die bestimmt nicht alles richtig macht, aber doch eine Menge. »Darauf kann man stolz sein«, sagt der neue Bundespräsident Christian Wulff. Recht hat er.
Und was macht die Politik nun aus diesem Stolz und mit ihrem neuen Urteil über die Deutschen in der Krise? Nicht viel, muss man leider sagen.
Eine umfassende soziologische Untersuchung zu den »neu-coolen« Deutschen in der Krise ist meines Wissens ebenso unterblieben wie eine große Rede der Kanzlerin oder des Bundespräsidenten. Was hätte man aus dem Thema machen können, von ehrlichem Lob und öffentlichem Dank bis zur strategischen Neuausrichtung von politischer Kommunikation? Es ist, als würde sich die deutsche Politik kaum trauen, irgendwelche grundlegenden Schlussfolgerungen aus der Krisenfestigkeit der Wähler zu ziehen.
Bleibt die Frage: Können oder wollen die Politiker nicht? Letzteres, wenn das Motto eines prominenten FDP-Abgeordneten zutrifft: »Besser nicht dran rühren.« Von dieser Einstellung selbst sediert, verstolperte die schwarz-gelbe Regierung große Teile ihrer ersten Halbzeit im Amt. Sie zögerte und zauderte, das eigene Programm anzugehen — weil man den vermeintlich krisengeschüttelten Wählern nicht viel zumuten wollte und so in den alten Mustern gefangen blieb. Inzwischen besteht die größte Hoffnung der Regierungskoalition darin, dass die »Lage nachweislich besser ist als die Stimmung«. Aber die Nerven in der Koalition flattern weiterhin mächtig. Die SPD wiederum versucht sich in einer Rolle rückwärts nach der anderen, trennt sich mit stark verengtem Blick auf ihren
eigenen Funktionärsmittelbau Stück für Stück von der die Reformagenda 2010 – und krebst weiter bundesweit unter 30 Prozent in den Umfragen.
Nur die Grünen sind im anhaltenden Höhenflug und können sich auf das Superwahljahr 2011 freuen. Sie scheinen die Zeichen erkannt zu haben, wenn denn der Satz von Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin für die Sicht der ganzen Partei steht: »Es gibt eine Sehnsucht nach Ernsthaftigkeit und ernsten Auseinandersetzungen. « Und es gibt tatsächlich bemerkenswerte Regungen, die hoffen lassen. In Schleswig-Holstein will der Nachfolger von CDU-Ministerpräsident Peter Harry Carstensen den Trend zu Gelassenheit und Pragmatismus nutzen, der in der Krise zutage trat. Christian von Boetticher sagt ganz offen: »Die Leute sind jetzt bereit zum Sparen.« Er will es probieren. Das kleine Bundesland im Norden riskiert einen sehr weit reichenden, ehrgeizigen Sparkurs und will die Bürger partout nicht fürchten. In Hessen wiederum wird die CDU/FDP-Landesregierung ihren harten Konsolidierungskurs einer Volksabstimmung unterwerfen — ein beispielloser Versuch, die Verbindung zwischen Wählern und Gewählten gerade bei der Frage aller Fragen neu zu knüpfen. Quod erat demonstrandum.