»Der Schoß ist fruchtbar noch«
Haben Sie den Aufstieg Hitlers erlebt? Nein? Kein Wunder, Sie müssten heute Mitte 80 sein. Oder das Ende des Zweiten Weltkriegs? Schon eher, dann gehören Sie zum Bevölkerungsfünftel derer, die 65 oder älter sind.
Maximal hätten sie also 12 Jahre unter den Nazis und mehr als 60 in der bundesrepublikanischen Demokratie gelebt. Leider zählen in der bundesdeutschen Großpolitik vornehmlich die ersten 12. Eine Art »Sündenstolz« ( Joachim Gauck) war lange Zeit konstitutives Element der westdeutschen Nachkriegsrepublik, und ist es oftmals noch.
So gilt wie in Erz gegossen: Der Deutsche als solcher ist verführbar, der Schoß fruchtbar noch. Zynisch könnte man von einer bislang unentdeckten Form der genetischen Weitergabe politischer Prädispositionen reden, unter denen kein anderes Volk leidet, nur die Deutschen. Käme dieser Vorwurf allein von außerhalb der Grenzen, gern auch aus Anlass einer Fußball- Weltmeisterschaft und ihrer Aufbereitung beispielsweise in der britischen Balkenpresse oder käme er auf dem Höhepunkt einer Auseinandersetzung darüber, ob deutsche Steuerzahler für europäische Schuldenschlendriane geradestehen sollen – es ließe sich achselzuckend damit leben. Aber auch Politik auf Bundesebene wird mit kaum einem Argument so anhaltend betrieben und indirekt begründet wie mit eben diesem: Die Deutschen sind verführbar. Wehe, wehe, wenn die Populisten kommen. Oder wie es selbst die ansonsten so pragmatische Bundeskanzlerin Angela Merkel einer Gruppe junger Menschen bei einer Gedenkveranstaltung ins Stammbuch schrieb: »Weil man nie sicher sein kann, dass die Menschen vernünftiger werden, müssen die politischen Strukturen der Bundesrepublik so sein, wie sie sind.« Und am anderen Ende des politischen Spektrums echot Grünen- Fraktionschef Jürgen Trittin: »Es gibt seit langem ein rechtsradikales Potenzial in Deutschland.« Wie viele Debatten sind mit diesem Argument schon tot geschlagen worden, noch bevor sie recht begonnen hatten: »Leitkultur« als Chiffre einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Integration oder Ausländerproblemen war über Jahrzehnte tabu, verkam zeitweilig zur hohlen Provokationsfloskel für alle jene, die sich vom berechenbar
folgenden Sturm linksliberaler Entrüstung auch einmal auf die erste Seite der Tageszeitungen spülen lassen wollten. »Deutsche Tugenden«, anderes Beispiel, durfte es nur auf dem Fußballplatz geben, nicht aber als die Koordinaten der individuellen oder nationalen Selbstvergewisserung. Selbst das millionenfach harmlos heitere Fähnchenschwenken bei der Fußball WM 2006 kam unter das Mikroskop humorfreier Soziologen. Denn, wehe, wehe, wer Schwarz-Rot-Gold sich ans Auto steckt, macht womöglich auch mit, wenn Deutsche demnächst wieder in Polen einmarschieren oder einen Platz an der Sonne suchen.
Das soll den Schrecken, der von Deutschen und von deutschem Boden ausging, weder in Zweifel ziehen noch nachträglich verharmlosen. Das soll weder bestreiten noch beklagen, dass die Vergangenheit Teil der deutschen Identität ist. Aber müssen es sich gut 80 Millionen Menschen wirklich gefallen lassen, von ihren eigenen Volksvertretern in Bausch und Bogen für antidemokratisch verführbar und halbgescheit gehalten zu werden? Im 21.
Jahrhundert?
Andere Länder in Europa leben seit langem mit einer Rechts- oder Linksaußenpartei (oder mit beidem). Appetitlich ist das nicht, aber ein Weltuntergang ebenso wenig. Auch in Deutschland hält nicht mehr, was einst aus der Furcht vor Wiederholung der Nazi-Radikalisierung entstand: die Pflicht für die beiden Volksparteien, neben sich, zum politischen Rand hin, keine weitere Partei zu dulden. Die SED-Erben sind unter dem Namen Linkspartei inzwischen auch im Westen der Republik verankert; CDU und CSU haben wachsende Schwierigkeiten, Ähnliches an ihrem rechten Rand zu unterdrücken. In der Union wuchs während der Euro-Krise, die 2010 zwei Multi-Milliarden-Schutzschirme nötig machte, die Furcht vor einer »D-Mark-Partei«. Anfang 2011 ist es mit Blick auf die Niederlande und Schweden die Furcht vor einer Anti-Islam-Partei. Vor einem Sammelbecken für frustrierte Stammwähler, Nicht-Wähler und Rechtsaußenspinner, das die Deutschen auf einen radikalen Kurs verführen könnte. Ob diese Ausfächerung der Parteien unter dem Strich gut täte, mag man bezweifeln.
In europäischem Maßstab normal wäre sie allemal.
Wohlgemerkt: Niemand bestreitet, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Alliierten ebenso wie die Deutschen gut daran taten, aus dem Nationalsozialismus und seinem Weg zur Macht vorbeugende Maßnahmen abzuleiten. Der Historiker Golo Mann formulierte es drastisch, aber der damaligen Zeit entsprechend und in der Sache zutreffend: »Die
Ausschaltung des Volkes empfahl sich nach den unter dem Nationalsozialismus gesammelten Erfahrungen.« Heute scheint es, als wäre diese Warnung vor »Weimarer« Zuständen oder rechten Rattenfängern eine der letzten Gemeinsamkeiten aller Bundestagsparteien — und würde auch darum so beharrlich gepflegt. Die Vorkehrungen gegen Verführbarkeit haben gleichwohl Folgen, die in keinem Verhältnis mehr zur realen Bedrohung der deutschen Demokratie durch deutsche Anti-Demokraten steht — also zumindest neu begründet werden müssten.
Dazu zählt die Aufsplitterung der Kompetenzen zwischen Bundes- und Länderebene — auf dass niemals mehr eine Gewalt im Staate alle anderen gleichschalten oder abschaffen könne. Dazu zählt auch, dass den Parteien nach dem Krieg eine Position zugewiesen wurde, in der sie der alleinige Träger der politischen Mittleraufgabe sind, in der sie gleichsam ein Monopol auf angewandte Politik haben. Weil die Parteien von diesem Monopol naturgemäß nicht gern lassen wollen, hemmen sie die überfällige Prüfung, ob es noch zeitgemäß ist. 65 Jahre nach Kriegsende wird den Deutschen weiterhin verweigert, wenigstens bei ganz großen Entscheidungen ein bundesweites Referendum abzuhalten. »Wir wissen ja, was bei der Abstimmung über den Euro herausgekommen wäre«, heißt es dann. »Sogar die Deutsche Einheit wäre durchgefallen«, sagen nicht wenige einflussreiche Politiker, die die Zeit vor 20 Jahren miterlebt haben.
Wirklich? Sicher ist nur, dass die Politiker vor einem Rendezvous mit dem Wähler ganz anders für ihre Vorhaben hätten kämpfen oder ihr politisches Schicksal mit diesen verbinden müssen: Das gilt für den Euro- Vertrag ebenso wie für die deutsche Einheit mit all' ihren damals schon sichtbaren Kosten. Stattdessen überließ man es dem Verfassungsgericht, diese Beschlüsse im Nachhinein und blutleer gutzuheißen – »im Namen des Volkes« natürlich.
Die Unterstellung, die Deutschen müssten vor sich selbst geschützt werden, erspart der Politik aber nicht nur große Rechtfertigungsschlachten.
Sie kostet auch Geld, viel Geld, weil sie dem deutschen Sozialstaat die Ewigkeitsgarantie liefert. Der ist nämlich, darin durchaus vergleichbar den Bismarckschen Sozialgesetzen, immer auch Sozialkitt zwischen den Einkommensschichten, immer auch vorsorglich verabreichtes Sedativum gegen alle Arten von Extremismen in einer Gesellschaft, die seit jeher auch Verlierer produziert, das aber nicht wahrhaben will. Der deutsche Sozialstaat mit seinen letztlich sehr auskömmlichen Varianten der
gegenleistungslosen Grundsicherung lässt sich gegen hartnäckige Zweifler immer auch damit rechtfertigen, dass er den Rattenfängern vom rechten wie linken Rand ihr Geschäft merklich schwerer mache. Wohl wahr. Aber: Während die Verführbarkeit schwindet, wächst der Sozialstaat — den zu verwalten Daseinsberechtigung für ganze Politikergenerationen geworden ist. Im Klartext: Der Sozialstaat lebt bis auf weiteres von der Prämisse, dass gerade in Krisenzeiten die monatlichen Milliardenausgaben auch als eine Art Vollkaskoprämie gegen den nächsten Adolf Hitler zu verstehen sind. Da hätten die Deutschen, die Steuerzahler zumal, langsam aber sicher eine andere Begründung verdient.
Nun mag es ja sein, dass die Wirtschaftskrise wahrhaftig die »Bewährungsprobe« (Horst Köhler) der deutschen Demokratie darstellte.
Aber wenn dem so ist, haben die Deutschen sie nicht glänzend bestanden?
Wie weit daneben lagen die vielen Befürchtungen, die Deutschen könnten ihrer Demokratie den Rücken kehren, weil sie ihnen nicht mehr Jahr um Jahr ein Wohlstandsplus verheißt? Nein, wenn es irgendetwas im Schatz von Binsenweisheiten deutscher Politiker gibt, von dem sie sich alsbald trennen sollten, dann ist es die Unterstellung, die Deutschen seien weiterhin ins Radikale verführbar. Nichts spricht dafür, vieles dagegen. In einer breit angelegten GfK-Studie bejahten drei Viertel der Befragten »stark« oder »sehr stark« diesen Satz: »Trotz unserer Geschichte sollten wir wieder stolz sein können, Deutsche zu sein.« Der Wert hat sich seit 2001 glatt verdoppelt. Fazit der Studie: »Das Nationalgefühl ist zurück, die deutsche Seele weitgehend geheilt.« Kurzum: Obwohl manch' allzu verspannte Betrachtung sich langsam lockert, beharren viele, viele deutsche Politiker weiterhin darauf, die Deutschen für leicht verführ- und entflammbar zu halten. Sie tun es aus Bequemlichkeit; aus der selbstgefälligen Sorge heraus, ein bis dato sicher funktionierendes Allzweckargument zu verlieren, dem niemand widersprechen kann, ohne sich verdächtig zu machen. Das ist billige Bevormundung.
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