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»Das verstehen die Leute eh nicht«

Manche sonntagabends, die meisten Montag früh: So pendeln die derzeit 622 Bundestagsabgeordneten zurück nach Berlin, wenn das Parlament Sitzungswoche hat, also mehr als zwanzig Mal im Jahr. Dann kommen sie aus ihren Wahlkreisen in allen Ecken der Republik in die Hauptstadt. Und obwohl es ihnen als Insassen des »Raumschiffs Berlin« stets abgesprochen wird, bringen sie etwas Wertvolles mit: Momente, die sie mitten im ganz realen Leben der Bürger gestanden haben, Eindrücke aus erster Hand. Aus Familie, Schützenverein, Bürgersprechstunde, Sportplatzeinweihung. Und wenn sie davon berichten, fällt innerhalb der ersten fünf Minuten ein Satz garantiert, den stellvertretend für ganz viele der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Dirk Niebel (FDP) einmal so formulierte: »Wenn man es den Leuten in Ruhe erklärt, verstehen sie es.« Heißt: Bundestagsabgeordnete stehen nicht auf Kriegsfuß mit dem Wähler, solange er ihnen im »vorpolitischen Raum« als Einzelner gegenüber sitzt, es Rede und Gegenrede gibt. In der bezeichnend so genannten Wahlkreis-»Sprechstunde« oder am Stehtisch bei einer Veranstaltung in der Fußgängerzone lässt sich dem einen oder anderen eben doch erklären, warum zum Beispiel die Verlängerung der Lebensarbeitszeit nötig war, die Rente mit 67. Oder der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr.
Oder die gigantische Neuverschuldung für unter anderem den Bankenrettungsschirm. Oder eine Gesundheitsreform, bei der erneut die Beiträge steigen. Diese Erfolgserlebnisse bringen Bundestagsabgeordnete also regelmäßig mit nach Berlin. Wo sie freilich ebenso regelmäßig zügig verblassen, weil alle repräsentativen Umfragen unter den Deutschen eine so klare Ablehnung der Rente mit 67, des Afghanistan-Einsatzes und so viel Verdruss über die jüngste Gesundheitsreform ausweisen. Wenn also deutsche Politiker am Bürger verzweifeln – und sie tun es oft –, dann am Bürger insgesamt. Am Kollektiv, nicht am Individuum. Das ist ein Unterschied, der das politische Handeln prägt.
Umgekehrt gilt das übrigens auch: Entgegen ihrem miserablen Ruf als Gruppe ist der einzelne Politiker daheim im Wahlkreis meist gut gelitten,
nicht selten hoch geachtet. Im direkten Gespräch, Auge in Auge, kann der Politiker also doch noch jene Autorität entfalten, die ihm als Klasse längst fehlt. Aber selbst für die Bürger, die ihm wohl wollen, ist der Abgeordnete vor Ort offenkundig ein anderer als in Berlin. In der fernen Hauptstadt, der gleichermaßen bewunderten wie misstrauisch beäugten Metropole, ist er Teil einer weit entrückten Elite, einer von »denen da oben«. Rädchen in der Machtmaschine Politik, um die sich Mythen ranken, die Missverständnisse und Vorurteile zuhauf produziert. Der PolitologeWerner Patzelt konstatierte einmal: »Es funktioniert einfach anders, als viele Bürger glauben – wo das Volk Unrat wittert, folgt die politische Klasse oft völlig systemadäquaten Regeln.« Soll heißen: Das Volk versteht nicht, warum »die Politik« funktioniert, wie sie funktionieren muss – und nimmt übel. Die Politiker wiederum verstehen nicht, warum es »die Leute« nicht verstehen wollen.
Womit schon eine Menge über jene Verdrossenheit gesagt ist, die sich immer trennender zwischen Wähler und Gewählte schiebt. Sie kann sich polternd äußern wie zum Beispiel beim ehemaligen Grünen-Außenminister Joschka Fischer, der gern Journalisten anblaffte, wie wenig sie wieder einmal von seinen außenpolitischen Ausführungen verstanden hätten (»Nichts habt ihr kapiert!«) – aber in Wahrheit damit das Publikum ganz allgemein meinte. Manchmal auch verharrt die Verdrossenheit in einer ratlosen Stille, wie bei dem SPD-Politiker, der sich auf Europa-, Landes- und Kommunalebene einen prominenten Namen gemacht hatte, dann hinwarf und Jahre später, kurz vor seinem Tod, darüber sagte: »Es ging nicht mehr. In mir war nur noch Zynismus, nur noch Verachtung für die Leute.« Öffentlich dagegen klagen die Politiker so gut wie nie. Sie haben sich mit einem Bild vom Bürger eingerichtet, in dem ganz klar jene Bereiche des Geschäfts markiert sind, die »der Wähler nicht versteht«; die man »nicht vermitteln kann«. Und jedweder Versuch, daran etwas zu ändern, wird bestenfalls noch pflichtschuldig unternommen. Man hat Wichtigeres zu tun, oder es steht Wichtigeres auf dem Spiel, und vielleicht stimmt das sogar.
Zum Beispiel in diesem Fall, der wie kaum ein anderer zeigt, wie klar getrennt die Regelkreise inzwischen sind, in denen Politiker und Wähler denken und handeln: die Suche und spätere Wahl des Nachfolgers für den abrupt zurückgetretenen Bundespräsidenten Horst Köhler. Gegenüber standen sich im Sommer 2010 Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff für Union und FDP und der DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck, der
ehemalige Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde. Ihn hatten SPD und Grüne aufgestellt. Die CDU bestritt nicht, dass in einer Art non-politischem Reinraum Gauck sehr wohl wählbar und ein hervorragender Bundespräsident gewesen wäre. In allen Bürgerumfragen erreichte der feingliedrige, nachdenkliche Gauck zudem klare Mehrheiten. In den Augen und nach den Kriterien größerer Teile des »normalen« Publikums galt Gauck völlig zu Recht also als Nummer Eins, als der bessere Präsident.
Aber: In den Augen und nach den Kriterien der politischen Akteure war es ebenso völlig zu Recht genau andersherum. Denn: Hätten Union und FDP trotz ihrer stattlichen Mehrheit in der Bundesversammlung den »eigenen« Kandidaten nicht durchgebracht, wären das Ende der schwarz-gelben Koalition und baldige Neuwahlen wohl besiegelt gewesen. Das Rennen hieß für die Bürger also »Gauck gegen Wulff«. Für die Politik, für Regierungswie für Oppositionslager hieß es: »Gauck gegen Merkel«, Machtfrage.
Im ersten und zweiten Wahlgang schaffte Wulff die nötige absolute Mehrheit nicht. Ein stattlicher Achtungserfolg für Joachim Gauck und ein böser Rempler aus den eigenen Reihen für – nicht Christian Wulff, sondern CDU-Parteichefin Angela Merkel. Zwischen dem zweiten und dem dritten Wahlgang bedurfte es dann einer ruppigen Ansprache aus dem Mund von Hessens Ministerpräsidenten Roland Koch, der die CDU/CSU-Fraktion genau daran erinnerte: an die Machtfrage. »Die oder wir!« Im dritten Wahlgang, da war sie gar nicht mehr nötig, bekam Wulff schließlich doch noch die absolute Mehrheit der Stimmen in der Bundesversammlung.
Der sächsische FDP-Chef Holger Zastrow brachte es auf den Punkt: »Die Diskussion um eventuelle politische Konsequenzen für die Berliner Regierung wird von den politischen Eliten geführt. Die normalen Bürger denken nicht so.« Aber ist es deshalb verboten, dass die Politiker so denken?
Ein hochrangiger SPD-Politiker hatte fast so etwas wie Mitleid mit denen im Regierungslager: »Das konnten die draußen keinem erklären, aber natürlich ging es um die Macht.« Und nicht zum ersten Mal: Aus den insgesamt 14 Bundespräsidentenwahlen, ging stets der Kandidat als Sieger hervor, der für jene Parteien antrat, die mindestens die relative Mehrheit im Saal hatten. Keine der Bundesversammlungen ist also je »gekippt«. Für die Lichtgestalt der Bundespräsidenten, für Richard von Weizsäcker galt das gar doppelt: 1974 trat er als CDU-Kandidat gegen den SPD/FDP-
Mehrheitskandidaten Walter Scheel an und unterlag gleich im ersten Wahlgang. Zehn Jahre später trat von Weizsäcker erneut an, dieses Mal mit einer Mehrheit von CDU/CSU und FDP im Rücken – und siegte ohne echten Gegenkandidaten im ersten Wahlgang. Das alles hinderte prominente Altpolitiker wie unter anderem Sachsens ehemaligen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf nicht, mit einem Maximum an Heuchelei zu fordern, die Wahl zwischen Gauck und Wulff »freizugeben«, von allen Macht- und Mehrheitsüberlegungen zu entkleiden. Das bekam viel billigen Beifall, überschattete die Wahl Wulffs ganz ohne Not – und schürte Unverständnis wie Verdruss in der Bevölkerung.
In diesem toten Winkel von Unverständnis, diesem Funkloch ohne Netz, liegt leider fast alles, was mit Politik und Politikern an sich zu tun hat: mit ihren Riten, Regeln, Privilegien. Dazu gehört das in zahllosen Studien und Umfragen dokumentierte Generalurteil, die politische Klasse in Deutschland sei faul, verschlagen und dumm, ebenso selbstsüchtig wie überfordert. Um nur ein Beispiel zu nennen: Das bloße Wort »Diäten« lässt Volkes Seele immer noch berechenbar sieden, weshalb es zu den heikelsten Übungen der Parlamente in Bund und Ländern gehört, sie zu erhöhen.
Dabei hat auch die Bild-Zeitung vor etlichen Jahren ihren Frieden mit den Bundestagsdiäten und ihrer Erhöhung gemacht (unter der Bedingung, dass zugleich die Pensionsregeln reformiert werden).
Es ist schon so: Schlagend gute Argumente gegen die versammelten, vernagelten Vorurteile über deutsche Politiker lassen sich zwar leicht und zahlreich finden, Fakten, Beispiele, Begebenheiten. Doch kaum einer bringt sie vor, hält dagegen; nicht in den Medien, nicht in der Wirtschaft. Und eine Gruppe rührt schon gar nicht an diesen Vorurteilen: die der Politiker selbst.
Wer bedeutende wie nicht so bedeutende Vertreter der politischen Klasse auf dieses Paradox hinweist, erfährt freundliche Zustimmung, wenngleich mit nach oben sich drehenden Augen und resigniertem Achselzucken: »Das ist doch eh' nicht zu vermitteln.« Man hat sich gewöhnt. Wohl in keinem Beruf schlägt dem Novizen so oft der Satz der Alteingesessenen entgegen: »So sind die Leute. Das muss man aushalten, wenn man das hier machen will.« Wirklich? Muss man mit einem Image-Rang knapp oberhalb der Kinderschänder leben?
Die Verächtlichmachung der Politik erfasst selbstverständlich auch deren zentrale Verfahrensweisen: Streit und Kompromiss, Macht und Gegenmacht, Strategie und Taktik. Niemand will wahrhaben, dass eine gute
Idee in der Politik nicht die Hälfte der Miete ist, sondern deutlich weniger.
Dass es Mehrheiten braucht und Umsetzung. Kaum jemand im Publikum ist bereit zu akzeptieren, dass Politik genauso nach eigenen Gesetzen und Regeln funktioniert, wie jedes andere hoch komplexe System auch: die Börse, eine Universitätsfakultät, der FC Bayern München oder die Berliner Philharmoniker. Die Medien sind an der Verzerrung der Verhältnisse nicht unbeteiligt. Streitiges erscheint in aller Regel größer als Unstreitiges.
Geglücktes ist schneller »abgehakt« und »eingepreist« als Missratenes.
Ebenso gilt unter Spitzenpolitikern aller Parteien als dem Bürger »nicht vermittelbar«, dass die wirklich wichtigen Entscheidungen einer Koalitionsregierung nicht am Kabinettstisch, sondern im Koalitionsausschuss fallen; in diesem Vorfluter der Regierungsarbeit, in dem die Parteichefs zum Beispiel der schwarz-roten Regierung immer neu auszuloten hatten, wie viel Gemeinsamkeit CDU, CSU und SPD in der anliegenden Frage zustande bringen. Die schwarz-gelbe Koalition hat diesen Ausschuss sogar zur regelmäßig dienstagmorgens tagenden Runde erhoben – aber ebenfalls nie richtig erklärt, warum.
Ebenso resigniert gehen Politiker aller Parteifarben davon aus, dass kaum ein Bürger je begriffen hat, wie Bundestag und Bundesrat mit- oder gegeneinander arbeiten. In weit zurückliegenden Zeiten klarer Mehrheiten mag das tatsächlich keine große Bedeutung gehabt haben. Aber seit unter anderem die Bundesratsblockade der SPD aus den letzten Kohl-Jahren bleierne gemacht hat, seit der Vermittlungsausschuss beider Kammern die zweite Amtszeit Gerhard Schröders prägte und auch die zweite Amtszeit Angela Merkels prägen wird, ist es einfach atemberaubend, wie nonchalant Politiker damit umgehen, dass ihr tägliches Geschäft im Namen des Volkes für dasselbe ein Buch mit sieben Siegeln bleibt. Das gilt umso mehr für eine Zukunft, in der Fünf-Parteien-Parlamente zur Konstante werden und in Bundestag wie Bundesrat Mehrheitsbildung rein rechnerisch immer schwerer fällt. Nach der Bundestagswahl im September 2009 konnte die Koalition aus Union und FDP auf eine »gleichfarbige« Mehrheit im Bundesrat zählen. Aber schon am 9. Mai 2010 verlor die christlich-liberale Landesregierung die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Die schwarz- gelbe Bundesratsmehrheit ging also flöten – noch dazu ohne Hoffnung, dass im Laufe des Superwahljahres 2011 wieder ändern zu können. Der berüchtigte Vermittlungsausschuss feierte Wiederauferstehung, ebenso die verfassungsrechtlichen Vorabexpertisen über zustimmungspflichtige und
nicht zustimmungspflichtige Teile eines Gesetzesvorhabens, die Nachtsitzungen vor großen Entscheidungen und insgesamt das völlig Undurchschaubare daran. »Das verstehen Ihre Leser eh nicht, das ist zu kompliziert«, heißt es gern aus Politiker- oder Ministermund, wenn ein Bild-Redakteur im Interview Belange und Eigenarten des Bundesrates mit seinen Fragen streift. Ein großes Wort gelassen ausgesprochen, möchte man erwidern. Die rund 12 Millionen täglichen Leser der Bild entsprechen in etwa einem Fünftel aller deutschen Wahlberechtigten.
Noch grundsätzlicher fühlen sich besonders die jeweils Regierenden unverstanden, wenn es darum geht, woran die Wähler Erfolg oder Misserfolg festmachen. Der Politologe Herwig Münkler schlägt sich dabei auf die Seite der Politiker. Er sagt: Viele Deutsche messen die Regierungskoalitionen am falschen Maßstab, nämlich am Maximum, also an dem, was Union und SPD oder Union und FDP nach bestimmten Kriterien erreichen sollten. Richtig und fair sei aber nicht das Maximum, sondern das Optimum. Also das, was sie im Rahmen ihrer nun einmal realen Beschränkungen erreichen könnten. Dem halten Bürger und Medien meist entgegen, dass sie die realen Nöte der Politik nicht zu interessieren hätten, wenn objektiv vorliegende Probleme zu lösen seien. Eine kombinierte Finanz- und Wirtschaftskrise fragt schließlich nicht, ob in Berlin gerade eine kleine oder eine große Koalition regiert.
Es ist ein weiterer Baustein in der Mauer aus Frust, aber die meisten Politiker haben sich damit abgefunden, dass dieser Streit zwischen »Optimum« und »Maximum« in ihrem Sinne nicht aufzulösen ist. Nicht in einem Land, das sich in der Regel noch nicht einmal auf die Lage verständigen kann, in der man sich gerade befindet. Bevor die Krise alle politischen Festplatten neu formatierte, gab es im Deutschland der großen Koalition nicht einmal Konsens darüber, ob man in einem eher armen oder eher reichen Land lebe. Ob Deutschland ein neoliberaler Kälteraum sei oder andersherum eine muffige DDR light, in der die individuelle Freiheit zwar nicht per Gesetz, aber ebenso erfolgreich per Sozialpolitik eingeengt werde.
Wie sehr die Kehrseite des Nicht-Verstehens der Bürger das Nicht- Erklären der Politiker ist, lässt sich 800 Kilometer westlich von Berlin begutachten, in Brüssel. Die Europäische Union dürfte dasjenige politische System auf dem Globus sein, von dem auch bestinformierte Bürger fast nichts verstehen. Zugegeben: Europa, die EU, die Brüsseler Verfahren sind
mehrbödig, ineinander verschränkt, eine Mischung aus französischer, deutscher und angelsächsischer Verwaltungstradition. Das Dreieck von Kommission, Ministerrat und Europa-Parlament ist ein bestenfalls demokratie-nahes Unikum. Davon zunächst einmal nichts zu verstehen, ist kein Verbrechen. Wie sich das Desinteresse der Bürger mit den ideenlosen Erklärungsversuchen der Berufseuropäer zusammentut, das ist gleichwohl ein schändliches Versäumnis – auf beiden Seiten.
Schert das die Europa-Abgeordneten, deren Parlament seit 30 Jahren direkt gewählt wird und das trotzdem kaum einer kennt? Ja, es schert sie – aber nur ein kleines bisschen, ab und zu, auf Nachfrage. »Wenn mich die Leute fragen, was ich mache, könnte ich sagen: Ich bin die Frau, die verhindert, dass Ihrem Sohn Brüste wachsen.« So einen Satz hat die über Jahre höchst erfolgreiche verbraucherpolitische Frontfrau der SPD im Europa-Parlament, Dagmar Roth-Behrendt, schon vor zehn Jahren gesagt – im kleinen Kreis.
Tatsächlich kommen nicht nur bei Verbraucherschutz, Lebensmittelsicherheit und Produkthaftung inzwischen zwei Drittel bis drei Viertel aller alltagsrelevanten Gesetzgebung aus Brüssel über die 500 Millionen EU-Bürger. In etlichen Bereichen regiert das Europa-Parlament so machtvoll mit wie der Bundestag in Deutschland. Trotzdem: Die Bürger nehmen es nicht wahr, verstehen es nicht, interessieren sich nicht – wünschen sich in Umfragen gleichwohl regelmäßig viel mehr »Bürgerbeteiligung« in Europa. »Das möge der liebe Gott verhüten«, seufzen da insgeheim die Europa-Abgeordneten. Zugleich wird in Umfragen mehr »Transparenz« gefordert: »Das wäre ja das Schlimmste, wenn die Leute wirklich die Übertragungen der Sitzungen von 27 Staats- und Regierungschefs anschauen würden …«, so das Echo aus dem Munde eines der besten deutschen EU-Kenner im jetzt wieder FDP-geführten Auswärtigen Amt. Typisch auch die Haltung eines prominenten Ex-CDU- Europa-Abgeordneten, der zugleich als Spitzenfunktionär eines Verbandes viel in Berlin ist und im CDU-Vorstand saß, also vergleichen kann. Er erzählt, fast schwärmt er: »Europa ist der einzige Ort, an dem ohne Medien und Bürger Politik gemacht wird. Es gibt kein intransparenteres System als die EU. Und das ist gut so, sonst hätte es den Binnenmarkt und den Euro nicht gegeben.« Ähnlich der langjährige EU-Kommissar Günter Verheugen (SPD). Zu seinem Abschied 2010 sagte er in einem Interview: »Man kann in Brüssel eher langfristig denken als daheim, wo immer die nächste Wahl
vor der Tür steht. (…) Man kriegt viele Dinge nicht mit, die die nationalen Akteure sehr beschäftigen. Man muss es aber auch nicht.« So klingt Bürgerferne doch nicht nur recht kommod, sondern geradezu würdevoll, nicht wahr?
Dasselbe gilt für das Vorschlagsmonopol der EU-Kommission bei neuen Richtlinien. Perfektioniert hat die Methode der legendäre Kommissionschef Jacques Delors (1985 – 1995): zehn Vorschläge auf einen Zettel schreiben und die Staats-und Regierungschefs auffordern, alles zu streichen, was ihnen nicht passt. »Und der Rest wird dann gemacht.« Versteht zwar keiner, durchschaut auch niemand, funktioniert aber seit 30 Jahren. Und, ehrlich gesagt, oftmals tatsächlich zum Besten von inzwischen einer halben Milliarde Menschen. Wenn das kein Gefühl von Macht verschafft!
Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich angesteckt. Mitte 2008, die Iren hatten gerade den EU-Reformvertrag bei einem Volksentscheid durchfallen lassen, brach es zu später Stunde in Brüssel gleich doppelt aus ihr heraus: zunächst eine alle Zuhörer begeisternde Selbstverteidigung der politischen Klasse, die von Politik einfach mehr verstehe als der Bürger, weil sie sich so unendlich viel mehr mit Politik beschäftige als der Bürger.
Dann eine Abrechnung mit allen Formen von Volksbefragung und Referenden, die an Wählerbeschimpfung nicht nur grenzte. Gewiss, die Bundeskanzlerin bezog sich ausschließlich auf Europa, dieses nur schwer verständliche Konstrukt, das nicht Bundesstaat und nicht Staatenbund ist, sondern tertium, irgendetwas Drittes. Und gewiss, die Kanzlerin lag richtig mit ihrer rhetorischen Frage, ob denn wohl die EWG 1957, nur zwölf Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, gegründet worden wäre, hätte es Referenden in Frankreich oder den Niederlanden gegeben. Aber der unter anderen anwesende Spiegel-Korrespondent brachte Merkels eigentlichen Gedanken später schön auf den Punkt: »So haben die Schlawiner den europäischen Völkern einen Binnenmarkt untergejubelt, den Euro, die Aufhebung vieler Grenzkontrollen und zuletzt eine weltweit vorbildliche Klimapolitik. (…) In Referenden wäre das meiste mindestens aufgehalten worden, wenn nicht verhindert. Demokratie heißt nicht, grenzenloses Vertrauen in den Bürger zu haben.« Ja, ja. Er mag schon überzeugend klingen, so ein Gedanke. Aber wahr ist auch: Wer ihn als Politiker immerfort denkt, den verändert er.
In Europa können sich die Akteure dabei seit 1957 auf einen unverrückbaren Obersatz beziehen. Immer wahr und von niemandem in
Frage gestellt, hieß er: Nie wieder Krieg! Dann: Interessenausgleich zwischen Frankreich und Deutschland! Später: Wiedervereinigung des Kontinents! Wer unter diesen Obersätzen Opposition sein will wie in einem nationalen Parlament üblich, gerät schnell in den Ruf, das Große, Gute und Ganze zu gefährden. Deshalb steht überparteilicher Konsens im Europa- Parlament prinzipiell höher im Kurs als Profilierung von Lagern – auch wenn immer weniger Bürger sich davon beeindrucken lassen, weil immer weniger Bürger einen Krieg in Europa noch für möglich halten.
Was den Europa-Politikern das »europäische Friedenswerk« ist, das ist den nationalen Akteuren immer öfter der »Sachzwang«. Denn was tut ein Politiker, wenn er meint, auf Wähler zu treffen, die seine Erklärungen nicht verstehen? Er tut etwas, das er nicht erklären muss, oder etwas, das sich selbst erklärt. Auf den ersten Blick sieht das aus wie die Selbstentmündigung einstmals frei gestaltender Politik. In Wahrheit ist es eine Selbstermächtigung, die sich mit überlegener Sachkenntnis rechtfertigt, welche die Politiker ja tatsächlich für sich in Anspruch nehmen können. Es ist der Versuch, sich als System autonom zu machen, die mühsame Kommunikation mit dem unverständigen Wähler objektiv überflüssig zu machen, weil man nicht mehr darüber nachdenken muss, was wer will, wenn man stattdessen sagen kann, was wir alle müssen. Es ist zugleich der gut geübte Ausweichschwung herum und vorbei am heiklen Wort von »Führung« – die selbst von jenen nur höchst ungern reklamiert wird, die fürs Führen gewählt wurden in unserer repräsentativen Demokratie. Nach diesem Muster wurde mit »Sachzwang« und »objektiver Notwendigkeit« auch in der Vergangenheit oft Politik gemacht, inzwischen aber immer öfter.
Einen ersten Höhepunkt im neuen Jahrtausend markierte Gerhard Schröder: Die unangenehmen Sozialstaatsreformen seiner Agenda 2010 rechtfertigte er mit der immergleichen Einleitung: »Wir müssen leider.« Wegen der Globalisierung, wegen der leeren Versicherungskassen, wegen der Überalterung Deutschlands. In der Sache hatte Schröder zweifellos Recht, weshalb sich auch die damalige Opposition nicht entziehen mochte, im schwarz-gelb beherrschten Bundesrat mitzumachen. Und objektiv Recht zu haben, reichte Schröder. Deshalb »kommunizierte« er seine Vorgaben regelmäßig mit einem krachenden »Basta«, gern in Richtung seiner eigenen Partei, manchmal aber auch an die Adresse der beglückten bis bedrückten Bürger.
Die kombinierte Finanz- und Wirtschaftskrise gibt, zweiter Höhepunkt, den Verantwortlichen bis heute gleich reihenweise Totschlagsargumente an die Hand: die »systemische Krise des Bankensektors«, »die Zukunft Europas« oder ganz allgemein die »schwerste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg« – gleichsam Basta alles. So wurden Entscheidungen im Eilverfahren durch das Parlament und die Öffentlichkeit gezogen, die bei der Bankenrettung mehrere Hundert Milliarden Euro an Bürgschaften nötig machten und bei der Griechenland/Euro-Krise über 150 Milliarden Euro für einen oder mehrere quasi bankrotte Staaten an der EU-Peripherie, die ein Jahrzehnt lang massiv über ihre Verhältnisse gelebt hatten. »Alternativlos« avancierte zur politischen Erklärvokabel Nummer Eins, zur Generalermächtigung atemberaubender Eilgesetzgebung und aberwitziger Kurswechsel. Binnen 14 Tagen im Frühsommer 2010 revidierte die FDP ihre zentralen Positionen bei Steuersenkung und Finanzmarktregulierung. Und auch die CDU mit ihrer Kanzlerin- Parteichefin an der Spitze drehte Pirouetten; aus »Mutti« Merkel wurde Kanzlerin »Tina« (für: there is no alternative). »Alternativlos« war die Bankenrettung, »alternativlos« die Rekordverschuldung, »alternativlos« war die Griechenland-Absicherung, »alternativlos« auch der 750- Milliarden- Rettungssschirm (inklusive IWF-Mittel) für den Euro und die beginnende Haushaltssanierung ab 2011.
Dieser Sachzwang total machte manchen der Regierenden zuweilen sogar regelrecht besoffen. Was sagte der ansonsten so besonnene und souveräne Regierungssprecher Ulrich Wilhelm in einer Pressekonferenz zum »Rettungsübernahmegesetz« (das Enteignungen von Banken zeitweilig ermöglichte): »Im Notfall muss der Staat sich durchsetzen können.« Das ist meilenweit von Fritz Sterns Mahnung entfernt, Politik müsse »erklärte Vernunft« sein – und umso näher bei Carl Schmitt, dem umstrittenen Vordenker des Notstands, in dem nicht wenige den »geistigen Quartiermacher« der Nazis sahen und sehen. »Die Ordnung muss hergestellt sein, damit die Rechtsordnung einen Sinn hat«, schrieb Schmitt in seiner »Politischen Theologie«. Werden im Ausnahmezustand Entscheidungen getroffen, erübrige sich die (politische) Frage nach ihrer Richtigkeit. »Dass es die zuständige Stelle war, die eine Entscheidung fällt, macht die Entscheidung (…) unabhängig von der Richtigkeit ihres Inhaltes«. Souverän ist für Schmitt im konkreten Fall die Instanz, die über den Ausnahmezustand befindet, ihn erklären, vermeiden oder beenden
kann. Und noch etwas schreibt Schmitt, und es klingt fast, als sei es fürs Stammbuch der Regierungen zwischen 2008 und 2011 gewesen: »Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in der Wiederholung erstarrten Mechanik« (»Politische Theologie«).
Nun unterstellt niemand den Bundesregierungen und schon gar nicht dem damaligen Regierungssprecher, sie liebäugelten mit Notstandsvollmachten à la Carl Schmitt. Aber im kleinen Kreis leugnet kaum ein Politiker, dass die schwerste Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit die Geschäftsbedingungen für Politik in Deutschland nachhaltig verändern könnte: entweder in Richtung einer tiefen Krise der Demokratie, wenn die Politik diese Krise »doch nicht in den Griff kriegt und die Menschen anfangen, ganz grundsätzlich am System zu zweifeln«. Oder aber wenn die Politik die Lage mit Bravour meistert — und so schnell nicht mehr von der einmal erworbenen Machtfülle Abstand nehmen mag: Von allen im Turbotempo beschlossenen Anti-Krisen-Gesetzen waren nur die Abwrackprämie und das Enteignungsgesetz klar befristet.
Und was zunächst die drohende Kernschmelze der Bankenwirtschaft war, dann in die drohende Staatspleite südlicher Euro-Staaten mündete, wird der Bevölkerung unter dem Doppelimperativ »Wachstum-Jobs« erhalten bleiben: das Denken und Reden in der Kategorie »alternativlos«. Denn nur Wirtschaftswachstum kann die Staatsfinanzen sanieren, durch Mehreinnahmen auf der einen Seite und Minderausgaben der Sozialkassen auf der anderen. »Die Leute wollen nicht Erklärungen sondern Lösungen«, denkt Kanzlerin Angela Merkel wohl gern, mitten im Trubel von Bankenrettung, Euro-Krise, Wiederaufschwung. »Die Leute wollen das Problem von der Hacke haben oder die Sicherheit, dass sie es demnächst von der Hacke haben.« Mit dieser Attitüde steht sie beileibe nicht allein. Es scheint, als hätten viele Politiker, gerade solche aus der ersten Reihe in Berlin, insgeheim eine Art Geschäft abgeschlossen, von dem der Geschäftspartner auf der anderen Seite der Wahlurne freilich nichts weiß. Das geht sinngemäß so: »Ihr Bürger müsst nicht alles verstehen. Ihr dürft mich sogar manchmal verachten. Aber dann brauche ich euch auch nicht ständig erklären, was wir gerade tun und beschließen.« Nach dem, was die
Amerikaner »explainer in chief« nennen, rufen in Deutschland meist nur die Leitartikler.
So lässt es sich leben, oder? Schon Max Weber sah es einmal aus dieser Perspektive des Politikers: »Nur wer sicher ist, dass er daran nicht zerbricht, wenn die Welt von seinem Standpunkt aus gesehen zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will, dass er all dem gegenüber: ›dennoch‹ zu sagen vermag, nur der hat den ›Beruf‹ zur Politik.«