Skip to main content

Schluss: Wer sagt’s dem Wähler?

Sie sind recht widersprüchlich geworden, manchmal kindlich ängstlich, manchmal recht erwachsen.
Sie reden eine Menge dummes Zeug, manchmal sagen sie etwas Vernünftiges.



So beschrieb Regisseur Ingmar Bergman die Hauptfiguren seines Films »Szenen einer Ehe«. Und nicht nur dieser Titel, längst ein geflügeltes Wort, sondern auch der Satz insgesamt passen auf Wähler und Gewählte in Deutschland. Viele Politiker könnten ihn Wort für Wort über die Bürger sagen – und die Bürger über ihre Politiker ebenso. Das fasst viel von dem zusammen, was dieses Buch beschreiben und zur Diskussion stellen will: Der Frust der Politiker über die Bürger ist so groß wie der Frust der Bürger über ihre Politiker.
Das Bild, das sich die Politiker von den Deutschen machen, hat von Anfang an Entscheidungen geprägt, kleine wie ganz große. »Kinder kriegen die Leute immer«, sagte vor mehr als 50 Jahren Konrad Adenauer — und setzte mit diesem Bild im Kopf das umlagefinanzierte Rentensystem gegen die kapitalgedeckte Variante durch. Auch wenn man es ihm heute nicht vorwerfen mag, weil er es vermutlich nicht besser wissen konnte: Was für ein Irrtum, was für Folgen.
Vor allem in den Volksparteien besteht heute das Bild der Politiker von ihren Wählern aus vielleicht einem Dutzend schlichter Sätze, aus nüchternen Wahrheiten und platten Irrtümern gleichermaßen: Die Wähler sind undankbare Kunden. Rentner denken nur an sich. Immer weniger Bürger haben Ahnung von Politik und interessieren sich dafür. Sie wollen kein Reform-Tam-tam; sie sind immer weniger berechenbar, aber tief in ihrem Herzen weiterhin leicht zu verführen. Klartext kann man ihnen nur in hoch riskanten Ausnahmefällen zumuten. Oft muss man sie an die Hand
nehmen wie die Kinder. Streit mögen sie gar nicht. Aber vergesslich sind sie zum Glück auch.
Diese Ansichten sind allesamt auf das amorphe Gesamtwesen namens Wähler, auf die »schweigende Mehrheit«, auf »die Leute« schlechthin gemünzt. Manche von ihnen sind nachweislich falsch, einfach überholt und führen in die Irre. Zuweilen sind die Deutschen eben längst besser als ihr Ruf. Andere Politikerurteile über die Deutschen lassen sich in vielfacher Hinsicht belegen und verifizieren; sie stimmen ganz einfach und führen weniger zu Zynismus als zu tiefer Ernüchterung — und Trotz. Denn in vielen dieser kurzen Sätze über die Wähler geht es im Geiste mit dem Wörtchen »trotzdem« weiter: Die Wähler sind undankbar, trotzdem machen wir ihnen Geschenke. Die Wähler interessieren sich nicht für Politik, trotzdem muss sie gemacht werden. Die Wähler haben keine Ahnung, trotzdem sind sie der Souverän. Dieser Trotz kann sich durchaus messen mit dem Ärger und der Verachtung, den die große Mehrheit der Wähler beim Anblick ihrer Volksvertreter empfindet. Politikverdrossenheit der Bürger und Bürgerverdrossenheit der Politiker gehören zusammen, sie sind die zwei Seiten derselben Trennmauer. Die neue Nummer Zwei der CDU, der nordrhein-westfälische Landeschef Norbert Röttgen spricht inzwischen von »Parallelwelten«.
So gesehen ist es aberwitzig, die Schuld an diesem manifesten Problem ausschließlich in einer dieser Welten zu suchen, bei den Politikern und ihren Schwächen oder Fehlern nämlich. Wenn eine vielfältig geknüpfte, Jahrzehnte alte Beziehung Stück um Stück mürbe wird, dann vollzieht sich das niemals nur auf einer der beiden Seiten, dann ist niemals eine Seite allein verantwortlich. Erstaunlich, dass alle Alltagserfahrung so gar nichts gelten soll bei der Diagnose, warum in Deutschland Wähler und Gewählte einander immer weniger vertrauen und immer weniger zu sagen haben. Der frühere Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hat einmal gesagt, dass in einer Demokratie »das Handeln der Leitungsorgane so beschaffen ist, dass die Einzelnen und die Bürger insgesamt (das Volk) in diesem Handeln sich wiederfinden können«. Was aber, wenn die gar nicht suchen? Und wie kann es gelingen, auch einmal die Defizite der Bürger zu benennen und hier Abhilfe zu schaffen?
Es mag in Mode gekommen sein, ein politisches Büchlein mit zehn Thesen zu beschließen, wie denn, hoppla-hopp, alles besser wird. Diese Art von Politikberatung sackt meistens auf ein Niveau herab, das amtierenden
Politikern nie und nimmer durchgelassen würde: »Mehr Bürgerbeteiligung«, heißt es also gern. »Mehr Transparenz« oder: »Mehr Mut«. Ebenso gut könnte man sich wünschen: »Mehr Besser«.
Ich wünsche mir, mit Verlaub, etwas anderes. Ich wünsche mir von den Politikern weniger Runterschlucken und mehr Selbstverteidigung. Schluss also mit dem »Polit-Sadomasochismus« (Miriam Meckel) der Politiker.
Das heißt zum einen: Schluss mit so unseligen Sätzen wie dem des SPD- Vorsitzenden Sigmar Gabriel, als er den rotgrünen Bundespräsidenten- Kandidaten vorstellte: »Joachim Gauck bringt ein Leben mit ins Amt.
Christian Wulff eine politische Karriere.« Man musste kein Fan des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten sein, um zu erkennen: Da wird ein ganzer Berufsstand ohne Maß herabgewürdigt – und noch dazu von einem aus den eigenen Reihen. Wer so wenig von seinesgleichen hält, der soll sich bitte nie mehr wundern, dass es der Wähler ähnlich sieht. Alle Politiker, die aus der politischen Auseinandersetzung ein Rattenrennen machen, vergessen, dass auch der Sieger solcher Rennen immer eine Ratte ist. Mehr noch: Wer das Publikum zu Verachtung einlädt, betreibt negative Auslese. Übrig bleiben jene Politiker, deren Selbstachtung auch die gröbste Demütigung noch hinzunehmen bereit ist. Ob das die Politiker sind, die wir uns wünschen und die wir brauchen, ist wohl keine ernsthafte Frage.
Mindestens so wichtig ist aber etwas anderes: Politiker aller Parteien sollten nicht länger schamvoll darüber schweigen, dass ihr Kommunikations- und Imageproblem auch mit der Auffassungsgabe der Bürger, mit deren Defiziten und jämmerlich geringem Interesse zu tun hat.
Denn so sehr man den Feuereifer der bürgerlichen Demonstranten gegen »Stuttgart 21« begrüßen soll, so klar ist doch auch: Nur weil sie jetzt einmal auf die Straße gehen, haben sie ja nicht automatisch mehr Recht als die Politiker (oder die Befürworter von »Stuttgart 21«). SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier fasst es in höfliche Worte: »Empörung ist noch keine Kategorie, nach der ich über die Richtigkeit demokratischer Entscheidungsprozesse befinden kann.« Es wird eine der spannendsten politischen Fragen des Jahres 2011 werden: Bricht sich am Beispiel Stuttgart eine ganz neue Bürgerbeteiligung Bahn – der aber womöglich der Bürgersinn fehlt? Eine Bürgerbeteiligung, die auf das Jetzt und die persönliche Betroffenheit weit mehr achtet als auf die Lebensverhältnisse der nächsten Generation? Und wie geht die Parteipolitik damit um, dass
ihre tradierten Verfahren von Meinungsbildung und Beschlussfassung radikal in Frage gestellt werden?
Offenkundig ist allemal, dass sich das übliche Desinteresse und die neuen Missverständnisse als resistent gegen jedweden Einsatz staatlich administrierter politischer Bildung erwiesen haben. Ein ganzer akademischer Bereich muss heute einräumen, dass trotz bester Absichten und massiven Mitteleinsatzes ein wachsender Teil der Bevölkerung seine Ahnungslosigkeit ebenso wie seine Rechtgläubigkeit geradezu frivol zur Schau stellt.
Ich finde, die Debatte um Politik, darum, wer sie machen soll und wie, hat eine dramatische Unwucht. Ein kleines Spielchen beweist es: Wer bei der Internetsuchmaschine Google das Stichwort »Politikverdrossenheit« eingibt, erhält im Handumdrehen über 90 000 Einträge, das entsprechende Wikipedia-Schlagwort ganz oben. Wer dagegen »Bürgerverdrossenheit« eingibt, erhält rund 900 Einträge, meist wirre Blogs. Und Google »fragt« zurück: Meinten Sie »Bürger Verdrossenheit«? — um wiederum auf die 90 000 Einträge von oben zurückzuführen.
Es wird also Zeit, das Problem als Ganzes zu betrachten. Politik ist zwar Bringschuld der Gewählten auf allen Ebenen. Aber ebenso sehr ist sie Holschuld eines Bürgers, den kein anderes politisches System auf der Welt mit so vielen Rechten als Souverän ausstattet wie unseres. Und diese Holschuld ist keinesfalls allein damit abgegolten, sich punktuell, isoliert über ein Thema zu informieren beziehungsweise zu erregen. So naiv es klingen mag: Politiker müssen einen Weg finden, jene dreiste Denkfaulheit und Rosinenpickerei öffentlich beim Namen zu nennen, die der grassierenden Politikverdrossenheit auch zugrunde liegen. Zugegeben, so offen zu werden, das ist riskant. Aber es geht. Bundestagspräsident Norbert Lammert zum Beispiel sagt mit gar nicht so leiser Ironie immerhin soviel: »Das Publikum tut sich offenbar mit frei gewählten Politikern schwerer als mit vordemokratischen Führungsfiguren. « Und der gewesene Bundespräsidenten-Kandidat Joachim Gauck sagt in anderem Zusammenhang: »Manchmal hat die Nation nicht alle Tassen im Schrank.« Leider fällt eine solche Offenheit heute schwerer als in den vergangenen Jahrzehnten. Damals nämlich standen mindestens die beiden Volksparteien für politische Milieus, in denen Bindungen jenseits aller Kosten-Nutzen- Abwägungen den Zusammenhalt sicherten. Heute sprechen die Politologen vom »Bürger als Kunden« (Franz Walter) oder gar vom
»Schnäppchenjäger« (Staatsrechtler Uwe Volkmann). Dieser sucht sich in den Regalen der politischen Angebote das gerade Passende heraus und wandert rasch ab, wenn er nichts Rechtes oder keine schnelle Bedienung findet. Auf Mahnung und Tadel der Politik reagiert einer, der sich in diesem Sinne als wählerisch versteht, aber völlig anders als einer, der sich als Teil einer traditionsreichen Familie sieht.
Trotzdem: Mich ärgert, dass sich viel zu viele Politiker wegen Nichtigkeiten an die Gurgel gehen, aber viel zu wenige Politiker die parlamentarische Demokratie gegen eine Gruppe unbürgerlicher Bürger verteidigen, die nachweislich nicht kleiner, sondern größer wird. Sie ist längst aus dem Prekariat, dem »white trash«, herausgewachsen und hat die Reihenhausvororte erreicht. Dort engagiert man sich zwar in vielerlei gemeinnützigen Projekten oder renoviert am Samstag die heruntergekommene Grundschule. Aber auf Politik und Politiker gibt kaum jemand noch einen Pfifferling; Politik scheint in diesem Milieu nur attraktiv zu sein, wenn es gegen die etablierten Parteien, gegen »Berufspolitiker« und ihre Entscheidungen geht.
Das eine hängt natürlich mit dem anderen zusammen. Aus dem Zwang zur Selbsthilfe wächst der stumme Verdruss der Mittelschicht, die nicht zu knapp Steuern zahlt und das Schulzimmer trotzdem auf eigene Kosten streichen muss, weil die Gemeinde pleite ist. Aber wahr ist auch: Wenn die viel beschworene »Bürgergesellschaft« nur noch im kleinen Sprengel existiert oder als die »Dagegen-Republik«, dann reicht es nicht für einen vitalen Staat. Eine reine Zuschauerdemokratie ist auf Dauer keine, eine »Post-Demokratie« (Colin Crouch) auch nicht. Natürlich liegt Grünen-Chef Cem Özdemir nicht falsch, wenn er sagt: »Es ist nicht immer so, dass die Mehrheiten im Parlament Recht haben und die Bürger doof sind.« Aber man darf gespannt sein, was er sagt, wenn es alsbald um Mehrheitsentscheidungen geht, die unter Grünen-Regierungsführung fallen.
Wenn trotz aller neuer Bürgerbewegtheit unter dem Strich zutrifft, dass Politikverdrossenheit und Wahlmüdigkeit die deutsche Demokratie schlimmer zermürben, als es Rechts- und Linksextremen je zuwege brächten, dann ist nicht zu verstehen, warum Politikverdrossene und Wahlmüde keinerlei Kritik fürchten müssen. Warum Politikverdrossene und Wahlmüde noch nicht einmal unter Rechtfertigungsdruck gesetzt werden, sondern bräsig ein vermeintlich demokratisches Recht reklamieren dürfen — nämlich aus freien Stücken fern oder blöd zu bleiben. Das ist in einer
Demokratie zwar jedem Einzelnen selbst anheim gestellt, aber ebenso legitim ist die Frage, was denn wäre, wenn sich alle so verhielten?
Ein Hartz-IV-Empfänger muss regelmäßig Rechenschaft darüber ablegen, was er tut, um alsbald einen neuen Job zu finden. Tut er nicht genug, muss er damit rechnen, dass die ihn unterhaltende Allgemeinheit Konsequenzen zieht und stellvertretend das Arbeitsamt den Druck erhöht. Wenn es aber um Politik, um die res publica, geht, dann ist es genau andersherum: Da wird sich bald rechtfertigen müssen, wer Politiker nicht allesamt für Schweine hält und sich politisch zumindest in dem Maße selbst ertüchtigt, wie es eine plausible Wahlentscheidung und Teilhabe erfordert. Kurzum: Warum nehmen die Politiker den Fehdehandschuh nicht auf, den ihnen die vielen Faulen und Verdrossenen da hinwerfen? Warum sind die Politiker so verzagt und verzwergt? Das fragen sich inzwischen selbst die berufsmäßigen Spötter wie der Ex-Titanic-Chef und »Die Partei«-Gründer Martin Sonneborn. Er sagt über einige deutsche Politiker: »Das ist ja das Furchtbare. Sie sind jederzeit bereit, sich vor der Kamera demütigen zu lassen.« In Estland soll es in diesem Jahr (2011) erlaubt sein, bei der Parlamentswahl per SMS abzustimmen, weil der Weg zur Urne so arg weit ist. Welche Mätzchen wollen die Politiker noch mitmachen, wie weit noch dem Wähler hinterherlaufen, der selber ein paar wichtige Grenzen längst über-, besser gesagt: unterschritten hat? Aber nein, stattdessen wird der Bürger weiter und weiter gesalbt: Er allein sei der Inbegriff von Demokratie, Politiker und Parteien daneben nur ein (leider) notwendiges Übel. Das ist aus mehreren Gründen Schwachsinn. Erstens: Zu politischer Kommunikation gehören immer zwei, die beide mal Adressat und mal Absender sind. Demokratie gibt es deshalb nur zu zweit. Wähler und Gewählte sind gleich wichtig, zumal in einer repräsentativen Demokratie.
Zweitens: Wenn die Gewählten ihre Wähler offiziell weiter derart verklären (müssen), insgeheim aber rundum von ihnen ernüchtert sind, dann wuchert im Graben dazwischen der Frust. Gut und schön und verdienstvoll, was der inzwischen fahnenflüchtige Bundespräsident Horst Köhler während einer seiner Reisen durch die deutsche Provinz über die Bürger einmal sagte: »Wir müssen wissen, was sie denken, was sie bewegt, was sie beschwert und zuhören.« Bemerkenswert auch, dass mit Vorliebe gewesene Politiker ausbreiten, wie »die Politik« es verlernt habe, auf die Menschen zuzugehen.
Wenn es gar Friedrich Merz und Wolfgang Clement in einem gemeinsamen
Buch tun, dann wird es vollends drollig: Beide hatten während ihrer aktiven Zeit viel bösen Spott über »die Leute« parat, kokettierten gern und häufig mit ihrer Verzweiflung über die unterkomplexe Begabung der Wählerschaft.
Wer einmal einen Parteiabend am Stehtisch mit ihnen zugebracht hat, kennt die Sprüche. Es wurde viel gelacht.
Aber wann sagen die ersten namhaften aktiven Politiker auch einmal öffentlich, was so viele von ihnen also längst denken: Der rundum aufgeklärte, eifrig mitdenkende Normalbürger ist ein Wunschbild. Eine Theorie. Vielleicht ist der Souverän politisch sogar so nackt wie der Kaiser ohne Kleider.
So eine Ansprache wünsche ich mir. In der Folge könnte man endlich darüber reden, was auch der Bürger seiner Bürgerdemokratie dauerhaft schuldet beziehungsweise, was er so oft versäumt, ihr zu gewähren. Und was die Politik tun kann, ihn dazu zu ermahnen oder zu begeistern. Der anfangs so arg unterschätzte Bundespräsident Christian Wulff hat gleich in seiner ersten Rede einen Anfang gemacht. Er räumte ein, dass politische Entscheidungen zwar tatsächlich von immer weniger in Parteien aktiven Menschen vorbereitet und getroffen werden. Aber er machte nicht mit dem üblichen Polit-Bashing weiter, sondern drehte den Spieß um — Politiker seien viel besser als ihr Ruf: »Wir sollten weniger diese Aktiven kritisieren als vielmehr die Anderen wieder stärker für die Aufgabe (…) begeistern.« Tatsächlich: Die Erosion der gemeinsamen Geschäftsgrundlage ist kein Schicksal, das alle Beteiligten still zu erdulden haben, sondern eine Fehlfunktion des Systems, der man gegensteuern kann. »Auch wenn es vermintes Gelände ist«, wie der Bundespräsident in kleinem Kreis sagte, will er Politikern wie Bürgern »ins Gewissen reden«. Aber vor allem den Bürgern. Man muss ja nicht gleich das ganze Volk austauschen wollen, wie Bertolt Brecht einst spottete. Aber über ein paar Wahrheiten und Wahrnehmungen wird zu reden sein, weil Schweigen das Problem nicht kleiner, sondern größer macht.
Und die Gelegenheit für eine offene Aussprache ist günstig wie lange nicht. Die Bürger könnten im Verlauf der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise der Nachkriegszeit erkennen, dass sie eben doch nicht von einem Haufen eitler Nichtskönner regiert werden, sondern von redlich sich mühenden Sachwaltern ihrer Interessen. Die schwarz-rote wie die schwarz- gelbe Koalition haben seit Herbst 2008 mit einem Mix aus Konjunkturpaketen, Kurzarbeiterregelung und Sparer- wie Bankgarantien
die Krise von den Menschen ferngehalten. Es hat bestens funktioniert, definitiv kein Grund zum Nörgeln.
Die Politiker ihrerseits könnten zweierlei erkennen: Zum einen, dass man den Deutschen in vielerlei Hinsicht weit mehr zutrauen darf als gedacht; dass sie in vielem längst anders sind als das alte Bild, welches allzu viele Politiker noch von ihnen haben. Und zum anderen sollten die Politiker gerade der Volksparteien ergründen, was der Hamburger Bürgerprotest gegen schwarz-grüne Schulpolitik oder der Widerstand gegen das gesetzgeberisch breit abgesicherte Großvorhaben »Stuttgart 21« wirklich bedeutet. Ist es nur ein Strohfeuer von Bürgerzorn, das in den saturierten Zonen der Gesellschaft aufflackert — und genauso schnell auch wieder ausbrennt? Oder ist es der Beginn einer neuen Politikform, die etablierte Parteien fröhlich und fruchtbringend herausfordert, und zwar auf Dauer.
In beiden Fällen gilt: Es ist Politik reloaded, endlich. Warum soll damit nicht auch ein neuer Blick der Bürger auf die Politiker und der Politiker auf die Bürger einhergehen?
Kurzum: Raus mit der Sprache, auf geht's!