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»Die Leute interessieren sich doch gar nicht für Politik«

»Ach, wenn die Völker wüssten, wie sie regiert werden!« Ein Satz wie ein Schulterzucken. Ein Satz wie ein schiefes Grinsen. Ein Satz aus dem Mund eines SPD-Präsidiumsmitglieds, aber von einem Unions-Mann könnte er ganz gewiss ebenso stammen. Selbstmitleid schwingt darin, auch Schuldgefühl, Ratlosigkeit und Trotz: »Die Leute interessieren sich doch fast alle gar nicht für Politik«, sagen die, die Politik machen und es ja offiziell im Auftrag eben dieser »Leute« tun. Kann das gutgehen? »Die verbreitete Teilnahmslosigkeit des Volkes an den politischen Vorgängen und Aufgaben löst die Politik aus ihrem Ort im menschlichen Dasein. Sie erscheint dem Einzelnen als ein Sachvorgang, an dem er, als bloßes Objekt, nicht mitzuwirken hat. (…) Dieser Zustand ist auch eine Folge der unzulänglichen politischen Bildung.« Damit ist alles gesagt, besser: war schon alles gesagt. Nämlich Ende der 50er Jahre, in einer Denkschrift zur ersten Grünwalder Arbeitstagung, als deren Ergebnis die politische Akademie Tutzing entstand. Wie gesagt, vor gut 50 Jahren.
Seitdem läuft, alles in allem, der Wähler vor der Politik weg und die Politik hinterher. Was am Ende beide verändert – die Wähler wie die Politik.
Die Maßzahlen der Gleichgültigkeit und des Ohne-Mich: Zwei Drittel der Befragten (dimap) stimmen dem Satz zu: »Es genügt mir als politische Teilhabe, dass ich alle paar Jahre wählen kann.« Die Wahlbeteiligung ist in Deutschland zwar immer noch deutlich höher als anderswo, aber sie sinkt von Allzeittief zu Allzeittief. Auf sage und schreibe noch 44,4 Prozent bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 2006, auf 59,3 Prozent bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl 2010 – von Kommunal- oder direkten Oberbürgermeisterwahlen ganz zu schweigen. Bei der letzten Bundestagswahl sank die Beteiligung vom alten Allzeittief (2005: 77,7 %) auf das neue von nur noch 70,8 Prozent. Und Ende 2010 ermittelte eine Forsa-Umfrage, dass bei einer Bundestagswahl die Enthaltung auf 35 bis 36 Prozent wachsen würde. Parallel dazu trocknen die großen Parteien aus.
Union und SPD haben seit dem 70er Jahren ihre Mitgliederzahl halbiert, der Altersdurchschnitt der verbliebenen Mitglieder liegt jenseits der 55 Jahre.
Eine große Allensbach-Erhebung ergab jüngst: Von den unter 30-Jährigen sind nur noch neun Prozent »intensiv« an Politik interessiert. Die Forscher stellen zudem eine sich rapide wandelnde Mediennutzung der Jüngeren fest: Anders als die gleiche Altersgruppe vor zehn oder vor 20 Jahren informiert sich, wer heute jung ist, nicht regelmäßig, kontinuierlich und breit gefächert, sondern punktuell, ad hoc und bei Bedarf. Das lenkt die, die sich informieren wollen, an der Tageszeitung vorbei ins Internet, weil im Internet jederzeit punktuell eine Informationstiefe zu haben ist, die eine bestimmte Ausgabe einer Tageszeitung niemals bieten kann. Vorbei also die seligen Zeiten, da der damalige RTL-Chef Helmut Thoma sagte: »Man kann die Tagesschau bei Kerzenlicht rückwärts auf Latein vorlesen und die Quote wäre immer noch die gleiche.« Die Leiterin des Allensbacher Instituts, Renate Köcher, zieht den Schluss: »Eine Gesellschaft, die teilweise auf kontinuierliche Information und Urteilsbildung verzichtet, wird spontaner, in der Urteilsbildung beweglicher, sogar sprunghafter und anfälliger für Manipulation.« Dass sich gerade Junge bei Attac, Greenpeace, einer Internetpetition oder der örtlichen Bürgerinitiative durchaus engagieren, Projekt für Projekt, ändert an der Veränderung der Informationskultur nichts – und nur die ist es, die Sorgen macht. Gut vier Millionen Erstwähler hätten zur Bundestagswahl 2009 gedurft – aber nur rund 2,5 Millionen gingen hin. Stoßseufzer eines CSU-Bundesministers: »Politik vor Ort ist nur noch da, wo eine Bürgerinitiative am Werk ist.« Tatsächlich hat die Union seit der Bundestagswahl 2009 annähernd jeden fünften ihrer Wähler an die (vermeintliche) »Partei« der Nichtwähler verloren, die rechnerisch bald auch stärker sein könnte als die nach eigenen Angaben »letzte Volkspartei« – eben die Union.
Aber warum bleiben die Leute weg, die Jungen zumal? In den wenigen entsprechenden Umfragen nach Bundestagswahlen gaben 35 bis 45 Prozent der Nicht-Wähler »geringe Involvierung« als Grund an; technische Gründe wie »keine Zeit« oder »Krankheit« führte gut ein Viertel der Befragten an.
Von »politischem Misstrauen« sprachen um die 30 Prozent, was mutmaßlich ein nach oben verzerrter Wert ist, weil ein Teil der Befragten naturgemäß mit einem politischen Statement »rationalisieren« will, woran in Wahrheit Faulheit oder ein falsch gestellter Wecker schuld waren. Zudem lag laut CDU-Wahlanalyse der Anteil derer, die die Bundestagswahl als »Schicksalswahl« sahen, mit nur 16 Prozent auf einem historischen Tiefpunkt.
Dagegen vertritt bloß eine steile These, wer die NichtWähler allesamt zu den wahrhaft Engagierten und Informierten erklärt. Vollends eine Kapriole nach dem alten APO-Motto »Schweine regieren, Esel wählen« wird daraus, wenn einzig das Nicht-Wählen noch als politisch aufgeklärte Haltung gilt, weil nur auf diesem Weg dem gesamten Parteiensystem die rote Karte zu zeigen sei. Das ist große Geste und hat etwas von Reinen-Tisch-Machen: Die Parteien zu entmachten, weil sie die Politik als Geisel genommen hätten; weil sie aus schierem Eigennutz den Menschen Lust und Zugang zur Politik verleideten, ach ja. Wie angenehm unaufgeregt wirkt da die Gegenthese, wonach die schrumpfende Wahlbeteiligung für die Normalisierung der deutschen Verhältnisse steht, in denen vor allem jene nicht mehr zur Wahl gehen, die im großen und ganzen zufrieden mit den politischen Verhältnissen sind; die anderes, Privateres wichtiger nehmen, solange niemand im Boot groß zu schaukeln anfängt. Der Politologe und Nicht-Wähler-Forscher Oskar Niedermayer begründet die Hauptursache der grassierenden Wahlmüdigkeit mit gesellschaftlichem Wandel, hin zu Individualisierung und Singlehaushalten, weg von familiären oder dörflichen Bindungen, in denen Wahlenthaltung traditionell schlecht gelitten ist.
Was ein solches sich Zurücknehmen beziehungsweise Zurücklehnen allerdings auch mit sich bringt, zeigt sich an den nachweislich jammervoll geringen Kenntnissen gerade der Jüngeren über Politik und wie sie funktioniert in Deutschland. Auf Sicht schneidet sich da eine ganze Generation von klassischer Teilhabe ab, weil sie nicht nur nicht mehr will, sondern bald auch nicht mehr kann. Während Millionen Deutsche, die sich auch nicht sehr für Autos interessieren, immerhin wissen, dass diese in der Regel vier Räder haben, dass die Kupplung das Pedal links ist und man den Zapfhahn an der Tankstelle besser in den Tank als in den Kühler steckt, geht in Sachen Politik Desinteresse mit kapitalen Wissenslücken auch bei den einfachsten Zusammenhängen einher. Und die agierenden Politiker beobachten das genau, junge wie alte. Der SPD-Nachwuchspolitiker Marco Bülow schreibt in seinem ansonsten durchaus selbstkritischen Buch »Wir Abnicker«: »Ich bin immer wieder überrascht, wie wenig die meisten Gäste (seiner Besuchergruppen, d.A.) über die Arbeit der Politiker wissen.« »Verdrossen sind die Ahnungslosen« überschrieb die Zeit schon 2001 einen Essay des Politologen Werner Patzelt: »So glaubt gerade die Hälfte der Bevölkerung, schon etwas von Gewaltenteilung gehört zu haben. Was
Föderalismus sei, wissen 59 Prozent nicht; vom Rest machen 14 Prozent falsche Angaben. 40 Prozent der Deutschen können nichts oder nur Unrichtiges über den Bundesrat äußern.« Außerdem verkennten 70 Prozent der Befragten, dass es die zentrale Aufgabe der regierungstragenden Fraktionen ist, die Regierung gemäß parlamentarischem Mehrheitswillen auf Kurs und insgesamt im Amt zu halten. Patzelt: »Und während der Opposition in Wirklichkeit keineswegs die Pflicht zukommt, der gegnerischen Regierung bei der Arbeit zu helfen, meinen das seit Jahrzehnten zwei Drittel der Deutschen.« Kein Interesse, keine Ahnung: So falsch ist dieser Eindruck der Politiker von vielen ihrer Wähler nicht, so grundlos ist die Bürgerverdrossenheit der Politiker an diesem Punkt nicht.
Aber was macht die Politik daraus? Oder viel mehr: Was macht das aus der Politik?
Schön, da sind die »SSF« (Standard-Sonntags-Forderungen) nach mehr politischer Bildung in den Schulen, nach mehr öffentlich-rechtlicher Sendezeit für die Übertragung von Bundestagsdebatten und, ganz allgemein, nach mehr Wertschätzung für die Politik. Der SPD- Bundestagsabgeordnete Hans-Peter Bartels schlug sogar vor, ein öffentlich- rechtliches »Institut für die Didaktik der Demokratie« zu gründen. Er sagt: »Bei der politischen Bildung fangen wir längst nicht mehr bei Null an, sondern im Minusbereich.« Da sind zudem die vielen kleinen und großen Schritte, das Wahlrecht besser auf den Bürger und seinen (in Umfragen mit Zwei-Drittel-Mehrheit geäußerten) Wunsch nach Teilhabe zuzuschneiden. Allein: So viel sich am Wahlrecht in Ländern und Kommunen getan hat, so beschämend klein ist in der Praxis dann die Bereitschaft zur Teilhabe. Zwar ist die (jährlich erheblich schwankende) Zahl von Volksbegehren und Volksentscheiden über die Jahrzehnte angewachsen. In den 80er Jahren gab es nur 12 solcher Verfahren, im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts waren es schon gut 140, darunter so herausragende wie der Entscheid für ein striktes Rauchverbot in Bayern oder die Absage an die schwarz-grüne Schulpolitik in Hamburg.
Wahr ist aber auch: Annähernd die Hälfte der Volksentscheide in deutschen Bundesländern scheitert an zu wenig Stimmen, an einer Wahlbeteiligung unterhalb des geforderten Quorums. An allen Volksentscheiden zum Beispiel des Jahres 2008, die nicht zugleich auf dem Termin anderer Wahlen lagen, beteiligten sich im Schnitt nur 36 Prozent der Berechtigten.
Das ist ziemlich genau jener jämmerlich niedrige Wert, der bei regulären
Kommunalwahlen erreicht wird – und hernach stets als Rechtfertigung für mehr »direkte Demokratie« herhalten muss. Enttäuschungen dieser Art erleben vor Ort sogar die traditionell basisbewegten Grünen. Als der Freiburger Bürgermeister Dieter Salomon wegen 3500 Beschwerden gegen den geplanten Verkauf von städtischen Wohnungen zur Diskussion ins Sportstadion einlud – kamen keine 200 Menschen. Und auch zur hoch gelobten Abstimmung über das bayerische Rauchverbot gingen nur 37,7 Prozent der Wahlberechtigten. Von ihnen votierten 61 Prozent für das ultrastrenge Rauchverbot – das entspricht 23 Prozent der Wahlberechtigten.
Ist das wirklich so viel beeindruckender als gängige Wahlen? Fazit von höchster Stelle: »Die Erfahrungen, die wir mit Plebisziten auf kommunaler und Länderebene gemacht haben, vermitteln mir nicht den Eindruck, dass es einen besonderen Bedarf bürgerschaftlicher Mitwirkung gibt. Die meisten Plebiszite scheitern doch an mangelnder Beteiligung«, sagt Bundestagspräsident Norbert Lammert. Höflich. Wahrscheinlich zu höflich.
Denn wer denkt, die Politiker würden nun in Scharen die Wähler bei ihrer Ehre als Demokraten packen und mit Worten an die Urnen prügeln – der irrt. Doch was tun die Politiker dann, die angesichts von Politikmüdigkeit und Politikunverständnis wie die Pinguine auf einer Eisscholle sitzen, die schnell schmelzend nach Süden treibt? Die Altvorderen wie der frühere Bundespräsident Roman Herzog haben es leicht. Sie können in Sarkasmus machen. Herzog sagt trocken: »Es gibt ein Grundrecht auf Dummheit.« Die Aktiven dagegen müssen anders reagieren.
Zu ihren Rezepten gehören die bislang wirklich kläglichen Versuche deutscher Politiker und Parteien, über das Internet den Weg zum Wähler zu finden.
Was der »Piraten-Partei« glückte, missriet den Etablierten, auch den Grünen. Während die »Piraten« kein einziges Plakat klebten, aber aus dem Stand über zehn Prozent bei den männlichen Erstwählern holten (und zwei Prozent insgesamt), erlebten die großen Parteien ein Web-Desaster, was zum einen an der vergleichsweise geringen Netzmobilisierung der wahlentscheidenden (älteren) Jahrgänge liegen mag. Aber bestimmt auch an der deutschen Biederkeit auf Tagesschau-Niveau, die der samstägliche Podcast der Kanzlerin genauso ausschwitzt wie die Youtube-Fragestunden mit den jeweiligen SPD-Vorsitzenden. Ganz zu schweigen von den grotesken Twitter-Botschaften, die selbst ein Profi wie Ex-SPD- Generalsekretär Hubertus Heil mit Politik verwechselt. Robert Basic, einer
der wichtigsten Politblogger Deutschlands, ahnte schon vor der Wahl 2009: »Ich würde mich daher überhaupt nicht wundern, wenn es auch 2009 nix Großartiges im Netz zu sehen geben wird. (…) Zumal das auch eine Altersfrage ist. Ich erwarte weder von einem Münte, noch von Angie oder gar einem Guido frische Signale. Und von einem beamtischen Steinmeier schon mal gar nix.« Der so gescholtene SPD-Kanzlerkandidat hat auf seinem Facebook-Eintrag am Ende des Wahlkampfes rund 7000 »Unterstützer«, Barack Obama an die sieben Millionen. Internet und die deutschen Parteien? Vielleicht nächstes Mal; die I-Phone-App des Bundestages hielt sich nach ihrer Einführung vor kurzem immerhin eine ganze Zeit lang unter den Top Ten der Gratis-Apps. Und internetgestützte Protestattacken gegen das Bahnhofsprojekt »Stuttgart 21«, gegen ein gesetzliches Verbot von Paintball-Spielen oder gegen Jumbo-Flugrouten über den Südwesten der Hauptstadt Berlin haben vorgemacht, dass Netzmobilisierung und -politisierung geht. Aber es geht längst nicht für jeden und mit jedem. Der FDP-Abgeordnete und Internetexperte Manuel Höferlin schränkt die Möglichkeiten, online Politik zu machen, in einem weiteren Punkt ein: »Da in den sozialen Netzwerken aber hauptsächlich Menschen ähnlichen Interessen vernetzt sind, handelt es sich dabei in erster Linie um Eigenmobilisierung.« Insgesamt gebe es immer einen gewissen Prozentsatz von Menschen, die sich engagierten, aber, so Höferlin: »Der ist nicht höher, weil die Teilnahme erleichert wird.« Die große Menge der Politiker dagegen scheint sich einstweilen deutlich mehr von zunehmender Personalisierung und der folgerichtigen Fixierung auf die eigene Glaubwürdigkeit zu versprechen. Der kommende Mann der SPD in Schleswig-Holstein, der Kieler Oberbürgermeister Torsten Albig, sagt es als einer der wenigen ziemlich offen: »Ich glaube nicht, dass es (den Menschen) reicht, Inhalte klug zu diskutieren und dann war's das.
Menschen haben zu Recht den Anspruch darauf, dass wir ihnen Politik auch nahe bringen, und sie möchten dies auch verbinden mit Personen, die sie dafür in Verantwortung nehmen.« Warum auch nicht? Personalisierung und Inszenierung sind ja nicht per se von Übel, im Gegenteil. Sie vermitteln Bilder, die haften, und Köpfe, die für Themen stehen. Dass auf diesem Weg einiges zu erreichen ist, bewies auf der anderen Seite des politischen Spektrums nicht zuletzt CSU- Shooting-Star Karl-Theodor zu Guttenberg. Größter Treibsatz seines bemerkenswerten Aufstiegs ist sein Talent, sich traumwandlerisch sicher
von den meisten anderen Politikern zu unterscheiden – ohne den nörgelnden Antipolitiker zu geben oder den unernsten Paradiesvogel. Guttenberg ist Politiker durch und durch, einen anderen Beruf hat er in seinem Leben nicht ausgeübt. Aber das Publikum nimmt ihn anders wahr. Und er sich selbst auch, nämlich als eine Mischung aus Prinzipientreue, Unabhängigkeit und Spielernatur. Kleine Anekdote zum Beweis: Für eine mitternächtliche Dandypose auf dem strahlend erleuchteten New Yorker Times Square musste der damals frisch gebackene Wirtschaftsminister zwar einige Prügel einstecken, weil er eigentlich in einer durchaus dramatischen Mission, nämlich in Sachen Opel-Rettung, unterwegs war. Aber während sein Pressesprecher ob der allzu glamourösen Fotos mit den Händen rang, blieb zu Guttenberg cool. »Prügel ja«, sagte er auf dem Rückflug von New York, als ihm das Presseecho übermittelt wurde, »aber das Foto ist auf der Seite 1 der FAZ.« Dieselbe Denke steckt hinter der Talkshow-Präsenz der deutschen Politiker quer durch alle Parteien. Auch sie ist nicht pauschal zu verteufeln, im Gegenteil. Talkshows sind Politik. Vielleicht sind sie Politik am bunten Narrensaum der Republik, und gewiss ganz anders als Politik auf dem Marktplatz, bei einer Bezirksdelegiertenkonferenz oder im Bundestag – aber deshalb nicht automatisch weniger wert. Sie definieren politische Standorte, machen neue Unterströme in der Wählerschaft sichtbar und bleiben, wenn's gut läuft, Prägeanstalt eben für Glaubwürdigkeit und Vertrauen.
Hier schließt sich der Kreis: Zur Ersatzwährung wird Glaubwürdigkeit, weil der Politiker zu Recht davon ausgeht, dass der Durchschnittswähler sich mit komplizierter Sachpolitik immer seltener abmühen mag und in Wahrheit für viele Zusammenhänge weder Interesse noch Verständnis hat.
Deshalb sucht er nach vertrauens- beziehungsweise glaubwürdigen Politikern, bei denen er seine Interessen gut aufgehoben sieht. Diesem leidenschaftslosen Pragmatismus der Wähler entspricht die in Wahrheit sehr große Gelassenheit, mit der alle Parteien die schrumpfende Wahlbeteiligung betrachten. Nicht, dass es sie zynisch freuen würde, aber als dramatischen Entzug der Geschäftsgrundlage nimmt wohl kein namhafter Politiker die Sache wahr. Das hängt zum einen daran, dass Wahlen im föderalen System der Bundesrepublik weder SPD noch Union je ganz von der Macht abschneiden können. Über Koalitionen und Landesregierungen (also den Bundesrat) bleiben sie immer wenigstens ein kleines bisschen im großen
Geschäft, weshalb die Abwahl Helmut Kohls 1998 die CDU nicht ins Mark traf und die Schlappen 2005 und 2009 nicht die SPD. Schon im Mai 2010 war sie nach dem Wahlsieg in Nordrhein-Westfalen wieder ordentlich im Geschäft, durfte das »Comeback der SPD« feiern. Zum anderen ist zu beobachten, dass die Politiker den Spieß im Stillen sogar umdrehen. Da fallen Sätze wie diese: »Mehrheit ist Mehrheit«. »Einer muss das Land ja regieren.« »Wenn die Leute nicht hingehen, können wir doch nicht einfach mit der Politik aufhören. « Kann das auf Dauer gut gehen? Oder ist es nicht an der Zeit, die Wähler einmal zu etwas zu zwingen, nämlich zum Wählen? Gibt es eine Pflicht zur Demokratie, wie es im SPD-Grundsatzprogramm heißt? Zugegeben, solche Gedanken führen schnell auf dünnes Eis: Wenn es eine Pflicht für ein Mindestmaß an Mitmachen und Mitdenken gäbe, was würde dann für jene folgen, die ihr vorsätzlich nicht genügen? In der Sozialgesetzgebung gibt es einen Anspruch auf Unterstützung durch die »Solidargemeinschaft«, also die Gesamtheit der Beitrags- und Steuerzahler. Aber dieser Anspruch ist geknüpft an Pflichten der Empfänger, deren Nicht-Einhaltung mit schrittweisem Entzug der Transferleistung geahndet wird. Ginge das auch mit dem freien und allgemeinen Wahlrecht, dem Kern der Demokratie? Ja, in so gelassenen Demokratien wie den EU-Staaten Belgien, Griechenland, Italien und Luxemburg geht es. Hier herrscht Wahlpflicht; Nicht-Wählern drohen Geld- oder andere Strafen. Mit der Wahlpflicht verbindet sich dort ausdrücklich auch die Hoffnung, Politikverdrossenheit in Grenzen halten zu können. Kurzum: Der Staat verpflichtet seine Bürger zu einem Mindestmaß an Staatsbürgerlichkeit – »there's no such thing as a free lunch«. Oder wie es der inzwischen ausgeschiedene SPD-Bundestagsabgeordnete Jörn Thiessen sagt: »Wir Politiker müssen im Parlament abstimmen – das kann man auch von den Wählern verlangen.« Zu viel verlangt? Ganz klar: Nein.
In Australien kam es 1924 zur Wahlpflicht: Im Ersten Weltkrieg hatte das Land mit 60 000 Gefallenen gemessen an der Bevölkerungszahl einen enormen Preis entrichtet. »Für die Freiheit«, wie es damals hieß – und sich dieser Freiheit an der Wahlurne würdig zu erweisen, hat jeder Australier seither die Pflicht. Keine schlechte Begründung und vielleicht auch nicht der schlechteste Weg, ernsthaft etwas zu ändern. Mit »keine Ahnung, kein Interesse« als – leider ziemlich zutreffendem – Befund ist jedenfalls auf Dauer kein Staat in Deutschland zu machen.