Skip to main content

»Alles Schlawiner und Schnäppchenjäger?«

Sonntagsreden und ganzseitige Aufsätze sind das eine. Die Realität das andere. Roland Koch, CDU, beschrieb in der Frankfurter Allgemeinen einmal sein (offizielles) Bild vom Bürger, auf dem seine Programmatik gründe: »Diese Ordnung erfordert einen Staat, der stark ist und sich zugleich beschränkt, und sie baut auf Menschen, die ihre Freiheit lieben und nutzen, ohne die Grenzen von Moral und Anstand zu überschreiten.« Das findet sich so oder so ähnlich auch im Programm manch anderer Partei. Wie schön, nicht wahr? Vermutlich viel realitätsnäher ist aber dieser Satz von Erwin Huber, der ihm in einem nicht ganz kontrollierten Moment herausgerutscht sein mag: »Bei uns ist der Steuerspartrieb stärker als der Sexualtrieb und leider auch als der Fortpflanzungstrieb. « Oder dieser Satz von Kanzleramtsminister Ronald Pofalla: »Die Deutschen sind wie die Hamster. Sie klettern noch für die letzte Nuss auf den obersten Ast am Baum.« Nota bene: Ähnliche Lücken zwischen offizieller Programmatik und lebensnaher Einschätzung der Realitäten ließen sich auch bei anderen Parteien nachweisen.
Man muss es gewiss nicht so weit treiben wie die Steuerhinterzieher- Millionaros, die ihren Reichtum in der Schweiz oder im Briefkastentum Lichtenstein verstecken und nur »Reue« zeigen, wenn bei ihrer Bank verräterische Kontodaten geklaut werden. Am anderen Ende der Skala muss man es auch nicht so weit treiben wie Arno Dübel, »Deutschlands frechster Arbeitsloser«, seit weit mehr als 30 Jahren arbeitslos und nicht nur bester Laune, sondern auch noch entwaffnend dreist mit der Frage: »Warum soll ich arbeiten, ich krieg doch genug von den Deppen, die noch arbeiten gehen.« Das ist nicht repräsentativ, nein. Dennoch haben die Politiker aller Parteien einen extrem nüchternen Blick auf die Steuerehrlichkeit der sehr gut Betuchten und auf ein System staatlich administrierter Sozialversorgung, das mit seinen Anreizen nicht wenige zur mutwilligen Selbstbedienung einlädt. Wobei diese Politiker je nach Parteifarbe Ersteres mehr aufregt als Letzteres – oder umgekehrt.
Und manchmal staunen die Politiker auch über die vermeintlich ausgeglichene Mitte der Gesellschaft, zum Beispiel während des Runs auf
die Altauto-Abwrackprämie. Denn die Abwrackprämie war ja nicht in erster Linie an leicht verlockbare Teile des Hartz-IV-Prekariats in Deutschland adressiert, sondern als eine klassische Mittelschichtssubvention konstruiert. Zur Erinnerung: Zunächst war die staatliche Verschrottungsprämie (2500 Euro) auf 600 000 Fahrzeuge angelegt, auf insgesamt 1,5 Milliarden Euro Gesamtvolumen. Denn, so die plausible Rechnung der Regierungsplaner, mehr Fahrzeuge gebe es ja nicht, die älter als neun Jahre seien und einen Restwert von nicht mehr als 2500 Euro hätten. Doch bereits am ersten Wochenende nach der offiziellen Bekanntgabe ließen bei der hoffnungslos überforderten Behörde (dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle) 269 000 eingehende Anrufe die Telefonanlage zusammenbrechen. Politiker aller Parteien rieben sich die Augen. Besonders jene von CDU und CSU, die anfangs die Prämie als Unfug bezeichnet hatten und sie zu einem unbedeutenden Beiwerk eines großen Konjunkturpakts herunterreden wollten. Bis Spätsommer 2009 wurden annähernd zwei Millionen Wagen in die Schrottpresse gegeben, darunter auch solche, die noch weit mehr als 2500 Euro Restwert hatten.
Die Deutschen also ein Volk von Schlawinern — unten wie oben? Die deutsche Mittelschicht eine Horde von blinden Schnäppchenjägern? Und wenn ja, warum machen Regierungen aller Couleur dann auf den relevanten Feldern stoisch weiter Regeln, die dem nicht Rechnung tragen? Die diese Deutschen nicht nehmen, wie sie sind? Rar sind Stimmen wie die der nordrhein-westfälischen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD), die sagt: »Die Menschen finden immer die Lücken in den Gesetzen. Dann müssen eben die Gesetze verändert werden. Ist doch nicht schlimm.« Stimmt. Noch dazu könnten sich die Regierenden auf jenen breiten Unmut berufen, der sich regelmäßig in der Mittelschicht gegen die Sozialabzocker à la »Florida-Rolf« oder Arno Dübel erhebt. In solchen Momenten funktioniert das allgemeine Gefühl für Anstand und »Tut man nicht!« eben doch noch, ganz im Sinne des großen Verfassungsrechtlers Böckenförde, der einmal schrieb: »Der Staat lebt von Voraussetzungen, die er selber zu garantieren nicht im Stande ist.« Die Politik könnte sogar auf eklatante Einzelerfolge lebensklug nachgebesserter Gesetze verweisen, wie zum Beispiel die Veränderungen bei der Frühverrentung von beamteten Lehrern: Zwei Drittel der Lehrer nahmen sie in Anspruch, als es noch ohne Abstriche am Pensionsniveau möglich war. 2008 änderte sich die Rechtslage, wurden Abstriche eingeführt. Seitdem ist die Frühaussteigerquote auf 22 Prozent
geschrumpft. Sieh' an, alle plötzlich gesund? Aber solche Momente, wo auf bittere Wahrheiten Taten und auf Taten Veränderungen folgen, sind leider selten.
Ähnlich bei der Debatte um Hartz IV, welche die Bundesregierung seit ihrem Amtsantritt begleitet und bisweilen beben lässt. Auch sie umkreist die Frage, welche Anreize einer Gruppe gesetzt werden dürfen, die als leicht verführbar und bauernschlau zugleich gilt. Mit Beispielen belegbar ist nämlich: Bei Hartz IV werden Langzeitarbeitslose durch falsch gesetzte Anreize zum Nichtstun regelrecht erzogen und überdies zu Klagen gegen Einzelbescheide der Ämter immer neu animiert. Es verhält sich nun einmal rational, wer es ablehnt, für kaum 200 Euro Mehrverdienst einen ganzen Monat körperlich zu arbeiten. Das verwilderte Steuerrecht wiederum hat eine Auslegungs- und »1000-Beste-Tricks«-Literatur hervorgebracht, wie sie kein anderes Land der Welt kennt. Von diesen legalen Tricks bis zur Reise mit einem Koffer voller Schwarzgeld über die Schweizer Grenze ist der Weg kürzer, als man meint.
Der Chef der CDU-Arbeitnehmerschaft Karl-Josef Laumann sagte mit Blick auf die zehn Euro Praxisgebühr einmal: »Nimm beim Arzt bei jedem Besuch Eintritt, dann geht die Oma zum Reden ins Cafe.« Laumanns Bild von der Oma ist realistisch, es stimmt. Tatsächlich hat die Praxisgebühr von zehn Euro pro Quartal nicht den gewünschten Effekt gehabt, nicht die gewünschte Steuerungswirkung erreicht. Die Deutschen gehen weiterhin im Schnitt 18 Mal pro Jahr zum Arzt, die Franzosen weniger als halb so oft, die Norweger nur drei Mal. Im Gesundheitswesen funktionieren viele Anreize genauso schlecht wie in anderen Bereichen des Sozialstaates.
Die Leute sind nun einmal wie sie sind, glauben sehr viele Politiker. »Der Satz: ›Das tut man nicht‹, wird nie mehr so viel Wert haben wie ein Gesetz«, sagt ein veritabler Bundesminister mit Bedauern in der Stimme. »Wie sollen wir das ändern?« Der Punkt aber ist: Die Politiker sollen nicht die Bürger ändern, sondern die Regeln, die sie in eine falsche Richtung treiben. Damit wäre schon eine Menge gewonnen. Stattdessen versuchen sie, angetrieben vom Bundesverfassungsgericht, den urdeutschen Wunsch nach Einzelfallgerechtigkeit zu erfüllen. Doch da ist es wie mit Hase und Igel: Die Schlawiner sind immer schon da.