»Vox populi, vox Rindvieh«
Wie viel Bürger darf's denn sein in der geglückten deutschen Demokratie?
Die Frage stellt sich in letzter Zeit recht häufig, aber in jeder Legislaturperiode – mindestens – einmal. Dann nämlich, wenn die Wahlbeteiligung ein neues historisches Tief erreicht hat und es hektisch um Abhilfe geht, um zusätzliche Elemente sogenannter direkter Demokratie auf Bundesebene, um Referenden und Volksbefragungen. Dann fallen zahlreiche Argumente für und wider (die meisten sattsam bekannt), aber das entscheidende nur hinter vorgehaltener Hand: »Dann würden wir bald auch die Todesstrafe in Deutschland wieder einführen.« Oder andersherum der CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder: »Wenn ich Freibier für alle fordere, kriege ich sofort über 80 Prozent Zustimmung. « Deshalb: Maximal ein Volksbegehren über Rauchverbot in bayerischen Bierzelten oder Schulpolitik in Hamburg oder den Krötentunnel im Vorort. Aber, bitte, unter keinen Umständen Referenden auf Bundesebene! Und wenn die jeweilige Opposition hin und wieder mal eines von der Regierung fordert (so wie die SPD jüngst zur Atomkraft), dann nur so lange, bis sie selbst wieder regiert. Auch mancher Spitzen-Grüne ist in Wahrheit ganz froh, dass es keine bundesweiten Volksentscheide gibt: »Wer weiß schon wie die Leute über Integrationspolitik und Ausländer abstimmen würden?« Legendär ist der Spruch, der dem Politberserker Franz Josef Strauß zugeschrieben wird: »Vox populi, vox Rindvieh.« In Wahrheit stammt der Satz von Generalfeldmarschall Friedrich von Wrangel, der im deutschen Revolutionsjahr 1848 Truppen gegen die Bürgerwehren in Berlin führte.
Hat sich diese antibürgerliche Angst der Obrigkeit vor den »falschen« Mehrheiten etwa bis heute erhalten? Nach dem Motto: Immer wenn es wirklich um die Wurst geht für Deutschland, dann ist auf die Deutschen an der Urne kein Verlass. »Die Überzeugung, dass er es ›draußen im Lande‹ mit Millionen Idioten zu tun hat, gehört zur psychischen Grundausstattung des Berufspolitikers«, schrieb einmal Hans Magnus Enzensberger. Stimmt.
Und tatsächlich ist es so, dass Politiker verschiedener Parteien zwar erbittert über die Frage streiten können, was das »Gemeinwohl« ist, was ihm am besten dient: Steuern rauf oder Steuern runter? Atomkraft ja oder
nein? Mehr EU oder weniger? Mehr Zuwanderung oder eine andere? Aber dieselben Politiker sind völlig einig, dass sie als Gruppe die Gralshüter dieses Gemeinwohls sind, die einzigen Sachwalter einer Vernunft, die nicht allein an heute, sondern auch an morgen und übermorgen denkt und die Deutschen deshalb manches Mal zu ihrem Glücke zwingen respektive von der Wahlkabine fernhalten muss: D-Mark-Einführung, Wiederbewaffnung, Ostpolitik, die Wiedervereinigung, den Euro und die Agenda 2010 – was wäre aus dem politischen Tafelsilber der Nachkriegsrepublik und diversen Großentscheidungen geworden, hätte das Volk darüber gesondert mit ja oder nein abstimmen dürfen? Antwort quer durch die Parteien, selbst in jenen, die Referenden und Volksabstimmungen auf Bundesebene immer wieder fordern: »Nichts davon wäre durchgegangen. Dafür gab es keine Mehrheiten.« Das Misstrauen sitzt tief. So tief, dass umgekehrt inzwischen sogar die Furcht vor Volkes Meinung zu einem bestimmten Vorhaben als Beweis für dessen staatstragende Bedeutung gilt. Nach der Proportionallogik: Je größer die Skepsis der Deutschen umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine Entscheidung von historischer Tragweite handelt, die der Wähler (mal wieder) leider nicht erkennt, deren Glanz dereinst aber dem Urheber ein leuchtendes Angedenken verheißt. Deutsche Politiker wollen in diesem Sinne nur allzu gerne glauben, dass sie einen Eintrag im Geschichtsbuch vor allem dann erwarten dürfen, wenn sie ein Projekt verfolgen, von dem sie behaupten können, dass es in einer bundesweiten Volksabstimmung durchgefallen wäre. Was für eine verquere Logik.
Es mag ja sein, dass Volksabstimmungen in einem Land im mentalen Ausnahmezustand während der ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg eine riskante Sache gewesen wären – zumal unter dem Tutorium von Siegermächten, die guten Grund für großes Misstrauen hatten. Aber musste das unverändert auch noch in den 80er Jahren gelten und gar bis heute? Nein, eigentlich nicht, wie sogar das Beispiel Nato-Doppelbeschluss bei genauerer Betrachtung zeigt. Der Raketenbeschluss musste Anfang der 80er Jahre keineswegs »gegen die Deutschen« durchgesetzt werden, auch wenn manche Umfrage das suggerierte. Politisch vertreten werden musste der Beschluss zunächst (nur) gegen größere Teile der SPD, was der damalige Kanzler Helmut Schmidt leider nicht zustande brachte. Er scheiterte an Politikern (seiner eigenen Partei), also Vertretern jener Spezies, die in der repräsentativen Demokratie als das überlegen denkende
Wesen gilt. Nach dem Wechsel der FDP in die Koalition mit Helmut Kohls CDU gewannen die Schwarz-Gelben die Neuwahl im Frühjahr 1983 deutlich. Trotz der ganz klaren Ansage, zum umstrittenen Raketenbeschluss zu stehen? Oder gerade wegen dieser Entschlossenheit und der Einsicht vieler Wähler in die Notwendigkeit, der Sowjet-Aufrüstung etwas halbwegs Gleichwertiges entgegenzustellen? Die Antwort ist zumindest offen.
Noch ein Beispiel, noch einmal die SPD: Der Widerstand gegen die Agenda 2010, gegen die Grundüberholung des Nachkriegssozialstaates war groß genug, den Sozialdemokraten eine Serie bitterer Wahlschlappen zu bereiten. Aber hätte dieser Widerstand auch ein umfassendes Nein in einer Volksabstimmung herbeigeführt? Leute wie Klaus Ernst oder Gesine Lötzsch von der Linkspartei sind fest überzeugt davon, aber sie irren. Und es ist keine allzu abwegige Spekulation, dass auch Gerhard Schröder noch einmal im Kanzleramt hätte sitzen bleiben dürfen, wenn er am ursprünglichen Bundestagswahltermin 2006 hätte festhalten können – mitten im Aufschwung (und dem glückseligen WM-Sommer). Sein Neuwahlmanöver leitete Schröder übrigens mit den Worten ein, nach der SPD-Niederlage bei der NRW-Landtagswahl wolle er sich für seine Politik »ein neues Mandat« vom deutschen Wähler holen. Hätte er haben können – am leichtesten und klarsten mit einer Volksabstimmung. Bei der Bundestagswahl 2005 und allen Wahlen seither stimmten dann annähernd 90 Prozent der Wähler für Parteien, die mehr oder minder fest zur Agenda stehen. Hätten die in einer Volksabstimmung plötzlich alle gegen die Agenda gestimmt? Wohlgemerkt, wenn man nicht nach Details, sondern nach ja oder nein zum Ganzen gefragt hätte?
Wahr ist freilich auch: Bundesweite Volksentscheide wären gewiss nicht das Patentrezept gegen Politikverdrossenheit, als das sie derzeit (wieder einmal) angepriesen werden. Schon ein, zwei Volksentscheide pro Jahr würden die Strecke zwischen Land- und Bundestagswahlen zum Dauerwahlkampf machen – mit allen Nachteilen und Nebenwirkungen.
Deshalb ist es auch zu billig, den Politikern zu unterstellen, dass sie sich die Bürger einfach nur vom Leibe halten wollen, um so ihrem selbstsüchtigen Treiben möglichst ungestört nachgehen zu können. Das ist etwas für Dark- Room-Verschwörungstheoretiker wie den Parteienkritiker Hans-Herbert von Arnim, der mehr direkte Demokratie als Heilmittel gegen all die teuflischen Krankheiten preist, mit denen eine verlotterte Politikerclique das Gemeinwesen angesteckt habe. Wenn der Durchschnittspolitiker dem
Durchschnittsbürger nicht zutraut, strategisch und nachhaltig an das Große und Ganze zu denken, dann ist das auch Gewohnheitssache, schließlich ist der leise-laute Zweifel an der Urteilsfähigkeit der Bürger in jeder repräsentativen Demokratie angelegt, nicht nur in der deutschen: Viele beauftragen wenige mit der Wahrnehmung ihrer Interessen, weil es am Ende besser für alle ist. Die Bundesrepublik ist mit ihrem indirekten parlamentarischen System bislang nicht schlecht gefahren. Dieses System als Verschwörung der Gewählten gegen ihre Wähler zu denunzieren, ist inzwischen mächtig in Mode, aber so maß- wie substanzlos.
Dennoch ist diese Frage erlaubt: Fehlt es dem politischen Personal an Mut, den Bürgern heute mehr Entscheidungen zuzutrauen als vor 50, 30 oder 10 Jahren? Die Verzagtheit der Regierenden wie der Opponierenden geht inzwischen so weit, dass die allermeisten Bundespolitiker nicht nur Volksabstimmungen mit großer Skepsis sehen, sondern sich aus Furcht vor dem Druck »falscher« (Umfrage-)Mehrheiten die Politik selber aus der Hand nehmen lassen. Die Angst vor dem Wähler, dem selbst das objektiv Gebotene nicht zu vermitteln sei, diktiert das Handeln. Dieser Logik folgt, bei Licht betrachtet, auch die neue »Schuldenbremse« im Grundgesetz.
Dieses Verschuldungsverbot soll erklärtermaßen den »politischen Zuckerbäckern« (Herfried Münkler) das Handwerk legen, was immerhin impliziert, dass einerseits die Wählerschaft aus naschsüchtigen Hohlköpfen besteht und andererseits die Politiker gegen die unterstellte Naschsucht kein überzeugendes Mittel wissen. »Zum Glück«, seufzten einmal zwei Politiker von CDU und FDP insgeheim im Gespräch. »Seitdem sie im Grundgesetz steht, können wir uns hinter der Schuldenbremse verstecken, um Mehrheiten für Sozialkürzungen in einem Land zu organisieren, in dem mehr als die Hälfte der Bevölkerung von Sozialtransfers oder der gesetzlichen Rente lebt.« Von den Mehrheiten im Land haben deutsche Politiker also eine ziemlich klare Vorstellung: Für das Richtige gibt es sie viel zu selten, und für das Falsche gäbe es sie viel zu oft. Rar, sehr rar sind dagegen Stimmen wie die des SPD-Innenexperten Dieter Wiefelspütz. Als die Schweizer in einer Volksabstimmung den Bau neuer Minarette überraschend verboten, entgegnete er, herrlich gelassen: »Demokratie ist riskant. Das Volk kann sich ja auch irren.« Die Politiker müssten vorher für ihre Überzeugung kämpfen und besser überzeugen. »Das hält die Demokratie doch am Leben.«
Übrigens: Nach der Wiedereinführung der Todesstrafe fragen die Demoskopen in Deutschland seit Jahren nicht mehr. Weil immerfort eine breite Mehrheit dagegen war, wurde das irgendwann langweilig. Und die Freibier-für-alle-Partei, die Linke, ist eher auf dem absteigenden Ast und wird den Generationswechsel an der Spitze wohl nicht unbeschadet überstehen. Könnte heißen: Was immer an dem Politikerspruch »vox populi, vox Rindvieh« in vergangenen Zeiten dran gewesen sein mag – heute sind die Deutschen offenkundig in vielem viel weiter, als die meisten Politiker glauben wollen.
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