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»Der Wähler is a Sau«

In Domme, einem malerischen Bergdorf in der Dordogne, im tiefsten, bürgerlichen Frankreich, wird an jedem 14. Juli ein mit Blumen geschmücktes Schild am Bürgermeisteramt angebracht, auf dem steht: »Honneur à nos élus!«. Ein offizieller Dank der Bürger: »Ehre unseren Gewählten!« Wer so ein Beispiel in Deutschland sucht, muss weit, weit zurückgehen in der Geschichte bis zu jenem Foto, das heute eine Ikone ist, Teil des kollektiven Gedächtnisses aller Deutschen. Es zeigt Bundeskanzler Konrad Adenauer und eine alte Frau, die ihm die Hand küsst. Sie presst ihre Lippen mit einer Kraft, die gar nicht zu so einer zierlichen Person zu passen scheint, auf Adenauers Hand, die der Alte nicht mehr zurückzuziehen weiß.
Es ist die Mutter eines Spätheimkehrers aus russischer Gefangenschaft, und Adenauer hatte diese Männer heimgeholt, zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Botschaft des Bildes ist ganz allein eine: Dankbarkeit. Nicht vorzustellen, dass diese Frau jemals danach einen anderen Politiker gewählt haben könnte als Konrad Adenauer.
Dankbarkeit. Lange her. »Dankbarkeit ist keine Kategorie in der Politik«, sagen Politiker quer durch alle Parteien. In erster Line denken sie dabei natürlich an ihresgleichen: an Parteifreunde, die sich als Konkurrenten entpuppen, an Regierungschefs, die verdiente, aber strauchelnde Minister fallen lassen. Sie sagen es mit einer Mischung aus Zynismus und Mitleid heischender Schicksalsergebenheit. Aber viele Politiker sagen es mindestens so grimmig auch über ihre Wähler. Das bayerische SPD-Urgestein Ludwig Stiegler, so berichten Parteifreunde, hat einmal – halb im Scherz, halb im Ernst – gesagt: »Der Wähler is a Sau!« Tatsache ist: In keinem anderen Land in der Europäischen Union haben Politiker einen so verheerend schlechten Ruf wie in Deutschland. Faul, korrupt und machtbesessen – ein dickes Bündel von Vorurteilen wird ihnen täglich neu um die Ohren gehauen. Hohn und Spott erntet dagegen, wer auf ihre 80-Stunden-Arbeitswochen, auf die im Vergleich zur freien Wirtschaft eher mittelmäßige Bezahlung oder die totale Verfügbarkeit und Öffentlichkeit des Politikerlebens hinweist. »Die sollen sich nicht so
haben«, schallt es dann empört zurück, und zwar gleichermaßen von der Champagnerbar im Fünf-Sterne-Hotel wie von der Stehtheke der Bockwurstbude. Deutschland mag zwischen Arm und Reich zusehends klarer geteilt sein – doch die Politiker sind überall unten durch. »Man lernt als junger Abgeordneter ganz schnell, wie viel man schlucken muss«, erzählt der SPD-Abgeordnete Hans-Peter Bartels, »und irgendwann kommt der Punkt, wo man nicht mehr schlucken will.« Einer der wenigen, die nicht mehr schlucken wollen, ist Dieter Wiefelspütz (SPD). In manchen seiner vielen Antworten auf Bürgerfragen im Internetportal abgeordnetenwatch.de schießt er gegen »Gaga-Fragen« und Beleidigungen: »Warum soll ich mich mit solchem Blödsinn auseinandersetzen? Ersparen Sie mir weitere Fragen.
Mit gerade noch freundlichen Grüßen …« Kurzum: Undankbare, unfaire Wähler – und die Politiker sind längst dabei, sich einen Reim darauf zu machen, was das für sie bedeutet, für Strategie wie für Alltagsgeschäft.
Dabei gehört Dankbarkeit auf den ersten Blick tatsächlich nicht in den Kanon gebräuchlicher Politbegriffe. Die Bunte versuchte sich im Bundestagswahlkampf 2009 an einem Interview mit Kanzlerin Angela Merkel, das ausschließlich um »Dankbarkeit« kreiste. Die Scheu Merkels bei den Antworten war mit Händen zu greifen. Dennoch ist das Phänomen, besser: der Mechanismus, namens Dankbarkeit für den politischen Betrieb außerordentlich relevant, zwar nicht das Emotionale und Zwischenmenschliche daran, wohl aber das Rationale. Es ist das Reiz- Reaktionsschema von Leistung und Lob, das für die Politik zählt. Die Abfolge von erstens Handeln, zweitens Ergebnis und drittens Legitimation; die verlässliche Abfolge, wonach befriedigte Bedürfnisse und gelöste Probleme Vertrauen und Zustimmung erzeugen.
In Deutschland ist dieser Zusammenhang gefährlich gelockert. Das verändert die Politik, weil es das Bild der Politiker vom Bürger neu prägt.
Für die Frau, die Adenauers Hand küsste, wird andere und anders Politik gemacht als für Wähler, die als sprunghaft, »undankbar« oder unfair gelten.
Der Langzeitabgeordnete Wolfgang Bosbach (CDU) sagt es so: »Es gibt keine Dankeschön-Wahlkämpfe mehr, sondern nur Bitteschön- Wahlkämpfe.« Und der Sozialdemokrat Joachim Poss sagt: »Ergebnisse sind nicht mehr so entscheidend wie früher.« Dabei gründete die ganze Bundesrepublik doch auf dieser Idee: Wirtschaftlicher Erfolg in der Demokratie schafft Zustimmung zur
Demokratie. Wirtschaftlicher Erfolg überzeugt die Deutschen nach Weimarer »Chaos«, nach Nazi-Jahren und Krieg vom parlamentarischen System, von freier Marktwirtschaft und Pluralismus. Beginnend mit dem »Wirtschaftswunder« Ludwig Erhards nährte der »Wohlstand für alle« die Zustimmung aller zum »rheinischen Kapitalismus« und zur »Bonner Republik« gleichermaßen. Ludwig Erhard selbst warnte allerdings schon in den 50er und 60er Jahren davor, den Zusammenhang zu eng werden zu lassen. Denn die Sache hat einen Haken: Keine politische Ordnung sollte allein auf das Versprechen ewigen Wirtschaftswachstums gründen, weil es ewiges Wirtschaftwachstum nicht gibt. Wer volle Kassen zum einzigen Argument für Demokratie und Marktwirtschaft macht, hat keines mehr, wenn die Kassen einmal leer sind. Der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel schreibt dazu: »Die Politik hat nach Kräften zu dieser Sicht der Dinge beigetragen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht Wirtschaftswachstum und materielle Wohlstandsmehrung als der eigentliche Seinsgrund dieser Gesellschaft beschworen werden. (…) ›Ohne Wachstum‹, so heißt es in einer programmatischen Schrift der CDU in unüberbietbarer Eindeutigkeit, ›ist alles nichts‹.« Das findet sich in der Programmatik der Sozialdemokraten zwar ähnlich, aber das C in CDU steht nun einmal für Christlich. Nicht für Cash.
Heute setzen Oskar Lafontaine und seine Linkspartei mit ihrer politischen Gleichung noch eins drauf – und fast keiner widerspricht.
Gerade einmal zwei Zwischenrufe (von CDU/CSU und Grünen) registriert das Plenarprotokoll vom 15. Oktober 2008, als Lafontaine im Bundestag mit der These von der Demokratie nach Kassenlage zum ersten Mal Wasser auf seine Mühlen zu lenken sucht. Lafontaine wörtlich: »Demokratie heißt nun einmal eine Gesellschaftsordnung, in der die Entscheidungen so getroffen werden, dass sich die Interessen der Mehrheit durchsetzen. Das ist das Verständnis von Demokratie. Eine Hartz-IV-Demokratie, eine Rentenkürzungs-Demokratie und eine Demokratie mit fallender Lohnquote gibt es nicht; sie ist ein Widerspruch in sich. (…) Demokratie gibt es erst dann wieder, (…) wenn das Volk nicht erleben muss, dass auf der einen Seite Hunderte von Milliarden für die ›Bankster‹ ausgegeben werden, auf der anderen Seite kein Geld für Hartz-IV-Empfänger, für Rentner und für Lohnempfänger da ist. Das ist nicht Demokratie. « Steiler geht nicht.
Paradoxerweise ist es dieser Maximalismus, der den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Erfolg und politischer Zustimmung respektive
Dankbarkeit endgültig zerrüttet: Die Politikverdrossenheit der Deutschen ist inzwischen komplett immun gegen wirtschaftliche Erfolgsmeldungen.
Anfang 2011 erweist sich Deutschland als erfolgreicher als jedes andere Land in Europa und Amerika, lag die Arbeitslosenquote auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung, brummten Export und Binnenkonjunktur, und die Regierung machte sich sogar daran, die Rekorddefizite in den öffentlichen Kassen wieder zu senken. Allein: Auf Anerkennung oder gar Dankbarkeit seitens des Wahlvolkes durfte die Regierung (und mit ihr die gesamte Politikerzunft) nicht hoffen. Brutal werden die Regierungsparteien Union und FDP in den Umfragen abgestraft; die SPD steckt weiter tief im Keller, obwohl auch sie als Regierungspartei bis Ende 2009 einen gehörigen Anteil am Erfolg hat. Ein dauerhafter Höhenflug in den Umfragen gelingt allein den Grünen – eben jener Partei, die neben der Linkspartei die einzige ist, die seit 2005 nicht mehr im Bund regiert hat. »Wer regiert, verliert«, heißt das bittere Fazit vieler Abgeordneter. Den Politikern insgesamt geben jüngsten Studien zufolge 83 Prozent der Bürger die Schulnoten Vier, Fünf oder Sechs.
Auch die Zufriedenheit der Deutschen mit ihren sozialen Sicherungssystemen liegt laut jüngsten Zahlen so niedrig wie in den letzten 25 Jahren nicht. Im neuesten Datenreport des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) kommt Mitherausgeber Heinz-Herbert Noll zu dem Schluss: »Die Unzufriedenheit mit der aktuellen Situation resultiert nicht zuletzt aus den hohen Erwartungen der Bürger an den Sozialstaat.« Interessiert es da überhaupt noch jemanden, dass sich unter dem »Hartz- Regime« die Sozialausgaben nicht vermindert haben, sondern dass sie mit rund 50 Milliarden Euro jährlich um 30 Prozent über dem Niveau von 2004 liegen? Dass sich der Anteil der Sozialausgaben im Bundesetat von 16 Prozent (1980) auf 45 Prozent (2010) nahezu verdreifacht hat? Oder dass der neue Niedriglohnsektor zwar kein Schlaraffenland ist, aber die gestiegene Zahl von »Aufstockern« (Lohn plus Hartz IV) herzlich wenig mit grassierender Niedriglöhnerei zu tun hat, sondern vor allem damit, dass die Betroffenen aus ganz individuellen Gründen nur ein paar Stunden pro Woche arbeiten können? Inzwischen bestreitet auf der anderen Seite mehr als einer von drei Deutschen seinen Lebensunterhalt zum Teil mit staatlichen Transfers wie Arbeitslosengeld II, Wohngeld, BaföG, Altersgrundsicherung, Arbeitslosengeld. 1980 waren es 15,7 Prozent. Und dass zuletzt 13 Prozent der deutschen Bevölkerung ausschließlich dank
dieser Transfers ein sehr bescheidenes, gleichwohl anständiges Leben führen können, gilt nicht als erfreulicher Beweis der Funktionsfähigkeit des Sozialstaats, sondern als sein Versagen. Eine Prognose ist deshalb schnell gewagt (weil sie in Wahrheit gar nicht gewagt ist): Wenn Hartz IV, Rente und Wohngeld tatsächlich verdoppelt würden, von heute auf morgen – es würde an der politischen Grundverdrossenheit nicht viel ändern. Dankbar wäre niemand, noch nicht einmal die Begünstigten. Und genau das ist das Problem.
Politik ist meist ziemlich einfach gestrickt, weshalb die wichtigen Maschen nicht reißen dürfen. Für eine davon hat Helmut Kohl unsterblich schlichte Worte gefunden: »Entscheidend ist, was hinten raus kommt.« Soll heißen: Politik und die Probleme, die sie lösen soll, sind derart multikausal und subjektiv, dass Politik weit mehr von »trial and error« hat als von »Kochen nach Rezept«. Bestimmte Rezepte (Programme) mögen eine bessere Aussicht auf den offiziell angestrebten Erfolg bieten als andere, aber was ist Erfolg? Vollbeschäftigung für die einen, Mindestlohn für die anderen. Mehr Abiturienten für die einen, schwierigere Prüfungen für die anderen. Es gibt nun einmal keinen »politischen Urmeter«, keine einzig richtige, allseits erkannte Lösung für ein bestimmtes politisches Problem, so dass nur noch um den richtigen Weg dahin zu streiten bleibt. Doch in der Vergangenheit war objektiv erfolgreiche Politik in Deutschland in aller Regel wenigstens hinterher zu erkennen, nach einer gewissen Zeit im postpolitischen Abklingbecken, nach einer gewissen Zeit der geglückten Bewährung in der Praxis. Das galt für die Soziale Marktwirtschaft, gegen die es immerhin den ersten und einzigen Generalstreik in der Nachkriegsgeschichte gab. Das galt für Westbindung, Entspannungs- und Ostpolitik, auch für den Euro. Aber es gilt nicht mehr. Das ist das Neue.
Es gilt vor allem nicht für die Agenda 2010, die spätestens im Jahr 2007 ihren Erfolg unter Beweis gestellt hat. Und es gilt natürlich erst recht nicht für eine schwarz-gelbe Bundesregierung, deren Vertreter Anfang 2011 seufzen: »Die Lage ist viel besser als die Stimmung. Wann kapieren das die Leute endlich?« Was immer mächtiger Land und Leute beherrscht, ist ein »Gesamtkunstwerk aus Mangeleinbildungen« (Peter Sloterdijk).
Bei aller Kritik an manchem Detail sieht die mit Zahlen objektiv belegbare Bilanz nach sechs Jahren Hartz-Gesetzen sehr, sehr gut aus – und wird auch von CDU/CSU vollauf gewürdigt: Dank der Agenda-Reformen schrumpfte der Sockel von Langzeitarbeitslosen erstmals in einem Boom
und war nicht wie all' die Jahrzehnte zuvor gleich geblieben oder gewachsen. Der letzte Aufschwung schaffte weit mehr neue Stellen als frühere Aufschwungphasen, obwohl die jeweiligen Wachstumsraten annähernd gleich hoch waren. Wer arbeitslos wurde, fand doppelt so schnell wieder einen neuen Job als vor Hartz. Die Jugendarbeitslosigkeit ist auf ein historisches Tief gesunken, und die Kurve machte ihren dramatischen Knick nach unten, als die Hartz-Gesetze in Kraft traten. Insgesamt entstanden im letzten Aufschwung 1,5 Millionen neue Stellen – und sie verschwanden im Finanzkrisenabschwung bei weitem nicht in dem Maße wie in früheren Konjunkturzyklen. Stern-Autor Ulrich Jörges sprach Unions- wie SPD-Politikern 2008 und 2010 in zwei sehr ähnlichen Beiträgen aus dem Herzen. Einmal: »Ein sozial hysterisiertes Volk sieht die Gläser nur noch halb leer statt halb voll, die Erfolge sozialdemokratischer Reformpolitik als Fehlschläge in Serie.« Und zwei Jahre später: »Das Ende des Jammers ist freilich nicht das Ende des Jammerns. (…) Bloß: Wer sagt das alles dem Volk?« Und nun? In den Wahlkämpfen 2009 und 2010 konnte man gerade die pragmatisch orientierten SPD-Kandidate, die »Netzwerker« und »Seeheimer« um Johannes Kahrs, Klaas Hübner oder Christian Lange seufzen hören: »Wir haben uns für die Agenda 2010 und Hartz IV öffentlich verprügeln lassen, aber als sie endlich Wunder wirkte, hatten die Leute längst vergessen, dass sie von der SPD stammte. Dass sie überhaupt von Politikern gemacht war.« Daraus sprach schon vor der Bundestagswahl viel Wut, bei der Klaas Hübner sein Bundestagsmandat verlor, derweil Kahrs und Lange beim Macht- und Kurswechsel der schwer erschütterten Nachwahl-SPD um ihren Einfluss kämpfen müssen.
Den Parteien und Politikern steht neben Ärger noch etwas anderes auf die Stirn geschrieben – Angst: Was bedeutet es grundsätzlich für Politik, sich in einer immer komplizierteren Welt noch nicht einmal auf die (Kommunikations-) Kraft des post factum verlassen zu können, auf den Beweis durch zählbaren, messbaren Erfolg? Erst recht wächst diese Angst in (und nach) der Krise. Trotz der größten Konjunkturprogramme der deutschen Nachkriegsgeschichte, trotz einer nie dagewesenen Garantieerklärung für alle Sparerguthaben in Deutschland, trotz Abwrackprämie und Kurzarbeiterregelung wussten die Regierenden zweierlei schon vorab: Dank würden sie nicht erwarten dürfen. Niemals
würden sie »beweisen« können, dass es ohne diese Kraftakte viel schlimmer gekommen wäre.
Und die Politik nimmt das wahr. Exemplarisch für viele brach sich der Frust beim damaligen SPD-Finanzminister Peer Steinbrück Bahn. Am Rande eines aufreibenden G-20-Treffens in Washington Ende 2008 sperrte er sich gegen die damaligen Forderungen nach einem weiteren Konjunkturpaket (das später dann doch kam). Steinbrück im O-Ton: »Wir haben schon 30 Milliarden Euro mobilisiert. Davon redet keine Sau mehr.
Wo ist denn das Kurzzeitgedächtnis der Leute?« Wenige Wochen später kapitulierte er, nicht zuletzt vor dem Druck der kurzzeitgedächtnislosen Deutschen. Das zweite Konjunkturprogramm wurde beschlossen. In der zweiten Hälfte des Jahres 2010 schien der Frust der Regierenden erst recht mit Händen zu greifen. O-Ton des lang gedienten saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller (CDU): »Eigentlich haben wir doch tolle Ergebnisse, aber die Leute sind trotzdem unzufrieden. Sie übertragen die Leistungen der Politik nicht auf ihre individuelle Lage.« Im Klartext: Sie sind undankbar. Wenn's schlecht läuft, ist die Politik schuld. Wenn's gut läuft, hat es an der Politik bestimmt nicht gelegen.
Angela Merkel, aber keineswegs nur sie, hat sich ihren Reim inzwischen gemacht. Ganz Wissenschaftlerin, die sie ist, denkt sie darüber nach, was an ihrer Laboranordnung namens Politik verändert werden muss, damit die Probanden-Wähler wieder vorhersagbar reagieren – böse ausgedrückt: funktionieren. Aufmerksam hat sie verfolgt, wie sehr die Wirtschaftswissenschaften ihre alte Grundannahme vom homo oeconomicus inzwischen relativiert haben und wie mit der sogenannten Verhaltensökonomik (behavioral economics) psychologische – man könnte auch sagen: politische – Erklärmuster Einzug gehalten haben, wonach die Menschen komplexe Probleme ihres Alltags eben nicht allein rational und aufwändig zu durchdringen suchen, sondern entlang einfacher Lebens- oder Faustregeln, gleichsam aus dem Bauch heraus. »Erwartungsmanagement« heißt Merkels Antwort. »Erwartungsmanagement« prägt ihre Politik der »kleinen Schritte«, ihr Tiefstapeln nach der Maxime: Wenn's am Ende schneller und besser kommt, als der Bürger erwartet, ist es kein peinlicher Prognose-Irrtum der Regierung, sondern das Glück des Tüchtigen. Mit dem Versuch, »auf Kante zu nähen«, den Bürger mit Best-case-Annahmen für den eingeschlagenen Kurs zu gewinnen, war ihr Vorgänger gescheitert. Am
Ende nahm die Mehrheit der Deutschen Gerhard Schröder nichts mehr ab: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.
Aber das Merkelsche »Erwartungsmanagement« bedeutet in Wahrheit nichts anderes, als die Bürger für eine Rasselbande von Kleinkindern zu halten – ohne Gedächtnis, ohne Ratio, vorwiegend dem Moment lebend und allzu oft unreflektiert. Beispiel Konjunkturpaket II, Anfang des Jahres 2009: Nachdem in nächtlichen Beschlüssen ein Gesamtvolumen von 50 Milliarden Euro verabschiedet worden war, versuchte der damalige Kanzleramtsminister Thomas de Maizière tags darauf einer ausgewählten Gruppe von Journalisten die innere Logik des Paketes nahezubringen. Die ging so: Entgegen allen bis kurz zuvor noch verbreiteten Beteuerungen, kein zweites Programm aufzulegen, bevor das erste Wirkung gezeigt habe, müsse ein neues Programm überhaupt beschlossen werden, weil die Bürger das erste Konjunkturpaket längst vergessen hätten. Weil sie nicht länger akzeptierten, dass (vermeintlich) »nichts« getan werde. Jetzt beschlossen werden müsse das Programm, weil US-Präsident Barack Obama am 20.
Januar 2009 ins Amt komme und Kontakte der Bundesregierung zu seinen Beratern ergeben hätten, dass Obama unmittelbar nach seiner Amtseinführung ein 825 Milliarden Dollar schweres Konjunkturprogramm verkünden werde. Wäre die Bundesregierung erst dann mit ihren 50 Milliarden »hinterhergekleckert«, hätte das größte Konjunkturpaket seit dem Zweiten Weltkrieg (samt Rekordverschuldung) plötzlich vergleichsweise mickrig ausgesehen. Mickriger jedenfalls als bei umgekehrter Reihenfolge.
Zugegeben, Psychologie gehört mehr denn je zur Wirtschaftspolitik, zumal in einer Krise, die so tief war, dass Massenpanik zum ersten Mal seit 80 Jahren eine ernstzunehmende Bedrohung für Märkte und Mächtige wurde. Aber die eigentliche Lehre aus dem Wortgedrechsel um das zweite Konjunkturpaket der Regierung Merkel heißt: Die Spitze der großen Koalition fürchtete sich so sehr vor einem Vergleich von Äpfeln und Birnen, hatte so wenig Zutrauen in ein entsprechendes Einsehen der Medien und Bürger, dass sie sich lieber den Zeitpunkt der größten Einzelentscheidung der gesamten vergangenen Legislaturperiode von außen diktieren ließ – durch den Terminzufall, dass US-Präsidenten nun einmal Ende Januar ins Amt kommen.
Ebenso war das ganze Jahr 2010, das zweite Krisenjahr, mit Erwartungsmanagement imprägniert. Die Regierungskoalition wurde nicht
müde zu erklären, dass die Wirtschaftskrise längst nicht überwunden sei – und lässt sich bis heute diesen Zweckpessimismus Monat für Monat gern von den positiven Zahlen aus der Wirtschaft widerlegen. Unter ständiger Krisentiefstapelei vollzog sich auch der Abschied vom zentralen Wahlversprechen einer spürbaren Steuersenkung. Einen Teil der politischen Logik dahinter (neben allen Sach-und Sparzwängen) formulierte ein wichtiger Regierungsberater so: »Die Leute sind ja so vergesslich. Das bloße Einhalten von Versprechen nehmen sie eh nur wie selbstverständlich mit.« Die Anhänger der FDP taten sich mit dem Aus für die Steuerreform allerdings viel schwerer als die Wählerschaft der Volkspartei CDU.
Kurzum, die letzte und die gegenwärtige Bundesregierung haben diesen Bürger-Wähler vor Augen, wenn sie handeln: Er ist notorisch undankbar, seine Erwartungen sind zu weiten Teilen steuerbar, und er vergisst ebenso schnell wie gnadenlos. Er ist immer seltener treuer Parteigänger und immer häufiger launischer Kunde, der sich von der Wahl bestimmter politischer Angebote sehr kurzfristig Erfolg und Interessenbefriedigung erwartet.
Wenn sich diese Einschätzung festsetzt, wird das weitreichende Folgen haben: Dann müssten Politiker in der Tat nicht mehr die ganze Legislaturperiode an die nächsten Wahlen denken, sondern nur noch während der letzten drei Monate. Dann hätte das hergebrachte Planen in mehrjährigen Zyklen, in ganzen Legislaturperioden, nur noch eingeschränkt Sinn. Was die Politiker vom undankbaren Wähler denken, könnte im Eigentlichen sogar das Ende der »Sachpolitik«, wie wir sie kennen, einläuten – und sie durch jene Mischung aus »Erwartungsmanagement« und zunehmender Personalisierung ersetzen, die die Wahlkämpfe der jüngeren Vergangenheit prägten. Und dann behalten die elder statesmen der Republik, von Helmut Schmidt bis Richard von Weizsäcker, Recht. Sie predigen seit Jahren: Deutschland und die Deutschen brauchen mehr Führung, ihre leitenden Angestellten mehr Charisma. Einer muss die Gören ja zur Raison bringen.