»Wähler sind wie Kinder«
Vor Jahren veranstalteten Forscher an der Universität Lausanne ein lustiges Experiment: Sie legten 681 Kindern im Alter von sechs bis 13 Jahren Bilderpaare vor mit der Frage, welcher der beiden Gezeigten der bessere Kapitän für eine sehr gefährliche Seereise wäre. Abgebildet waren ausnahmslos Spitzenpolitiker aus Frankreich, die bei zurückliegenden Wahlen direkt gegeneinander angetreten waren, was die Kinder aber nicht wussten. Ergebnis: In 70 Prozent der Fälle entschieden die Kinder sich mehrheitlich für jenen Kandidaten, der die Wahl zuvor tatsächlich gewonnen hatte. Die Frage lautet also: Wenn Kinder wie Wähler sind, gilt das auch umgekehrt?
Wähler sind wie Kinder – der Gedanke ist vielen Politikern und ihrer Entourage zumindest nicht fremd. Alastair Campbell, legendärer Spindoctor und Wahlkampfchoreograph von Tony Blairs New Labour, nannte es so: »Every day is election day.« Jeden Tag stimmt der Bürger im Geiste über seine Regierung ab, ärgert sich, freut sich, je nach dem. Daraus folgt für die Politik: Man muss dem Wähler jeden Tag etwas Neues bieten, etwas zum Spielen, etwas zum Naschen, eine Überraschung und ein schönes Bild zum Angucken. Damit der Bürger sich nicht langweilt — und eventuell Misslungenes ganz schnell wieder vergisst. Ganz wie bei den Kleinen, ganz wie mit den Überraschungseiern, die Mutti vom Einkauf mit nach Hause bringt.
Öffentlich und im Vollbesitz der Kontrolle über seine Reflexe würde ein Politiker so etwas nie sagen, denn sich derart über die Wähler zu erheben, ist mit der schlimmste Fehler, den er machen kann. Ganz selten sind also die Ausrutscher, wie ihn sich CSU-Politprofi und Verkehrsminister Peter Ramsauer Anfang 2010 leistete, als er die miesen Umfragewerte für die schwarz-gelbe Koalition kurzerhand mit dem schlechten Wetter begründete, das den Wählern leider, leider »aufs Gemüt drücke«. Für einfacher gestrickt kann man die Leute kaum halten — und zwar unabhängig davon, wie blöd sie tatsächlich sind.
Auch der wichtigste Wahlkampfmanager einer der beiden deutschen Volksparteien denkt wie Alastair Campbell. Über seine Planung für
anstehende Wahlen sagte er einmal mit wissendem Grinsen: Alle Personalien und vor allem die Personalüberraschungen sollten in engem Takt erst kurz vorm eigentlichen Wahltermin präsentiert werden. Warum?
Antwort: »Sonst liegen die Medien und die Leute doch ganz schnell wieder gelangweilt in der Ecke und fragen: Was habt ihr noch?« Dahinter steckt das Selbstbild vom Vorturner, vom Animateur im Ferienklub, der ein verwöhntes bis verzogenes Publikum bei Laune halten muss, wenn er nicht seinen Job verlieren will. Dahinter stecken zugleich der politische Anspruch zu führen und die vermutlich zutreffende Unterstellung, die Leute wollten politische Führung, Führung durch Politiker. Schließlich rufen auch die Medien gern danach, wenn gegen 16.30 Uhr, kurz vor Redaktionsschluss der meisten deutschen Tageszeitungen immer noch keine griffige Kommentaridee geboren ist: Führung fordern, das geht immer.
Führung ist von Ver-Führung wiederum nur eine Vorsilbe weit weg, und auch da lohnt es hinzuhören, wenn Politiker laut denken. Immer wieder gern (und öffentlich) ist nämlich die Rede von »den Rattenfängern«, denen man das Geschäft nicht ermöglichen dürfe durch das eine oder andere Vorhaben. Damit kann gemeint sein, auf Sozialkürzungen zu verzichten, weil sonst »die Rattenfänger« von ganz Links kommen und die Leute mit süßen Versprechungen ködern. Damit kann ebenso gut gemeint sein, auf Klartext in Sachen einer scheiternden Integration arabischstämmiger Großfamilien zu verzichten, weil sonst »die Rattenfänger« von Rechtsaußen übers Land zögen, um den Leute mit schlimmen Parolen die Köpfe zu verdrehen. Aber: Wen verführt der Rattenfänger von Hameln in der wundervollen Sage, von der es heißt, über eine Milliarde Menschen auf der Welt kenne sie? Es sind »Knaben und Mägdlein, vom vierten Jahre an«; es sind Kinder. Wer also vor dem »Rattenfänger« warnt, sieht in den Deutschen ein Volk von Kindern, um nicht zu sagen ein Volk von Kindsköpfen — das auf finstere Abwege zu locken ein Leichtes ist.
Andersherum, so führt mancher Politiker zu seiner Verteidigung an, scheinen sich viele Wähler »fast wie die Kinder« nach dem weisen alten Mann an der Spitze des Staates zu sehnen, nach einer politischen Vaterfigur.
Wie sonst wäre die erinnerungsselige Dauerkonjunktur eines Altkanzlers zu erklären, von dem es während und lange nach seiner Amtszeit hieß, er habe das Land ordentlich verwaltet, ihm gleichwohl keinen prägenden Stempel aufgedrückt: Helmut Schmidt. Zu seinem 90. Geburtstag überschlug sich
nicht nur die von ihm mit herausgegebene Wochenzeitung Die Zeit mit Titelgeschichten und Mehrteilern. Er wurde mit Ehrungen überhäuft, monatelang standen mehrere Bücher von ihm und über ihn gleichzeitig auf der Bestsellerliste. Ähnliches wiederholte sich, als Richard von Weizsäcker die 90 erreichte. Dabei ist von seiner ersten Amtszeit als Bundespräsident nur eine (zugegeben historische) Rede geblieben und von seiner zweiten deutlich weniger. Wie die Alten von den Bürgern angehimmelt werden, geht nicht wenigen der aktiven Politiker mächtig auf die Nerven. Dazu ein amtierender Bundesminister: »Es kann nicht sein, dass die handelnden Politiker die Idioten sind und die ehemaligen Politiker sind die Heiligen.« Immer häufiger geht derweil der Vorwurf an die Adresse der gegenwärtigen Politikergeneration, »nicht genug zu erklären«, »die Menschen nicht mitzunehmen«. Als gäbe es das Kind im Wähler, das an die Hand genommen werden muss, wenn es über die Straße geht. Dem Mutti und Vati zehn Mal sagen müssen, dass Hand auf heißer Herdplatte »Aua« macht.
Damit sind wir beim springenden Punkt: So wie Kinder ein bestimmtes Bild von ihren Eltern haben, weil sie deren Kinder sind, wird der Blick der Politiker auf ihre Wähler geprägt von der Funktion, die sie haben. Kinder können sich zum Beispiel nicht vorstellen, dass ihre Eltern Sex haben. Ab einem gewissen Alter wissen sie natürlich, dass es Sex gibt und was das ist; etwas später haben sie sogar selber welchen. Aber dass ihre Eltern …, das vermögen sie nicht zu denken, weil es ihre Eltern sind und der Blick auf sie der des Kindes bleibt. Heißt: Rolle und Funktion prägen die Wahrnehmung, auch bei Politikern und Wählern. Weil sie sich Fürsorge und Führung zur Aufgabe gemacht haben, können viele Politiker sich nicht vorstellen, dass die Deutschen etwas anderes überhaupt wollen könnten – als ein bisschen eben wie Kinder zu sein, die viel Fürsorge und Führung brauchen. »Es gibt da draußen eine Sehnsucht nach Eliten«, sagte der überaus erfahrene, aber am Ende glücklose CSU-Minister Michel Glos einmal, »eine Sehnsucht irgendwie nach Stärke«.
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