»Die Leute wissen nicht, was sie wollen«
Am Freitag, den 15. Januar 2010, veröffentlichte das ZDF-Politbarometer eine Umfrage, wonach 64 Prozent der Deutschen keine Steuersenkung wollten, weil sie, kurz gesagt, dem Braten nicht trauten. Knapp 48 Stunden später, am 17. Januar, kam die Bild am Sonntag mit einer Umfrage auf den Markt, wonach 57 Prozent der Bundesbürger von der schwarz-gelben Bundesregierung erwarteten, dass sie gefälligst zu ihrem Steuersenkungsversprechen stehen solle. Wenige Monate später kassierte die Bundesregierung ihre Pläne für eine »große« Steuerreform, kombinierte das mit einer Geste von »Wir haben verstanden« – und stürzte danach in den Umfragen noch weiter ab, die FDP der Union voran.
Fazit: Wie man's macht, macht man's falsch. Die Deutschen wissen nicht, was sie wollen – denken zumindest viele Politiker. Für amtierende Politiker ähnlich schwer zu dechiffrieren war das Ergebnis einer aufwändigen Spiegel-Umfrage nach moralischen Instanzen und Lichtgestalten. Fazit des Blattes: »Der ideale Deutsche, von Deutschen gesehen, ist leichtfüßig wie Mesut Özil, fehlbar wie Margot Käßmann, pragmatisch wie Angela Merkel, unprätentiös wie Günther Jauch, konsequent wie Jogi Löw, unbeschwert wie Lena Meyer-Landrut, abgeklärt wie Helmut Schmidt.« Dann man los.
Über manche Widersprüche der werten Wähler zucken Politiker längst nur noch mit den Achseln: Dass die Bürger zwar Spitzenpersonal in den Parlamenten wollen, aber ihnen am liebsten keine Diäten zahlen möchten.
Dass die Bürger zwar Machtpolitik für igittigitt halten, aber ständig rufen: Nun macht doch endlich und setzt euch durch! Dass sie Politiker verachten, die an »ihrem Sessel kleben« — aber auch solche, die nach zehn Jahren in einem Spitzenamt noch einmal etwas ganz anderes machen wollen und zurücktreten. Dass sie sich gelangweilt abwenden, wenn im Bundestag diskutiert wird — aber sofort Verschwörung wittern, wenn eine Entscheidung überraschend schnell im kleinen Kreis fällt. Gern zitieren Wahlkreispolitiker auch, was die Leute daheim offenbar recht häufig über sie sagen: »Politiker? Alles miese Typen, aber meiner ist persönlich ganz in Ordnung.« Darüber milde zu schmunzeln, ist für Politiker eine Art, mit der
geballten Verachtung umzugehen, die ihnen seit langem entgegen schlägt.
Manchmal rettet es den eigenen Seelenfrieden, die Bürger nicht so ernst zu nehmen. Geschenkt.
Aber es steckt mehr dahinter. Wer denkt, der Souverän ist leider schizophren, macht anders Politik als einer, der sich einer rein rational reagierenden Gruppe gegenüber sieht. Bei einem Vortrag vor Berliner PR- Beratern brachte Innenminister Thomas de Maizière das einmal auf den Punkt. Ein Manuskript oder Protokoll seines Vortrages existiert leider nicht, aber Teilnehmer zitieren ihn sinngemäß so: »Bedenken Sie, dass der Mensch kompliziert ist. Bedenken Sie, dass Psyche und Emotionen stärker sind als Logik und empirische Studien. « Recht hat er wohl, auch ganz generell. Selbst Autoverkäufer genießen in Deutschland mehr Vertrauen als Politiker, sagen jüngste Umfragen. Aber niemand käme auf den Gedanken, von Autoverkäufern zu erwarten, sie sollten die weltweite Klimakatastrophe abwenden, die Wirtschafts- und Finanzkrise meistern, es allseits gerecht zugehen lassen und jeden Morgen gut gelaunt ihren 14-Stunden-Tag beginnen.
Die Politik hat das Problem durchaus erkannt, aber sie weiß keine Abhilfe. In einer Wahlstudie der FDP heißt es: Die Wähler erwarteten ausgerechnet von denen, denen sie immer weniger zutrauen, die Lösung immer größerer Probleme. Und wörtlich: »Die Parteien reagieren auf diese Entwicklung leider oft nur trotzig …« Was sollen sie auch machen? Die Menschen nach ihren Vorstellungen verändern, das will in Deutschland keine ernst zu nehmende Partei. Gerade die beiden Volksparteien Union und SPD haben vielmehr wachsende Schwierigkeiten, mit ihren Angeboten die Interessen und Wünsche der Bürger unter einem Dach zu bündeln. Das Problem ist nicht neu, aber das Internet verschärft es aus Sicht der Parteistrategen enorm: Auch kleinere Gruppen können sich für ihr Anliegen inzwischen Öffentlichkeit verschaffen und Druck auf die Gewählten aufbauen, den diese bislang so nicht kannten. Wer bei Facebook Widerstand gegen einen Straßenneubau oder die Flugrouten beim neuen Berliner Großflughafen organisieren kann, braucht immer seltener eine der etablierten Parteien als Sprachrohr. »Die Artikulationsmöglichkeiten werden immer besser«, stellt ein Bundestagsabgeordneter fest, der Erfahrungen damit gemacht hat. »Da kommen wir vor Ort oft gar nicht mehr so schnell mit.« Heißt: Die Parteien wissen häufig gar nicht mehr, was welche Wähler gerade wollen.
Was im Kleinen gilt, gilt natürlich auch im Großen. Tatsächlich treten die Deutschen ihrem politischen System, ihrem Staat meist in doppelter Gestalt gegenüber: als Nutznießer seiner (Dienst-)Leistungen, von denen sie lieber mehr als weniger haben möchten, und als Steuerzahler, die lieber weniger als mehr dafür bezahlen wollen. Das gilt für die Ränder der Gesellschaft, aber vor allem für ihre Mitte. Der Politologe Franz Walter meint dazu: »Die Mitte der Republik möchte mit Kurt Beck sozialen Schutz, sie will mit Roland Koch aber auch mehr polizeilich gestützte Sicherheitsstaatlichkeit, und gemeinsam mit Guido Westerwelle weigert sie sich, für all das zusätzliche Steuerleistungen mitzutragen.« Selbst die ordentlich informierte Mitte der Gesellschaft will in Umfragen für gewöhnlich »mehr Europa«, aber weniger Richtlinien, weniger Beschlüsse, weniger Eurokraten und unter dem Strich irgendwie weniger »Brüssel«. Nicht leicht, damit umzugehen.
Woran liegt das? Nicht wenige Politiker denken, dass die Bürger einem großen Irrtum aufsitzen. »Die Leute meinen, Politik zu machen sei doch ganz leicht: etwas fürs Gemeinwohl tun. Wenn es so einfach wäre«, seufzen sie sinngemäß, vor allem natürlich auf den Regierungsbänken. Für die große Mehrheit der Deutschen hat das Gemeinwohl nämlich über dem kleinlichen Parteienstreit zu stehen, weil es gleichsam die unverrückbaren, überparteilichen Ziele definiert. Kaum ein Vorwurf gegen die Parteien fällt deshalb häufiger als der, sie verfolgten nur ihre eigenen Interessen und nicht die der Allgemeinheit. Nach landläufiger Einschätzung kann etwas, das diesem Gemeinwohl dient, nicht in Widerspruch zu etwas anderem stehen, das ihm offenkundig auch dient. Folglich ist mehr Sozialschutz richtig, mehr Polizei auch und niedrigere Steuern sowieso. In Wahrheit, nicht nur in der Praxis, ist es natürlich anders: Ziele können in Konflikt zueinander stehen. Und die verschiedenen Parteien haben nun einmal sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, was das Gemeinwohl, was das Beste fürs Land ist. Steuern rauf oder Steuern runter? Mehr Überwachungsstaat oder weniger? Mehr Hartz IV oder weniger? Von der CDU über die SPD bis zu den Grünen, der FDP und der Linkspartei werben sie alle um Stimmen für ihre Vorstellung von Gemeinwohl.
So liegt der Schluss nicht fern, dass Wähler, die offenbar nicht wissen, was sie wollen, Politiker bekommen, die Sowohl-als-auch für die adäquate Strategie halten. Und wie relevant das Problem inzwischen ist, lehrt der Blick auf die gegenwärtig regierende Koalition: Einer der wirklich
grundsätzlichen Unterschiede zwischen CDU-Kanzlerin und FDP- Vizekanzler besteht nämlich darin, dass die eine so regieren möchte, dass sie beim nächsten Mal von allen Deutschen gewählt werden könnte. Und der andere so, dass Schwarz-Gelb wieder eine Mehrheit bekommt, egal wie knapp. Die eine stellt sich darauf ein, dass die Wähler in der Regel keine harten Ja/Nein-Entscheidungen mögen, der andere sucht sie im Zweifelsfall. Wetten, dass Angela Merkel in Deutschland länger Kanzlerin bleibt als Guido Westerwelle Vizekanzler?
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