»Die Menschen wollen keinen Streit«
Wenig macht Politiker in Deutschland so ratlos wie die Frage, ob die Wähler politischen Streit nun gut oder schlecht finden, belohnen oder bestrafen. Das ist beileibe keine Nebensache, sondern hat Folgen von erheblicher Reichweite.
Zum Beispiel ist für die zweite Amtszeithälfte der gegenwärtigen Regierung damit zu rechnen, dass Union und FDP ein bestimmtes Thema wenn irgend möglich lieber vertagen als sich erneut jenes Maß an öffentlichem Streit zu leisten, das ihre Umfragewerte so tief in den Keller hat rauschen lassen. Für eine Gesundheitsreform, die von Natur aus heftig umstritten ist, heißt das: Eine Regierung, die das Publikum schon zu Beginn der Amtszeit mit quälendem Streit strapaziert hat, legt im weiteren die Latte lieber ein bisschen tiefer.
Zum Bestand der großen Koalition in den Jahren 2005 bis 2009 wiederum hat wenig so stark beigetragen wie eben die Annahme, der Bürger wolle keinen lauten Streit zwischen den beiden Regierungsparteien und werde deshalb postwendend die Partei abstrafen, die einen vorzeitigen Koalitionsbruch verschuldet. »Wer aussteigt, braucht einen sehr guten Grund, um den Leuten zu erklären, warum er das getan hat«, so das immer wieder (Burg-)Frieden stiftende Mantra roter wie schwarzer Abgeordneter.
Man darf getrost annehmen, dass in beiden Lagern einige Male in diesen vier Jahren über einen Koalitionsbruch nachgedacht wurde — aber immer mit demselben Ergebnis, das SPD-Fraktionschef Peter Struck nach einem besonders heiklen Moment, spät in der Nacht vor dem Tor des Kanzleramtes, dann so formulierte: »Das würde uns der Wähler nicht verzeihen. Wir sind für die gesamte Strecke gewählt.« Erst recht galt das während der Finanzkrise. Immer und immer wieder hieß es in der großen Koalition: »In der Krise wollen die Leute keinen Krawall.« Sinnbild dafür war die still-effiziente Viertelstunde jeden Mittwochmorgen, in der Kanzlerin Merkel und Vizekanzler/Herausforderer Steinmeier auch im Wahlkampf noch die jeweils anstehende Kabinettssitzung besprachen. Oder die verschwiegene Hintertreppe, welche im Jakob-Kaiser-Haus zu Berlin die Abgeordnetenbüros der beiden Fraktionschefs von Union und SPD ohne
lästige Umwege über die einsehbaren Flure miteinander verband. Großen Einfluss hatte sicher auch die gemeinschaftliche Erfahrung des politisch wohl stärksten Momentes der großen Koalition, den sie am Sonntag, den 5.
Oktober 2008, gegen Mittag hatte: Da traten die CDU-Kanzlerin und ihr SPD-Finanzminister im Kanzleramt vor mehrere Fernsehkameras und garantierten die Spareinlagen aller Deutschen, um einen Run auf die Banken am darauffolgenden Montag zu verhindern. Sachzwang pur, in diesem Moment wollte wahrscheinlich wirklich kein einziger Deutsche politischen Streit oder gar eine »Wirtshausschlägerei« (Peer Steinbrück).
Nicht umsonst nennt das Publikum in allen einschlägigen Umfragen »Parteiengezänk« als wichtigsten Grund für Politikverdrossenheit. Nicht umsonst kann sich schon auf Thomas Mann berufen, wer wegen der unappetitlichen, gleichsam »undeutschen« Streiterei Politiker ganz generell verachtet. In den »Betrachtungen eines Unpolitischen« schreibt Mann 1918: »Ich will nicht Politik. Ich will Sachlichkeit, Ordnung und Anstand. (…) Wenn das deutsch ist, so will ich denn in Gottes Namen ein Deutscher sein.« Bis heute heißt hierzulande die Negativsteigerung von »Politik« ganz selbstverständlich »Parteipolitik«.
Die so gescholtenen Parteien gehen davon aus, dass der Wähler innerparteilichen und innerkoalitionären Streit definitiv nicht goutiert, sondern sich alsbald nach einem Machtwort sehnt, nach Führung und Ruhe im Laden. Für die SPD gilt das ein bisschen weniger streng als für die Union, weil viele Beobachter den Sozialdemokraten traditionell zubilligen, dass sie bestimmte Diskussionen bis zur Zerreißprobe in den eigenen Parteireihen zu führen habe, gleichsam stellvertretend für die ganze Gesellschaft. Für die Union dagegen erklärt sogar CSU-Haudegen Horst Seehofer: »Unsere Leute wollen, dass wir arbeiten und nicht streiten.« Was die schwarz-gelbe Koalition freilich nicht hinderte, sich mitunter in wüsten Beschimpfungen wie »Wildsau« (FDP über CSU), »Gurkentruppe« (CSU über FDP) und »Rumpelstilzchen« (CDU-Minister über CSU- Verteidigungsminister) zu ergehen. Und selbst die Grünen sind nach Jahren im internen wie externen Grabenkrieg seit geraumer Zeit auf stillen Pfaden unterwegs, die sie 2011 oder 2012 womöglich zum ersten Mal auf einen Ministerpräsidentensessel eines Bundeslandes führen werden. Grünen- Frontfrau Renate Künast erklärt das so: »Mit einem klugen Konzept für Mobilität kommst du zwar nicht in die Tagesschau. Aber die Menschen schätzen das mehr als schrille Sprüche.«
Trotzdem ist das nur die eine Seite der Realität. Denn es ist schon so, in Sachen Streitkultur geben die Deutschen ihren Politikern Rätsel auf. SPD- Chef Sigmar Gabriel sagte jüngst der Zeit: »Es gibt eine Sehnsucht nach common sense in der Politik, es gibt aber auch eine Sehnsucht nach Unterscheidbarkeit und Polarisierung.« Klingt ein bisschen ratlos, aber was soll ein Politiker hiervon auch halten: Gut ein Dutzend verschiedener Polit- Talkshows im deutschen Fernsehen bestehen im wesentlichen aus hoch redundantem Streit unter Politikern, manchmal luzide, häufiger jedoch irgendwo siedelnd an der Grenze zwischen Krawall und Klamauk. Ein Millionenpublikum finden sie dennoch, immer und immer wieder, sonntags wie wochentags. Hier müssen Politiker hin, wenn sie ihre Positionen unters Fernsehvolk bringen wollen. Außerdem gehen die Spitzenpolitiker der Parteien felsenfest davon aus, dass ein bestimmter Teil des Volkes, ihr jeweiliges Fußvolk nämlich, Krawall mit dem politischen Gegner will – je mehr desto besser. Vom Merkel-Intimus Volker Kauder ist der Satz überliefert, wonach für ihn eine der wichtigsten Lehren der großen Koalition sei, »wie sehr doch für die Parteien Politik aus dem Gefühl besteht, einen Gegner zu haben«. Damit meint er vor allem jene Abertausende von Parteimitgliedern, die vor Ort, in Fußgängerzonen und Einkaufszentren, den Wahlkampf auf die Straße tragen. Der Wille, endlich wieder einmal volle Attacke gegen die andere Volkspartei zu gehen, reicht auch bis in den Bundestag. »Eine weitere große Koalition machen die Abgeordneten nicht mit. Sie wollen wieder die Auseinandersetzung mit der anderen Seite«, hieß es im Sommer 2009 unisono in den Fraktionsführungen von Union und SPD.
Zwischenfazit: Die Politiker glauben über den Wähler zu wissen, dass ihn partei-interner Streit abstößt. Und sie wissen, dass der Streit mit dem großen politischen Gegner die eigene Truppe anfeuert. Aber ob dieser Streit der Parteien untereinander den größten Teil der Wähler nun abstößt oder begeistert — das wissen sie leider nicht: Die politischen Raufbolde Gerhard »Basta« Schröder und Joschka Fischer brachten es ebenso zu großer Beliebtheit und besten Wahlergebnissen wie ihre präsidial moderierenden Gegenentwürfe Angela Merkel, Saarlands Landesvater Peter Müller und der Ministerpräsident von Brandenburg, Matthias Platzeck.
Das Bild vom harmoniesüchtigen Bürger passt allerdings bestens zur Sicht der Kanzlerin auf ihre eigenen Stärken — und die liegen gewiss nicht im rauflustigen Auftritt, der lustvollen Zuspitzung oder sonstigen
Marktplatzqualitäten. O-Ton Kanzlerin: »Ich habe immer wieder festgestellt, dass ich besonders viele Briefe bekomme, wenn ich im Wahlkampf schreie. Die Menschen mögen das nicht.« Dasselbe hätte auch Frank-Walter Steinmeier, der »perfekte Politikmanager« (Kurt Beck über ihn) sagen können. Steinmeier kann zwar Gerhard Schröders Stimmlage gut nachmachen, aber ein Wahlkampftier ist er nie und nimmer – wollte es auch nicht sein. »Yes, we gähn!« titelte Bild nach dem ersten und einzigen Fernsehduell der beiden Spitzenkandidaten.
Es gibt nicht wenige, die davor warnen. Zum Beispiel der Alterspräsident des Bundestages, Ex-Forschungsminister Heinz Riesenhuber: Gerade bei jungen Politikern beobachte er ein Übermaß an Pragmatismus und viel zu wenig Ideologie, erklärte er in einem Zeitungsgespräch. Das sei nicht gut. »Was sind die Grundsätze? Die Unverwechselbarkeit der Parteien hat sich reduziert. Das hat bei uns zur Folge, dass das Engagement der Bürger abflaut.« Sei es, wie es sei: Der blutarme Streitvermeidungswahlkampf 2009 trug Angela Merkel die zweite Amtszeit als Kanzlerin ein. Doch eine exakte Kopie dieses so genannten »Demobilisierungswahlkampfes« katapultierte den nordrhein-westfälischen Landesvater Jürgen Rüttgers ins Aus. Zugleich gelang dem Lautsprecher Sigmar Gabriel, die SPD zu stabilisieren, und Stefan Mappus steht in Baden-Württemberg streitlustig für einen Pro-Atom- Kurs und verteidigt mit Macht das Mega-Bahnprojekt »Stuttgart 21« – auf den alles umschmeichelnden Hauch des versöhnlichen Landesvaters verzichtet er dabei. Im Gegenteil: Im Superwahljahr 2011 kehrt die Polarisierung der Rechts-Links-Lager zurück. Es scheint in Wahrheit also noch lange nicht ausgemacht, dass die Deutschen auf Dauer keinen (Wahlkampf-)Streit wollen. Er wurde ihnen wegen der Krise und der besonderen Gesetzmäßigkeiten der großen Koalition nur eine Zeitlang nicht geboten. Und zwar exakt von jenen maßgeblichen Politikern, deren eigener Stil nicht dazu gepasst hätte, weshalb sie gern darauf verzichteten. Heißt: Ob dieses Bild vom Bürger auf Dauer stimmt, ist offen. Politiker mit Zukunft sollten sich auf die Harmoniesucht der Wähler lieber nicht verlassen.
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