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»Der Wähler wird immer unberechenbarer«

Ach, waren das noch Zeiten, als nur drei, später vier Parteien sicher im Bundestag und in den Landtagen saßen. Als Lager noch Lager waren und am Wahlabend nach den ersten Hochrechnungen feststand, welche Koalition gesiegt hatte und fortan regieren würde. Heute dagegen halten maßgebliche Politiker die Wähler für so wenig berechenbar wie nie zuvor.
Und die Wähler das Wählen für so wenig durchschaubar wie nie zuvor.
Das Schlimme ist: Beide haben Recht.
Was die Wahlen der beiden vergangenen Jahre bereits gezeigt haben, wird sich 2011 nicht ändern: »Stammwähler gibt es eigentlich nicht mehr.« So das Urteil des Junge-Union-Chefs Philipp Missfeder nach einer ernüchternden Vorstandsklausur seiner Partei. Und der langjährige SPD- Minister und -Fraktionschef Peter Struck schätzte im lockeren Kreis den Anteil der wirklich verlässlichen Stammwähler der SPD einmal auf 13 Prozent. »Das sind die, die auch einen Besenstiel wählen würden, wenn wir einen aufstellen.« Forsa-Chef Manfred Güllner spricht vornehm von »nachlassender Bindekraft der Parteien«. Bei den »experimentierfreudigen« Jüngeren schaffte es zuletzt keine Partei mehr über die Marke von 20 Prozent der Stimmen. Und die »Piraten-Partei« brachte es bei der Bundestagswahl aus dem Stand, ohne Spitzenpersonal, ohne Programm und ohne klassische Wahlkampfmittel bei Erstwählern auf acht Prozent. Eine Kampfansage gleichsam aus dem Off, aber nicht von der schnell wieder verblassten»Piraten-Partei« an die Konkurrenz, sondern von den Wählern an die etablierte Politik: »Ihr kennt uns nicht mehr!« Besonders bitter ist das für die so genannten Volksparteien. Nur noch bei den über 60-Jährigen holen CDU/CSU und SPD zusammen 75 Prozent der Stimmen. Nur noch bei den Alten ist das Parteiensystem so aufgestellt wie in den ersten 40, 50 Jahren der Nachkriegszeit.
Bitter ist das auch für die klassisch arbeitenden Demoskopen. Sie sind (außer Allensbach) auf Telefonkontakt mit ihren Befragten angewiesen, und zwar über das Festnetz der Deutschen Telekom. Allein: Die jungen Leute haben oft nur noch ein Handy und sind deshalb kaum noch zu erfassen. Das zwingt zu halsbrecherischen Korrekturkonstruktionen, um das fehlende
Segment in das Endergebnis hineinzurechnen. Ein Spitzenmann der CDU erinnert sich an den Tag der Europa-Wahl: »Ich hätte bis mittags jeden für verrückt erklärt, der die SPD bei 22 Prozent gesehen hätte.« Vom damaligen SPD-Spitzenkandidaten Frank-Walter Steinmeier sind aus der Spätphase des Bundestagswahlkampfes diese Sätze überliefert, die er über die Kanzlerin und den CSU-Star Karl-Theodor zu Guttenberg sagte (aber in Wahrheit über den Wähler, das unbekannte Wesen): »Der Hype um Guttenberg — ich versteh' es nicht. Die Merkel-Euphorie — ich versteh' es nicht.« Und CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach, seit mehr als 16 Jahren im Bundestag, seufzte in einem unbeobachteten Moment: »Das nächste Mal nehmen wir gleich Pendel und Glaskugel.« Ebenso rätselhaft ist der anhaltende Trend zur Last-Minute-Wahl. Der Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld (Uni München) meint, dass sich inzwischen sogar »viele erst auf dem Weg zur Wahlkabine entscheiden«.
Die Wahlforscher im Auftrag von ARD und ZDF fanden heraus, dass zwischen den Bundestagswahlen 2002, 2005 und 2009 die Zahl der Spätentschlossenen massiv angestiegen ist. 2002 gaben nur sieben Prozent an, erst am Wahltag selbst entschieden zu haben, wo sie ihr Kreuz machen wollten. 2005 lag dieser Anteil schon bei 13 Prozent, 2009 noch einmal spürbar höher. Der Anteil derer, die sich in den »letzten Wochen, letzten Tagen oder am Wahltag« entschieden, wuchs von 35 auf 49 Prozent. Die Parteien macht das ratlos, denn: »Bislang weiß man nichts über Spätentscheider«, heißt es trocken in einer internen CDU-Analyse.
Mehr noch: In der Kabine splitten die Bürger immer öfter ihre Stimmen.
Im Jahr 1980 wählten nur rund zehn Prozent mit der Zweitstimme eine andere Partei als mit der Erststimme. 2009 waren es 25 Prozent, Tendenz steigend. Das lässt zwar auf größere politische Mündigkeit schließen – aber berechenbar ist es nicht. Bei der Bundestagswahl 2009 konnten sich 28 Prozent alle Wähler vorstellen, genauso gut Union wie SPD zu wählen.
Knapp 25 Prozent pendelten im Geiste zwischen SPD und Grünen, 18 Prozent zwischen Union und FDP. O-Ton der CDU-Analyse: »Allein anhand dieser Befragungsergebnisse wird deutlich, wie groß die Volatilität geworden ist und dass klassische Stammwählerpotentiale, die sich nur für eine Partei entscheiden können, deutlich zurückgegangen sind.« Das hat Folgen. Mittlerweile ist den Parteistrategen ein Wähler, der daheim bleibt, fast ebenso lieb wie einer, der die eigene Partei wählt: Die CDU versucht alles, dass die SPDnahen Wähler nicht an die Urnen gehen,
beziehungsweise unterlässt alles, was sie dorthin treiben könnte. Und die SPD versucht dasselbe, nur andersherum. Gemessen an der stetig sinkenden Wahlbeteiligung sind beide recht erfolgreich.
Zudem will keiner mehr in die Ypsilanti/«Lügilanti«-Falle tappen, also vor der Wahl eine Koalitionsvariante kategorisch ausschließen, die sich nach der Wahl als die einzige entpuppt, welche rechnerisch überhaupt funktioniert. Wenn aber jeder mit jedem kann (von einem Tandem Union- Linkspartei abgesehen), dann wird die Wahlurne zur Lostrommel. Vor den letzten Wahlen versuchten sich die Blätter von Zeit bis Bild an einer Ratgebermatrix für den rationalen Wähler: Wo muss ich mein Kreuz mit Erst- und Zweitstimme machen, wenn ich welche Koalition bevorzuge?
Abgesehen von den verwirrend vielen bunten Kästen, kamen irgendwie auch seltsame Ergebnisse heraus. Die CDU zum Beispiel durfte gemäß dieser Anordnungen niemand wählen, der auf eine kleine Koalition Union/FDP aus war; aber auch niemand, der eine große Koalition mit der SPD wollte. Hätten sich also alle, die Angela Merkel als Kanzlerin bis 2013 behalten wollten, rational und matrixkonform verhalten, hätte die CDU mit der Fünf-Prozent-Hürde zu kämpfen gehabt — worauf der damalige Regierungssprecher Ulrich Wilhelm manchen Journalisten denn auch unwirsch hinwies, als die Kombinationitis in den Medien überhand nahm.
Experimentierfreudigen Beobachtern mag ganz ehrlich gefallen, dass immer neue Koalitionen entstehen, zwischenzeitlich Schwarz-Grün in Hamburg, »Jamaica« im Saarland, eine rot-grüne Minderheitsregierung mit wechselnden Mehrheiten in Nordrhein-Westfalen — und was in den Landtagswahlen 2011 noch alles an Farbenspielen folgen wird. Dass sich die politische Landschaft verändert, muss wahrlich kein Schaden sein, viele andere Staaten in Europa leben schon seit langem damit. Wahr ist aber auch: Keine der beteiligten Parteien hat mit den genannten, später eingetretenen Regierungskonstellationen Wahlkampf gemacht. »Der Wähler hat uns dazu gezwungen«, heißt es. Oder drastischer: »Das haben die Leute jetzt davon!« Die Frage, »ob der Wähler irren kann«, mag in diesem Zusammenhang wie ein akademisches Gedankenspiel wirken — aber wenn Politiker sich in wachsender Zahl diese Frage stellen, verändert das die Politik, zumindest jedoch die Parteien. Das kann in akute Bockigkeit münden, wie sie der Stern bei der Linkspartei beschrieb und dazu einen hohen Funktionär zitierte: »Lafontaine denkt, uns müssten eigentlich 25 Prozent wählen. Er
ist von den Wählern tief enttäuscht. « In deutlich ernsterem Zusammenhang heißt »irren« aber auch: Die Wähler produzieren ein Ergebnis, mit dem die Parteien nach den gewohnten und geübten Mustern nicht mehr schlüssig umzugehen wissen. Die SPD zum Beispiel bleibt nicht dieselbe, wenn sie allzeit bereit für Koalitionen mit FDP, mit Grünen oder mit der Linkspartei sein muss — oder mit allen zugleich. Der Göttinger Staatsrechtler Christoph Möllers warnt: »Solange wir Politik brauchen, brauchen wir kollektive Unterscheidungen wie die zwischen Rechts und Links. Mit den politischen Lagern sind wir noch lange nicht fertig.« Die Allensbacher Meinungsforscher kamen nach der Bundestagswahl zu dem Schluss: »Die Politikparodie von Hape Kerkeling in Gestalt von Horst Schlämmer war der Bevölkerung so viele Gespräche wert wie die Spitzenkandidaten« von Union und SPD. In Umfragen von Forsa konnten sich zwischenzeitlich 18 Prozent der Befragten »vorstellen«, die Horst-Schlämmer-Partei zu wählen – was eben nicht nur etwas über die realen politischen Alternativen sagt, sondern auch über die Ernsthaftigkeit der Deutschen. Nicht umsonst kursieren in der Münchner CSU-Zentrale unter Generalsekretär Alexander Dobrindt demoskopische Untersuchungen, wonach es für den einzelnen Politiker inzwischen wichtiger ist, »bekannt« zu sein als »populär« (im Sinne von beliebt).
Die Folgen sind klar: Die Wahlkämpfe verdichten sich immer stärker in den drei Wochen vor dem eigentlichen Termin. »Vorher verpufft bei den Menschen alles, was wir sagen könnten«, erklären erfahrene Wahlkämpfer verschiedener Parteien einhellig. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer sagt sogar: »Ich habe in den letzten Jahren ausnahmslos Wahlkämpfe erlebt, die auf der Zielgeraden entschieden wurden. « Was die Parteien haben, werfen sie großenteils während dieser kurzen Spanne in die Schlacht und fürchten mehr denn je den rasanten Wechsel der politischen Themen, die »Sau, die als nächstes durchs Dorf getrieben wird«. Tatsächlich wechseln unmittelbar vor wichtigen Wahlen Hui und Pfui schneller ab als früher, die Medien sind daran gewiss nicht unschuldig. Hektisch waren die letzten Wochen vor einer Wahl zwar immer schon — heute sind sie allerdings um einiges entscheidender als zu Zeiten, in denen längerfristige Bindungen in sozialen und politischen Milieus das Wahlverhalten der Mehrheit prägten.
Oder wie das begnadete Lästermaul Henryk M. Broder sagt: »Das ist das Schöne an demokratischen Gesellschaften, man weiß nicht, wie es ausgeht: Ich glaube 90 Prozent ist Zufall und der Rest ist Glück.«