Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität
Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin: Schmidt, 2001 - ISBN 3503-06111-8. 344 Seiten, € 34,80
(Ursula Renate Riedner, München)
Bei Frank Zipfels 1999 an der Universität Mainz vorgelegter und in überarbeiteter Form publizierter Dissertation handelt es sich um eine rein literaturtheoretische Arbeit. Für eine literaturwissenschaftliche Grundlagenforschung im Bereich Deutsch als Fremdsprache ist sie von ihrem theoretischen Ansatz her insofern von Interesse, als sie den Versuch unternimmt, ein zentrales Phänomen der Literatur im Rahmen des Gesamtsystems literarischer Kommunikation zu bestimmen. Zipfels Anspruch ist es, im erklärten Gegensatz zu bisher vorliegenden literaturtheoretischen Arbeiten literarische Fiktion als ein komplexes sprachlich-ästhetisches Phänomen sowohl in Bezug auf die Textstruktur, als auch unter dem Aspekt der Textproduktion und der Textrezeption sowie im Zusammenhang der institutionalisierten und sozial wie kulturell bestimmten Praxis zu erfassen. Dabei geht es ihm darum, bereits vorliegende Erklärungsansätze, die in jeweils unterschiedlichen literaturtheoretischen Zusammenhängen stehen, miteinander zu vermitteln und in ein Gesamtmodell zu integrieren. Hierin liegt die Stärke, aber auch die spezifische Problematik der Arbeit, auf die im folgenden noch einzugehen sein wird.
Das erste Kapitel dient zunächst einer ersten grundlegenden Abgrenzung der Begriffe: Fiktion umfaßt als Oberbegriff den gesamten Phänomenbereich, innerhalb dessen zwischen der Fiktivität des Dargestellten und der Fiktionalität des Textes zu unterscheiden ist. Der Begriff der Fiktivität betrifft die narratologische Kategorie der Geschichte und bezeichnet - so Zipfels erste, an konventionelle lexikalische Bestimmungen anknüpfende Bestimmung - die »Nicht-Wirklichkeit des Dargestellten« (68). Der Begriff der Fiktio- nalität ist dagegen der narratologischen Kategorie der Erzählung bzw. des Erzählens vorbehalten und damit auf die sich aus der Fiktivität der Geschichte ergebenden Erzählstrukturen eingegrenzt.
Im zweiten Kapitel legt Zipfel seine sprach- und literaturtheoretischen Prämissen dar. Zipfel situiert seine Arbeit im Rahmen eines kommunikationsorientierten literaturwissenschaftlichen Ansatzes, der literarische Texte als Form sprachlichen Handelns versteht und Ergebnisse der Sprechakttheorie sowie der Textlinguistik einbezieht. So geht er davon aus, daß Texte, die er aufgrund der ihnen zugrundeliegenden zerdehnten Sprechhandlungssituation (Ehlich) als »Kommunikationsangebote« (36) bestimmt, grundsätzlich über eine dominierende Illokution verfügen, der weitere Illoku- tionen untergeordnet sein können. »Texte werden als das Ergebnis sprachlicher Tätigkeiten angesehen, dessen [sic!] Be- deutung und Funktion nur unter Berücksichtigung des jeweiligen Sprachhandlungszusammenhangs zu klären sind.« (38) Diesen Anspruch löst die Arbeit jedoch zunächst leider nicht ein. So dienen das dritte und vierte Kapitel vorwiegend einer Typologisierung möglicher Textstrukturen fiktionaler Texte im Zusammenhang der Geschichte (Kapitel 3) und des Erzählens (Kapitel 4). Besonders im dritten Kapitel, das sich mit den Möglichkeiten einer genauen Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem in der Geschichte Dargestellten und der Wirklichkeit befaßt, bleibt die Frage nach den kommunikativen Funktionen verschiedener Arten der Fiktivität der Geschichte vollständig ausgespart. Fiktive Geschichten bestimmt Zipfel als »nichtwirkliche Geschichten, Geschichten, die nicht darstellend oder berichtend auf ein Geschehen in der Alltagswirklichkeit bezogen sind« (76). Zur Differenzierung verschiedener Arten der Fiktivität greift Zipfel auf die drei, für die Geschichte grundlegenden Elemente Ereignisträger, Ort und Zeit zurück. Verschiedene Arten der Fiktivität ergeben sich dabei daraus, daß nicht alle Elemente fiktiv sein müssen. Vielmehr stehen in fiktiven Geschichten fiktive und reale Elemente zumeist in einem komplexen Verhältnis. Denn auch für den Fall, daß Ereignisträger, Ort und Zeit der Geschichte fiktiv sind, bleiben »fiktive Welten stets in der ein oder anderen Weise auf die Wirklichkeit bezogen« (82). Leider bezieht der Autor gerade hier die Ergebnisse einer über ein rein referentielles Verständnis von Geschichten hinausgehenden Erzählforschung nicht ein. So hätten z. B. durch eine Einbeziehung der von Ehlich (1984) formulierten These, daß in fiktiven Geschichten der direkte Bezug der einzelnen Handlungselemente zur Wirklichkeit zwar aufgelöst ist, die Struktur der Handlung selbst jedoch auf die Wirklich- keit bezogen bleibt, durchaus noch weiterführende Einsichten in das komplexe Verhältnis von fiktiver Geschichte und Realität gewonnen werden können.
Den Auswirkungen der Fiktivität der Geschichte auf die Struktur des fiktionalen Erzählens sucht der Autor im vierten Kapitel über eine an die narratologischen Ansätze von Dorrit Cohn (1995) anknüpfende grundlegende Unterscheidung von fiktionalem und faktualem Erzählen nachzugehen. So unterscheiden sich fiktionale von faktualen Erzählungen - so Zipfel - durch eine »Verdoppelung der Sprachhandlungssituation« (117). Dabei wird zwischen der textinternen Sprachhandlungssituation, die sich zwischen dem Erzähler und der in den Text eingeschriebenen Rezipientenrolle ergibt, und einer externen Sprachhandlungssituation zwischen Autor und empirischem Leser differenziert. Der sich anschließenden typologischen Beschreibung verschiedener Formen von Fiktionalität innerhalb der internen Sprachhandlungssituation legt der Autor Gerard Genettes rein strukturalistisch beschreibende Unterscheidung von homodiegetischem und heterodiegetischem Erzählen (Genette 1994) zugrunde. Dabei sieht er allerdings, wie schon im dritten Kapitel, von einer kommunikativ-funktionalen Bestimmung der verschiedenen Formen weitgehend ab.
Für wesentlich interessanter halte ich in diesem Zusammenhang das fünfte und sechste Kapitel der Arbeit, in denen das Phänomen literarischer Fiktion im Zusammenhang der Textproduktion (Kapitel 5) und der Textrezeption (Kapitel 6) diskutiert wird. Zipfels Überlegungen zur Textproduktion beginnen mit einer kritischen Diskussion von Searles Bestimmung fiktionaler Rede als Vorgeben (pretense) von Behauptungen (Searle 1974/75), die er als satz-bezogen und aufgrund der fehlenden Differenzierung von Autor und Erzähler kritisiert. Gerade darin sieht Zipfel jedoch den Ansatzpunkt für eine Bestimmung der Fiktion von der Seite der Textproduktion her. So versteht er die Produktion eines fiktionalen Erzähltextes als intentionale Sprachhandlung, die darauf abzielt, daß der Leser die im Text geäußerten Propositionen in der Haltung des make-believe (Currie 1990) rezipiert: »[...] der Autor intendiert, daß der Leser den Erzähl-Text als eine von einem Erzähler dargebotene Erzählung über eine innerhalb der Welt des Erzähl-Textes wahre Geschichte rezipiert.« (228)
Das fiktionsspezifische Rezeptionsverhalten bestimmt Zipfel in Kapitel 6 dementsprechend als »make-believe-Spiel« (249), das der Leser aufgrund spezifischer textueller Fiktionssignale im Rahmen der institutionalisierten, sozial wie kulturell bestimmten Praxis Fiktion (Kapitel 7) aufnimmt. Dabei bestehe, wie Zipfel darlegt, der eigentliche Zweck des make-believe-Spiels nicht darin, »daß der empirische Leser eine fiktive Geschichte als wahr rezipiert, sondern vielmehr darin, daß der empirische Leser die Position des fiktiven Adressaten einnimmt« (251). So erweist sich die Rezeption fiktionaler Texte als eine spielerische Positionsverschiebung, der eine spezifische Erlebnisqualität zukommt, die als Doppelstruktur von Partizipation und Distanz beschrieben werden kann:
»Die doppelte Perspektive des Lesers auf den fiktionalen Text erklärt sich sprachhandlungstheoretisch damit, daß der Rezipient einerseits die Position des fiktiven Adressaten einnimmt und andererseits jedoch immer auch ein empirischer Leser bleibt. Die beiden Rezeptionshaltungen schließen sich nicht aus, sie sind miteinander kompatibel [...]. Mitspielen und Beobachten sind zwei komplementäre Haltungen, die zu einer adäquaten Rezeption fiktionaler Texte notwendig sind.« (259)
Dem Leser den Weg in die für die Rezeption fiktionaler Texte konstitutive Doppelstruktur von Partizipieren und Beobachten zu zeigen, ist nicht zuletzt auch Aufgabe einer interkulturellen Literaturvermittlung. Hierbei bietet die grundlegende Erkenntnis dieser Struktur eine wichtige Hilfe. Die Erforschung der Frage, inwieweit dabei im Rahmen der institutionalisierten Praxis Fiktion mit jeweils spezifisch kulturellen Unterschieden zu rechnen ist, muß dagegen einer interkulturellen Literaturwissenschaft überlassen bleiben.
Literatur
Cohn, Dorrit: »Narratologische Kennzeichen der Fiktionalität«, Sprachkunst 26 (1995), 105-112.
Currie, Gregory: The Nature of Fiction. Cambridge: Cambridge University Press, 1990.
Ehlich, Konrad: »Handlungsstruktur und Erzählstruktur. Zu einigen Kennzeichen des Weiterentwickelns von Erzählanfängen.« In: Ders. (Hrsg.): Erzählen in der Schule. Tübingen: Narr, 1984, 126-175.
Genette, Gerard: Die Erzählung. München: Fink, 1994.
Searle, John R.: »The Logical Status of Fictional Discourse«, New Literary History 6 (1974/75), 319-332.
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