Religion und Fiktion. Eine Kantstudie
Anstoß zu eingehenderen wiederholten Erwägungen hierüber hat neuerlich Vaihinger gegeben durch seine Philosophie des
„Als ob". Seine Ausführungen erhalten dadurch eine größere Bedeutung, daß sie sich auf alle Gebiete des Wifsens erstrecken. Ihr Ausgangspunkt ist der Satz, daß es kein Erkennen im objektiven Sinne gibt, sondern nur einErschließen. Das Denken hat gemäß dieser Behauptung seinen Zweck erfüllt, wenn es die gegebenen Empfindungsverbände zu endgültigen Begriffen, zu allgemeinen Urteilen und zwingenden Schlüssen verarbeitet und damit ein Weltbild produziert hat, das die Berechnung des objektiven Geschehens und unser handelndes Eingreifen in seinen Gang ermöglicht. Dazu bedarf es gewisser „Kunstgriffe, Erdichtungen oder Fiktionen". Diese sind psychische Gebilde, die die Seele erfinderischerweise aus sich heraus spinnt si.
Man hat diese Fiktionen aber genau zu unterscheiden von den Hypothesen. Während diese sich auf reale Möglichkeiten beziehen, gehen jene nur auf gedankliche Möglichkeiten. Als berechtigt werden sie erwiesen durch die Erfahrung. Sie sind nicht ein Resultat, sondern ein Mittel des Denkens. In ihrer Verwendbarkeit zur Dienstleistung für das Denken liegt ihre Justifikation. Ein weites Gebiet wird von ihnen umfaßt. Jede Wissenschaft bedarf ihrer.
So beurteilt z. B. in der Jurisprudenz der Strafrichter die Handlungen der Menschen, „als ob" sie völlig aus freier Entschließung hervorgegangen wären. Die Naturwissenschaft fingiert Kräfte, Energien, Atome. Die Mathematik nennt den Kreis eine Ellipse, deren beide Brennpunkte die Distanz gleich Null haben. Aehnliches findet sich in der Nationalökonomie, in der Ethik, in der Psychologie, kurz auf allen Gebieten des Wissens. Die gesamte Geschichte der Wissenschaften von den Griechen bis zur Gegenwart bietet die mannigfachsten Belege für die Ausführungen der „Als ob"-Philosophie?).
Von größtem Gewichte aber für sie ist das System Kants. Als Beweis hierfür wird auf hundert Seiten des Baihinge raschen Buchs eine große Anzahl von Stellen aus Kants Schriften^) aufgeführt, in denen der Ausdruck „als ob" angewendet
1) H. Bai hing er, Die Philosophie des „Als ob". System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. S. 5, 17, 19, 4V.
2) Vaihinger S. 77, 144, 159, 699 f., 149, 619, 298.
3) Die Schriften Kants sind teilweise nach Kehr zitiert: r. B. — Kritik der reinen Vernunft, P. V. — Kritik der praktischen Vernunft, Prol. —
wird. So z. B. aus der Kritik der reinen Vernunft: „Wir müssen alles, was nur immer in den Zusammenhang der möglichen Erfahrung gehören mag, so betrachten, als ob diese eine absolute, aber durch und durch abhängige und immer noch innerhalb der Sinnenwelt bedingte Einheit ausmache" (S. 522). Oder: „Das spekulative Interesse der Vernunft macht es notwendig, alle Anordnung in der Welt so anzusehen, als ob sie aus der Absicht einer allerhöchsten Vernunft entsprossen wären" (S. 532). Aus der praktischen Vernunft: „Wir sind uns durch die Vernunft eines Gesetzes bewußt, welchem, als ob durch unseren Willen zugleich eine Naturordnung entspringen müßte, alle unsere Maximen unterworfen sind" (S. 54).
Kant nennt die von ihm aufgestellten Ideen, Seele, Freiheit und Gott, „heuristische Fiktionen", die nur einen regulativen Gebrauch zulassen, Gedankendinge, deren Möglichkeit nicht erweislich ist *). Demnach, so bemerkt der Philosoph des „Als ob", ist es ganz richtig, wenn Maimon das ganze Ergebnis der Kant schen Philosophie dahin zusammenfaßt, daß nur symbolische Erkenntnis möglich ist?).
Diese rein idealistische Auffassung hat selbstverständlich ihre Anwendung zu finden auch auf die Religion. Als ganz besonders gewichtige Gewährsmänner hierfür werden Forberg und F. A. Lange genannt. Forberg sei der Einzige, der in dieser Hinsicht Kants echte Lehre erkannt und dargestellt habe?). Von ihm ist eine förmliche Religion des „Als ob" aufgestellt worden. Verschiedene Stellen aus seiner Abhandlung „Entwickelung des Begriffs der Religion" ^) dienen zum Belege hierfür: z. B. „Es ist wahr, du kannst das Kommen des Reiches Gottes nicht fzientifisch beweisen, aber genug, dein Herz sagt dir, du sollst so handeln als ob es so wäre" (S. 27). An einer anderen Stelle: „Es ist nicht
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Prolegomena, Grdl. — Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Rel. — Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Urt. — Kritik der Ur¬teilskraft. Teils nach der Ausgabe von Hartenstein (1867) -- Ww. I-, II. usw.
1) r. V. S. 288, 587.
2) Vaihinger S. 43.
3) Vaihinger S. 736.
4) Zuerst veröffentlicht in Fichtes und Niethammers philosophischem Journal Band VIII (1798 Heft I), separat herausgegeben von Fritz Medicus 1910 in der Schrift „Fichte und Forberg, die philosophischen Schriften zum Atheismusstreit".
Pflicht zu glauben, daß eine moralische Weltregierung oder ein Gott als moralischer Weltregent existiert, sondern es ist bloß und allein Pflicht, zu handeln, als ob man es glaubte" (S. 28). Oder: „Der gute Mensch kann es, wenn er spekuliert, dahingestellt sein lassen, ob jener Zweck (Alleinherrschaft des Guten) möglich oder unmöglich sei; nur, wenn er handelt, muß er verfahren, als ob er sich für die Möglichkeit entschieden hätte; er muß trachten jenem Zweck allmählich näher zu kommen."
F. A. Lange bezeichnet in seinem vortrefflichen Werke „Geschichte des Materialismus" in dem Abschnitte „Standpunkt des Ideals" das Reich des Jntelligiblen als Dichtung. Die religiöse Welt ist ihm ein Erzeugnis der Phantasie. Nur als ein solches kann sie fernerhin bestehen. Das allein kann endlich die Menschheit zu einem immerwährenden Frieden führen, wenn die unvergängliche Natur aller Dichtung in Kunst, Religion und Philosophie erkannt wird und wenn auf Grund dieses Erkenntnisses der Widerstreit zwischen Forschung und Dichtung für immer versöhnt wird *)...
So ähnlich nun auch diese Gedanken Langes denen For- bergs und denen der Alsob-Philosophie zu sein scheinen, so klingt doch in ihnen eine Denkweise an, die ganz andere Bahnen einschlägt. Ist die Religion auch Dichtung, so ist sie eben als solche ganz gewiß mehr als bloße Fiktion. Lange selbst deutet darauf hin, daß für sie ein anderer Wahrheitsbegriff gilt, als für die Wissenschaft. Er ruht auf dem idealen Bedürfnisse des Gemüts.
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