Skip to main content

Die erste grundlegende Voraussetzung

Die erste grundlegende Voraussetzung ist für Vaihinger die Unterordnung der Intelligenz unter den Willen, der Theorie unter die Praxis. Er berührt sich also aufs nächste nicht nur mit dem Voluntarismus, sondern auch mit dem neuzeitlichen Pragmatismus1), der den Wert jeder Einsicht danach bemißt, was sie für die praktischen Lebensbedürfnisse und Forderungen bedeutet. Vaihinger zitiert zustimmend das Wort, Steinthals: „Wir. bedürfen des Wissens von der Welt der Dinge und von unserem Selbst und von dem Zusammenhänge der Dinge untereinander und mit uns, um leben zu können." Steinthal führt — ganz im Sinne der modernen Betrachtungsweise ■— drei Hauptarbeiten an, zu denen das Wissen berufen ist: Aufsuchung der Nahrung, Einleitung der Befruchtung, Schutz vor Unwetter. „Das Wissen ist also ein dem Haushalt der Natur unentbehrlicher Faktor. Es tritt zu den physikalischen und chemischen Wirkungen hinzu, um den Bestand des Menschengeschlechts und des Tierreichs zu ermöglichen; es führt die materiellen Bedingungen herbei, deren das Leben bedarf."

Dementsprechend ist nach Ansicht des Verfassers auch die Erprobung der Richtigkeit logischer Produkte durchaus in die Hand der Praxis gelegt, und der „Zweck" des Denkens ist ihm nicht die Abspiegelung einer äußeren objektiven Welt, sondern die Ermöglichung der Berechnung des Geschehens und des Einwirkens auf das letztere. Und in demselben Sinne hat die ganze Vorstellungswelt in ihrer Gesamtheit (von der ja die logischen Produkte nur ein Teil sind) „nicht die Bestimmung, . ein Abbild der Wirklichkeit zu sein — es ist dies eine ganz unmögliche Aufgabe —, sondern ein Instrument, um sich leichter in derselben zu orientieren. Im gesamten Gefüge des kosmischen Geschehens sind

t) - Vg], hierzu 2. Jahrgang der Naturwissenschaften, Heft 3 (16. I. 1914), Seite 66 und 67; sowie im zweiten Teile dieses Aufsatzes Heft 24. auch die subjektiven Denkbeweguugeii mit einbegriffen. Sie sind die höchsten und letzten Resultate der ganzen organischen Entwicklung; die Vorstellungsweit ist gleichsam die letzte Blüh' des ganzen kosmischen Geschehens; aber darum eben ist sie kein Abbild desselben im gewöhnlichen Sinne. Die logischen Prozesse sind ein Teil des kosmischen Geschehens und haben zunächst nur den Zweck, das Leben der Organismen zu erhalten und zu bereichern; sie sollen als Instrumente, dienen, um den organischen Wesen ihr Dasein zu vervollkommnen."

Als Instrumente sind sie zu betrachten! Das ist hier im genaueren Wortsinne zu nehmen. Denn eine grundlegende Voraussetzung ist finden Verfasser auch die mechanistische Vorstellungsweise, die ihren Geltungsbereich auch unbedingt auf alles Psychische erstreckt. Er sagt ausdrücklich: „Man muß nur energisch mit dem Vergleich der psychischen Vorgänge mit mechanischen Vorgängen Ernst machen, nicht nur mit mechanischen Vorgängen in dem Sinn rein physikalischer Phänomene, sondern auch in dem Sinn, in welchem die Mechanik die mechanischen Vorrichtungen zur Ausnützung und Kraftsteigerung, also z. B. Hebel, Rolle, Schraube, schiefe Ebene usw. betrachtet. In der Mechanik des Geistes finden ähnliche Vorgänge statt. Die psychischen Vorgänge sind nicht bloß in dem Sinne .mechanisch, daß sie mit gesetzlicher Notwendigkeit erfolgen, daß die Verbindungen, Verschmelzungen und Apperzeptionen mechanisch vor sich gehen, sondern sic folgen auch in dem Sinne den Gesetzen ihrer eigenen spezifischen Mechanik, als durch solche mechanischen Vorrichtungen, wie sie auch die physische Mechanik kennt, die elementaren, von der Natur dar- gebotenen Kräfte .verarbeitet und verwertet, werden. Die Psyche ist also nicht allein in dem Sinne eine Maschine, als in ihr alles nach psychomechanischen und psychochemischen Gesetzen vor sich geht, sondern auch in dem Sinne, daß durch diese mechanischen Vorgänge die natürlichen Kräfte gesteigert werden. Eine Maschine ist eine solche Vorrichtung des praktischen Mechanikers, durch welche eine verlangte Bewegung rnit dem geringsten Kraftaufwande ausgeführt wird. Dies Erfordernis erfüllt die menschliche Psyche, unter dem Gesichtspunkt einer psychischen Maschine betrachtet, in hohem Grade; darum eben ist sie zweckmäßig-".

Der Verfasser untersucht nun freilich diese psychische Maschine nicht in ihrem ganzen Umfange und nach allen ihren Verrichtungen; ja auch nicht einmal alles das, was gemeinhin unter dem Begriff der Logik und Erkenntnislehre befaßt zu werden pflegt. Vielmehr beschränkt er sich auf denjenigen Teil, den er als Theorie der Fiktionen (und Hypothesen) bezeichnet, aber allerdings in dem Sinne, daß von hier aus fortdauernd Streiflichter auf den ganzen Umkreis der logischen Funktionen fallen und so der ge-
samte Mechanismus des Denkens, ja weiterhin selbst die wichtigsten allgemeinen psychischen Funktionen durchleuchtet werden. Denn „wie man die psychische Maschine selbst wieder in einzelne Teile und Mechanismen zerlegen kann, und wie man dann die ganze Tätigkeit der Maschine als den Zweck betrachten kann, dessen Erfüllung der Teilmechanismus erleichtert (Zweck ist also ein Relatives) — so kann man auch das Denken, die Denkmasehine, wieder zerlegen in ihre einzelnen Teile, und die ganze Tätigkeit der Denkmasehine als Zweck betrachten, dem die einzelnen Vorstellungen dienen". In diesem Sinne ist „die logische Theorie der Fiktionen nichts als eine ausgeführte Mechanik des Denkens, oder, um die beiden Bedeutungen der Mechanik nicht zu kon fundieren, eine Maschinenlehre des Denkens, eine Technologie der logischen Funktion".

Unter der fiktiven Tätigkeit der logischen Funktion versteht der Verfasser gewisse Kunstgriffe des Denkens, vermittelst deren er versucht, sein Ziel indirekt, auf Umwegen zu. erreichen — das Produkt dieser fiktiven Tätigkeit sind die Kunstbegriffe oder Fiktionen. Diese sind also psychische Instrumente ähnlich den physischen, vergleichbar etwa den künstlichen Verlängerungen und praktisch zweckmäßigen Kraftsteigerungen des Armes und der Hand durch die. zahlreichen mechanischen Geräte und Werkzeuge (Hebel, Bohrer usw.). Wie mit derartigen Werkzeugen der Arm sein praktisches Ziel, die erstrebte Bewegung von Körpern oder Körperteilen, erreicht, die ihm ohne solche künstlichen Umwege nicht möglich wären, so erreicht die Psyche mit den Fiktionen ähnlich auch ihr praktisches Ziel, nämlich die Bewegung von Vorstellungen im Sinne ihrer Reduktion auf unmittelbare Empfindungen. Denn durch diese letzteren allein — auch das ist eine grundlegende Voraussetzung Vaihingers, die ihn in Übereinstimmung bringt mit dem modernen Phänomenalismus1) — können wir des „Wirklichen" im Sinne einer praktischen Orientierung habhaft werden, es so ..begreifen"; die Fiktionen selbst dagegen, die diesen Zwecken als Hilfsmittel dienen, bezeichnen nichts Wirkliches, sondern sind eben eine bloße Annahme, die eben darum auch nur so lange Geltung und Wert hat, als man ihrer zu jenen praktischen Zwecken bedarf, ganz ebenso wie das mechanische Werkzeug der Hand, das man beiseite legt, wenn der Zweck seiner Anwendung erreicht ist. Und so wie die physisch- mechanischen Werkzeuge immer mehr vervollkommnet 'und verfeinert werden, um dem erstrebten Zwecke besser dienen zu können, so findet natürlich auch eine stetige Vervollkommnung und Verfeinerung der Instrumente des Denkens, der Fiktionen, statt, wobei dann auch Fiktionen, die lange Zeit allein im Gebrauch waren und für den Wissenschaftsbetrieb unent-

') S. vorhergehende Fußnote.

287

behrlich schienen, ganz verdrängt und durch völlig neue ersetzt werden.

Eine Fiktion solcher Art ist z. B. der Begriff des Atoms. Wir wollen uns die Struktur oder die Mischung chemischer Substanzen klarmachen und verdeutlichen —■ das können wir nicht ohne weiteres; aber nun fingieren wir, es gebe kleinste Teile ohne Teilbarkeit, die Atome, die sich verbinden und wieder trennen, und nun, mit Hilfe dieser Fiktion, gelangen wir zu dem gewünschten Erkenntnisziele. Oder wir wollen etwa in der Mathematik den Kreis begreifen, wir wollen ihn vor allem auch im praktischen Sinne berechnen — wir vermögen es nur indirekt, indem wir die Kreislinie als eine Gerade ansehen, die beständig ihre Richtung ändert, die Kreisfläche uns verstellen, als ob sie ein Polygon mit unendlich vielen Seiten wäre. Oder, um noch ein Beispiel aus den Geisteswissenschaften heranzuziehen: Als . Adam Smith die Nationalökonomie als Wissenschaft begründete, verfuhr er in der Art, daß er gänzlich abstrahierte von allen altruistischen Motiven, die im wirtschaftlichen Leben mit wirksam sind (Gerechtigkeit, Billigkeit, Sittlichkeit, Wohlwollen usw.) und alle wirtschaftlichen Handlungen der Gesellschaft so betrachtete, als ob sie einzig und allein vom Egoismus diktiert waren.

Das Wesen der Fiktionen also — da sie in der Regel mit der Partikel „als ob" eingeleitet werden können, so bezeichnet dem Verf. der Ausdruck „Philosophie des Als Ob" ebendasselbe wie philosophische Theorie der Fiktionen — wird also vor allem gekennzeichnet durch zwei charakteristische Merkmale: einmal, daß sie nichts Wirkliches bezeichnen, mit der Wirklichkeit in Widerspruch stehen und in der Regel deshalb auch für sich selbst widerspruchsvoll sind, und sodann, daß sie ungeachtet dessen nicht nur Wert, sondern hohen und höchsten Wert besitzen für die Erkenntnis, für die sie schlechterdings unentbehrlich sind. So bezeichnet der Begriff Atom etwas Unwirkliches, ja im Grunde etwas in sich Widerspruchsvolles und geradezu Ungereimtes (ein raumfüllender Körper ohne räumliche Ausdehnung!) — und doch ist dieser Begriff bis heute den Naturwissenschaften unentbehrlich gewesen und hat ihren Fortschritten die größten, unschätzbarsten Dienste geleistet.

Nach beiden Richtungen hin ist die Fiktion wohl zu unterscheiden von der Hypothese, mit der sie zwar zusammenhängt, auch sich wohl berührt, so nah oft berührt, daß beide schwer unterschieden werden können, von der sie aber doch durchaus verschieden ist und getrennt werden muß. Beide, Fiktion und Hypothese, sind freilich ursprünglich bloße Annahmen; aber die Fiktion nimmt etwas an, was nicht wirklich ist und auch nicht sein kann, dagegen die Hypothese geht stets auf die Wirklichkeit, d. h. das in ihr enthaltene Vorstellungsgebilde macht den Anspruch oder hat die Hoffnung, sich mit einer
einst ergebenden Wahrnehmung zu decken: sie unterwirft sich der Probe auf ihre Wirklichkeit und verlangt schließlich Verifikation, d. h. sie will als wahr, als wirklich, als realer Ausdruck eines Realen nachgewiesen werden. Ausnahmslos will die Hypothese ein Wirkliches statuieren; sind wir auch über das faktische Vorkommen des hypothetisch Angenommenen noch nicht sicher und gewiß, so hoffen wir doch, „daß dieses Angenommene sich eines Tages erweisen werde". — Die Bestimmung beider, der Hypothese wie der Fiktion, ist eine provisorische, und beide sollen schließlich aufgehoben und beseitigt werden: aber die Hypothese soll dadurch beseitigt werden, daß die hypothetische Vorstellung als vollberechtigt in den Kreis des als wirklich Angenommenen tritt; die Fiktion dagegen soll als provisorisches Hilfsgebilde im Laufe der Zeit wegfallen und der wirklichen Bestimmung Platz machen, soweit sie aber echte Fiktion ist, soll sie wenigstens logisch wieder ausfallen, sobald sie ihre Dienste getan hat. Die Fiktion ist also vergleichbar mit dem Balkengerüste, das nach vollendetem Bau wieder abgebrochen wird, die Hypothese dagegen dem Balkengerüste, welches in dem Bau selbst mit verwertet wird, als integrierender Teil des Baus. „Also die Hypothese bleibt, die Fiktion fällt weg, dies ist ein Hauptergebnis des Unterschieds beider. Jene schafft ein sachliches Wissen, diese ist ein bloß methodologisches formelles Mittel. Jene ist Zweck, diese Mittel. Die Hypothese ist also ein Resultat des Denkens, die Fiktion ein Mittel und eine Methode desselben. Die Hypothese will faktisch beobachtete Widersprüche wegschaffen, die Fiktion schafft logische Widersprüche herbei. Demnach ist die Tendenz' und darum auch natürlich die Methode der Anwendung bei beiden eine ganz andere. Die Hypothese will entdecken, die Fiktion erfinden. So entdeckt man Naturgesetze, aber man erfindet Maschinen: insofern die Fiktionen wissenschaftliche Denkinstrumente sind, ohne welche eine höhere Ausbildung des Denkens unmöglich ist, werden, sie erfunden. Bekanntlich sind indessen Entdeckung und Erfindung nicht immer in jedem Fall scharf zu unterscheiden, so auch nicht Hypothese und Fiktion. Das Atom ist keine naturwissenschaftliche Entdeckung, sondern eine Erfindung." „Das Prinzip der methodischen Regeln der Hypothese ist die Wahrscheinlichkeit, das der Fiktionsregeln die Zweckmäßigkeit der Begriffsgebilde. . . Bei mehreren gleiehmöglichen Hypothesen wählt man darum die wahrscheinlichste aus; dagegen bei mehreren gleichmöglichen Fiktionen wählt man die zweckmäßigste aus." „Der Verifizierung der Hypothese entspricht die Justifizierung der Fiktion. Muß jene durch Erfahrung- bestätigt werden, so muß diese gerechtfertigt werden durch die Dienste, welche sie der. Erfahrungswissenschaft schließlich leistet. . . . Fiktionen, welche sich nicht justifizieren lassen, d. h. als nützlich und notwendig rechtfertigen lassen, sind ebenso zu eliminieren wie Hypothesen, denen die Verifikation fehlt."

Ein instruktives Beispiel für die Verwandtschaft wie den Unterschied von Fiktion und Hypothese, das der Verfasser anführt, ist Goethe« Vorstellungsgebilde eines Urtiers. Man kann es betrachten als eine Fiktion; denn Goethe will damit wohl nicht das faktische Vorhandensein eines Urtiers behaupten oder der Meinung Ausdruck geben, daß ein solches früher existiert hätte oder existieren könnte, sondern „er will sagen, daß alle Tiere so zu betrachten seien, als ob sie Abkömmlinge eines Urtiers, als ob sie die Modifikationen eines solchen seien. Das Fiktive an dieser Fiktion ist die Betrachtung, als ob es ein solches Tier geben könnte; das Hypothetische daran ist die Behauptung, daß alle tierischen Formen reduzierbar seien auf einen Typus: dies ist eine auf Beobachtung beruhende Behauptung, deren Richtigkeit induktiv zu erweisen ist". „Welchen Wert diese Goethesche Fiktion habe, liegt auf der Hand: sie gibt Anlaß zu einer ganz neuen Klassifikation der tierischen Formen und bereitet außerdem heuristisch die Wahrheit vor. Nun hat sich im Laufe der Zeit diese Goethe'sche Fiktion als eine heuristische bewährt, ist aber jetzt weggefallen, weil die wahre Betrachtung in Gestalt des Darwinismus an ihre Stelle getreten ist, nämlich, daß alle tierischen Formen voneinander wirklich abstammen, und daß ein Urtier höchstens als Monere gedacht werden könne. Die Goethe'sche Fiktion hat also heuristisch die Dar- win'sche Hypothese vorbereitet."

Besonders verdeutlicht wird die Sache im Sinne des Verfassers noch durch ein anderes Beispiel: die qualitative Einheit der Materie ist eine Hypothese, die quantitative Einheit der Materie dagegen eine Fiktion. Denn so wenig das erstere, nämlich daß die Elemente, auf die man bisher die Materie reduziert hat, auf einen Urstoff zurück- zuführen seien, prinzipielle Bedenken erregt, so viel Widersprüche birgt das zweite in sich, nämlich, daß die Materie aus unendlich kleinen, unteilbaren Stückchen bestehe, welche sogar an sich ausdehnungslos seien, aus Atomen. „Während jene Theorie nicht daran zu verzweifeln braucht, daß einmal diese Reduktion gelingen kann, ist der Atomismus, wenigstens in der angeführten Form, schlechterdings unbeweisbar, ja derselbe ist sogar im Gegenteil theoretisch verwerflich, weil dieses Atom ein widerspruchsvolles Vorstellungsgebilde ist. Unausgedehnte Kraftzentren, welche der Ausdehnung zugrunde liegen sollen, sind vollständig widerspruchsvolle Begriffe. Etwas Unausgedehntes, das doch summiert Ausdehnung ergeben soll, ist ein Widerspruch. Somit ist die Idee der Reduktion der Materie auf Atome eine Fiktion; dagegen die Vorstellung der Reduktion der Arten der Materie auf einen einzigen Urstoff ist eine plausible Hypothese." —


iSßhluß folgt.